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Elenora 1

 

 

 

 

 

*

Für Nicci, ohne die Elenoras Geschichte nie zu Ende erzählt worden wäre.

 

 

Cecilia Bennett

Kapitel 1

Diese Pumps würden Elenora eines Tages Klumpfüße bescheren. Leider ließen die Arbeitsvorschriften keinen Spielraum für bequeme Treter. Hätte sie die freie Wahl, würden schmale Damenschuhe mit 10 cm Absatzhöhe niemals den Weg in ihren Kleiderschrank finden. Sie hätte sportliche Nikes oder Fila gewählt. Doch Sneaker ließen sich in den Augen der Firmenleitung ganz schlecht mit einem klassischen Kostüm kombinieren, was sie ebenso unfreiwillig trug wie die Fußtöter. Mit einer formschönen Jeans und einem passenden Shirt könnte sie ihre widerspenstige Bauchrolle kaschieren. In dieser Uniform war das unmöglich. Leider gehörte die Kleiderordnung zur Vorschrift in der Parfümabteilung.

Wie ihre Kollegin das machte, war ihr schleierhaft. Sie tänzelte mit ihren salzstangendünnen Absätzen nur so durch die Abteilung. Nicht ein Mal hatte Elenora mitbekommen, dass sich Conny über schmerzende Füße beklagte. Ihr genaues Alter war aus ihr einfach nicht rauszubekommen. Wann auch immer Elenora danach gefragt hatte, war die Antwort stets die Gleiche gewesen: »Ich bin 24 Plus.« Ganz gleich, was Conny mit dem Plus ausdrücken wollte – Elenora schätzte sie auf Mitte vierzig. Sie war Ellis einzige Vertrauensperson in dieser kalten Welt des Kaufhausclans.


Sorgfältig richtete Elli die Fläschchen in den Regalen aus. Eines Tages wollte sie sich beruflich weiterentwickeln und dafür brauchte sie ein einwandfreies Arbeitszeugnis. Neben freundlichem Umgang mit den Kunden, Kompetenz und gepflegtem Auftreten gehörte eine ordentliche und gut sortierte Abteilung zu den Kriterien, überhaupt eines zu erhalten.

Connys plötzliches Schnalzen forderte ihre Aufmerksamkeit. »Zu spät, das wird Ärger geben.«

Elenora folgte ihrem Blick und senkte ihn sofort, als sie Leon entdeckte. Ein Zittern jagte durch ihren Bauch, als hätte sie einen Vibrator verschluckt. Sie rieb die plötzlich feuchten Hände an ihrem Rock ab und wagte einen raschen zweiten Blick – diesmal kam sie nicht so schnell wieder von ihm los.

»Zu auffällig«, ließ Conny neben ihr fallen.

»Was?«

»Du musst dezenter gucken«, ergänzte sie mit einem Zwinkern.

Hitze stieg in ihre Wangen. Elenora spürte, wie sie errötete. Peinlich berührt rückte sie die Parfümflaschen weiter zurecht und tat so, als hätte sie Connys Bemerkung nicht gehört.

Und doch drängte sie eine innere Stimme, Sekunden darauf zu widersprechen. »So ein Blödsinn. Ich habe nur seine Turnschuhe bewundert und die lockeren Klamotten. Und wir? Wir sehen aus wie zwei Stewardessen, die es nicht mehr ins Flugzeug geschafft haben.«

Connys Kichern hinter vorgehaltener Hand lockerte die Situation ein wenig auf.

Genau bis zu dem Augenblick, in dem sie sich dazu berufen fühlte, Leon bis ins Detail zu beschreiben: »In seiner dunkelgrünen engen Cargohose und dem schwarzen Sweatshirt sieht er aus wie ein männliches Model aus Hochglanzmagazinen.«

»Kleidervorschrift für den Abteilungsleiter der Jugendmode«, erwiderte Elenora.

Allerdings schien sich Conny davon nicht beirren zu lassen. »Guck dir mal seine Frisur an – dunkelbraun, zottelig – als wäre er eben aus dem Bett gefallen. Und die Grübchen«, schwärmte sie unerwartet offen und stützte den Ellenbogen auf dem Tresen ab und das Kinn in der Handfläche. »Von dem würde ich mich auch verwöhnen lassen – wäre er nur nicht so jung. Und die Ohrläppchen mag ich auch nicht besonders. Tja und nun ist er zu spät gekommen und darf sich eine Standpauke vom Chef abholen. Da wird ihm auch sein Sixpack nicht helfen.«

Gegen seine Ohrläppchen hatte Elenora nichts einzuwenden. Sie stellte sich vor, sie wäre seine Vorgesetzte und er musste sich bei ihr für sein Zuspätkommen rechtfertigen. Seine Muskeln wären in dieser Lage sicher nicht hinderlich – im Gegenteil. Sie biss sich auf die Unterlippe und betrachtete ihn in mädchenhafter Verstohlenheit. Sein dunkelbraunes Deckhaar war etwas länger und wild frisiert, ganz nach Elenoras Geschmack.

»Der ist bestimmt im selben Alter wie du«, hörte sie Conny sinnieren. »Ihr würdet ein hübsches Paar abgeben.«

Ihre Worte lösten eine Kettenreaktion in Elli aus. Ihr Herz klopfte ohne Überleitung schneller und ein aufgeregtes Kribbeln machte sich in ihrem Bauch breit. Sie atmete flach und konnte die Feuchtigkeit von ihren Händen nicht so schnell trockenreiben, wie sie entstand. Ihre Wangen glühten nicht nur, sie spannten. Das musste an dem unkontrollierten Grinsen liegen. Elli kicherte, dabei wollte sie das überhaupt nicht. »Hör sofort auf«, bat sie mit Nachdruck.

Conny betrachtete sie mit einem prüfenden Blick. »Oh, oh! Habe ich da etwa einen prallgefüllten Ballon angestochen?«

Elli schluckte und sah für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm rüber. In diesem flüchtigen Moment hatte sie den Eindruck, dass auch er sie sah. »Conny!«

Na wunderbar. Jetzt sah er sie? Jetzt, da sie weder ihre Gesichtszüge, noch die seltsamen Anwandlungen ihres Körpers unter Kontrolle hatte. Bis zu dieser Sekunde war sie offenkundig unsichtbar für ihn gewesen. Warum hatte er ausgerechnet in dieser peinlichen Lage ihren Blick erfasst? Hatte er das überhaupt oder bildete sie sich das durch Connys Anspielungen nur ein? Ja – das war wahrscheinlicher.

Und selbst, wenn sie plötzlich nicht mehr unsichtbar wäre, würde ihr Miteinander nicht viel weiter über Smalltalk hinausgehen.

Connys Seufzen wirkte wie eine Explosion, die Elenora zurück in die Gegenwart schleuderte. »Der Junge ist gesegnet mit einem perfekten Körper. Ein Wunder, dass er noch nicht den richtigen Deckel gefunden hat. Allerdings muss ihn irgendwas beschäftigen. Seit geraumer Zeit wirkt er so unkonzentriert.«

Liebend gerne wäre Elli der passende Deckel gewesen. Sie zwirbelte eine Strähne zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sich in diese Puls beschleunigende Überlegung fallen wie in einen See, auf dem ihr Körper federleicht davontrieb.

Ihre üppige Figur war es schließlich, die diese Überlegung auf den Grund des Gewässers zerrte. Zwischen ihr und Leon lagen Welten. Männer fühlen mit den Augen – so hatte sie es erlebt. Sie war einfach nicht sein Typ. Allerdings wollte sie sich auch nicht schon wieder mit Diäten abmühen, die am Ende sowieso nichts gebracht hatten. Nein – sie würde sich nicht für einen Mann verbiegen und hungern, nur damit sie wieder in alte Essgewohnheiten verfiel und er dabei zusehen konnte, wie sie aus dem Leim ging. Wer Elli daten wollte, musste sie nehmen, wie sie war. Sie aß nun mal unheimlich gerne. Sie war eine Genießerin und das sah man ihr an. Also steckte Elli die realitätsferne Idee eines Tête-à-Têtes mit Leon schleunigst in eine Kiste, und verstaute sie in der hintersten Windung ihres Verstandes.

»Erde an Venus: Weilst du noch unter uns?«

»Was?« Sie mochte es nicht, wenn man ihr ihren entglittenen Blick ansah. Elli straffte ihr Jäckchen und räusperte sich.

»Der hier wurde vorhin für dich abgegeben.« Conny fächerte sich mit einem Briefumschlag Luft zu.

»Was ist das?«

Sie legte ein verschmitztes Lächeln auf. »Der kommt aus der Chefetage. Ich glaube, da ist was Wichtiges drin. Liebeleien am Arbeitsplatz werden hier nicht so gerne gesehen, wie du ja weißt.«

Als Elenora nach dem Brief griff, hielt Conny ihn noch immer fest. Sie sah Elli tief in die Augen. »Du weißt hoffentlich, was du tust«, warf sie hinterher und ließ los.

Meinte sie das jetzt ernst? Bei Conny war sie sich nie sicher, wann sie einen Scherz machte und wann nicht. Sie besaß dieses seltsame Talent, in ihre Witzeleien einige Körnchen Wahrheit zu streuen.

Ihre Aussage verschaffte Elli einen Kloß im Hals. »Ich hab gar nichts gemacht«, antwortete sie vorsorglich, um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, dessen gierige Feuerzungen nach ihrer Seele leckten.

»Willst du ihn gar nicht aufmachen?«

»Das ist privat«, erwiderte Elenora und steckte den Brief in ihre Jackeninnentasche. Bis zur Pause wollte sie standhaft bleiben. Sie sah sich bereits die Wände hochlaufen und wie einen Dämon an der Decke kleben, weil die Sorgen um den vermeintlichen Inhalt wie ein Schnellzug beschleunigten.

Der Morgen zog sich wie zähe Teermasse hin, was ihrem Gedankenkarussell einen gehörigen Schwung versetzte. Vielleicht behielt Conny recht und man hatte ihr gekündigt. Wenn das so war, dann musste sie auf dem schnellsten Weg für Aufklärung sorgen, denn mehr als Blicke waren zwischen ihnen nie gewesen.

Intuitiv wanderten Elenoras Augen in die Jugendabteilung hinüber und blieben an Leon haften. Sie musste schlucken, als sie sah, dass auch er einen Brief bekommen hatte. Der winzige Unterschied lag darin, dass er seinen an Ort und Stelle öffnete.

Wäre sie mutig genug gewesen, hätte sie einen Hechtsprung über den Tresen gewagt, wäre mit riesen Schritten auf Leon zugestürmt und hätte ihn wie ein Rugby-Spieler zu Boden gerissen. Alles nur, um den Brief an sich zu bringen und Leon vor dem Inhalt zu bewahren – wenn sie ehrlich zu sich war, dann lag ihre Intention bestenfalls darin, sich selbst vor der Schmach zu retten. Er würde sie für obsessiv halten und bestimmt mit allen Kollegen diese kuriose Situation besprechen – ja sie am Ende gar in der Luft zerreißen.

Sollte Conny richtig gelegen haben, hatten beide jetzt ein gewaltiges Problem. Sie wahrscheinlich mehr als er.

Nach außen hin versuchte sie, Ruhe zu bewahren. Doch in Ellis Seele rannten die Gefühle panisch um ihr Leben. Unbewusst knetete sie ihre Finger und starrte zu ihm hinüber.

»Schau, er hat auch so einen«, ließ Conny beiläufig fallen, während sie die leeren Stellen im Regal mit Parfümpackungen auffüllte.

Das reichte! Keine Sekunde länger konnte sie warten. Conny musste verschwinden – sofort! Deshalb zog Elli in einem unbeobachteten Moment einen Batzen türkisfarbener Papiertragetaschen aus dem Fach und schob sie unbemerkt unter einen Stapel Plastiktüten. »Im Lager sind noch diese Geschenktaschen. Sei so lieb, und geh sie holen. Wir haben hier oben keine mehr.«

Conny verzog das Gesicht. »Kann das nicht warten, bis ich von der Pause zurückkomme?«

Das konnte mit Sicherheit nicht warten. »Wenn ein Kunde kommt, der seine Liebste beschenken möchte, und wir keine Geschenktüten haben ...«, erwiderte Elenora mit einem vorwurfsvollen Blick.

Ihr Gegenüber seufzte. »Okay. Kann aber dauern. Die sind ganz hinten.«

Innerlich atmete Elenora auf, nach außen hin gab sie sich entspannt, was sie einige Mühen kostete, denn wie eine Klaue lag die vermeintliche Kündigung auf ihrem Herzen und drohte, es zu zerdrücken. »Lass dir ruhig Zeit.«

Bis Conny in den Aufzug stieg, blickte Elli ihr hinterher. Am liebsten hätte sie ihr Beine gemacht, denn ihr Blutdruck stieg an. Verkrampft hielt sie dem Bedürfnis stand, den verfluchten Brief endlich aufzureißen. Doch im selben Augenblick, in dem Conny außer Sichtweite war, explodierte Ellis Fassade und sie fummelte hastig den Umschlag aus der Innentasche. Von Ungeduld getrieben riss sie die verklebte Lasche auf und zog das Papier heraus, um es fieberhaft zu entfalten.

Es war gar keine Kündigung. Erlöst atmete sie durch, als ihr die Zeilen ins Auge sprangen, die alles veränderten:

Einladung zum Seminar für Abteilungsleiter.

Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Das bedeutete, dass auch Leon zu dieser Fortbildung eingeladen war. Alle Abteilungsleiter waren verpflichtet, an diesen Seminaren teilzunehmen, wenn sie eingeladen wurden. Andernfalls drohte die Degradierung – in dieser Hinsicht verstand die Leitung keinen Spaß.

Entspannende Wärme flutete ihren Körper und ein zufriedenes Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit. So sehr sie auch versuchte, es zu unterdrücken, es gelang ihr nicht. Und dann geschah etwas, das sie komplett umhaute: Leon warf ihr einen freundlichen Blick zu. In ihrem Bauch entstand ein flaues Gefühl, während ihre Finger auf dem Tresen krampfhaft nach irgendeinem Halt suchten. Den Brief in der linken Hand hielt sie so fest, dass das Papier zwischen den Fingern zu reißen drohte.

Leon lächelte und hielt sein Schriftstück in die Höhe.

Elenora erstarrte zur Salzsäule. Ihr Herz blieb stehen, nur um im nächsten Moment mit neuer Kraft seinen Dienst in schnellerem Tempo wieder aufzunehmen. Was sollte sie nur tun? Sie konnte sich ja schlecht tot stellen, um als Schaufensterpuppe durchzugehen. Sein Blick war noch immer auf sie gerichtet, was ihre Atmung beschleunigte und sie völlig wahnsinnig machte. War es nicht genau das, was sie sich gewünscht hatte? Wollte sie nicht schon lange von ihm gesehen werden? Elenora ging scheintot in die Hocke und tat so, als sortierte sie die Tüten unterhalb der Kasse. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals festgesetzt, den sie mit einem Räuspern zu verbannen versuchte.

»Hey«, ertönte Leons Stimme in unmittelbarer Nähe.

Wie vom Blitz getroffen, schoss sie hinter dem Verkaufstisch wieder hervor. Leon stand verführerisch lächelnd genau vor ihrem Tresen. Das bedeutete, dass zwischen ihnen beiden nur dieser Glaskasten stand – sonst nichts.

»Elenora«, las er von ihrem Namenschildchen ab.

Elli hielt die Einladung mit beiden Händen fest, als könnte sie sich andernfalls in ihre Bestandteile auflösen, und schluckte. Doch der Kloß saß noch immer in ihrer Kehle. »Hey«, erwiderte sie krächzend und räusperte sich erneut.

Er hob die Brauen. Falten bildeten sich auf seiner Stirn. »Jetzt bloß nicht krank werden.«

Elenora bildete sich ein, Besorgnis aus seiner Stimme herauszuhören. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin Leon aus der Jugendklamottenabteilung«, stellte er sich vor und sah ihr in die Augen.

Zum ersten Mal war er ihr so nahe, dass sie das Meer in seinen Iriden erkannte. Der Blauton besaß einige helle orangebraune Einschlüsse. Die Kombination erinnerte sie an kilometerweite Ostseestrände, an denen hier und da nach einem schweren Sturm Bernsteinbröckchen zu finden waren. Sie konnte die See förmlich riechen, als seine Stimme wie eine Brise an sie heran wehte.

»Fahren wir zusammen?«, fragte er und rieb sich den Nacken.

Hatte sie sich in einem Tagtraum verfangen? Beinahe wäre ein gehauchtes Ja über ihre Lippen entkommen. Gerade rechtzeitig hinderte sie es an der Flucht und klaubte ihre verstreuten Sinne zusammen.

»Sag es ruhig, wenn du nicht willst«, warf er hinterher.

Hastig schüttelte sie den Kopf. »Nein ... ich meine ja.«

Er betrachtete sie mit einem verdutzten Blick. »Nein oder ja?«

Das fing ja gut an! Nicht einmal fünf Minuten hatte es gedauert, bis sie sich zum Hampelmann machte. Elli zog die trockene Unterlippe ein und kaute auf ihr herum, bis sich eine innere Stimme meldete und ihr befahl, sofort mit dieser Kinderei aufzuhören. In Windeseile ordnete sie ihre Gedanken und nahm sich zusammen. »Ja, wir können gerne zusammen fahren.«

Ein zartes Lächeln huschte über sein Gesicht und verdrängte die Anspannung aus seiner Miene. Er griff nach einem Kugelschreiber, der neben der Kasse lag und streckte ihr die Hand entgegen. »Bekomme ich deinen Arm?«

Wie in Trance tat sie, worum er bat. Denken könnte sie eh nicht, denn sie war in eine Wolke aus rosa Zuckerwatte gehüllt.

Seine Berührung entfachte eine heiße Welle, die sich pulsierend durch ihren Körper arbeitete. Er schob den Ärmel ihres Blazers hinauf und schrieb auf ihre Haut.

Beiläufig ließ er fallen: »Ich hole dich ab.«

Es war ihr unmöglich, ihre Augen von seinem konzentrierten Gesicht zu lösen. Was auch immer er da gerade auf ihrem Arm verewigte, sie würde diese Stelle nie wieder waschen.

»Ruf mich an«, sagte er zwinkernd.

Anrufen? Sie hatte ja seine Nummer gar nicht. Sein Blick erfasste etwas, was ihn offenbar dazu bewegte, sich umzudrehen und zurück in seine Abteilung zu gehen. Dabei rannte er fast einen Kunden um, entschuldigte sich und verschwand hinter den Umkleidekabinen. Elli musste sich ein Kichern verkneifen und schob den Ärmel wieder hinunter, gerade rechtzeitig, wie sich herausstellte.

Conny legte ihre Hand auf Ellis Schulter, was wie eine Rettungsleine in die Realität funktionierte. »War das Leon? Was hat er gewollt?«

»Nichts«, erwiderte sie und wusste, dass diese Aussage bei ihrer Kollegin nur noch skurrilere Ideen anfachen würde. »Er wollte nur einen Stift, um sich was zu notieren«, warf sie deshalb rasch hinterher und war froh, seine Notiz bereits versteckt zu haben.


In einer ruhigen Minute schob sie den Ärmel erneut hoch, um nachzusehen, was Leon auf ihre Haut geschrieben hatte. Elli verpasste sich einen Kniff, um sich zu vergewissern, nicht zu träumen. Er hatte doch tatsächlich seine Handynummer notiert. Klar, wie hätte sie ihn sonst anrufen sollen? Was Elli aber einen warmen kribbelnden Strom durch den Bauch jagte, waren zwei Dinge: Er hatte ein Herzchen gemalt und darunter in schnörkeliger Schrift hinterlassen: Ich freue mich auf deinen Anruf – Leon.

Elenoras Herz überschlug sich. Sie spürte Hitze ihre Wangen hinaufsteigen und wedelte sich Luft zu, um nicht in Schnappatmung zu verfallen. Um ein Haar hätte sich ein Freudenschrei aus ihrer Kehle gelöst, aber ihr gelang es, diesen in einem zwar hysterischen, aber leisen Kichern unbemerkt aufzufangen.

 

Kapitel 2

Als Elli endlich in den Feierabend entlassen wurde, regnete es junge Hunde. Unter dem Vordach des Eingangsbereiches blieb sie einige Minuten stehen, um abzuwägen, ob der Regen bald nachlassen würde. Doch ein kurzer Blick zum Himmel genügte, um zu erkennen, dass sich die feste dunkle Wolkendecke kein Stück bewegte. Es goss in Strömen und das würde wohl noch eine ganze Weile so weiterregnen.

Dabei hatte die Morgensonne noch ihre Haut gekitzelt und der gestrige Wetterbericht versprach einen sonnigen Oktobertag. Sie schlug die Kapuze ihrer dünnen Herbstjacke auf und zog sie tief ins Gesicht, da endete der starke Regen abrupt und verwandelte sich in winzige Nieseltropfen, die wie feiner Nebel die Sicht bemäntelten. Immerhin würde sie nun nicht mehr ganz durchnässt nach Hause kommen. Wahrscheinlich ist das nur ein wenige Minuten andauernder Moment, bis der Himmel sich wieder über der Stadt ergießt, dachte Elli und lief eiligen Schrittes auf die Straße hinaus. Sie bog in die Hauptstraße ein und legte einen Zahn zu, als die Tropfen wieder größer wurden. Sie waren zwar nicht mit dem Wolkenbruch zu vergleichen, der sie an der Tür empfangen hatte, dennoch drückte sich das kalte Nass durch die Jacke hindurch und drohte auch ihren Blazer zu durchfeuchten. Sie ärgerte sich darüber, Leons Nummer nicht abgeschrieben zu haben. Im Nachhinein betrachtet hätte sie einfach auf der Toilette verschwinden können, um sich unbeobachtet den Kontakt in ihrem Handy abzuspeichern. Aber dafür war sie vorhin schlicht und ergreifend viel zu sehr aus dem Häuschen gewesen. Es passierte ja nicht jeden Tag, dass Leon sie wahrnahm, genau genommen war es vorher noch nie geschehen, was den ganzen Umstand so speziell erscheinen ließ.

Der Regen wurde wieder stärker. Sie blickte unter der Kapuze auf und entdeckte den Bäcker. Was für ein glücklicher Zufall. In dem kleinen Laden konnte sie diesen hoffentlich kurzen Aufschrei des Himmels aussitzen und sich nebenbei mit ein wenig Seelenfutter versorgen.

Bis auf eine Portion Lasagne und ein Erdbeersahnestück hatte sie heute nichts gegessen. Dementsprechend laut knurrte ihr Magen. Bereits beim Betreten des Geschäftes weckte der vermischte Duft von frisch gebackenen Brötchen und Schokolade ihren Appetit. Unentschlossen huschte ihr Blick zwischen den Eclairs und den Amerikanern hin und her. Schließlich kaufte sie von beidem eins und machte sich wieder auf den Weg.

 
Elenora fühlte sich, als wäre sie in einen See gefallen, als sie endlich die Wohnungstür hinter sich zudrückte. Behutsam streifte sie die nasse Jacke ab und zog das klamme Jackett aus. Mit einem prüfenden Blick auf ihren Unterarm vergewisserte sie sich des Zustands der Nummer. Jede einzelne Ziffer war noch gut lesbar – sogar Leons persönliche Nachricht hatte unter der Nässe nicht gelitten. Elli fiel ein ganzer Felsen vom Herzen. Unvermittelt nahm sie ihr Handy und fotografierte ihren Unterarm. Sie betrachtete das Foto einen Moment und spürte ein erregtes Prickeln im Bauch. Doch ein forderndes Magenknurren legte sich darüber und verdrängte die süße Aufregung.

Elli legte das Handy auf die Kommode und setzte sich an den Küchentisch. In einer fast schon feierlichen Zeremonie zog sie das Eclair aus der durchweichten Papiertüte und legte es auf einen Teller, den Amerikaner platzierte sie daneben und zündete ein Teelicht an. Begierig nahm Elli das Eclair in die Hand. Das Wasser lief ihr bei dem perfekten Anblick im Mund zusammen. Sie brachte es an ihre Lippen heran und vergrub voller Genuss ihre Zähne darin. Das war mit Abstand das leckerste Kuchenteilchen, das die Welt jemals hervorgebracht hatte. Ehe sie sich versah, war das Eclair verschlungen, und Elli nahm sich den Amerikaner vor. Während sie kaute, fragte sie sich, wieso Leon ausgerechnet sie eingeladen hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, umso mulmiger wurde ihr.

An diesem Punkt fiel ihr ein, dass sie bei all der Begeisterung überhaupt nicht nachgesehen hatte, wann die Fortbildung stattfinden sollte.

Es war nicht Elenoras erster Kurs, seit sie den Posten der Abteilungsleiterin belegte. Aus Erfahrung wusste sie, dass jede Veranstaltung im Tagungshotel in Görden stattfand. Es war gut ausgestattet, aber die Zimmerverteilung stieß Elenora auf. Letztes Jahr musste sie sich ein Doppelzimmer mit Stephanie aus der Kinderabteilung teilen. Sie mochte die kleine Schwarzhaarige nicht und das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, denn sie waren sich weitestgehend aus dem Weg gegangen. Deshalb hoffte Elenora inbrünstig, dass die Chefetage diesmal eine bessere Wahl getroffen hatte. Das aber würde sie erst am Tag ihrer Anreise erfahren.

Sie kramte den Brief hervor und las ihn aufmerksam. Der Schlag traf Elenora, als sie registrierte, dass der Kurs bereits am Montag beginnen sollte und statt der gewohnten drei Tage eine ganze Arbeitswoche lang ging.

Hastig stand sie auf und bewegte sich zum Kühlschrank, um sich ein Bier zu holen. Der Kronkorken sprang unter dem Flaschenöffner davon und landete im Katzennapf. Ehe sie diesen aus dem Trockenfutter herausfischte, genehmigte sie sich einen guten Schluck des vollmundigen Hopfenwassers. Wohltuend kalt rann es ihre Kehle hinunter.

In ihrem Bewusstsein braute sich eine dunkle Wolke zusammen. »Scheiße«,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Cecilia Bennett / Dana Müller
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Dana Müller
Lektorat: A.Müller, R. Schwartz, Wortschatz-Berliner Autorenzirkel
Korrektorat: A. Müller
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1147-5

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