Jede Dimension symbolisiert Ort und Zeit,
jeder Ort symbolisiert Zeit und Leben,
jede Zeit symbolisiert Leben und Tod,
und zum Leben gehören Tod und Dimensionen.
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Man schrieb den 14. September 1992, der sogenannte Zeitpunkt aller Herbsttypen und bevor eine gewisse Clique aufkreuzte, herrschte in der Kleinstadt Sudbourg Ruhe und Ordnung. Viele Menschen hatten sich ihre Selbstdisziplin eigen beigebracht, vor allem die Selbstständigen.
Die Einwohnerzahl betrug um die 1037; vor zwei Jahren waren es noch 989 Leute, abgesehen von der Dunkelziffer. Wenigstens war die Arbeitslosenzahl sehr gering und das war für die Kleinstadt eine erfreuliche Nachricht.
Sudbourg lag etwa 50 Kilometer östlich von Schefferville in Kanada, sozusagen am Ende der Welt und diese Stadt wäre der richtige Urlaubsort für Personen, die einfach etwas gegen den alltäglichen Stress unternehmen wollten. In so einer kleinen Stadt war es üblich, dass jeder jeden kannte; man redete sich also ein, wie klein die Welt ist, denn die ganzen Leute waren wie eine Familie. Der größte Teil von Sudbourg wurde 1942 von den Deutschen besetzt, deswegen hießen die Straßen nicht „ Street“ oder „ Road“ sondern einfach nur „ Straße“ oder „ Weg“, beziehungsweise „ Gasse “.
Das Zentrum bildete in dieser Stadt die Hauptschlagader. Dort befanden sich ein Krankenhaus, eine Polizeistation, die Stadtbibliothek, ein Drei-Sterne-Hotel, ein anständiges Restaurant, ein Schwimmbad inklusive Solarium und Sauna und ein Kaufhaus. Außerdem existierte der Stromanbieter mit dem Namen `Electric Lion´.
Dieses Krankenhaus war zwar nicht besonders groß, aber konnte sich mit dem noblen Prestige wirklich blicken lassen. Nur innen gab es Bereiche, die jedoch teilweise renovierungsbedürftig waren. Aber man ließ sich Zeit. Draußen torkelte ein etwa Fünfundsiebzigjähriger wie ein Besoffener voller Geistesabwesenheit auf dem Nachhauseweg. Er hatte eine Tomate in der Hand, unbewusst, was er damit anzustellen vermag. Noch befand er sich vor dem Krankenhaus. Wie lange würde es dauern, bis er die Straße betrat, um erfasst zu werden? Wie lange sollte es dauern, bis er in den Bach fiel, ohne sich aufrappeln zu können? Er würde mit dem Kopf hineingeraten und ertrinken. Vielleicht wäre ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall nicht auszuschließen, wenn er unbemerkt durch die Bevölkerung wandeln sollte.
Die Schwestern griffen ihn und halfen den alten Mann zurück.
„ Kommen Sie schon, Mr. Woodsbain! Das so etwas ja nie wieder passiert!”
Der Bürgermeister von Sudbourg, Roger Gerramy, nahm sich für das nächste Jahr vor, mittels kreativer Werbepropaganda mehr Touristen anzulocken. Dafür waren vor allem seine Mitarbeiter gefordert. Eine Rede für die nächste Wahl hatte er ebenfalls vorbereitet.
„ Ich habe mir folgendes vorgenommen und dieser Vorsatz sollte der Nachwelt erhalten werden. Die ganze Stadt soll 1993 aufblühen und der Kreativität unterstellt sein. Diese Stadt strebt nach viel Ansehen und soll somit den damaligen schlechten Ruf definitiv begraben. Mein Vorgänger, Amos Keenan hatte sich keine Mühe gegeben. Durch ihn wurden Touristen vergrault, durch penetrante Polizeieinsätze, die er gefördert hatte. Dessen Vorgänger hatte alle negativen Vorkommnisse ausgeplaudert und beinahe Sudbourg dem Untergang geweiht. Bewohner der Stadt! Wie können wir das zulassen, wenn man Ereignisse so dermaßen hoch puscht, um eine Geschäftsschädigung oder eventuell sogar eine Krise in Kauf zu nehmen. Ich, so wahr ich hier dar stehe, werde solche Unfähigkeiten nicht dulden und diese Stadt mit Ordnung und akkuraten Sachverhalten schmücken, dass wir sogar einen Ehrenpreis erhalten werden und das klappt nur mit eurer souveränen Unterstützung.“
Für diese Rede brauchte er einen Monat, schließlich war dies Vorraussetzung, dass alles durchdacht war. Gerramys Gegner, Grant Dannison ließ sich noch etwas Zeit. Aber allen war klar, das Gerramy mit seiner Überzeugungsfähigkeit die Nase weit vorn hatte und somit auch Weltmeister war in Sachen `Leute um den Finger wickeln´.
Die beiden Gegner verstanden sich einst, waren zwar Konkurrenten, aber Sportsmänner. Dann kam immer mehr Positives und auch Negatives ans Licht und jegliche Bilanz warf ein Keil zwischen beiden und es entstand Feindschaft. Zuletzt fand man die beiden Konkurrenten nebeneinander beim Interview vor, doch keiner hatte den anderen etwas zu sagen. Köpfe waren in entgegengesetzte Richtungen positioniert und sobald man ein Wort über den Gegner erwähnte, kam Schweigen oder eine allergische Reaktion auf. Möglicherweise entstand die Spannung zwischen den beiden, weil jeder es fühlen konnte, dass sich unverständliche Schwingungen zusammenbrauten. Das Wetter wurde schlechter, es befand sich morgens Hochnebel, dabei war Sudbourg eher ein Tiefgebiet. Leute gingen eingeschüchterter durchs Leben, obwohl es in dieser Idylle keinen Anlass dazu gab. Aber man konnte froh sein, dass keine Eskalation vorhanden war. Keine Raufereien, keine Depressionen, nicht einmal Meinungsverschiedenheiten. Es war so schwer, diese Situation zu erklären.
Es gingen nur weniger Leute in Zukunft nach draußen...
Im Osten der Stadt nisteten sich die meisten, jüngeren Leute ein, denn die Gegend war viel freizeitlicher gestaltet und hatte viel zu bieten.
Chuck´s Taverne, dessen Inhaber ein Typ namens Charles Thomalis war, der nebenbei (überwiegend samstags) in Schefferville Autos verkaufte und überwiegend viele Einnahmen kassierte, war vermutlich der reichste Mann im östlichen Bereich Kanadas und er liebte das Geschäftsleben. Vor fünf Jahren war er in einen Geldwäscheskandal verwickelt, von den er sich Monate später erholt hatte. Charles betonte damals (vielleicht war es eine Ausrede), dass es sich um eine Art von Komplott handelte und stellte jede Verschwörungstheorie hin. Die Vorwürfe dauerten zwar an, konnten aber nicht nachgewiesen werden, denn die Beweislage war lauter Lücken. Zum Glück. Und schließlich bekam er von den Einwohnern doch noch den Respekt.
Die Taverne hatte von acht bis zwei Uhr morgens offen; also achtzehn Stunden. Jeden Tag, um siebzehn Uhr würde Charles seinen Kollegen Sid ablösen und Stimmung in die Bude bringen. Sid war die typische Art von 08/15- Person die man praktisch überall einsetzen konnte; vom Hilfsarbeiter im Friedhof bis zum Geldzähler. Er machte nur seine Arbeit und dann war Feierabend. Obwohl er ein Durchschnittstyp war, fühlte er sich nicht abgewertet in seiner minder sozialen Lage. Für ihn war lediglich wichtig, über die Runden zu kommen, sein Leben zu leben, sein Leben im Griff zu haben, sein Leben zu schätzen wissen und sein Leben mutwillig durchzuziehen. Sid Leighton war ledig und kinderlos, aber das kümmerte ihn nicht. Er hatte einst nicht betont, dass Frauen zuviel Geld kosten würden, er hatte betont, das Kinder zuviel Geld kosten würden, aber dass sein Single-Dasein darauf zurückzuführen war, weil er mit dem Klischee ankam, dass Frauen zu kompliziert waren, was aber eher als Ausrede diente, für sein mangelhaftes Talent Frauen etwas bieten zu können. Das merkte man an, als er häufig ein Blick auf die Vordertür warf und sich vielleicht doch noch Hoffnungen machte, es würde eine attraktive Frau mit mangelhafter Selbstverliebtheit auf ihn zu gehen, ein paar nette Worte mit ihm wechseln und die Gutmütigkeit aus ihn herauszufiltern. Aber die Gutmütigkeit war im Innersten des verborgenen Panzerschott der Griesgrämigkeit verschlossen und es war mittlerweile unmöglich, das Positive zu befreien. Es waren zu viele Jahre vergangen und wie er aussah, würde er glatt vor sich selbst schämen. Er war alt, Haare besaß er kaum, sein Gesicht war markant, hager und vernarbt. Seine Augenfarbe war dunkelgrau. Ziemlich ungewöhnlich, doch unter seinen buschigen Augenbrauen konnte man das sowieso nicht erraten. Er war auch eher klein und untergesetzt und verbrachte die Zeit, wenn mal weniger los war, einen Comic nach dem anderen zu lesen. Wenigstens hatte er da Spaß daran.
Doch die jüngere Generation mochte keine Comics...
2
Wenn Urlauber wüssten, dass diese Stadt in verschiedenen Bereichen eine furchtbare Vergangenheit hatte, so würden sie sofort umkehren, erst recht, wenn sie in der Stadtbibliothek nachschlagen würden. Vor allem dort erhängte sich vor zwanzig Jahren ein gewisser Jhone Aultway, ein isländischer Architekt. Der Grund war bis heute noch unklar, es gab keinen Abschiedsbrief, keine einzige Aufzeichnung, nicht die leisesten Beweggründe. Der Selbstmord blieb tatsächlich bis heute unaufgeklärt. Alles, was man über ihn wusste war, dass er ein Einsiedlerleben führte. Ja, er war ein Einsiedler wie er im Buche stand, nur darauf aus, verschiedene Bauten auszuführen und zu präsentieren. Aultway machte damals keinen unglücklichen Eindruck, doch da es in dieser Kleinstadt zuging, wie im Dorftratsch, wurden die Beweggründe nur noch spekuliert. Es gab Leute, die behaupteten, er hätte eine unheilbare Krankheit (vielleicht Krebs, vielleicht Multiple Sklerose, vielleicht etwas Unbekanntes). Andere meinten, er wäre zu einsam im Leben gewesen, er hätte seine Armseligkeit nicht preisgeben wollen. Dann gab es Leute, die das Gerücht verbreiteten, dass der ehemalige Architekt Dreck am Stecken hatte, der allerdings einen Rattenschwanz mit sich zog. Ja, die ganzen Gerüchte. Doch die ganze Wahrheit stand in den Büchern in der Bibliothek (zumindest das, was sich bestätigte). Doch heutzutage gingen nicht mehr so viele Leute zur Bibliothek, wahrscheinlich aus Furcht, die totale Wahrheit zu erkennen, mit der Wahrheit konfrontiert zu werden, von der Wahrheit berührt zu werden und vielleicht das Unterbewusstsein auftreten zu lassen, das ganz plötzlich die Wahrheit abspielt, wie ein Film im Kino. Interessant war auch der Rest der Geschichte.
Chuck´s Taverne war früher ein Saloon, der hundert Jahre lang hielt und dann dummerweise von selbst zusammenstürzte und sieben Personen den Tod brachte. Doch Charles Thomalis interessierte die Stadtgeschichte nicht, er war ein Mensch, der nur nach vorne schaute und wenn es sein musste, war er gerne bereit, seine Scheuklappen aufzusetzen, nur um gewisse Pläne oder Ziele zu erreichen. Geld war schon immer für ihn am wichtigsten. Für ihn gab es nur logische Erklärungen, zum Beispiel:„ Ein Unfall ist nur ein Unfall. Missgeschicke passieren andauernd. Mann sollte sich keinen Kopf machen, nur nüchternes Denken und Handeln für die Zukunft ist alles, was das Leben ausfüllen soll. Nur die Stärksten überleben, sich über negative Vorfälle verrückt zu machen und in die Defensive zu gehen, ist ein Anzeichen von Schwäche und wer schwach wird, ist endgültig verloren und wer verloren ist, der raubt sich seine Hoffnung auf eine neue, positive Lebensweise. “
Diese Aussage hatte er mal preisgegeben, als er interviewt wurde.
Richard Stanton, Reporter und Kolumnist hatte Wochen später sein Urteil gefällt: „ Thomalis ist ein rücksichtsloses, menschenverachtendes Arschloch. Ich habe niemals vorgehabt, ihn als Dorn im Auge zu betrachten, aber die abweisende Ader, die er besitzt, setzt mir richtig zu. Als ich ihn fragte, was sich damals ereignet hatte, das heißt, was Chuck`s Taverne früher für einen Ruf hatte, so hatte er lediglich, wie ein arroganter Protz von seinen Vorhaben erzählt. Er spielte sich anderen Leuten, über die er verallgemeinert außen vor erwähnt hatte, zu herablassend auf. Er verschmälerte anderer Leute jeden Verdienst, sodass nur noch egoistische Vorteile zum Vorschein kamen. Und als ich dann den Skandal erwähnte, Sie wissen schon, die Unterstellung mit der Geldwäsche, da hatte der mich abgewiesen, als sei ich ein unqualifizierter Möchtegernschnüffler. Er war ein Problem! Bei aller Liebe Gottes, aber als Politiker möchte ich ihn auf keinen Fall haben, soviel ist sicher.“
3
Das Eastside-Kino gehörte Ernest Heppard und er war sich im Klaren, dass es früher ein Opernhaus war und im zweiten Weltkrieg schlug dort eine Bombe ein, während ohne Warnung die Oper von Verdi nachgespielt wurde. Auch da hatte Stanton ein Interview gegeben. Heppard, schon vierundsechzig Jahre alt, stand für jede Frage Rede und Antwort.
„ Ich war dreizehn, als diese Bombe das Opernhaus zerstörte, damals lebte ich mit meinen Eltern gegenüber, soviel war sicher. Es war im Februar, ich wusste nicht, am wievielten sich dies ereignete, aber es war an einem Samstagabend. An dem Tag hatte ich Langeweile, es war zwar Krieg, aber das bedeutete nicht, dass jede Region auf der ganzen Welt davon betroffen war. Doch es gab immer ein Versehen. Versehentlich passierten immer unvorstellbare Dinge, und dann war ein Unschuldiger betroffen. So abgelegen, wie wir waren, gab es trotz alledem immer noch Unglücksfälle wegen den Scheiß Krieg. Ich weiß noch ganz genau, wie ich aus dem Fenster starrte und die gutmütige Stimmung bewunderte. Absolut keiner ließ sich auf irgendeine Art entmutigen. Die Leute liefen hin und her, von einem Geschäft zum anderen Ort. Ich konnte die Musik hören, die mich an meinen letzten Italien-Urlaub erinnerte, ich glaube, das war in Mailand oder so, auf jeden Fall füllte sich die Atmosphäre. Musik war für mich schon immer Balsam für die Seele. Als meine Mutter mich rief, das Abendessen sei fertig, da wandte ich mich gehorsam zurück, ich kehrte dem Opernhaus also den Rücken zu, da blitzte und krachte es zugleich. Es war lauter, wie der Kino-Sound heutzutage. Mir ist klar, das jeder Actionstreifen, der gezeigt wird, mich an die damalige Zeit erinnert. Ich schaute schnellstens aus dem Fenster raus und war schockiert. Auch meine Eltern rannten zu mir, der Schock war groß. Alles war zerstört, nicht weil ein Anschlag auf unsere Stadt gerichtet war, oder eine Warnung bevorstand. Nein. Es war nur ein bescheuertes Versehen. Die ganzen Flieger, die man tagein, tagaus hörte und sah, waren allein durch ihre Anwesenheit eine Bedrohung. Uns war...echt der Appetit vergangen.“
„ Warum hatten Sie das Kino übernommen, das genau da eingerichtet wurde, wo einst ein Opernhaus stand?“
„ Ja, ich weiß, das war absolut respektlos von mir und ich schäme mich heute noch dafür, doch es war die einzige Möglichkeit; ich hatte geerbt und dann kam das einzigste Angebot, das einfach nicht auszuschlagen war. Ich hatte mal einfache Arbeit als Schuster, dann verlor ich die Stelle, dann war nichts mehr los, bis zu dem Zeitpunkt, als mein Onkel starb und mir alles vermachte. Wir waren schon immer arm gewesen, aber mit diesem Vermögen hätten wir nie gerechnet. Irgendwann, ich glaube, das war 1966, kam dieses Kino zustande, das ich mit aufbaute. Mit dem Vermögen konnte ich ja nicht für den Rest des Lebens unbeschwert sorgen, so bekam ich den Vertrag, der die Möglichkeit bot, sich schrittweise nach oben zu arbeiten. Und jetzt bin ich Eigentümer. Ab und an besuche ich eine Vorstellung, aber ich mag normalerweise keine Actionfilme. Ich bin auch grundsätzlich gegen den typischen Kino-Sound, doch wenn es darum geht, ein bestaunendes Publikum anzulocken, sehe ich keine andere Alternative. Doch der Sound wird mich mein ganzes Leben verfolgen.“
4
Das Museum leitete Sam Callaway, ein Nachwuchs von Jeraldo Panis, einem Archäologen, den es nach Äthiopien verschlagen hatte und spurlos verschollen war. Auch in diesem Punkt konnte ein Interview nicht vermieden werden, denn die ganze Sache war interessant für den tatendurstigen Reporter und Kolumnist. Richard Melvyn Stanton war noch ein ganz junger Kerl, gerade zwanzig. Aber er machte keinen unerfahrenen Eindruck, im Gegenteil. Man hatte den Anschein, als hätte er bereits die halbe Welt bereist, und könnte zu jeder Kultur einen eigenen Vortrag halten. Doch was hatte ihn dazu bewegt, die Stadtgeschichte zu verfolgen? Wie kam dieses Interesse zustande? Sicher war, dass er seiner Nase folgte. Er war sich zwar nicht bewusst, aber er witterte irgendetwas. Klang irgendwie nach Schicksal. Und jetzt musste Sam Callaway sämtliche Fragen beantworten; er musste nicht, er wollte.
„ Wie läuft das Geschäft?“
„ Es läuft ganz hervorragend. Ja wirklich. Dank des wunderbaren Prestiges kommen doppelt so viele Besucher, als in Schefferville oder Carsleigh. Und ich habe persönlich alles dekoriert, sowohl innen als auch außen. Wenn wir Oktober haben, werde ich alles im Halloween-Style dekorieren. Es sollte alles Saisongemäß ablaufen, das ist meine Vorstellung. Thomalis, dieser Besserwisser, meinte mir erzählen zu müssen, wie man ein Geschäft leitet. Seine Vorstellung ist doch offensichtlich, all die Kundschaft zu verarschen und zu betrügen. Was ich mache, ist ehrlich. Ich bin eben kreativ, er nur konversativ.“
„ Was macht Ihre Position aus?“
„ Tja, ich leite nicht nur das Museum, ich bin auch so etwas wie ein Hausmeister. Ich liebe dieses Museum, es ist mein wirkliches Zuhause. Ich könnte mir nichts besseres vorstellen.“
„ Wie war denn Ihr früheres Leben?“
„ Seit meine Eltern im Krieg ums Leben kamen, kümmerte sich Jeraldo Panis um mich. Er war mit beiden sehr eng befreundet und verbrachte viel Zeit mit mir. Er war für mich wie ein Vater und als er das Museum leitete, war ich bislang Hausmeister. Dann taten wir uns zusammen, denn die Interessen waren gleich. Wir waren ein super Team.“
„ Erzählen Sie mir über Jeraldo Panis.“
„ Er war eben der Leiter des Museums und außerdem noch Archäologe. Einige Artefakte stammten von ihm persönlich, zum Beispiel diese Maske aus Bronze, die er in Mexiko 1947 entdeckte. Dann hätten wir dieses schöne Amulett, das abends immer leuchtet und unter anderem dieses Pergament in aramäischer Schrift. Beides fand er in Syrien, das war schätze ich 1954. Irgendwann, das war vor vier Monaten, verschlug es ihn nach Äthiopien und seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Vielleicht ist er in den Händen von Terroristen, vielleicht hatte er etwas entdeckt und steckt in einer Falle. Ich hab' überhaupt keine Ahnung.“
„ Waren Sie schon mal in Äthiopien?“
„ Nein. Jemand muss doch hier bleiben und für Ordnung sorgen.“
„ Sie könnten doch Hausmeister einstellen.“
„ Da bin ich viel zu skeptisch. Nachher kreieren sie Verzierungen, die der Hässlichkeit kaum noch zu überbieten sind.“
„ Andererseits, was wäre, wenn sie nicht doch die Absicht haben, nach Äthiopien zu fliegen und sich auf die Suche zu machen.“
„ Selbst wenn ich dafür das Museum für einige Zeit schließen würde, ich traue mich nicht, in solche Gegenden zu reisen. Ich kämpfe zwar gegen journalistische Panikmache, aber was wahr ist, soll wahr bleiben. Der gute alte Panis glaubte, eine Goldader entdeckt zu haben und er war nicht zu stoppen. Er war sich so sicher. Ich habe schon versucht, einen Suchtrupp loszuschicken, sogar heimlich, doch die Regierung hat mich davon abgehalten. Sie waren alle der Meinung, dass es zu spät sei. Könnten Sie mir nicht weiterhelfen?“
„ Ich habe mir das bereits notiert. In meinen Job ist es wichtig, vorab keine Furcht zu zeigen und genauso den Tatendrang zu besitzen, wie Jeraldo Panis. Ich kann sogar dafür sorgen, dass man ihn als Held feiert. Klingt das in Ordnung?“
„ Ja, das hört sich gut an.“
„ Ich habe sogar notiert, dass ich mir diesen Charles Thomalis noch mal ins Auge fassen werde.“
„ Ach übrigens, ich habe noch nicht das wertvollste von der Sammlung gezeigt. Bitte folgen Sie mir.“
Beide verließen das Büro, marschierten direkt die Treppe herunter, bis sie die Halle erreichten. Sicher, Callaway hätte auch wertvolle andere Entdeckungen gezeigt, doch wichtig war ihm das wertvollste Prunkstück in der Sammlung, das sich im Keller befand; nicht in einer Vitrine, sondern in einem Stahltresor. Aber auch die Kellertür war keine herkömmliche Tür - sie war eine Panzertür mit Zahlenkombination. Sam gab die Kombination ein. Sie war achtstellig und stellte das Geburtsjahr von Jeraldo Panis und sein eigenes dar. 1924 und 1946. Der Reporter schaute natürlich weg, er hätte sowieso keine Absicht, irgendwann etwas zu stehlen oder ein Einbruch zu verüben, schließlich hatte er genug Anstand.
Voila, die Panzertür war offen. Der Lichtschalter, der sich rechts befand, wurde betätigt und beide traten die Kellertreppe vorsichtig runter. In diesem Raum befand sich nur Gerümpel, doch wo war dieser geheimnisvolle Tresor? Sam näherte sich den Gemüsekeller, der erst dann sichtbar wurde, nachdem er mit den Reporter das Schränkchen beiseite schob. Wieder ein Raum, der abgeschlossen war, mit einem kleinen Zahlenschloss. Die Kombination war diesmal fünfstellig. Sein Vorname diente dazu, wobei die Buchstaben in Zahlen umgewandelt wurden, wie zum Beispiel A = 1, B = 2, C = 3, und so weiter.
In diesem Fall hieß die Kombination 19 (S) - 1 (A) - 13 (M).
Also: 19113. Und geschafft. Jetzt kam die Mutter aller Schlösser oder Kombinationen. Der Tresor. Diesmal mussten Buchstaben eingegeben werden und das hatte diesmal nichts mit den Lebensläufen der beiden Museumsleiter zu tun. In diesem Tresor war etwas drin, was seit Menschengedenken noch nie jemand entdeckt hatte; etwas, das die Grenzen der Vorstellungen maßlos überschreiten könnte. Der Reporter fühlte sich nicht gerade überrascht, da er der Auffassung war, dass Wissenschaftler und dergleichen jede Entdeckung für eine Göttlichkeit hielten, doch er nahm Geduld mit. Der Museumsleiter hatte bereits jeden einzelnen Buchstaben gedrückt, da öffnete sich die Tresortüre automatisch. Stanton durfte sich das wertvollste Stück als erstes ansehen. Doch er zeigte keinerlei Begeisterung.
„ Tut mir leid, aber ich kann mich nicht für etwas begeistern, das nur aus Luft bestehen könnte. Das ist doch wohl ein Scherz.“
( kein Scherz; was nicht ist, ist nicht.)
„ Moment mal. Das ist etwas...Was zum...NEINNN!!!“
Der Tresor war total leer, doch wie in aller Welt war so etwas möglich? Panis war das auf keinen Fall, da letzte Woche alles peinlichst kontrolliert wurde und Sam Callaway schon süchtig danach war, seine Inventur zu betreiben. Doch das Ding war weg. Einfach verschwunden, wie verhext. Die Buchstaben, die Sam eingegeben hatte bildeten ein Wort.
Dormircreepchimerical! Dort drin musste sich eine Metallkapsel befinden, die bei aller Liebe Gottes nicht irdischer Abstammung sein konnte. Es gab merkwürdigerweise nicht die geringsten Einbruchspuren. Nicht einmal ein Hinweis, das ein Profi im Gange war. Einfach nichts!
5
Im zweiten Weltkrieg war am Ostbahnhof Tumult. Leute liefen hin und her wie im Stadion, Züge fuhren rund um die Uhr, gleich ob für Reisen oder für die Arbeit bedingt, doch 1945 wurde diese Gegend rücksichtslos im Stich gelassen, denn ein bestimmtes Zugunglück schockierte die ganze Stadt. Kaum hatte der Zug den Ostbahnhof erreicht, rutschte der Zug aus den Gleisen; offensichtlich war menschliches Versagen der Gleismonteure am Spiel. Zweihundertsiebenundzwanzig Passagiere kamen um; als der Zug umkippte kam es sofort zu einer Explosion. Offenbar war auch noch Diesel ausgelaufen, doch wann dies anfing war unklar, denn keiner hatte tatsächlich etwas bemerkt. Die Toten konnten bis heute nicht identifiziert werden, da sie bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren und merkwürdigerweise keine Vermisstenanzeige erstattet wurde. Schließlich fand 1979 eine Neueröffnung statt und auch da musste der Reporter von Welt zuschlagen. Betrieben wurde der Bahnhof von einem Mann namens Slim North.
„ Können Sie mir sagen, was sich damals zur Kriegszeit ereignete?“ fragte Stanton den Betreiber.
„ Woher soll ich das wissen? Die einzigen, die was darüber berichten könnten, wäre eines dieser Bücher in der Zentralbibliothek oder mein Vater. Doch seit fünf Jahren hat er kein Wort gesprochen und ich wette, er nimmt jegliches Geheimnis mit ins Grab.“
„ Hat er Ihnen nicht ein einziges Detail erzählt?“
„ Eine Gegenfrage. Können wir die Vergangenheit nicht einmal ruhen lassen? Der Bahnhof hat auch ohne irgend eine verrückte Publicity einen negativen Ruf und ich habe zumindest die Aufgabe, das alles hier mit allen Strängen so gut wie möglich anzukurbeln.“
„ Eine Frage hätte ich noch. Irgend etwas positives musste der Ostbahnhof letzten Endes doch noch haben. Wann ging es überhaupt bergauf?“
„ Schluss jetzt! Ich will nichts mehr hören, ich will nichts mehr sehen, ich will nichts mehr wissen! Können mich alle mal am Arsch lecken.“
Das war verständlich, wenn man sich vorstellte, was die Familie von Slim North allein schon durchmachen musste und der ganze mögliche Ärger an ihn auch noch hängen blieb. Doch der Reporter nahm es gelassen und ließ den armseligen Betreiber zurück. Es gab ja noch viel mehr zu erledigen, denn es stand noch ein weiter Weg bevor.
6
Im nördlichen Teil der Stadt war der Friedhof. Dieser Teil war ziemlich hügelig, sodass man auf den obersten Teil des Friedhofes über die ganze Landschaft blicken konnte. Gerade bei schönem Wetter war dies der absolut herrlichste Anblick. Am frühen Morgen steuerte der sogenannte Hochnebel von den bergigen Landschaften herunter, umhüllte die Wipfeln der Baumkronen und zunächst einen unterstehenden Ast nach dem anderen. Wie ein Deckmantel ließ der Nebel die gesamte Flora keine Gelegenheit, sich von der niedergelassenen Pracht zu zeigen. Nicht einmal der Teich neben dem Friedhofsgelände blieb verschont und als der komplette Nebel die unterste Ebene erreichte, hatte noch nicht einmal die Fauna etwas zu melden. Zwei Friedhofsgärtner arbeiteten tagein und tagaus, vor allem im Herbst war extrem viel zu tun. Wenn die Bäume ihr Laub verloren und der Wind dieses durch die Gegend verstreute, brachte das doppelt und dreifache Arbeit ein. Das gefiel Thad Darden und Ian Garrison weniger, denn das Laub verunstaltete die Gräber und Ordnung war für die beiden erforderlich. Als Trost sangen oder pfiffen beide ein Lied, damit die Zeit nicht die überzogenen Längen in ihr Arbeitsklima einbrachte. Thad lächelte. Wenn wenigstens Leben in seinem Körper kam, konnte man ihn für einige Sachen begeistern. Überall lagen Blätter verstreut und begruben sogar die kompletten Gehwege. Bei schlechtem Wetter sah um diese Zeit alles wie abgestorben aus, aber so war der Herbst, wo aus Fröhlichkeit langsam die Umwandlung zum Trübsal entstand. Auch der Friedhof hatte eine schreckliche, aber auch seltsame Vergangenheit, denn 1906 ( Der Friedhof war etwa vor zweihundert Jahren existent; die Gräber zu deren Anfangszeit standen immer noch da ) sorgte, so albern es sich anhörte, Massennekrophilie für sehr viel Aufruhr. Seitdem wurde der Stacheldrahtzaun um den Friedhof rum mit elektrischer Spannung voltiert. Während die beiden Friedhofsgärtner sich in die Arbeit vertieften, kam der Reporter bereits auf sie zu. Ian Garrison, der nicht besonders gut auf Interviews und Vorträge zu sprechen war, überging sofort zu einer anderen, in sich gekehrteren Tätigkeit und ließ seinen länger beschäftigten Kollegen alleine.
„ Hallo, Thad Darden ist mein Name. Kann ich etwas für sie tun?“
„ Ich möchte mich einfach nur erkundigen. Wie läuft die Arbeit?“
„ Also, momentan haben wir wirklich unheimlich viel zu tun. Eigentlich hat jede Jahreszeit etwas negatives, was den Arbeitsablauf stören könnte. Im Frühling sind es die Pollen, im Sommer ist es die Hitze, vor allem wenn man körperlich richtig loslegen muss, im Herbst sind es die vielen, losen Blätter und im Winter die Kälte und der Schnee.“
„ Können Sie etwas Vergangenes über den Nordfriedhof erzählen?“
„ Wir sind leider nicht genügend informiert. Da fragen Sie am besten Pater Clement. Er leidet zwar häufig unter Müdigkeit, aber für solche Fragen steht er mit Sicherheit gern zur Verfügung.“
„ Eine Frage hätte ich noch“, sprach der Reporter. „ Gibt es neben den Nordfriedhof auch die anderen Himmelsrichtungsfriedhöfe?“
„ Sie meinen den Ost- oder Südfriedhof zum Beispiel? Logisch gibt es alle drei Friedhöfe, aber sie sind wesentlich unbedeutender und bei weitem kleiner, als dieser hier.“ Thad deutete auf diese Umgebung, in der sie sich jetzt befanden.
Richard Stanton bedankte sich und für ihn blieb nur noch eines. Auf, zur Kapelle.
Pater Red Clement stand schon in der Kapelle, als habe er ihn bereits erwartet. Er machte den Eindruck, als hätte er ganze Storys zu erzählen, aber er wirkte auch ziemlich zerstreut. Der Pater war vierundsiebzig Jahre alt und ging etwas gebeugt. Haare besaß er zwar viele, aber nur am Hinterkopf entlang. Während er seine Aufzeichnungen holte, bewunderte Stanton die Kuppel, die Zeichnungen, eben die ganze Ausstattung. Als der Pater zurückkam, schleppte dieser einen Stapel mit sich und präsentierte diese. Den Plan über den Friedhof, Pergamente, Zeitungsartikel, Geschichten, ein Buch mit Leder überzogen und aufgefasste Gerüchte, die der Reporter sofort einstudierte und sich wunderte, wieso keine Verschwörung des Schweigens stattfand. Vielleicht wollten die Einwohner sich nicht unterkriegen lassen oder bestimmte Sachen hinter sich bringen. Besonders der Zeitungsartikel mit der Massennekrophilie hatte es ihm angetan.
„ Kannten sie jemanden, der Zeuge wegen dieses Vorfalls war?“
„ Selbstverständlich. Als ich noch jung war, wurde er siebzig und verstarb dann. Vater Benitio! Er hatte den Posten, dann Vater Casper und jetzt ich. Und all diese Aufzeichnungen sind jetzt in meinem Besitz. Und ich bin stets bemüht den letzten Willen zu erfüllen.“
„ Was war der letzte Wille?“ fragte Stanton neugierig.
„ Die Kapelle so gut, wie möglich zu erhalten. Auch die Aufzeichnungen wurden mir überlassen und meine Pflicht besteht darin, diese auch zu behalten. Doch ich kann dies nicht wirklich länger geheim halten und außerdem wüsste ich nicht, wem ich diese Aufzeichnungen und Artefakte hinterlassen könnte.“
„ Nun ja, da wären vielleicht die beiden da draußen.“
„ Nein! Der eine Lange, wie hieß er noch...ah ja...Garrison. Der ist doch viel zu schlecht auf sich zu sprechen. Der würde die Sachen gnadenlos ins Feuer werfen. Und der andere ist viel zu gutgläubig. Auch, wenn man es gut mit ihn meint, ihn irgendwelche Geheimnisse anzuvertrauen, früher oder später hätte er doch noch alles ausgeplaudert, und dann kämen solche Informationen vielleicht in die falschen Hände.“
„ Ich will zwar nicht zynisch erscheinen, aber wieso vertrauen sie die Sachen mir, einem Reporter von Welt an? Ich könnte theoretisch das alles in die Welt hinaus posaunen.“
„ Aber nur theoretisch. Ich weiß zwar nicht, ob so eine Begabung ausschlaggebend ist, aber mit meinen Menschenkenntnissen kann ich Leute tatsächlich einschätzen. Das war mir schon immer gelungen, Mister.“
Daraufhin starrte der Reporter nochmal auf die Aufzeichnungen und war etwas enttäuscht, dass er immer noch Gerüchte und Realität nicht auseinander halten konnte. Vielleicht sollte er ja doch im Stadtzentrum nachschlagen...
7
Zweihundert Meter westlich befand sich das Bergwerk mit einer tragischen Vergangenheit. 1913 machten drei Leute Überstunden, ohne zu ahnen, dass irgendwo Methangas rausströmte. Dort Zigaretten anzuzünden wäre Leichtsinn und diese „ Nachsitzer “ waren noch Laien und die Folgen konnte man sich denken: Der Stollen explodierte, der Lärm weckte die ganze Stadt, den Qualm konnte man meilenweit sehen und von den Arbeitern fehlte jede Spur.
Im Jahre 1920 existierte ein Herrenhaus, das von Burl Franklyn bewohnt wurde, deswegen hieß es jetzt das Franklyn-Haus. Es wäre schön, etwas Positives darüber zu erzählen, aber die Stadt war eben ein Fall für sich. Und nur wenige betraten die Stadtbibliothek, weil die Stadt sonst so gut wie leer wäre, wenn man über die Hintergründe dieser Stadt erfuhr. Es war soviel passiert, dass man meinen könnte, es würde ein Fluch auf Sudbourg lasten, der mit Hexerei zu tun hatte. Man wusste es einfach nicht; man wusste einfach nicht, was man glauben sollte, denn vielleicht existierten nur noch Gerüchte, als ob jedes Telefon einzeln abgehört wurde. Burl Franklyn war ein Chirurg und verbrachte den großen Teil der Zeit in Neu-Guinea, während seine Frau Tryshka mit ihren Kindern allein blieb. Das letzte Mal, als man Franklyn sah, (und die Stadt wusste nichts davon) war, als er Tryshka und seine Kinder, die noch Säuglinge waren, einsperrte. Seitdem sah und hörte man nichts mehr von der Familie. Nicht weit entfernt lag ein Schiffswrack, dass ebenfalls Franklyn gehörte. Nachdem er seine Familie rücksichtslos im Stich gelassen hatte, wollte er mit dem Schiff nach Neu-Guinea fahren, um ein neues Leben anzufangen, doch wie es aussah, hatte er das Schiff nie betreten.
Die Stadt Sudbourg hatte nicht nur furchterregende Ereignisse sondern auch ungelöste Geheimnisse; Lücken, die gefüllt werden mussten. Vielleicht sollte das eine sechsköpfige Clique in die Hand nehmen. Sechs Leute, so wie wir.
Seit 1960 war die Stadt ruhig. Keine mysteriösen Ereignisse und Todesfälle umhüllten oder besser: durchdrangen die Stadt, als ob die Männer in ihren Schutzanzügen und Gasmasken mit ihrem Pestizid Sudbourg gereinigt hätten und somit der sogenannte „ Schwarze Tod “ vorrübergehend beseitigt wurde. Doch so war es immer im Leben. Das pure Böse kann nie vollkommen zerstört werden. Man kann es auf Eis legen, beseitigen oder im Schach halten. Ein Knockout durchführen oder es einsperren. Aber immer wieder taucht das Böse auf, wie Karies, wie ein Bummerrang, wie eine Nervensäge, die darauf aus ist, sich als Klette zu bewähren.
Wie gesagt, die Stadt war ruhig – bis wir kamen...
8
Wir waren zu sechst; eine Truppe von Personen mit unterschiedlichen Charakteren. Mein Name ist Manolo Alvares und ich war erst zwölf; der jüngste und der kleinste aus dieser Gruppe, und ich fungierte dabei eher als Klotz am Bein. Wer nahm mich denn schon ernst? Alle kamen im übrigen miteinander aus und meine Zurückhaltung ließ alles geschehen. Ich wusste nicht, warum ich mich auf diese Clique einließ, denn die Schulferien gingen bis zum 18. September, und jetzt befanden wir uns am Ende der Welt. Mit Sicherheit würden wir gemeinsam steinreich sein, wenn alles glatt ging, denn Sudbourg war etwas isoliert und das war leichte Beute für uns. Was immer auch unsere Suche Glauben schenkte, es würde unser Leben verändern. Danach würde keiner nach irgendwelchen Regeln seine Lebensweise verbringen, da sollte Freiheit herrschen. Nach den Ferien käme ich ins siebente Schuljahr, oh Gott, hoffentlich würde alles gut gehen. Man hatte ja nur ein Leben und das sollte nicht irgendeiner Sklaverei vergeudet werden. Vor allem nicht auf unnötige Weise.
Edgar Carlsson war der Intelligenzbolzen der Truppe, denn er war sehr konfliktfähig, smart und spontan. Auch wenn er fünfzehn war, mochte er Herausforderungen. Er war der einzigste von uns, der viel reiste und dazu gehörten Lebenserfahrung und Lebenslust, vor allem aber das Bedürfnis, seinen Horizont zu erweitern. Und das sah man seinem verschmitzten Gesichtsausdruck auch an. Sein dichtes braunes Haar gab einen ordentlichen Schnitt ab, der sein gepflegtes Äußeres niemanden zu bedenken gab. Dazu gab es wirklich keinen Anlass, auch gab es von Person aus nichts zu bemängeln. Er war perfekt. Ohne ihn, den allwissenden Taktiker, funktionierte überhaupt nichts. Wir wären hoffnungslos aufgeschmissen und das Unternehmen wäre begraben gewesen.
Timmy Hogan wäre eigentlich nur Ballast, aber er musste die Aktion mitmachen, weil er der jüngere Bruder von Biff, unserem Anführer war. Wenn Timmy nicht so fett wäre. Er war vierzehn, einmetervierundfünfzig groß und wog hundert Kilo; und er dachte permanent ans Essen. Aber so war er das ganze Leben.
Henry war drogenabhängig, denn Koks war seine Schwäche. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wäre auch er für mich einfach nur Ballast; doch zu dieser Zeit war ich der ganz kleine Waschlappen und ich hatte auch mit jeden Mitleid.
Früher war ich allerdings noch schlimmer, noch zurückhaltender. Im Alter von zehn Jahren hatte ich silbenförmig gestottert, zwei Jahre vorher bekam ich nur brockenweise einige Buchstaben hin und davor zwei Jahre kam kein einziges Wort aus mir raus. So furchtbar musste es um mich herum gewesen sein. Und gerade weil bei mir nichts zustande kam, wurde ich als Nichtsnutz oder als Verlierer angeprangert. Das sollte sich in Zukunft ändern, denn unwohl fühlte ich mich in dieser Gruppe nicht gerade. Nur brauchte ich Zeit, um mich an andere zu gewöhnen, denn mit Überheblichkeit könnte ich ganz bestimmt nicht durchs Leben gehen. So eine Person war ich einfach kein bisschen, da ich mich sonst vor Selbstekel schämen müsste.
Henry Trinkhaus lebte in Berlin, war aber in Bonn geboren. Der mittlerweile sechzehnjährige rutschte schon mit zwölf ab, fing ab da schon an, zu rauchen, zu kiffen und im Alter von vierzehn Jahren kam das Kokain ins Spiel. Seine Gesundheit war ihm nie wichtig, nur seine Bedürfnisse. Und keinem im Umfeld schien das zu interessieren. Ich wünschte, ihm könnte geholfen werden, aber dafür war es einfach viel zu spät.
Unser Anführer Biff war ein brutal aussehender Typ. Mit zwanzig Jahren war er der älteste von uns, und mit 1,84 Metern war er der Größte. Äußerlich war er eine Mischung aus einem Neo-Nazi und einem Rocker. Er hatte ganz schön viel Dreck am Stecken und war darum auf der Flucht. Er stammte ebenfalls aus Deutschland, besaß aber Verwandte amerikanischer Herkunft. Vorher lebte er in Köln-Chorweiler. Ein junger Typ provozierte ihn damals, indem er ihn mit der flachen Hand schlug. Daraufhin war Kurzschluss und dieser Ausraster war das Todesurteil des Knaben. Biff schlug mehrmals auf ihn ein und wurde dabei erwischt, wie er weiter auf den bewusstlosen Körper einschlug. Der Junge hätte tot sein können, doch wie durch Zufall überlebte er es. Das brachte Biff Hogan acht Jahre ein, wobei er nur zwei davon nutzte, um dann fliehen zu können. Dazu bräuchte er einen genialen Plan und Biff war wirklich alles andere, als auf den Kopf gefallen. Er schlug eines Tages einen Wärter brutal nieder, der eine totale, auffällige Ähnlichkeit mit ihm hatte. War das Zufall? War das Glück? Wer weiß das schon mit Sicherheit. Sicher war, dass er sich als Wärter Willi Henkels ausgab und sich seinen korpulenten Bruder schnappte, um mit ihn nach Kanada zu fliehen.
Ach, eine Kandidatin durfte nicht fehlen: Tarah, das einzige, weibliche Mitglied. Die schöne Siebzehnjährige war früher sanft, wie ein Lamm, schmiss dann die Schule, weil sie mit niemanden klar kam. Sie hatte sogar ihre Eltern gegen sich, darum haute sie ab und begegnete irgendwann Biff, Henry und Timmy. Edgar hätte nicht darein gepasst. Er hätte Abitur machen können, doch es wäre ihm zu langweilig; er brauchte neues, wie zum Beispiel Action. Henry blieb, weil er Biff vertraute, denn dieser wusste, wie man am besten Geld machen konnte und wie man an Kokain ran kam. Wir hatten erst mal klein angefangen; Schwarzarbeit, Obdachlose beklaut, alte Omas die Handtaschen genommen, Mülldeponien durchkämmt...Schade! Hatte nicht viel gebracht. Als letztes klauten wir den Wohnwagen eines Rentnerpaares. Dabei hatten wir zwanzig Wohnorte, die wir aber systematisch in Form von Brennball betreten würden. Biff befahl Edgar, sein Laptop zu öffnen und die eingespeicherten Wohnorte, die man auch als Zufluchtsorte bezeichnete, aufzurufen.
„ Ich bin stolz auf unsere Zufluchtsorte“, erwähnte Biff.
Edgar nannte die ganzen Verstecke. „ Also, da hätten wir auf der Südseite den Wohnwagen, indem wir uns befinden. Die anderen Verstecke wären der Fuchsbau, Hotel Falcon, die Schotterstraße 29 und Tresorraum 3 im Stahlwerk Ages Corporation.“
Biff schlug vor: „ Sobald wir die Kleinigkeiten erledigt haben, betreten wir das Hotel Falcon, um den nächsten Coup zu besprechen.“
Timmy fragte: „ Können wir das nicht jetzt tun? Dann hätten wir es hinter uns.“
„ Unser überflüssigster Zufluchtsort wäre jetzt das Hotel. Wenn wir ein Verbrechen begangen haben, könnte man uns entdecken. Biff hat im Grunde genommen Recht. Wir haben so viele Zufluchtsorte, uns kann nichts mehr passieren, wenn nichts schief läuft.“
„ Jaaa, Timmy!“, sagte Biff. „ Edgar hat das richtig formuliert. Wenn du deine Wampe behalten willst, halt lieber das Maul!“
Timmy schwieg.
Edgar fuhr fort: „ Wenn wir auf Westen zusteuern, befindet sich hinter ´Source Montessa´, einem Wasserfall, ein Geheimgang. Mitten im Westen dieser Stadt Sudbourg befinden sich eine Holzfällerhütte, ein Baumhaus, ein geheimer Raum in der U-Bahn zwischen den Haltestellen Weißstraße und Lilienplatz und die Kirche St. Albert.“
Ich kam zu Wort: „ Wirklich beeindruckend.“
Doch ich wurde ignoriert. Vielleicht, weil ich noch zu grün war? Bestimmt.
Edgar: „ Als nächstes hätten wir die Nordseite. Das Franklyn-Haus, das seit siebzig Jahren unbewohnt ist, das alte Schiffswrack, der Keller der Realschule, das Bergwerk und die Krypta im Nordfriedhof.“
Henry murmelte: „ Wenn wir nicht aufpassen, landen wir ewig dort. Das ist kein Witz.“
Biff fauchte: „ Sag das nie wieder, du Junkie!“
Edgar meldete sich: „ Kann ich jetzt fortfahren? Vielen Dank!! Also, der östliche Teil der Stadt wäre unsere letzte Zuflucht, bevor wir uns eine andere Stadt aufsuchen. Zu den Ortschaften gehören Chuck´s Taverne, das Eastside-Kino, das Museum, die Geisterstadt am Ostbahnhof und die Kloake. Danach können wir immer noch die Katakomben benutzen.“
„ Edgar, ich bin stolz auf dich“, meinte Biff.
Timmy fing an zu nörgeln: „ Der Stubenhocker klemmt sich hinter seinem Laptop und erntet Lob, wobei wir die Drecksarbeit erledigen.“
„ A propos Laptop; du kannst jetzt alles schließen“, sagte Biff.
Auch Tarah meldete sich zu Wort: „ Wir wissen schon, was wir wissen müssen.“
Der Stadtplan und die Zufluchtsorte:
Timmy fragte: „ Haben wir noch 'was zu essen?“
Henry schaute nach: „ Wir haben noch die 5-Minuten-Terrine und Aachener Pfefferkuchen.“
„ Igitt! Und was machen wir jetzt?“
„ Na was wohl “, schlug Biff vor. „ Angeln gehen.“
„ Gute Idee! Ich hole schon die Sachen“, sagte Timmy.
Biff meinte: „ Tarah. Du bleibst mit dem Fuzzi hier und machst die Bude sauber. Henry, Timmy und ich werden den fettesten Brocken fangen, der sich je blicken ließ.“
Edgar grübelte: „ Und was ist mit mir?“
„ Du wirst uns Glück bringen.“ Diese Antwort erleichterte Edgar um ein Vielfaches. Er fummelte an seinem Laptop rum und die anderen drei Jungs holten ihre Angelsachen. Tarah und ich starrten uns gegenseitig an.
Draußen fing es an zu regnen, umso besser für die Angler. Ich fragte mich, ob ich den Pfefferkuchen für mich behalten konnte, da ich ja kein Fisch mochte. Ein witziges Schauspiel wäre, wenn keiner etwas auf die Reihe kriegen würde, aber Edgar hätte sicher wieder eine spezielle Idee auf Lager. Sie gingen zum Fluss und man hörte noch den letzten Satz von Biff: „ Wehe, du lässt eine fliegen, Timmy, damit verscheuchst du die Fische. Dann gibt es zwei Tage nichts zu essen!“
Biff konnte ein netter, witziger Kerl sein; man durfte ihn nur nicht zur Weißglut bringen, denn dann hätte man einen Psychopathen vor Augen. Trotzdem waren diese Typen ganz dufte; solange man machte, was gesagt wurde, konnte einem nichts passieren. Manchmal würde ich gern in Edgars Haut stecken, denn mit seinem Intellekt, der Flexibilität und Bescheidenheit bekam er jegliche Art von Respekt. Man nannte ihn den ´Wertvollen´. Mir fiel kürzlich ein; wenn Edgar die Koordinaten des Flusses herausfinden konnte, (falls dies überhaupt möglich war), dann wäre der Abend gerettet. Bis jetzt war sein Laptop zuverlässig. Ich starrte auf die Fernsehzeitung, als Henry hereingeplatzt kam. Er holte sich den Stecher und rannte die Tür hinaus. Ich begab mich ins Schlafzimmer und machte die Betten. Der muffelige Gestank ließ mein Gesicht automatisch wenden; ein Glück, dass ich nicht dort schlafen musste. Mein Schlafplatz war die Eckbank, so unbequem sie auch war, aber immer noch besser, als den unerträglichen Gestank einzuatmen.
Als ich mit dem Bettenmachen fertig war, hatte ich genug. Ich weigerte mich, die bremsgestreifte Unterhose von Timmy aufzuheben, also schob ich sie mit meinem rechten Fuß unter seinem Bett. Als ich aus dem Zimmer kam, starrte ich auf die Fünf-Minuten-Terrine. Ob ich sie essen sollte, wenn keiner damit rechnete. Würde sowieso keiner anrühren. Tarah war am Staubsaugen, und ich machte die Polster der Eckbank zurecht, als Timmy plötzlich hereinkam und die Aalgabel mitnahm. Dann rannte er, wie Henry zuvor, nach draußen. Ich hatte das Gefühl, dass sich alle aneinander vorbei redeten, als ob es um die Wurst ging. Der Wettbewerb würde heißen: Eins-zwei-drei, wer hat den Ball, und das zu denken, wäre Schadenfreude für mich. Als Tarah und ich fertig wurden, kam es zu einem kurzen Gespräch.
„ Die hätten ruhig etwas vorbereiteter sein können“, meinte Tarah.
Das Klügste, was ich je gesagt hatte, war: „ Die diskutieren sich bestimmt gegenseitig zu Tode.“
„ Ich würde zu gerne zusehen.“
„ Da hätten wir viel zum Lachen. Und dann noch in dem Wetter, das gäbe ein Massenchaos. “
„ Kann es sein, dass ich die Blumen nicht gegossen habe? “
Ich starrte Tarah in die Augen, holte tief Luft und meine Gegenfrage war: „ Wusstest du, dass gewisse Gerüche einen antörnen können? “
Diese Frage formulierte ich auf sanfte Weise, dass Tarah ein Gewissensbiss abbekam und mir zuflüsterte: " Wenn du bloß zehn Jahre älter wärst...ach...was solls...!“
Sie umarmte mich, dann kam der Zungenkuss, der Begierde in mir erweckte und dann schlug ich zu; ich machte das alles mit, mein Herz hämmerte wie verrückt, ihre Hände strichen den Rücken entlang, meine Hände waren an ihrer Hüfte. Den Mini-Orgasmus spürte ich, als mein Zeigefinger durch die Hüfte streifte. Und was passierte? Sie ließ sich das gefallen. Ihre hautenge Jeans fühlte sich wunderbar an. Ich spürte die Wärme zugleich mit der Wohlfühlgänsehaut. Das Gefühl im Schlaraffenland zu ertrinken. Dutzende Gedanken gingen durch den Kopf, aber das Realisierungsvermögen setzte bei mir ein Fragezeichen auf. Der Kuss war, wie die Ewigkeit, als plötzlich Schritte kamen. Wir mussten aufhören, ich begab mich auf die Eckbank und Tarah am Herd. Unsere vier Helden kamen rein, Biff brüllte: „ WIR HABEN BEUTE GEMACHT!“
Tatsächlich. Vier Aale wurden gefangen. Biff und Timmy gingen mit ihrer Beute zum Waschbecken, Henry rieb sich die Augen, Edgar fummelte an seinem Laptop rum und Tarah und ich warfen uns Blicke zu. Sie lächelte mich an. Aber warum schien sie ausgerechnet Interesse an mir zu besitzen. Mich als unerfahrenen Sprössling würde doch keiner beachten, höchstens verachten. Sie hätte vielleicht Biff nehmen können. Er ist doch viel zu rau, dachte ich. Außerdem würde er sie eher als Mittel zum Zweck benutzen, wie er wahrscheinlich uns zu dieser Aktion benutzen würde. Sie hätte Edgar nehmen können. Doch der Smarte war, soviel ich bedenken konnte, in sich selbst verliebt. Timmy und Henry gingen schon mal gar nicht, Tarah suchte lieber vernünftige Personen aus, mit denen sie tiefere Verhältnisse aufbauen wollte. Henry befand sich sowieso mit einem Bein in der Gefahrenzone. Und der Dicke? Er wusste noch nicht einmal, wie Zuneigung oder Liebe geschrieben wurde. Da blieb nur noch ich übrig, der die ganze Sache auch noch ernster nahm als einige von uns.
9
Wenige Stunden später aßen wir zu Tisch. Was gab es zu essen? Vier Aale für die Fänger, Pfefferkuchen für Tarah und die 5-Minuten-Terrine für mich. Ein billiger Trost, aber ich konnte mich damit abfinden. Timmy war der einzigste, der den Aal roh essen konnte, ohne sich entmutigen zu lassen. Biff meinte, dass wir unbedingt Geld bräuchten, für das Hotel. Darauf antwortete Edgar: „Ich würde vorschlagen, dass heute Nacht einige von uns ein Raubzug veranstalten müssten. Drei Leute sind vorzuschlagen.“
Biff meldete sich freiwillig und schlug Edgar und Henry vor. Ich betrachtete das als guten Gedanken. Timmy fragte erstaunt: „ Und was ist mit mir? Ich hab doch beim Angeln Glück gebracht.“
Da antwortete Biff: „ Du bist zu langsam, Tim. Außerdem hattest du zuerst ’nen Zitteraal gefangen. Dann musstest du dringend scheißen gehen. Dann kamst du zurück und warst nur am mosern.“
Timmy fragte: „ Und was soll ich machen? Windeln wechseln?“
Zu dieser Frage wurde Timmy mit sarkastischen Bemerkungen zugeschüttet.
Biff: „ Du kannst ja 300 Liegestütze machen.“
Edgar: „ Dein Zwerg ist mit dem Dach übern Kopf zu introvertiert.“
Henry: „ Koks ist die beste Medizin.“
Tarah: „ Lachen ist die beste Medizin.“
Alle starrten mich an und warteten darauf, dass aus mir was ganz ordinäres rauskam. Was ich zu sagen hatte, war etwas, das mich an die Aufräumaktion von eben erinnerte: „ Die vollgeschissenen Windeln lassen sich sowieso nicht wechseln.“
Alle starrten sich gegenseitig an und -zig Sekunden später fingen alle an, zu lachen.
Das Gelächter hallte und Timmy fing an, zu brüllen: „KANN DENN KEINER VON EUCH DIE SCHNAUZE HALTEN!“
Wir hatten alle unseren Spaß und gerade bei Timmy machte es wegen seiner unfreiwillig komischen Unzulänglichkeit unser Behagen und Wohlbefinden mit unseren sarkastischen Witzen stärker.
Die Zeit verstrich, wie bei einer Sauftour. Irgendwann war man so müde, dass einem rundherum alles verschwommen vorkam. Danach war nichts mehr; höchstens der tote Punkt. Dann war Schluss.
10
Als ich wieder wach wurde, (ich befand mich in Tarahs Bett samt der Desinformation über die Uhrzeit) hörte ich nichts, außer das Zirpen der Grillen. Etwas Unangenehmes verspürte ich, als ob durch irgendeine Sache das vollkommene Böse freigelegt wurde. Mein schummriges Wohlbefinden konnte mich einfach nicht trügen, dafür saß mir die Angst zu tief im Nacken. Würde ich meiner Intuition vertrauen, hätte ich, sobald die Raubzügler zurückkamen, denen meine Meinung gegeigt. Aber ich war nur ein unbedeutendes Stück Fleisch. Unnütz und verzichtbar. Meine Meinungen waren noch nie ein Maßstab, wenn es darum ging, andere Personen zur Rechenschaft zu ziehen und das wusste ich ganz genau. Ich schaute quer durch das Zimmer. Das Fenster war offen, das Licht war an und Tarah saß rechts von mir. Ich fragte sie: „ Was sagt die Uhr? Und was ist mit mir passiert?“ Meine Augen musste ich zusammenkneifen, um das Licht hinnehmen zu müssen.
Tarahs Antwort kam etwas zaghaft: „ Wir haben viertel nach zehn. Die anderen sind auf Beutezug. Und Timmy ist auf dem Pott. Er braucht mit Sicherheit drei Stunden. Ich glaube, du hast einen Schwindelanfall erlitten. So 'was kommt in Stresssituationen vor.“
„ Ich fühl mich, als hätte ich vor kurzem eine Achterbahnfahrt erlebt. Und dann noch mit Looping. Ich bin so müde. Vielleicht hab ich Fieber.“
„ Bevor die anderen kommen, leg ich dich auf die Eckbank.“
„ Und was machen wir morgen?“
„ Morgen fahren wir zum Hotel, wenn die Trottel erfolgreich waren.“
„ Das werden wir sehen.“
Ich schlief ein, während Tarah meine Hände streichelte.
Ein Albtraum ... das kann jeden passieren.
Aber was ich träumte, war mehr, als unvorstellbar. Wie in einer dimensionalen Verbannung kam alles real über mich. Ich befand mich immer noch im Schlafzimmer - und ich war allein. Das Licht war an und das Fenster offen. Ein Wolf fing um diese Zeit an zu heulen. Ich spürte den Wind, der für mich nichts, als Einsamkeit darstellte. Vielleicht wollte der Wind mir sagen, dass ich mich entscheiden müsste: Sollte ich mich wohl fühlen oder musste ich mich auf eine böse Überraschung gefasst machen? Wenn ich doch hellsehen könnte, müsste ich mich nicht auf Herzklopfen einlassen. Früher, so erinnerte ich mich, gab es Anhäufungen von Albträumen, weil das Unterbewusstsein selber eine Story zusammengesetzt hatte wie zusammengefügte Puzzleteile. Und diese Story lief wie ein Kinofilm, manchmal als eine Art Kurzfilm während des Schlafes. Nur jetzt kam er mir reeller vor, denn je. Ich kniff meine Wangen, schlug mit der flachen Hand mein Gesicht. Das Resultat: Meine Schmerzen waren spürbar wie ein Schlagabtausch nach einer eskalierten Meinungsverschiedenheit. Also war es doch kein Traum. Ich hatte bereits geschlafen und war fortan wohlauf. Die Ratlosigkeit zwang mich, aufzustehen. Total erschöpft und zaghaft ging ich mit langsamen Schritten zur Tür und öffnete sie. Kein Mensch befand sich weit und breit. Was sollte das bloß? Wie kämen die ganzen Spinner auf die Idee, einen Zwölfjährigen alleine zu lassen, in einer einsamen Umgebung. Und dann noch alle Eingänge offen zu lassen, was die Verantwortungslosigkeit überragte. Es herrschte Durchzug, da sollte sich wirklich niemand wundern, wenn ich am nächsten Tag mit einer Erkältung im Bett liegen würde. Die Windgeräusche hielten sich in Grenzen, als Schritte die Situation dominierten. Ich sah aber gar nichts, was den menschlichen Ursprung identifizierbar wirkte. Vielleicht hatten wir Geister. Im Wohnwagen? Unwahrscheinlich, denn bisher hatte ich immer versucht, solche Hirngespinste zu leugnen. Den Tatsachen musste ich leider in die Augen sehen. Meine Freunde waren alle verschwunden, trotzdem war ich nicht allein. Ich hätte ja gerne ruckartig die Eingangstür geschlossen, aber ich war wie gelähmt. Dann gingen mir tausend Dinge durch den Kopf, die sogar zahlreichen Horrorschriftstellern um ihren Ideenreichtum bringen konnten.
Plötzlich sprang mich eine maskierte Gestalt an und warf mich zu Bett. Die Gestalt trug eine Skimaske und schwarze Seidenklamotten. Handelte es sich um einen Einbrecher?
( Keine Bewegung oder ich schieße?)
Ich stand wieder auf und wollte abhauen, doch die Gestalt warf mich wieder zu Bett. Dann näherte sie sich mit schwerem Atmen und hielt meine Hände fest. Ich wollte ja abhauen, aber ich war starr vor lauter Furcht. Furcht vor möglichen morbiden Konsequenzen. Darum wollte ich um Hilfe schreien, doch ich war viel zu heiser, sodass ich nur noch schlucken konnte. Und angemessen zu reagieren war schier aussichtslos. Das erste mal wäre ich froh, wenn Biff herein geplatzt käme und den Maskierten das Handwerk legen würde. Zwar mochte ich ihn nicht besonders, weil ich eher herablassend hingestellt wurde, aber ich wünschte mir sofort seine Anwesenheit. Die unheimliche Gestalt nahm sein Oberteil ab und ich traute meinen Augen kaum.
Es war eine Frau. Ganz sicher, man musste sich nicht fürchten. Ich starrte auf den Busen und dachte an Tarah, ob die sich nicht etwas für mich ausgedacht hätte, aber bei so einer sensiblen Person? Merkwürdige Überraschungen würde ich ihr nur mit Vorsicht zutrauen. Ach, was! Tarah ist harmlos, ich empfand etwas wie Erleichterung, die wenige Augenblicke später wieder verschwand, als diese Gestalt anfing, diabolisch zu knurren. Plötzlich und unerwartet flackerte und dämpfte das Licht bis es (noch nicht mal) halbdunkel wurde. Der Wind heulte um so mehr und ich meinte, oder glaubte zu meinen, dass es kälter wurde. Ich fühlte mich auf einmal so unwohl; die Angst packte mich sofort. Als die Gestalt sich näherte, musste ich deren fauligen Atem wahrnehmen. Ich hatte das Gefühl, mich gleich vor Angst übergeben zu müssen, als ich plötzlich tief in die glühenden Augen starrte. Es war nicht Tarah, es war keine fremde Prostituierte, es war keiner dieser Jungs, die mir einen Streich spielen wollten, es war kein Räuber, es war ... kein Mensch. Die Augen leuchteten orangefarben, einfach teuflisch-animalisch. Vor Schreck blieb mir die Zunge im Halse stecken. Doch das Grauen bekam ich zu spüren, als die Gestalt die Maske abnahm. Das war das Bild eines Horrorszenarios. Eine weibliche Gestalt mit dem Kopf eines Uhus. Der faulige Atem war um so unerträglicher. Aus dem kräftigen Schnabel sickerte wässrige Flüssigkeit, die um so mehr schäumte. Das Biest fing an zu knurren und in dessen Augen entstanden Adern. Adern von unglaublichem Hass. Es öffnete den Schnabel und wollte mich auffressen. Ich schrie ...und schrie...und...
...ich wachte schreiend auf. Doch der Schrei war bloß ein Stöhnen. Keiner bemerkte mich. Ich sah mich hektisch um und merkte, dass ich mich auf der Eckbank befand und dass es Tag war. Mein Körper war schweißgebadet und die Wolldecke über mir triefnass. Das war der grauenvollste Albtraum, den ich je in meinem Leben erlebt hatte. Mein Herz pochte wie wild, trotzdem spürte ich Erleichterung. Dass es Tag war und ich Stimmen von meinen Kumpels hörte, gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Wenn es stattdessen immer noch Nacht wäre, müsste ich das Gefühl von Sicherheit ablegen. Dann würde ich mich in meine Decke verkriechen und (am besten) gar nichts mitkriegen. Aber Gott sei Dank hatten wir schon halb zehn. Ich hörte, wie Edgar, Biff und Henry miteinander diskutierten. Die Tür
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3070-0
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