"Deutsche Ärsche brauchen anständiges Toilettenpapier!" Dieser kernige Ausspruch meines Vaters, begleitet von dröhnendem Gelächter, klingt mir heute noch in den Ohren.
Ja, ja mein Vater, mit seiner dreistelligen Parteibuchnummer war er im "Großdeutschen Reich" ein Mann der ersten Stunde, und seine Firma -Papierwaren Zandenberg- war ein großer Erfolg. Mein Vater ist schon lange tot. Gefallen für "Vaterland und Führer" in den letzten Tagen des Jahres 1944, irgendwo in Russland. 10 Jahre später war die Lücke, die er hinterlassen hatte, immer noch schmerzlich spürbar.
Nach endlosen Behördengängen hatte ich nun endlich die Genehmigung erhalten, den Papiergroßhandel wieder aufzubauen, aber der Rat meines geschäftstüchtigen Papas fehlte mir an allen Ecken und Enden. Es war eine schwierige Zeit für mich, damals 1954, und es war das Jahr, da ich Jonas auf der einsamen Landstraße aufgelesen hatte.
Ich kann mich sogar noch genau an den Tag erinnern. Es war Sonntag, der 4. Juli, und die Deutsche Nationalmannschaft war im Berner Wankdorfstadion Fußballweltmeister geworden. Viel lieber hätte ich mit den vielen Fußballfreunden gefeiert, aber als selbständiger Geschäftsmann konnte ich mir keinen Müßiggang leisten.
Mit meinem alten, klapprigen VW war ich unterwegs um einen wichtigen Kunden zu besuchen. Wie ein goldenes Band schlängelte sich die endlos scheinende Landstraße in der tiefstehenden Abendsonne, und fast wäre ich an dem kleinen Jungen vorbeigefahren, der wie verloren am Straßenrand stand. Im letzten Moment erkannte ich ihn und trat auf die Bremse. Tatsächlich, ich hatte mich nicht getäuscht, es war Jonas. Jonas Henke, der sechsjährige Sohn von Wirtsleuten aus meiner Nachbarschaft. "Junge, wie kommst du denn in diese verlassene Gegend, ganz allein und so weit weg von Zuhause? "Erschrocken schaute er mich an, dann stahl sich ein winziges Lächeln des Erkennens auf sein Gesicht. "Ach du bist es. Wo fährst du hin? Nimmst du mich mit? Ich will nach Amerika."
"Immer langsam mit den Pferden", mahnte ich schmunzelnd. Es war aber auch ein drolliges Bild, das der kleine Jonas bot. Einsam und verlassen, völlig allein auf weiter Flur, ein wenig ängstlich, aber auch mit einer Portion Trotz in seinem Blick. Er wollte ja auch nach Amerika, und niemand sollte ihn daran hindern.
"Was willst du denn bei den Indianern? Deine Eltern sind bestimmt schrecklich traurig wenn du sie einfach alleine lässt." Zaghaft hob er seinen Kopf, und die kugelrunden, braunen Kinderaugen blickten mich verzweifelt an. Unwillkürlich musste ich an "Senta", meine Berner Sennhündin denken, die mich mit ihren treuen Hundeaugen auch immer so anschaute, wenn ich sie mal schimpfte. Schluchzend und schniefend, mit der Verzweiflung eines verletzten Kinderherzens, legte Jonas los. Von seinen Eltern, die nie Zeit für ihn hätten, erzählte er mir. Vom großen Unglück, dass seine Mutti im Krankenhaus sei weil sie der Klapperstorch ins Bein gebissen habe: "...und jetzt ist nur noch Tante Hedwig im Haus, die immer nur schimpft, und gehaut hat sie mich auch schon." Mühsam nach Luft schnappend, versuchte er der dicken Tränen Herr zu werden, die wie kleine Sturzbäche die Wangen hinab liefen und ein Netz von kleinen Kanälen in sein verschmutztes Gesicht gruben. Tröstend strich ich über seine dunklen Locken: "Komm, Jonas, ich fahr dich jetzt nach Hause, wir reden mit deinem Vati, und dann wird bestimmt alles wieder gut. "
Ein energischer Protest war die Antwort: "Nein, nein, ich gehe nie wieder nach Hause!" "Ist ja schon gut", versuchte ich ihn zu beruhigen, "dann fahren wir erst mal zu mir, und meine Mutter kocht dir eine herrliche Schokolade." Die Aussicht auf eine süße Tasse Kakao und ein Stück Kuchen war doch sehr verlockend, und Jonas ließ sich widerstandslos in den Wagen schieben, und mit einer ziemlich gewagten Kurve machte ich kehrt und fuhr zurück. Vergessen war der Termin mit dem Kunden, vergessen mein mühsamer Job, nur der kleine Jonas mit seinem großen Weltschmerz zählte noch.
Meine Mutter war eine resolute, aber herzensgute Frau und ohne viel zu fragen schnappte sie den kleinen Burschen, der ab und an noch leise aufschluchzte, und verschwand in Richtung Küche. Ich konnte mir lebhaft vorstellen wie groß die Aufregung im Hause Henke war, aber nun wollte ich die Eltern beruhigen und die gute Nachricht möglichst schnell überbringen. Vor dem "Grünen Baum", dem Gasthaus wo Jonas zuhause war, stand ein Streifenwagen. Wahrscheinlich war eine riesige Suchaktion im Gange, und sämtliche verfügbaren Polizeibeamten unserer kleinen Stadt waren mit der "Fahndung" nach dem Ausreißer beschäftigt. Frau Henke saß in der Gaststube, im Arm ein winziges Bündel -wie mir schien war es die Folge des "Klapperstorchbißes" den Jonas so bedauerte- und Vater Henke stapfte mit sorgenvoller Mine im Lokal auf und ab und achtete nicht auf die Beamten, die ihn offensichtlich beruhigen wollten. Die Freude und Erleichterung war natürlich riesig, als ich mit meiner frohen Botschaft herausplatzte. Am liebsten hätten sie den kleinen Burschen gleich abgeholt, aber ich konnte sie überzeugen, dass es vernünftiger sei, wenn sie Jonas erstmal zur Ruhe kommen ließen.
Wieder daheim, konnte ich feststellen, dass Jonas die Säuberungs-
aktion meiner Mutter -sie war ihm wohl mit Kernseife und Scheuerbürste auf den Pelz gerückt- gut überstanden hatte. Strahlend wie ein Honigkuchenpferd saß er vor einem enormen Berg Streuselkuchen und kaute mit vollen Backen. Meine Mutter, die wie eine aufgeregte Glucke um ihn herumschwirrte, ließ er dabei keinen Moment aus den Augen.
"Ich geh' doch nicht zu den Indianern", quetschte er mühsam zwischen zwei kräftigen Bissen hervor", da gibt's nämlich keinen Streuselkuchen. Ich bleib jetzt immer bei euch. Mit diesen Worten drehte er sich um und starrte auf die Küchentüre, die sich mit leisem Knarren geöffnet hatte. Seine Augen wurden groß und größer : "Was ist denn das?" flüsterte er ehrfürchtig und zeigte staunend auf "Senta", meine Berner Sennhündin. Diese schritt, ihrer Mutterwürde voll bewusst, mit stolzerhobenem Haupt in die Küche, um den neuen Gast zu beschnuppern. Im Schlepptau führte sie ihre Welpen, die aussahen wie zu groß geratene Wollknäuels. Das kleinste Hundebaby war auch das frechste. Vorwitzig und mit sichtlichem Wohlbehagen leckte es an den nackten Zehen des kleinen Burschen. Als ich sah wie riesig die Begeisterung von Jonas war, platzte ich, ohne zu überlegen, mit einem Vorschlag heraus : "Jonas, wenn du mir versprichst, dass du nie wieder nach Amerika ausrücken willst, dann darfst du eines von den drolligen Hundekindern behalten."
"Das verspreche ich dir, aber nur, wenn ich den hier behalten darf." Hastig drückte er seinen neuen Freund, den "Zehenschlecker" an sich, als wolle er damit sagen: "Den gebe ich nie wieder her."
Das schrille und aufdringliche Klingeln eines Telefons bringt mich abrupt in die Gegenwart zurück. Mein Gott, wo bin ich nur mit meinen Gedanken. Wir schreiben das Jahr 1984 und nicht 1954. Ich sollte eigentlich nicht der Vergangenheit nachtrauern, sondern mich lieber auf das kommende, sehr wichtige Gespräch vorbereiten. Seit einer qualvollen Stunde sitze ich nämlich hier, im Vorzimmer des mächtigsten Mannes der nationalen Hotebranche. Nur ein Wort von ihm an seine Direktoren, und ich könnte das Geschäft meines Lebens machen. Die Pleitegeier, die schon eine Weile über meiner Firma ihre Kreise zogen, müssten sich ein anderes Opfer suchen. Wie durch eine dicke Nebelwand dringt die höfliche, etwas unterkühlte Stimme der rassigen Vorzimmerdame an mein Ohr: "Herr Zandenberg, sie können jetzt hinein gehen, der Herr Direktor lässt bitten. "Nicht gerade sehr forsch - mein Herz rast und mein Puls schlägt verrückte Kapriolen - klopfe ich und öffne zaghaft die Tür zum "Allerheiligsten"...
...und werde von zwei niedlichen Welpen begrüßt. Schwanz wedelnd und mit den feuchten Hundeschnauzen an meinen Schuhen schnuppernd, tapsen sie um mich herum. Es sind reinrassige Berner Sennhunde, mit glänzendem, schwarz-weiß gezeichnetem Fell und großen, braunen Hundeaugen. Vor seinem Schreibtisch steht, mit offenen Armen und einem herzlichen Lächeln mich willkommen heißend ...
...Herr Direktor ...Jonas Henke.
Texte: Copyright by Paul McGregor
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine große Liebe, dich mich nicht nur zum Schreiben verführt hat.