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I Vorwort


Müde, frustriert, angepisst.
Adjektive, wie sie treffender nicht sein könnten. Momentan zumindest. Gerade jetzt. 2011.
Gesellschaftlich wie auch beruflich betrachtet.
Wieso sollte ich mich kapitalistischen Zwängen und arbeitsbedingten Riten beugen?
Wer will schon Dienstschluss haben, geschweige denn Arbeitsbeginn.
Erster Arbeitstag nach dem Urlaub. Toll.
Rahmentarifvertrag, Unbezahlte Überstunden. Klasse.
Wo soll es denn hinführen?
Nachdem die Rente mit 67 durch zu sein scheint, beantwortet sich die Frage fast von selbst.
Irgendwann werden wir bei einem Renteneintrittsalter angekommen sein (im Sinne der Alterspyramide unseres Sozialsystems), dass sich in dem Bereich zwischen 75 und 85 Lebensjahren bewegt.
Bewohner und Personal im Altenheim werden täglich die Betten tauschen...Soweit, so schlecht.

Vielleicht fühlte ich mich auch an meine linksradikale Jugend erinnert, wobei "Radikal" weit übertrieben ist. Vielleicht bahnt sich auch nur langsam, aber dennoch unaufhaltbar ein Burn-Out an.
Wenn ich mir vorstelle, die nächsten 40 Jahre Woche für Woche arbeiten gehen zu müssen, wird mir nicht nur schlecht; kotzübel wird mir. 40 Jahre. In Worten: Vierzig!
480 Monate, durchschnittlich 14400 Tage MEINES LEBENS!
Abzüglich 1700 Tage Urlaub und geschätzte 200 Tage Arbeitsunfähigkeit bleiben 12500 Tage.
12500 Tage voll fraglicher Sinnhaftigkeit. Sehr fraglicher Sinnhaftigkeit.

Die fragliche Sinnhaftigkeit für durchschnittlich 180 Monatsstunden mit 1400.- Euro entlohnt zu werden, dafür aber wenigstens mindestens einen Tag am Wochenende Dienst zu tun;
für die Allgemeinheit, die Gesellschaft, dass Quartalsergebnis des Betriebes.
Nach Möglichkeit Samstags; die Zuschläge dafür wurden gestrichen;
Durch und durch ein frustranes Dasein, nicht mal gesellschaftskonform jammern kann ich;
morgens in die Arbeit, abends nach Hause, Wochenende Auto waschen und Rasen mähen - geht nicht. Ich bin stolzer Eigner eines Wechselschicht Dienstplanes, mein Name findet sich irgendwann an Sieben Tagen der Woche zu irgendwelchen Uhrzeiten wieder.
Nicht von mir vorgegeben, sondern von Arbeitszeitgesetzen und Tarifmodellen.
Die Fragen der Arzthelferinnen nach dem Vormittags- oder Nachmittagstermin kann ich selten zufriedenstellend beantworten; Die Tagschicht fängt um Sieben Uhr an und endet zwölf Stunden später. Mit der Nachtschicht verhält es sich umgekehrt. Und dann kann ich mir sicher sein, dass der nächste Tag ein Sonntag ist und keine Arztpraxis geöffnet hat. Samstagszuschläge sind ja gestrichen...Und wehe, es werden Beschwerden laut – somit war es dann der letzte der fünf Zeitverträge, die man im Schnitt erhält.

Nach etlichen Höhen und Tiefen habe ich eingesehen, dass ein mir vorgegebener Zeitplan nicht zu meinem Leben passt, von meinem Biorhythmus ganz zu schweigen.
Bestandteil werden der Null-Bock-Generation?
Warum denn werden?
Ich denke, ich bin Bestandteil der Null-Bock-Generation.
Cogito, ergo sum. Ich denke, also bin ich.
Keinen Bock mehr.
Es fühlt sich eher nach Enttäuschung und Burn-Out an, als links oder radikal.
Mürbe vom ewigen Zeitdruck, der selbst Essentielles wie etwa "Essen" zu einem hektischen Ding der Unmöglichkeit macht. Müde von gepressten Zeitrahmen, sozialen Normen und nicht zuletzt von zu wenig Schlaf der aus dem Großen Ganzen resultiert.
Mir hängt dieses Alles, beruflich wie auch gesellschaftlich, sowas von Hinten raus, hierfür fehlt mir die Beschreibung. Fast.
Ich wurde Mitte Feburar geboren. Tierkreiszeichen Wassermann. Nach der Geburt wurde Rege um mich gehandelt. Meine biologische Mutter war bei meiner Geburt um die 17 Jahre jung, die Spur meines leiblichen Vaters verläuft sich irgendwo im Sand. Insofern wurde ich sechs Tage nach der Geburt rund 200 Kilometer weiter geschickt um am Rande einer bayerischen Kleinstadt als Adoptivkind aufzuwachsen.
Meine Eltern, bayerisch-traditionell, eher konservativ, Mittelschicht.
Verwaltungsangestellter im öfffentlichen Dienst und Hausfrau.
Einfamilienhaus und Doppelgarage.
Meine Kindheit kann man durchaus aus "schön" bezeichnen. Ich bin bis zu meinem Auszug von daheim mit 17, behütet und versorgt sowie als Einzelkind aufgewachsen.
Dass Einzige mit dem ich zu kämpfen hatte, waren meine Pollenallergie und in der Schule Mathematik.
Wenn ich nach dem Unterricht nach Hause kam, war meistens dass Essen fertig. Ich hatte zu trinken, genug Spielsachen, Turnschuhe und im Winter einen dicken Schal und eine Zipfelmütze.
Nach den Hausaufgaben durfte ich raus, Schneemann bauen im Winter, Radfahren im Sommer.
Alles Böse dass draußen lauerte, prallte an der Haustüre ab. Zumindest hatte ich den Eindruck. Auch jetzt, mit knapp 28 Jahren, nach drei oder vier Wohnungen, mehreren Arbeitsplätzen und ein paar Lebensabschnittsgefährtinnen, sehe ich dass noch genau so.
Nach Hause kommen, Küche setzen, Cappuccino trinken, Mutter redet und Vater schläft auf der Couch – die Welt ist in Ordnung.
Im Kaminofen knistern Holz und Flammen und die Katzen liegen davor und wärmen sich den Bauch. Alles Böse kann ruhig lauern, ich bin safe hier.
Abends so gegen 18 Uhr kam Vater von der Arbeit nach Hause, kündigte sich jeden Tag durch dass mechanische Klacken des Schlüssels in der Haustüre an. Ein Zeichen dafür, dass es Abendessen gibt und ich die Englisch Vokabeln JETZT beherrschen sollte.
So ein ähnliches Gefühl bekomme ich heute noch, höre ich dieses Geräusch an unserer Haustüre.
Meine Mutter bekam ein paar Jahre vor meiner Adoption ein Mädchen. Maria.
Maria starb kurz nach der Geburt. Frühgeburt.
Im Anschluss mussten ihr aufgrund eines Tumores die Gebärmutter und beide Eierstöcke entfernt werden. Somit war die biologische Uhr meiner Mutter operativ gestoppt worden.
Dann kam Paul.
Nach meiner Kindheit und nach der Realschule dann die erste Ausbildung.
70 Kilometer von zuhause. Krankenpflegeschule.Auszug. Erste eigene Wohnung.
Mit der ersten, eigenen Wohnung kamen die Mädchen. Sex. Beruf. Ab und zu Drogen. Alkohol, Zigaretten und Marihuana. Tabletten, Depression.
Wilde Zeit, mir wurde durchaus bewußt, dass ich nicht nur der klassisch gute Mensch bin, sondern auch ein Arschloch. Der Mörder in mir.

So nimmt die Biografie ihren Weg. Ihren eigenen Weg. Gedanken, Worte und Werke. Die ganze katholische Erziehung, die an mir versucht wurde, hat versagt. Manchmal zumindest.

Als Antichrist, im Großen und Ganzen linksorientiert, durchweg körperlich faul, eitel und mit rechtskonvexer Skoliose versehen zog ich los die Welt zu erobern.


"Komm, Mädchen, lass dich stopfen, es ist doch so gesund.

Die Dutten werden größer, der Bauch wird kugelrund"




Bertolt Brecht


II The Silence - Einführung


Mit guten 160 durch die Nacht, weg von all dem was uns weh tut. Gepresster Zeitrahmen, naja, heute nicht so. Nicht mehr nach dieser Entscheidung. Zielführende Scheiße, morgen Tagdienst.
Ich will dieses Alles – fast Alles – hinter mir, hinter uns lassen.
Irgend ein Arschloch zieht links raus, dunkelgrüner Opel Vectra, ein Kombi, mit getönten Heckleuchten. Manche Entscheidungen dauern nur Sekunden, wenn überhaupt. Trotzdem gehts eng her, sehr eng. Ich habe dass Gefühl, der Arsch unseres Autos klappt nach rechts, gleichzeitig kommt dass Nummernschild des Vectra immer näher.
Ich kann die Buchstaben lesen, sehe die Länderplakette, sehe nichts mehr. Scheiß Opel, mein Fahrzeug fängt sich, ich kann die Rillen der Heckscheibenheizung des verdammten Idioten vor mir zählen. Nachts, bei strömenden Regen kann dass nicht jeder. Neben mir, Stille. Ein Radiomoderator erzählt uns seine dämlichen Gedanken, leitet ungeschickt über zum nächsten Lied. Dennoch, Stille. Die Belohnung nach der Wut, nach dem Duell mit dem Schicksal. Der Opel schert wieder rechts ein, ich streife wie ein schwarzer Schatten vorbei, lasse ihn hinter mir. Seine Heckleuchten, sein Nummernschild, seine Rillen. Vor mir baut sich die Nacht weiter auf, nähert sich ihrem Höhepunkt. Der Regen zieht dicke Schlieren an den Seitenfenstern, mischt sich mit der Musik, passt sich akustisch dem Rhythmus der Lieder an.
Irgendetwas stimmt nicht in meinem Rückspiegel, tanzende Lichter, meine Stille wird durchbrochen
von einem lauten Knall. Es erinnert mich an einen kollabierenden Baukran. Metallisch, schleifend, tödlich. Der Vectra scheint verloren zu haben, mein Duell mit dem Schicksal. Zerstört sich selbst und meine Stille. Tanzend zu meiner Musik von rechts nach links, prallt von den Mittelleitplanken ab und zerschellt förmlich an einem 40 Tonner am Seitenstreifen.
Nachfolgende Fahrzeuge bremsen teilweise, teilweise fahren sie vorbei, überholen mich. Ich werde langsamer, bleibe rechts am Seitenstreifen stehen. Meine Freundin ist mit im Auto, begreift nicht, was eben passiert war. Schaut mich fragend an, bleibt aber ruhig. Zumindest wirkt es so auf mich.
Alles wirkt auf mich gerade, meine Stille. Die Stille, da ist sie wieder. Die Belohnung nach der Wut, nach dem Duell mit dem Schicksal. Ich steige aus, vergesse die Warnweste im Auto, nach zehn Schritten bin ich tropfnass. Die Warnblinker meines Fahrzeuges schmeißen grelle Blitze durch die Nacht, strahlen aus den scheinbar toten Augen des LKW´s zu mir zurück. Paaren sich mit den Warnleuchten des Lasters, fangen sich im Rauch der sich seinen Weg bahnt aus den Resten des Opels. Scheiß Duell, Game over.
Ich habe mir meine Dienstjacke übergezogen, selbsterklärend, warnfarben, reflektierend, hinten der Aufdruck: "Rettungsassistent". An mir zischen weiterhin ein paar Irre vorbei, nehmen den Unfall als gegeben wahr. Noch 200 Meter. Ein paar Fahrzeuge bleiben stehen, spucken Fahrer und Beifahrer auf die Autobahn. Schön geordnet hinter dem Chaos.
Die linke Spur bleibt frei. Der Vectra hat sich schräg hinten in den Anhänger gebohrt, ein Viertel kann man noch sehen. Ein Viertel Opel, die Rillen sind noch da, die Heckscheibe glänzt im Regen und im Licht haltender Autos. Gerade noch über die Zukunft geredet, alles hinter uns gelassen. Jetzt ist dass Ende vor mir, ohne Pläne, ohne Zukunft. Verlierer des Duells. Scheiß Opel. Ich bin im Dienst, jetzt. Leben retten. Welches Leben? Dass Dach des Vectras ist nach hinten verschoben, abrasiert. Und mit ihm der Kopf des Fahrers. War wohl alleine unterwegs. Sein Rest hängt im Rest des Sitzes, unnatürlich ruhig, nach hinten gebogen auf die Rücksitze. Reste seines Gehirns, Blut, Sekret und Knochensplitter haben sich verteilt. Bilden ein abstraktes Kunstwerk. Die Arme hängen nach unten, der adipöse Torso scheint zersplittert und instabil. Das Cockpit und der Motorblock decken ihn zu, vervollständigen dieses Kunstwerk. Gegenstände, Zettel, ein Walkman, lose verteilt im Überbleibsel, in der Waffe meines Gegners. Zerschmettert, mit ihm zu Grunde gegangen.
Game over.

Nach einer Stunde etwa steige ich wieder ins Auto. Meine Freundin redet, versucht mich zu beruhigen. Ich bin doch ruhig. Stille. Versucht sich selbst zu beruhigen. Mir macht sowas nichts aus.
Ich sehe es tag täglich. Leiden, Krankheit, Sterben, Tod. Siechtum in Zimmern mit Holzdecken. Kontraktile Elemente, vom Zahn der Zeit, der biologischen Uhr überholt. Verkalkt, Senil, Dement.
Vollgeschissen, Vollgepisst, Ausgekotzte Sondennahrung. Liebevoll kurz vor den Tod gepflegt und in diesem Zustand gehalten. Es muss Liebe sein, Liebe muss es sein, nicht gehen zu dürfen. Man kann nicht gehen, wenn man nur noch liegen kann. Scheißen, Pissen, Sabbern, Kotzen. Manchmal alles durch den Mund. Scheißen, Pissen, Sabbern, Kotzen. Und liegen. In Zimmern mit Holzdecken.
Irgendwann zu Tode reanimiert. Unter der Holzdecke. Game over.
Bei mir ist soweit alles in Ordnung, meine Freundin war nur kurz draußen. Ein Gespräch mit der Polizei. Eine Tussi, verständnisvoll. Scheinbar.

Knapp zwei Stunden später sind wir daheim.
Lichtschalter.
Der Schalter und seine Peripherie.
Schafft Kontrast zur Dunkelheit. Kontrastprogramm.
Licht an.
Es fühlt sich gut an, daheim zu sein.
Wir atmen kurz durch, ziehen die Jacken aus.
Regenwasserreste perlen in kleinen Bahnen von den Jacken nach unten.
Ziehen kurze, fast unsichtbare Fäden und verabschieden sich.
Lena zieht durch die Wohnung, spielt Lichtschalter.
Unzählige Teelichter, Kerzen und Duftlampen werden entzündet.
Rücken als kleine Armee vor gegen die Nacht.
Ich ziehe nicht durch die Wohnung.
Meine Gedanken ziehen durch mich durch und ich mich selbst in die Küche.
Stille.
Dass Duell. Vor zwei Stunden. Game over.
Ich denke an die Rillen der Heckscheibenheizung.
Nicht an den verschobenen Torso.
Nicht an den Sony-Walkman.
Nicht an die Gewebereste die daran klebten.
Die verdammten Rillen der verdammten Heckscheibenheizung haben es meinem Hirn angetan.
Heckscheibenheizung.
Mein erstes Auto hatte eine beheizbare Frontscheibe.
Naja.
Heckscheibenheizung. Rillen.
Drecksopel. Game over.
Kaffee.
Senseo.
Ich drücke den großen, runden Knopf meiner Senseo und bin wohl jetzt angekommen.
Daheim. Ganz.
Daheim.


III Das ganz normale psychotische Verhalten von Landkindern die in mittelgroße Städte gelangen


Neue Heimat. Seit zwei Monaten.
Kurz nach dem Auszug von meiner Ex endlich mein eigenes Reich.
Kurz nur mein eigenes Reich. Dann unser Reich.
Reich. Leben. Wohnung.
Lena.
Ich.
Lena und Paul.
Später mehr dazu.

Neue Wohnung im Altbau, Stadtvilla in der Kleinstadt. 65m² Dachgeschoss. Neue Wände, neue Böden, neues Bad. Neues Leben. Alles Neu. Neue Liebe im neuen Leben in der neuen Wohnung mit den neuen Böden, Wänden und Bädern. Verdammte Scheiße, was für ein glücklicher Mensch ich doch bin. Nirgendwo kackt es sich so erfolgreich und dynamisch als auf einem neuen Thron. Die Dusche mit Regenschauer, die Abstellkammer so groß wie mein Kinderzimmer.
Und gefließt. Neuer Boden.
Ich hatte Glück mit der Wohnung. Den ganzen Tag war ich unterwegs gewesen, um halb Acht angefangen quer durch den gesamten Landkreis. Anfangs hatte ich mir es einfacher vorgestellt, eine
passende Wohnung zu finden. Zwei Probleme: Mehrere "Bewerber" und "passende Wohnung".
Es widerspricht mir, für ein Wohnloch im Dachgeschoss ohne Fenster knapp 500.- Euro zu zahlen.
Oder die Wohnung eines Fischliebhabers zu übernehmen. Der Aquariumgeruch schlug durch bis vor die Haustür. August war es, heiß war es und sein Fischteich wahrscheinlich kurz vorher schon mal ausgelaufen.
Türkische Staatsangehörige boten mir ebenfalls eine Wohnung an. Obergeschoss. Groß, fast 80 Quadratmeter, hell, in einem normalen, naja, doch etwas heruntergewirtschafteten Zustand. Dennoch mit Potential. Die Wohnung. Der Weg dorthin war mit Kinderrädern, Kinderschuhen, Kinderspielzeug, Dreck, einem halbfertigen Treppenhaus, Kriechgetier und sonstigem Kulturgut versehen. Desweiteren stritten die zehn Kinder der Familie im Erdgeschoss lautstark um den letzten Gummiball. Was auch immer, ich habe es nicht verstanden. So gesehen erwies sich auch die "Führung" als mehr oder weniger unspektakulär, die Hauswirtin sprudelte türkisch-deutsche Wortbrocken heraus, zu mir, zur Wand, zur Umgebungsluft, Wie gesagt, ich verstand es sowieso nicht. Dass einzige was mir blieb, war durch eindeutige Bewegungen meiner oberen Extremitäten dass Ende des Gesprächs zu signalisieren. Hüpfend, Springend, teilweise stolpernd verließ ich dass Grundstück.
Müde und mit drückenden Kopfschmerzen behaftet gab ich die letzte Adresse für den damaligen Tag ins Navi ein: Bahnhofstraße 12. Meine Erwartungshaltung war sowieso nicht mehr vorhanden, dafür wurden die Kopfschmerzen stärker. So erreichte ich nach etwa zehn Minuten dass Anwesen.
Durch eine lange Einfahrt die an einer Doppelgarage endete, erreichte ich den Eingangsbereich.


Eine alte Frau, begleitet von einer Krücke, öffnete mir die Türe. Ihr Gesicht, altersentsprechend, vom Leben gezeichnet. Humor hatte ihre Augen geformt, Gicht ihre Finger. Dicke Knuppel umragten die Grundgelenke des Daumens. In vornüber gebeugter Haltung, auf ihre Gehhilfe gelehnt stand sie nun vor mir und sah zu mir auf.
"Hallo. Mein Name ist Lehmann. Ich bin wegen der Wohnung hier." sagte ich "Ich hab mir Ihrer Tochter telefoniert"
Tags zuvor hatte ich sämtliche Nummern der für mich in Frage kommenden Immobilienanzeigen durchtelefoniert. Bezüglich dieser Adresse, ich war wohl mit der Tochter der Eigentümerin verbunden. "Mutter ist den ganzen Tag daheim, einfach klingeln, ich sag ihr Bescheid".
"Schön, Sie sind wohl wegen der Wohnung hier. Meine Tochter hat gestern abend kurz was gesagt.
Ich höre schlecht, Sie müssen laut reden mit mir".
Toll. Scheißen, Pissen, Sabbern, Kotzen...


Langsam kam sie mir entgegen, links auf die Krücke gestützt, ihre Augen lachten mich an und schienen mir zu sagen "Vergiss die Kopfschmerzen, vergiss dass Aquarium, wir gehen jetzt ins Dachgeschoss".
Also gingen wir ins Dachgeschoss.
Dass Treppenhaus sah wenig versprechend aus. Gedanklich war ich schon missgelaunt und mit noch mehr Kopfschmerzen, dafür ohne Wohnung, zurück auf dem Weg zur Rettungswache. Zum Nachtdienst. Sie ließ mich voraus gehen, Fetzen altertümlichen Small Talks überholten mich, prallte n an den Wänden, den Treppenstufen und der Gipsdecke ab und rauschten durch meinen Gehörgang ins Gehirn. Ich ging schon weitere Alternativen durch, eigentlich hatte ich doch schon alles angeschaut...Naja, hab grad eh nichts zu tun sonst...
Gipfelstürmer, Endorphinjunkies...Die Sonne geht auf und du erreichst zeitgleich mit ihr dass Bergplateu, bist am Ziel deiner Tour, deiner Reise. So in Etwa war dass Gefühl, als ich, im Dachgeschoss angekommen, durch die offen stehende Wohnungstür blickte. Auf dunklen Laminat spalier stehende Wände, helles Licht gleitet wie im Fluss vom vordersten Raum nach hinten zu mir. Umhüllt mich, umgibt mich. Stößt mich weg vom schwarzen Loch des Immobilienmarktes. Der Duft frisch gefällter Bäume (Naja, fast halt...) vermischt sich mit dem von Wandfarbe und Regipsplatten. Ich wage den ersten Schritt in dieses Loft. Blick nach Rechts: Fließen, Waschmaschinenanschluss. Drei Schritte weiter. Blick nach Links: Wasseranschluss, Starkstrom für den Herd. Ein weiterer, offen stehender Raum tut sich auf: Schlafzimmer. Zwei weitere Schritte den Flur entlang. Blick nach rechts: Mund steht offen. Upper-Class-Badezimmer. Großflächiges, graues Steinzeug an den Wänden. Große, in die Wand eingelassene Spiegel. Darüber: Halogenspots. Eine Zwei-Personen Eckbadewanne und eine fest-gemauerte Dusche. Regenschauer-Duschkopf. Wellnessoase. Moderne Armaturen mit geraden Linien.
Ich reiße mich los, lasse den Badetempel hinter mir. Ein Schritt nach vorne: Wohnzimmer. Gemütliche Größe, zwei Fenster an der Stirnseite. Die Decke wirkt niedriger, an den Wänden sind kleine Schrägen.

Vor allem den Eigengeruch der Wohnung empfand ich als sehr angenehm. Passend zum gesamten Ambiente. Von den Fenstern im Wohnzimmer aus sah man weit ins Land. Eine geschwungene Reihe Baumwipfel, grüne Wiesen, Einfamilienhäuser. Idylle. Photovoltaikanlagen der Bauern. Idylle. Ruhe. Trotzallem. Ruhe. Stille. Das war es, was ich wollte. Stille. Immer auf der Suche nach Stille, Ruhe, dem akustischen Vakuum. Untertrieben, dem sensorischen Vakuum. Keine unnötigen Eindrücke von außen. Alles in Allem ein gutes Paket. Die Eigentümerin, die Wohnung, die Stille; Gedacht, getan. Mitte August 2010: Endlich eine Wohnung.

Retrospektive. Mitte August 2007:
Fünf Monate mit Annika. Bei Annika. Für Annika. Für Uns. Mich...Nach zwei Wochen mehr oder weniger intensiv über uns nachdenken, bin ich zu dem Entschluss gekommen, schon viel zu lange alleine zu sein. Besuch. Zusage. Sex. Beziehung. Willkommen im Alltag. Zwischen Gänseblümchen, Katzen und einem VW Polo, den sie nach einem Jahr an der Stoßstange eines 5er Touring zum stehen brachte, lebten wir ein Leben. Ein Leben.
Nicht mein Leben. Nicht unser Leben.
Ein Leben.
Hauptsächlich ihr Leben.
Im Chat eines Radiosenders unserer Region lernten wir uns kennen.
Drei Nächte lang haben wir über Gott, die Welt und vor allem unser Leben diskutiert, geredet, gelacht. Jetzt im Nachhinein kann ich mir gar nicht vorstellen, wie ich so etwas konnte.
Online konnte.
Viel zu lange allein gewesen.

Eben.
Diskutiert, geredet, gelacht...Eigentlich nur gechattet. Irgendwann kommt der Scheiß Punkt, an dem Reden nicht mehr Reden und Internet nicht mehr Internet ist. Ich finds bescheuert. Kindisch. Jugendlich. Irreal. Asozial. Social Networks nach dem Feierabend oder kurz für zwischendurch.
Wo bleibt dass Kaffeehaus? Wo der Augenkontakt, wo der Geruch, die feinen Gesten des Gegenübers? Mimik, Gestik via Kürzel übertragen. Es kotzt mich an, wenn Mancher seine Irrealität von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann. Wenn die Reaktion auf einen Witz oder eine komische Situation ein herzhaftes "LOL" ist. Ausgesprochenerweise, die Unwirklichkeit ins Jetzt geholt. Bits and Bytes zwischen uns gebracht, vermenschlicht. Herzlichen Glückwunsch.

Damals war mir langweilig.
Kurz nach meinen wilden Jahren, kurz nach meiner Zeit beim Bund.
Ich hatte mir eine Frist gesetzt. Ein Jahr. Irgendwas arbeiten. Geld verdienen. Dann, Rettungsdienstschule. Privatschule. Staatlich geförderte Ausbildung. 1989 wurde aus der klassischen Ehrenamtlichentätigkeit "Rettungssanitäter" ein anerkannter Ausbildungsberuf. Da alles neu strukturiert wurde, also Ausbildungsinhalte oder die Abschlussprüfung, wurde auch gleich der Name neu strukturiert. Der Rettungsassistent war geboren. Als Kaiserschnitt oder Zangengeburt. Wie auch immer, man hätte sich vor Novellierung der Landesrettungsdienstgesetze im Gleichzug mit der Totgeburt des Rettungsassistenten überlegen sollen, ob denn schon genug examinierte RA´s zugegen sind. Plötzlich war in den meisten Bundesländern ein Rettungsassistent auf dem Rettungswagen vorgeschrieben, jedoch noch keiner Ausgebildet. So wurde eine Übergangsregelung geschaffen. "Erfahrene" Rettungssanitäter mit immerhin "wenig theoretischer" Ausbildung sollte nach Erfüllung von mindestens 2000 Dienststunden die Überschreibung zur geschützten Berufsbezeichnung "Rettungsassistent" ermöglicht werden. Plötzlich gab es unzählige Rettungsassistenten, dafür dann keine freien Stellen mehr. So schließt sich der Kreis zu einer Einstellung als Rettungsdiensthelfer (also zwei Hierachiestufen unterhalb des RA) und einem Monatsnetto von 1400.- Euro. Verdrehte Welt. Die Rettungsassistentenstellen sind bis heute noch mit den "erfahrenen" Rettungssanitätern besetzt. Ein gut ausgebildeter, summa cum laude examinierter Rettungsassistent wird zeitverträglich als unterbezahlte Urlaubsvertretung eingestellt.
Wehe, man sagt was...Naja, die natürliche "Raffung", die Evolution tut dass Ihre hinzu, langsam sterben sie weg, gehen in Rente oder sind schlichtweg zu faul oder zu krank um noch zu arbeiten.
Nach 40 Jahren im öffentlichen Dienst schreit die Frührente. Unbeachtet dessen, ein 62-Jähriger, der eben seit über 40 Jahren berufstätig ist, wird nicht mehr in irgendwelchen Autowracks rumturnen (können). 150Kilo – Bauarbeiter unter Reanimationsbedingungen vom Gerüst holen oder die inkontinente, adipöse Mitt-Achzigerin aus dem fünften Stock retten. Dass hat unsere Regierung aber noch nicht verstanden. Ich hoffe, Angela Merkel wird irgendwann einmal von einem rüstigen, senilen, arthrosegeplagten, von Bandscheibenvorfällen heimgesuchten Rettungsopa versorgt. Und anschließend abgeseilt. Im Sinne seiner Bandscheiben wird sie an ihren früheren Bekannten denken. Möllemann war der Name. Steil der Flug, hart die Landung. Punktlandung.
Aber, da wir alle nicht so ganz sind, wie wir eigentlich sein sollten, geben wir Tausende an Euros aus. Um eine Ausbildung machen zu können, die uns anschließend befähigt, professionell Leben zu retten. Um die Gesundheit der Bevölkerung sicherzustellen, um an 365 Tagen und Nächten Dienst zu tun. Die Gegenleistung hierfür habe ich schon geschildert.
Reichlich. Dank und Anerkennung.
Kotzt mich an.
Ein frustraner Dasein in einem frustranen Land dass sich frustran regieren lässt. Demokratisch regieren. Jede Stimme zählt.
Dreck.
Die Rechnung hat ein Milchmädchen gemacht und selbst der zweite Warnschuss landete irgendwo rechts hinten.
Somit schließt sich der zweite Kreis. Ohne Unzufriedenheit gäbs keine Veränderung, keine Motivation. Keine Entscheidung. Unsere Entscheidung.
Erneuter Rücksprung: Ein Jahr irgendwas Arbeiten. Für die Rettungsdienstschule, für die Allgemeinheit, für mich und meine Zukunft. Um gutgelaunt und glücklich in die Arbeit gehen zu können, am Wochenende den Rasen zu mähen und dass Auto zu waschen. Gut integriert in einem integralen System. Sozial, Nächstenliebend, demokratisch. Fürn Arsch!
Ich fand noch während meiner letzten Wochen bei der Bundeswehr eine Tätigkeit als Platzverwalter bei einer Spedition. Daheim. Am Ort. In der Stadt meiner Eltern. Meine ursprüngliche Ausbildung zum Krankenpfleger habe ich zeitlich gesehen fertig gemacht, jedoch nur schriftlich und mündlich examiniert. Wilde Zeit. Anschließend dann Bundeswehr. Die wilde Zeit wurde ruhiger. Ich fing an, mich nach Stille zu sehnen. Und, ich fing Feuer. Rettungsdienstlich, Notfallmedizinisch. Die Romantik eines durch und durch unromantischen Berufes hatte mich gefangen. Leben retten. Rettungsassistent sein.
Dafür war ich bereit, meine Frist zu halten, dennoch ein Jahr durchzustehen und "irgendwas" zu machen. Die Stelle erwies sich als gar nicht mal so schlecht. Montags bis Freitags von Acht Uhr Morgens bis 17 Uhr abends. Dazwischen eine Stunde Mittagspause. Die Kollegen nett, die Chefin hübsch. Meine Haupttätigkeit bestand in Autofahren, acht Stunden am Tag. Die Spedition transportierte neue Autos, hauptsächlich Ford und Skoda. Hauptsächlich nach Rumänien und Spanien. Immer acht Stück pro LKW, immer schön geordnet nach Dispo-Anweisung. Etwa 500 Stück waren im Durchschnitt am Platz geparkt. Im Lauf der Woche kamen Lieferungen aus den Fahrzeugwerken, Freitag abends waren die Ladungen für unsere Firmeneigenen Trucks fertiggestellt. Februar 2007 schied ich aus der Bundeswehr aus, kam zur Spedition. Im darauffolgenden Monat lernte ich Annika kennen. Mittwoch abend, kurz nach der Arbeit. Essen daheim. Anschließend war ich noch kurz mit dem Auto unterwegs. Ein Ford. Ford Escort. Baujahr 1998. Silbergrauer Kombi. Gehobene Ausstattungslinie; Ghia. 90 PS, aber gut eingefahren.
Donnerstag und Freitag hatte ich frei. Also ließ ich es ruhig angehen, war dennoch so um 22 Uhr wieder daheim.
Langeweile. Internet.
Ficken?
Irgendwen, Irgendwo.
Gewisse Websites vermitteln reine Sexkontakte. War mir aber zu Niveaulos. Oder was auch immer. Vielleicht auch zu direkt und im Endeffekt zu unpersönlich. Stillos sein mit Stil.
Langeweile. Reden.
Cybertalk. Hirn aus, Kippe an. Etwas Alkohol. Manchmal auch mehr Alkohol. Mehr Zigaretten. Mehr Talk. Ich mochte den Zustand der Entspannung. Wenn der Alkohol jede Hirnwindung umspülte, mein Denken in Watte packte. Jenen Zustand schmerzloser Entkörperung. Jedes rationelle Geschehen, meine mich umgebende Realität, rückte scheinbar in weite Entfernung. Die emotionale Entkopplung von dieser Welt. Nach fünf Edelstoff hatte ich den belastungsfreien Zustand erreicht.
Mittwoch abend. Halb Elf, der PC fährt hoch. Keine Lust zu trinken. War meistens so. Wäre auch zu passend gewesen. Unpassend wäre, hätte ich am nächsten Tag aufstehen müssen. Der typische Zeitpunkt für ein kollektives Besäufnis mit Bekannten sind Dienstage. Man trifft sich. "Kurz". "Ein- oder Zwei Bierchen". Der Abend vergeht, um halb vier fällt man, besoffen wie an Onkel Ludwigs Hochzeit, ins Bett. Um dann, Möglichkeit a) um halb Sieben prompt zu verschlafen und nachmittags mit höllischen Kopfschmerzen aufzuwachen oder, Möglichkeit b) nicht schlafen zu können, weil dass Bett im Kreis läuft und man sich bis um halb Sieben ständig übergeben muss. Beides kann betrieblich gesehen, blöd laufen. Oder aber in einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung enden.
Nachdem Windows gestartet war, loggte ich mich ein. Nach irgendwelchen Sinnlosen Spielchen oder Gequatsche mit irgendwelchen fetten Internetweibern, kam ein damaliger Kumpel in den Chat.
Und ein zweites Chatfenster öffnete sich. "Annika138".
Darauffolgenden Samstag trafen wir uns dass erste Mal. Bei ihr daheim. Sie war seit einem halben Jahr Single. Hatte zuvor eine dreijährige Beziehung. Umwelttechnikstudent, Tendenz zum maßlosen Drogenkonsum. Wohl Spielsüchtig.
Gegen Mitternacht war ich bei ihr, im Treppenhaus. Sagte dass erste Mal persönlich zu jemand Fremden aus dem Chat "Hallo". Um Sieben Uhr Morgens am Sonntag, nach dem Abspann von "Kommissar Rex" verabschiedete ich mich nach Hause. Keine besonderen Vorkommnisse, keine besonderen Gespräche. So gesehen war es für mich erledigt. Zwei Wochen später trafen wir uns nochmals. Tranken Kaffee. Fanta. Sprite. Dass Sprite hatte einen seltsamen Beigeschmack. Ich bekam Neues. Scheiß Sprite. Wir vögelten. Nachdem ich ihre Hand gehalten hatte und dass Sprite-Glas leer war. Nichts besonderes. So wie man halt vögelt, wenn man sich noch nicht kennt. Auf eine gewisse Art und Weise kennt man sich trotzdem. Kennst du Eine, kennst du Alle. Jede Muschi, jede Tussi. Ich denke, mit Schwänzen wird es ähnlich sein. Zumindest bis man sich kennt, mag, schätzt, liebt, geil findet oder was auch immer. Zumindest bis dann ist es immer irgendwie gleich. Ähnlich.
Nach einer Stunde kannten wir uns. Danach schlief ich ein. Sie lag neben mir. Schlafend.
Zehn Stunden später bin ich nach Hause gefahren. Abends wieder zurück. In die Beziehung.
Von da an kam ich jeden Abend zu ihr. Von da an schliefen wir jeden Abend miteinander. Von da an wurde ich erwachsen. Anfangs war es eine neue Liebe, irgendwann war es Gewohnheit. Eine Gewohnheit, die Sicherheit gab. Die Sicherheit nichts riskieren zu müssen. Die Sicherheit eines Standart. Die erste Zeit lief gut, Alltag machte sich breit. Wiegte mich in Sicherheit. Dann kam die B-Frage. Und die H-Frage. Und die EFH-Frage. Baby, Hochzeit, Einfamilienhaus. Im Grünen. Mit Garten und Doppelgarage. Zum Rasenmähen und Auto waschen.
Die Schule begann. Anfang September. RA 07/08. Es traf sich gut. Die Schule war im Selben Ort wie die Wohnung von Annika. Eine Klappe, zwei Fliegen. Sex, Sicherheit, Schule. Klinikpraktikum, dann kam die Examensvorbereitung. Facharbeit. Prüfungen. Bestanden. Alles in Allem ein schönes Jahr. Ein Jahr Rettungsdienstschule. Ein schöner Kurs. Schöne Menschen in einem schönen Kurs. Ein schönes Jahr lang. Mit einem schönen Ziel, für ein schönes Leben. Auch für dass Leben der Anderen. Romantisch.
Rettungsassistent sein.
Die 30-Seitige Facharbeit war innerhalb von fünf Tagen fertig, der Rest des Kurses befasste sich ein halbes Jahr damit. Zeitdruck ist produktiv. Für mich. Schön. Für mich. Passend zum Beruf. Real. Romantisch.
Rettungsassistent sein.
Im September war dann Examen. Summa cum laude.
Alles gut.
Alles schön.
Kurz gefeiert.
Daheim bei Annika.
Sie sagte, sie sei stolz auf mich. Der Umwelttechniker hätte wohl nur gezockt. Hätte sich von seinen Eltern aushalten lassen. Drogen hatten sein Leben zerstört. Keinen Abschluss seit neun Semestern. Nicht nur Drogen zerstören Leben. Manchmal zerstört sich Leben selbst.
Daheim bei Annika und mir. Bei uns.
In unserer Küche.
Mit dem Siemens-Herd, der Siemens-Spülmaschine und den hitzeresistenten Arbeisplatten von Alno. 15 Quadratmeter Küche. Eingebaut, an die Wand gestellt. Dazwischen ein Tisch, vier Stühle. Der Aschenbecher und die Blumen, die Pendelleuchte. Die Couch in Lederoptik, um die Ecke. Gebracht. Der Fernseher vor der Ecke, die Sideboards, der Esszimmertisch im Wohnzimmer. Multirooming.
Esszimmer. Wohnzimmer. Computerzimmer.
Die Treppe hoch. Echtholztreppe. Darunter dass Katzenklo. Für die Katzen. Für die Katzen die ein Kind ersetzten. Deswegen vier Katzen.
Vier Katzen ist gleich ein Baby.
Bad. Gefließt. Normbad für ein normales Leben in einer normalen Wohnung. Normale Katzen. Freigänger. Zum Kacken aufs Katzenklo. Ich bring sie irgendwann noch um. Kann den Geruch nicht mehr ertragen. Den Dreck. Den Katzendreck. Die Unruhe. Die Katzenstille. Morgens aufstehen. Oben, beim Bad dass Schlafzimmer. Ein großes Bett vor einem großen Schrank. Gardinen in den Fenstern, der Rollo ein Viertel ausgefahren. Morgensonne macht wach. Ganz normal. Der Geruch. Auf dem Weg ins Bad zum Schiffen. Die Morgenlatte geht voraus. Hat auch schon die Schnauze voll von dem Katzengeruch. Den ganzen Tag, Abend. Dass ganze Jahr. Jede Minute. Ein Leben lang.
Ein schönes Leben.
Katzen statt Baby, EBK statt EFH. Momentan zumindest.
Irgendwann bring ich sie um. Die Katzen und die Küche. Die Katzen in der Küche. Feuer. Alles weg. Dreck. Für´n Arsch.
Annika lebte dass Leben ihrer Eltern. Vor allem aber ihrer Schwester. Sandra. Die hatte zwei Kinder, Cynthia und Pascal. Letzteres ein Vollpfosten vor dem Herrn. Manchmal fragte ich mich, wie er alleine pissen konnte. Riss aus unserer Einbauküche die Abdeckung des Rondells heraus. Dachte, es wäre ein Schub. Ich hätte mich köstlich amüsiert, wenn die ganze Scheiße, die da drin ist, rausgefallen wäre und den kleinen Idioten erschlagen hätte. Von der Moulinex getötet. Die meisten Unfälle passieren im Haushalt. Pascal war 6 Jahre alt damals, blond, klein, dürr. Fast schon abgemagert. Fraß den ganzen Tag irgendwelche Scheiße, legte aber nicht zu. Außerdem hatte er rießige Hasenzähne. So richtig gut. Zum Einschlagen. Cynthia war ebenfalls blond. 4 oder 5 Jahre alt, ich hab nicht genau zugehört. Klein, eher mopsig. Ebenfalls verfressen. Und eine kleine Prinzessin. Litt an Neurodermits, der kleine Goldschatz. Wenn sie nicht bekam, was sie wollte, brach sie in Tränen aus. Immer brach sie in Tränen aus. Verdammte Göre. Aber wesentlich erträglicher als ihr Bruder, der Trottel.
Am Tollsten fand ich es, wenn beide am Wochenende bei uns über Nacht blieben. Annika ging dann um zehn Uhr abends mit ihnen ins Bett. Ich wollte nicht nachkommen, Pascal hatte einen sonderbaren Körpergeruch, der sich nachts intensivierte. Dass ganze Schlafzimmer roch nach Pascal. Sonderbar. Abstoßend. Idiotisch. Der erste Mensch (oder was auch immer) mit einem idiotischen Körpergeruch. Meistens habe ich am nächsten Tag meine Bettdecke gewaschen. Ich konnte diesen Geruch nicht ertragen. Morgens gabs gemeinsames Frühstück mit den Kindern. Nutellabrot, Kaba, Saft, Limo. Gequirlte Scheiße trat an meine Ohren. Es sind doch Kinder. Tolle Kinder. Wenig belastet, vorallem mit Erziehung.
Ihre Schwester. 30 Jahre. Zwei Kinder. Blond. Gebärfreudiges Becken. Gleichzusetzten mit einem fetten Arsch. Kann sie nichts für, hat ja schließlich schon zwei Kinder zur Welt gebracht. Gelernte Friseuse. Gutmütig, einfach gestrickt. Deren Mann. Michael. 35 Jahre. Säufer. Mitglied der Ortsfeuerwehr. Industriemechaniker. Bei Zehn hört dass Alphabet auf...Naja. Soviel dazu.
Seit 35 Jahren lebte er in einem Scheißkaff in unserem Landkreis. Zumindest wohnte er dort. Jeder definiert sein Leben selbst. Irgendwie ist alles Leben. Biologisch gesehen. Philosophisch gesehen führte er eine Existenz. Zwischen Morgens Kacken, Arbeiten gehen, heimkommen, Abendessen, Saufen gehen, wieder heimkommen und besoffen ins Bett pissen. Sein 40 Kilometer Bewegungsradius, den er mit seinem gebrauchten VW Sharan zurücklegte, entsprach im Verhältnis etwa seinem geistigen Radius. Sein Leben als Mittelpunkt der Welt. Für ihn, für seine Frau. Für seine Kinder. Cynthia und Pascal. So gesehen können Cynthia und Pascal nichts für ihre geistige Retardiertheit. Überspitzt, Übertrieben. Beide waren nicht geistig retardiert im eigentlichen Sinne. Jedoch vollkommen weltfremd, verzogen. Geistig ein Äquivalent zum Papa. Nur dass für Pascal dass "Alphabet" schon bei Drei zu Ende war.
Sandra, ihr Mann und ihre Kinder wohnten im Erdgeschoss. Darüber lebten seine Eltern. War ihr Haus, ihr Garten. Irgendwann mal ihr Leben. Ihr Leben ist zu seinem geworden. Seines zum Mittelpunkt der Welt. Für ihn, für seine Frau. Für seine Kinder.
Und auch für Annika.
Als wir uns kennenlernten war sie in der Metallbranche befristet angestellt. Nach dem dritten Zeitvertrag dann die Übernahme. Tariflohn. IG Metall. 35-Stunden-Woche. Zwei-Schichtsystem. Manchmal auch Nachtschicht. Ihr Ziel war erreicht. Beruflich.
Gelernt hatte sie im Verkauf, nach dem Quali, bei einem Discounter. Genau wie ihre Mutter.
Dann kam der Umwelttechnikstudent. Mit ihm die Karriere. Für sie.
Ein Job im Verkauf ist nicht einfach. Viel Arbeit, zu wenig Geld. Als Filialleitung gerade Mal 1200.- Euro Netto. Verarsche. Dafür Stasimethoden in der Personalabteilung. Auf Mitarbeiter angesetzte Mitarbeiter. Kündigung von Festangestellten, Neueinstellung über Zeitarbeitsfirmen. Lidl, Schlecker und Co. Machen Schlagzeilen. Angestellte machen mit.
Müssen mitmachen.
Haben Familie. Brauchen Geld.
Wir leben im Sozialstaat. Familien sind hoch angesehen.
Nicht einmal als Single ist es ohne Probleme möglich eine Wohnung, ein Auto und ein oder zwei Hobbies zu halten. Zu Zweit wird es fast unmöglich. Eine Wohnung, zwei Autos, zwei oder drei Hobbies. Zusätzlich zu den Anderen Nebensächlichkeiten wie Kleidung, Essen, Trinken, Heizung, Strom oder eine gottverdammte Tageszeitung. Zur politischen Bildung. Zur Ablenkung. Die Rätselseite. Die jugendfreien Witze. Schmunzelwitze.
Politische Bildung und Schmunzelwitze im Sozialstaat.
Der Staat, der seine Mittelschicht und sozial Schwache verhungern lässt.
ALGII-Empfänger brauchen keine Heizung. Deren Kinder brauchen keine Heizung, keine Bildung, keine sozialen Kontakte.
Die Unterschicht bleibt unter sich.
Soll unter sich bleiben. Sich gegenseitig wärmen. Kein Geld für Heizung oder Strom, kein Geld für einen Pulli zum Anziehen. Körperwärme ist die Heizung der Unterschicht.
Im Gegenzug wird fleißig überwiesen. Steuergelder. Nach Griechenland zum Beispiel. Für ein vereintes Europa. Solange, bis Deutschland dass Selbe Bruttoinlandsprodukt aufweist wie Rumänien. Ostblock. Ostblockgefühle im ehemaligen Westen.
Diäten werden erhöht, Schreibtische und Tafelsilber angeschafft. Für Berlin. Die Regierung. Unsere demokratische Regierung. Von unserem Geld. Meinem Geld. Steuergeld.
Brücken werden gebaut, über Wiesen. Der Fluss dazu wurde vergessen.
Flüge werden finanziert. Für die MdB´s. Für die Kanzlerin.
Ich wollte dass alles nicht. Keiner wollte dass. So wollte dass Niemand!
Im Endeffekt, Wirtshausparolen.
Trotzdem. Keiner wollte dass.
Sozial gerecht wäre zum Beispiel eine Unterstützung für unabsichtlich in Not geratene Privathaushalte. Das Klima am Arbeitsmarkt ist kalt geworden. Leiharbeiter, Einwanderer, billige Arbeitskräfte. Schlagworte die zum Problem geworden sind. Arbeit für Alle ist Vergangenheit. Status idem ist Arbeit für die Billigsten.
Nicht die Besten, nicht die Qualifiziertesten.
So mag es einen nicht verwundern, dass, auch als Folge eines vereinten Europas und als Folge von "Mulitkulti" immer mehr Bundesbürger ohne Arbeit zu Hause sitzen. Zu Hause, oder unter einer Brücke. Eine Brücke die eine Wiese verbindet. Eine Wiese, die keine Verbindung braucht, da seit Anbeginn der Wiese, diese Wiese als Ganzes vorliegt.

Sozial gerecht ist es auch, bekennde Schmarotzer, die sich auf gewissen Schmierblättern ablichten lassen und mit ihrer Faulheit prahlen, finanziell absaufen zu lassen.
Wege aus der Arbeitslosigkeit. Ich-AG. Subventioniert vom Staat. Neun Monate lang, 300.- Euro zusätzlich zum Arbeitslosengeld. Gerade mal die zusätzlich notwendigen Versicherungen für einen Selbstständigen oder Freiberufler sind dadurch gedeckt. Wenn überhaupt. Neun Monate lang.
Die neue Deadline für dass Unternehmen. Neun Monate.

Annikas Karriere. Nach dem Discounter ihr Auszug. Von ihren Eltern. Zum Umwelttechnikstudenten.
Dessen Eltern hatten zwei Häuser. EFH und Bungalow im Garten. 110 Quadratmeter. Mit Büro und Aquarium. Einbauküche, eine zugelaufene Katze. Doppelgarage. Und einen Garten. Auto waschen und Rasen mähen. Vorhänge aufhängen, an Weihnachten dekorieren. An Ostern, an Pfingsten, an Helloween, im Frühjahr und im Herbst. Jedem Scheißdreck seine Deko. Ihre Mutter machts genau so. Sandra auch. Michael sitzt in der Küche. Liest Prospekte, schaut die Bilder an. Trinkt. Export.
Annika´s Reich war dass Büro. Dass Büro im Bungalow. Ein kleiner Raum mit zwei Regalen und einem Schreibtisch in der Mitte. Sie hat es oft erzählt. Ein Regal sogar mitgenommen. Damals, beim Auszug. Als die Liebe weg war.
Die Liebe war weg, Annika war weg. Der Umwelttechnikstudent alleine. Im Bungalow. Im Büro. Nur noch ein Regal.


Als die Liebe noch da war, saß sie oft vor dem PC. Er war zocken. Saufen. Trinken. Was auch immer. Sie chatten. Die Vorhänge waren aufgehangen. Die Wohnung dekoriert. Die Katze hatte zu Fressen. Zum Kacken ging die Katze in den Garten. Diese Katze kackte im Garten. Intelligente Katze.
Es gab nichts zu tun.
Standart.
Arbeit, Vorhänge, Katze, Computer. Dazwischen Deko. Mutter machts genauso. Sandra auch. Und Michael sitzt in der Küche.

Manchmal kam es mir so vor, ihr gesamtes soziales Umfeld befand sich zu diesem Zeitpunkt nur noch im Internet. Sie hatte eine "beste Freundin", so wie jede Frau, jedes Mädchen, jede Mutter eine hat. Ansonsten, Internetbekanntschaften. Man chattet, telefoniert, schreibt SMS. Treffen via Webcam.
IG Metall. Tariflohn. Später.
Zuerst nur Zeitarbeit. Selbst über Zeitarbeit verdiente sie mehr, als im Discounter als Festangestellte. Ein Jahr Zeitarbeit. Randstad. Dann, ein befristeter Halbjahresvertrag. Beim Weltkonzern. Noch einer. Alles gut.
Die Liebe geht.
Ich lerne Annika kennen.
Die letzte Befristung. Festvertrag.
Vorhänge, vier Katzen, zwei Computer. Dazwischen Deko.
Ihre Arbeit war nicht sehr anspruchsvoll, jedoch sehr gut bezahlt. Darauf war sie stolz. Es war kein Idiotenjob. Keine Fließbandarbeit. Die Verantwortung lag woanders. Man brauchte Fingerspitzengefühl. Auf eine gewisse Art und Weise war es wohl genau die Richtige Mischung aus Unverantwortung und Talent. Sie hatte im Regelfall jedes Wochenende frei. Ab Freitag, spätestens 23 Uhr. Sie war daheim.
Ich war es oft nicht.
Hatte Dienst. Damals schon, vor der Schule noch.
Praktikum im Rettungsdienst. Freiwillig. Ohne Bezahlung. Ohne Nachtzuschlag.
Nur mit Versicherung.
Dafür telefonierten wir. Sie war daheim. Ich nicht. Man trifft sich. Am Telefon. Es tat mir gut. Mein Trieb nach Rettungsmedizin, nach Blaulicht, nach Leid, nach Blut, nach klaffenden Wunden...nach Leben retten...wurde scheinbar befriedigt. Meine romantische Vorstellung wurde genährt. Engwinkel. Enger Blickwinkel. Kurze Einblicke offenbaren nur dass Oberflächliche. Dass Romantische. Deswegen wollte ich Rettungsassistent sein.
Romantisch.
Leben Retten.

Annikas Eltern. Ihr Vater, Handelsvertreter. Ihre Mutter, Verkäuferin.
EFH. Doppelgarage. Garten.
Scheinbar idyllisch. Alles gut. Der Handelsvertreter war Annikas leiblicher Vater. Ihre Schwester, die älter war, wurde von jemand Anderem gezeugt.
Die dunklen Seiten der Idylle kamen zum Vorschein. Dass Anormale der Standartfamilie. Dass Abseits des Gartens, der Doppelgaragen, des Rasenmähers und der beiden Autos.
Sandras biologischer Vater hatte sich suizidiert.
Abends, im Wald. Alleine. Nur Vögel und Käfer waren dabei. Ameisen. Und sein Strick.
Wurde am nächsten Tag gefunden. Von Freunden der Familie. Seitdem ist alles nicht mehr so einfach. Für Annikas Mutter. Für Sandras Mutter. Für Sandra.
Keine gute Vorstellung. Auf der Suche nach dem Nachbarn. Ihn dann auch noch finden. Tot. Erhängt. Die Halsvenen gestaut, Strangulationsmerkmale am Hals.
Der Strick hat seinen Zweck erfüllt. Vielleicht nicht seine Vorsehung. Seinen Zweck – Jetzt – schon. Feinste Haargefäße der Gesichtshaut zerplatzt, die Augen: auch tot.
Hervorstehend, Aufgequollen. Offen.
Offen für eine Zukunft. Seine ganz persönliche Zukunft. Wo oder wie auch immer. Reinkarnation.
Zielkonflikt gelöst. Den Zielkonflikt zwischen biologischer Endlichkeit, der "Vorsehung" und dem tatsächlichen Ende. Seinen Zweck – Jetzt – erfüllt.
Die Selbstbestimmung.

Ihre Mutter ist nur kurz allein. Dann lernt sie einen Handelsvertreter kennen. Günther. Ein netter Mensch. Lustig, Ehrlich. Rötliche Haare über einem Gesicht mit roten Backen. Beide heiraten in Österreich. Kirchlich. Günter ist Single. Annikas Mutter war verheiratet. Ist verheiratet. Nicht geschieden. Bekommt Hinterbliebenenrente. Fast 600.- Euro jeden Monat.
So sollte dass auch bleiben.
Mutter Rosi, Tochter Sandra und Handelsvertreter Günter ziehen zusammen. Rosi, Sandra und Günter. Bei Günter. Bei Günters Eltern. Irgendwann dann:
Einfamilienhaus. Deutscher Standart. Mit Einbauküche, Echtholztreppen. Multirooming-Fähig.
Günter muss arbeiten. Jeden Tag. Außer am Wochenende. Rosi auch. Im Supermarkt, Teilzeit. Nach Annika bekommt sie noch einen Sohn. Günter Junior. Markus.
Günter arbeitet jeden Tag. Außer am Wochenende. Irgendwann wird er krank. Fühlt sich nicht gut.
Schwitzt nachts. Wacht auf, schweißgebadet. Muss den Schlafanzug wechseln, die Bettlaken und die Decke tauschen. Überlegt, bekommt Angst. So jung, soviel Schweiß. Damals ist Günter 35 Jahre alt. Rosi bekommt Angst. Wird mit Günter wach. Warum dass Alles?
Warten.
Die Zeit heilt alle Wunden.
Günters Körper hat keine Wunden. Keine, die nicht schon verheilt wären.
Günters Körper folgt der Vorsehung. Morbus Hodgkin. Lymphdrüsenkrebs.
Bösartig. Mehr als Bösartig.
Zielführend für seine Vorsehung.
Tödlich.
Doch Günter hatte seinen Zweck – Jetzt – noch nicht erfüllt. Zwei eigene Kinder. EFH noch nicht abbezahlt. Seine Frau, am Ende. Mitsuizidiert. Damals. Sie hatte es nicht leicht, nach dem Tod ihres ersten Mannes. Er war nicht einfach, sie war nicht einfach. Ein Kind. Wenig Geld. Wenig Rückhalt. Für´n Arsch.
Jetzt endlich, noch zwei Kinder. Ein Mann. Handelsvertreter. Haus.Garten. Doppelgarage. Alles im Fluss, dass Einkommen und die monatliche Belastung. Stimmig. Es läuft gut. Dann kommen die Nächte, der Schweiß. Dass Unwohlsein. Hodgkin.
Günter muss bleiben. Wider der Vorsehung. Diesmal nicht.
Sie kämpfen. Beide. Gegen den Tumor. Gegen seinen eigenen Körper.
Bestrahlung. Chemotherapie. Schmerzen. Der Kopf kahl, Gedanken verwaschen. Sprache verwaschen.

Fast ein Jahr lang bleibt Günter stationär. Uniklinik. Onkologie. End-Station.
Eigentlich.
Jeden Sonntag bringt sie ihm Essen von daheim mit. Er isst. Alles wird gut. Scheinbar wirklich.
Sein Körper versucht sich zu heilen. Mitzukämpfen, mit Rosi. Für Rosi. Sandra und Annika und Markus. Für dass Haus. Und die Doppelgaragen.
Der Rückfall.
Nach sechs Monaten auf der Onkologie. Die verdammte Chemo scheint nicht anzuschlagen, die Werte fallen. Mit den Werten fällt Rosi. Kollabiert. Daheim. Nur Annika ist da. Und Markus. Markus ist noch ein Baby. Hat Schreikrämpfe, läuft blau an. Wird fast bewußtlos.
Der Hausarzt sediert Rosi, beruhigt sie. Chemisch. Erstmal. Psychotherapie.
Verdienstausfall. Parallel dazu. Zu allem.
Günter ist selbstständiger Handelsvertreter. Kein Handel, kein Geld. Wenig Geld. Kollegen von Günter schreiben Aufträge für ihn, arbeiten "für" Günter. Für Rosi, Sandra und den Rest des Standarts. Eines Standarts der längst kein Standart mehr ist.

Letztendlich scheint dass Kämpfen sich gelohnt zu haben.
Günter kann nach Hause entlassen werden. Nach zwölf Monaten End-Station. Muss Interferon spritzen. Auch daheim. Sein Körper darf nie wieder stärker werden als Günter eigentlich ist. Paradox gegen sich arbeiten.

Ab und zu schlägt er Markus.
Markus ist groß geworden innerhalb des Konfliktes. Des Lebens, des Sterbens, der viel zu Nahen Endlichkeit. Annika und Markus.
Wenn Markus weint, schlägt Günter zu. Er kann nicht anders. Kämpft noch mit sich selbst.
Seine Glatze mit den wenigen Haaren. Chemo zerstört.
Rosi steht daneben, neben sich. Sieht hilflos zu. Kann es nicht tolerieren. Günter schlägt weiter zu.
Auch Annika. Sandra. Und Markus.
Man kann es nicht tolerieren.
Es kommt zum Streit deswegen. Die Haare wachsen wieder. Rosi zerfällt. Chemo zerstört.
Markus wird älter, größer. Wächst. Genauso wie die Haare von Günter wachsen.
Alltag kehrt wieder ein. Fast wie früher. Bis auf die Spritzen im Kühlschrank.
Der Handelsvertreter arbeitet wieder. Rosi arbeitet. Bricht die Psychotherapie ab, fühlt sich oberflächlich gut. Darüber reden macht keinen Sinn mehr. Hat sich an den Schmerz gewöhnt. Außerdem, Alles ist Gut. Standart. Garten. Doppelgaragen. Jeden Abend Essen. Mit Günter und den Kindern.
Sandra zieht irgendwann aus. Zu Michael. Dem Industriemechaniker.
Fängt an zu gebären. Leben in die Welt zu setzen.
Michael sitzt am Küchentisch. Keine Prospekte heute.
Annika zieht mit. Nach der Ausbildung. Oder kurz vor Schluss. Zu Matthias. Umwelttechnikstudent. Keine Vorlesung. Keine Zukunft. Keine Vision. Vorhänge und Deko.
Markus bleibt daheim. Bei seinem Vater, seiner Mutter. Wird älter, spielt Fussball. Fickt.
Mit sich selbst, seinem Kopfkissen und irgenwann seine erste Freundin.

Annika wurde auch gefickt.
Vom Leben und vom Umwelttechnikstudenten.
Ab und zu.
Wahrscheinlich mehr vom Leben.
Die ganze Welt fickt, wird gefickt und fickt weiter. Sich selbst und andere. Die Kissen der Anderen. Fickkissen.

Ich hatte Nachtdienst. Als Praktikant. Daheim. Am Ort. In der Stadt meiner Eltern. Noch vor der Rettungsdienstschule. Es war noch vor der Zeit der Gewöhnung an eine Beziehung die der Norm entsprechen sollte. Noch vor der Zeit der beschissenen Sonntag Nachmittage vor dem Fernseher. RTL2 war Annikas Lieblingssender. Am Schluss unserer gemeinsamen drei Jahre. Nur noch RTL2. Big Brother. Sinnlose Scheiße. Tiere im Käfig gehalten und zur Schau gestellt. Der Gesamt-IQ der "Bewohner" dürfte mit dem eines kurzen Stücks Feldweg korrelieren. Fünf Meter davon sind schon zuviel.

Wir telefonierten. Freitag abend. 22 Uhr. Ein kurzes Stück Beziehung lag bereits hinter uns.
Ich war seit Sechs Uhr morgens auf den Beinen. Kaffee, eine Stunde Autofahren. Spedition. Wieder Autofahren. Karten spielen. Männerwitze. Keine Schmunzelwitze. Männerwitze. Bis abends, dann Rettungsdienst. Leben retten. Nicht ich, sondern der Rettungsassistent. Sein Kollege. Rettungssanitäter, Rettungsdiensthelfer. Fahrer des Rettungsassistenten. Ein romantisches Gespann, eine Einheit mit dem Rettungswagen. Startklar für die Nacht. Für die klaffenden Wunden, für dass Leid und Elend dieser Kleinstadt.
Unser Telefonat wurde unterbrochen. Nach wenigen Minuten, ein Einsatz. Notfall. Etwa 10 Kilometer von der Rettungswache entfernt. Ländliche Region, der Rettungswagen stationiert in einer kleinen Stadt. Knapp 10000 Einwohner. Berg und Tal. Viel Wald.

Rettungsdienstdurchführender eine der größten Hilfsorganisationen Deutschlands. Mit vielen ehrenamtlichen Helfern. Nicht nur für den Katastrophenschutz oder zum Altkleidersammeln. Auch im Rettungsdienst sind etliche unentgeldliche Mitarbeiter tätig.
Vor vielen Jahren wurde mit den Kostenträgern die "Ehrenamtlichenregelung" vereinbart. So wurde ein Vertrag angefertigt, in dem der Durchführende des Rettungsdienstes (die Hilfsorganisation) zu gewissen finanziellen Konditionen zusicherte, eben Rettungsdienst durchzuführen. Finanzielle Konditionen bedeutet im Klartext, das Angebot zur Nachfrage, quasi.
Einfach dargestellt: um Personalkosten zu senken und dadurch auch ein möglichst günstiges Angebot machen zu können, wurde der Stellenpool so kalkuliert, dass von zum Beispiel 100 notwendigen Arbeitsplätzen im Rettungsdienst, etwa beim BRK, 80 Stellen hauptamtlich, also bezahlt, zu besetzen sind.
Die restlichen 20 Stellen (was dann 20 Prozent entspricht) sind ehrenamtlich abzudecken. Weil, Ehrenamt ist gleich kostengünstiger als Hauptamt.

Ehrenamtlichkeit an sich mag ja eine Tolle Sache sein, aber nicht, wenn dadurch Arbeitsplätze verloren gehen oder gar nicht erst geschaffen werden. Ich denke, die Zeiten der doch recht unprofessionell betriebenen Akutmedizin durch ehrenamtliche Sanitäter mit 40 Stunden Ausbildung
sind vorbei. Rettungsdienst bedeutet mehr, als Einpacken und ins Krankenhaus bringen.
Professioneller Rettungsdienst zeichnet sich erstens durch wertiges Equipment und zweitens durch Aus- und Weitergebildetes Personal aus. Beides kostet Geld. Jedoch ist ein ehrenamtlicher Mitarbeiter im Rettungsdienst normalerweise nicht als Rettungsassistent qualifiziert noch hat er die nötige Einsatzroutine oder auch regelmäßige Weiterbildung um hochwertiges Equipment ausreichend sicher bedienen zu können. Auch im Notfall. Auf Biegen und Brechen, koste es, was es wolle, eben Kosten senken zu wollen, kann durchaus gefährlich werden. Wer würde sich von einem Anästhesisten im Krankenhaus behandeln lassen, wenn dieser nur einmal im Monat – ehrenamtlich – tätig wäre. Den Rest des Monats fährt er LKW. Tagestouren. Toll.

Wobei dieses nur einen kurzen Abriss darstellen kann, die Realität ist wohl noch wesentlich komplexer. Nicht nur alleine die Kosten sind entscheidend, jedoch mitunter die größte Position in der Ausschreibung. Auch politische Komponenten spielen eine Rolle, nicht offiziell natürlich.
Bürgermeister und Landrat der Stadt SPD-Mitglieder, mein Chef, der Kreisgeschäftsführer – SPD-Mitglied. Alles Rot, auch der Rettungsdienst. Öffentlich-Rechtlich, Bayerisches Rotes Kreuz. Rotes Kreuz.
Alles nur Zufall?
Vielleicht.

Ein Lösungsansatz wäre es, Rettungsdienst genauso wie die Polizei zu verstaatlichen. In anderen Ländern unlängst umgesetzt. Weg von den Hilfsorganisationen hin zum Staat. Dass Rote Kreuz könnte sich etwas Geld sparen und die Ehrenamtlichen dort tätig sein, wo sie hingehören. Losbude, Altkleidersammlung, Essen auf Rädern. Wo auch immer. Ohne sie abwerten zu wollen.
Jedenfalls nicht zum Notfallpatienten oder einem Fahrzeug mit Sondersignalanlage. Es ist durchaus so, dass ein gewisser Anteil an ehrenamtlichen Mitarbeitern im Rettungsdienst ausschließlich aus Sensationslust in diesem Bereich tätig ist. Es soll nicht heißen, dass durch Ehrenamtliche nur Fehler gemacht werden. Fehler können auch nur gemacht werden, wenn überhaupt irgendwas getan wird.


Man fühlt sich oft sehr alleine, als verantwortlicher Rettungsassistent mit einem ehrenamtlichen Kollegen zusammen. Fähiges Personal, dass sich in die Hose pisst wenn der Alarmmelder loslegt. Dass vor Nervosität am Einsatzort die Ampulle nicht aufgebrochen oder ein Medikament aufgezogen bekommt. Oder Kopflos an der Unfallstelle auf der Fahrbahn rumläuft und sinnloser Weise sich Selbst gefährdet.
Kopflos, Hirnlos, Sensationsgeil.
Ich war ähnlich, am Anfang.
Doch mit der Zeit kommt Routine.
Die Nervosität geht, wird ersetzt von einer gewissen Art Kaltblütigkeit. Gegenüber Patienten, Angehörigen, der Menschheit. Zumindest in den meisten Fällen.
Dass ist in einem gesunden Umfang auch gut so, für die Patienten, die Angehörigen, die Menschheit und nicht zuletzt für einen Selbst.
Wer zuviel mitfühlt, kann nicht arbeiten. Und wenn doch, dann anschließend nicht mehr schlafen.
Leid und Elend ist nicht untertrieben. Leid und Elend ist oft eine zu positive Formulierung für die Scheiße die manchmal täglich passiert.
Kopflos, Hirnlos, Sensationsgeil.
Und ohne Einsatzroutine, da nur einmal im Monat tätig. Nochmals, Herzlichen Glückwunsch.
Toll.
Dass weitere, klassische Betätigungsfeld für ehrenamtliche Sanitäter (Nicht Rettungssanitäter und nicht Rettungsassistenten!) liegt bei den Hilfsorganisationen bei den Sanitätsabsicherungen.
Fußballturniere, Firmenevents, kleine Theateraufführungen – die Veranstalter sind froh, kostengünstig "Sanitäter" vor Ort zu haben.
Ehrenamtliche Sanitäter. LKW-Fahrer, Bürokaufmänner, Vorstandsvorsitzende die in ihrer Freizeit
gerne Menschen helfen. Wohl.
Gute Menschen.
Kopflos, Hirnlos, Sensationsgeil.
Insofern sollten sich die Veranstalter auch darüber im Klaren sein, wer eben "Absichert".
Ich war zwei Jahre lang bei einer solchen Hilfsorganisation für die ehrenamtliche Einteilung von Sanitätern zu Sanitätsdiensten zuständig. Dafür bekam ich kein Geld, lediglich ein Zertifikat am Ende des Jahres – für herausragende Leistungen innerhalb des ehrenamtlichen Betätigungsfeldes.
Nichts desto weniger hatte ich viel zu tun, dass Rote Kreuz sichert viele Veranstaltungen ab. Ländliches Gebiet. Viele Bierzelte. Viel Alkohol. Viele Schlägereien. Schräge Vögel.
Manchmal war es schwierig, dass Sanitätspersonal von den besoffenen Bauern aus dem Bierzelt zu unterscheiden. Ungeduscht und mit fünf Bier im Anschlag gehts los zum Sanitätsdienst.
Die Guten, die Besten.
Zurechtweisungen des ehrenamtlichen Personals sind schwierig. Auch nicht gern gesehen, von "Oben".
Ehrenamt = Kostengünstig = Narrenfreiheit.
Etwas überspitzt dargestellt, jedoch annährend real.
Im benachbarten Ausland, der Schweiz zum Beispiel, wird so etwas nicht passieren. Wenn doch, hat es dienstliche Konsequenzen. Es gibt kein Ehrenamt in diesem Bereich, auch nicht bei den Sanitätsabsicherungen. Alles ist bezahlt, Rettungsdienst ist eine Leistung die vergütet wird.
Wer kein eigenes Einkommen hat, ist ähnlich wie in Deutschland, grundgesichert.
Sanitätsdienste sind ebenso professionell besetzt wie der eigentliche Rettungsdienst. Dementsprechend wird diese Leistung auch in Rechnung gestellt und letztendlich dem Personal auch vergütet.
Ein einfaches System, die meisten scheinen damit glücklich zu sein. Wir haben ein komplexes System, einen Kuddelmuddel aus Haupt- und Ehrenamt und nur die Wenigstens sind damit glücklich.
Besoffene Stinktiere als Sanitäter hat allerdings auch nicht jeder...


Kurz nach Zehn Uhr Abends, unterwegs zum Patienten. "Ärger 7" war die Einsatzmeldung. Suizidversuch. Nicht im Wald, daheim. Pulsadern. Blut. Angehörige die Weinen. Ein Mensch liegt am Boden, nass, verschmiert mit zwei klaffenden Wunden am Unterarm. Mit einem Teppichmesser hatte er sich im Bereich der Handgelenksarterien mehrere tiefe Schnitte zugefügt. Der linke Arm war richtiggehend freipräpariert, Teile des Knochens waren sichtbar, lagen frei. Unterarmgewebe hing wie ein Vorhang nach unten weg. Wie ein dicker Samtvorhang. Fleisch und Fettgewebe, Muskelstränge sauber durchtrennt. Ein dunkelroter Blutsee bildete die Basis. Darin waren die Arme gelagert. Ruhten sich aus von Jahrzehntelanger Arbeit. Sehnten sich nach Stille. Bekamen Stille.
Der Patient reagierte noch, war noch Ansprechbar. Entgegen dem Prinzip der Stille.
Knappe Antworten. Kalter Schweiß.
Ein venöser Zugang am Fußrücken, annähernd dass gesamte Verbandmaterial des RTW umpolsterten beide Arme. Dunkelrot eingefärbt vom Interieur des Patienten.
Nach Zwei Stunden waren wir wieder zurück an der Wache.
Ein Menschenleben gerettet.
Rettungsdienst.

Wir telefonierten nochmals, nach dem Einsatz. Kurz vor Ein Uhr Nachts. Ihre Stimme schien mich ruhiger zu machen. Als bei uns die Liebe noch da war. Nach dem kurzen Stück Beziehung.
Alles wirkte noch neu, ungebraucht. Nicht abnutzungsfähig.
Ich erzählte in Umrissen was passiert war, für mich war auch noch alles ungewohnt. Als Gast dabei,
Statist in einer romantischen Vorstellung.
Blaue Blitze schnitten Schneisen durch den Nachthimmel, spiegelten sich in Fenstern oder Regenlachen. Wurden zurückgeworfen und hüllten unsere Gesichter ein. Stille. Nur dass typische Geräusch des Dieselmotors vor unseren Füßen, Kupplung, Gas.
Dass Dieselross bahnte sich den Weg durch die Nacht. Die metallische Kuppel mit den roten Aufklebern als Gegenstück zu Leid und Elend, Blut, Trauer und sozialem Abschaum. Leid und Elend, immer wieder.
Annika war fasziniert von ihrer neuen Welt mit mir. Ohne Umwelttechnik. Ohne Drogen. Ohne Demotivation. Alles wirkte neu, ungebraucht. Ich schien nicht abnutzungsfähig.
Ihr Plan, unbewußt, begann von vorne. Weg vom Studenten in ihre Wohnung. Ihre Eltern unterstützten sie.
Die erste Investion: Wohnzimmerwand. Fernseherparkhaus.
Esszimmertisch. Couch vor die Wohnzimmerwand. In der Ecke eine Lampe.
Im Schlafzimmer dass Bett. Und Schachteln. Viele Schachteln. Noch vom Umzug.
Mehr brauchte sie nicht.
Etwas Deko. Die Garage vorm Haus. Gehörte zur Wohnung. Praktisch im Winter.
Die zweite Investition nach den für sie grundlegenden Möbeln war ein DSL-Anschluss. Arbeiten, Einkaufen, Internet, Schlafen und wieder Arbeiten. Ein Kreislauf. Ein Leben im Kreis.
Geprägt von Langeweile. Kreisrunder Langeweile. Anscheinend. Sagte sie selbst. Bevor die Zeit kam, an der dass Sichtbare gegen jedwede Regel der Optik Anders war als es sich darstellte.
Schnee ist weiß. Mehl ist weiß. Papier ist weiß. Vor dieser Zeit.
Schnee, Mehl und Papier; auf ihre Art, schwarz. Auf Annikas Art. Schwarz, Kreisrund. Langweilig.
Dann kam ich ins Spiel. Ihr Spiel. In ihr kreisrundes Spiel. Kreisspiel.

Wir lernten uns kennen, ich fickte sie. Und sie ließ sich ficken.
Sie war mein Fickkissen.
Sie lag im Bett. Wie ein Kissen.
War weich. Wie ein Kissen.
Und bewegungslos. Wie ein Kissen.
Anfangs fickten wir auch zweimal innerhalb eines Tages; bis sie feststellte, dass es so nicht normal ist. Was auch immer. Trieblosigkeit. Standart. Ihr Standart. Einmal am Tag.
EFH, EBK, Baby.

Ich akzeptierte ihren Standart.
Ihr Standart wurde zu meinem Standart.
Ihre Stimme schien mich am Telefon zu beruhigen.
Ihr Standart wurde zu meinem Standart.
Wer mit Trieblosigkeit konfrontiert wird, endet in Trieblosigkeit.
EFH, EBK, Baby.

Gedanken ihrer eigenen Unzulänglichkeit, ihrer Makelhaftigkeit ließen sie zum Standart werden.
Wenn schon nicht gut, nicht sehr gut dann wenigstens Standart.
Maßlosigkeit als Zeichen großer Liebe?
In ihrem Leben zwischen Doppelgarage und Weihnachtsdeko gab es keine Maßlosigkeit.
Nichts ungeplantes.
Sie trank auch wenig. Anfangs.
Als unsere Liebe ging, ihr Standart ging, kam die Maßlosigkeit.
Kurz vor Schluss, bevor der Vorhang fiel.

Der Rest der Nacht war ruhig. Ich konnte durchschlafen. Aufwachen am Samstagmorgen.
Kurze SMS für Annika. Von Annika. Alles Gut. Dann Frühstück noch an der Rettungswache.
Die Kollegen der Tagschicht hatten Kaffee gekocht, Semmeln mitgebracht und den Tisch gedeckt.
Im Radio lief leise Musik. Hintergrundmusik. Nebenbei noch der Funk. Im Nachbarlandkreis war wohl die Hölle los, jedenfalls wurde ein Fahrzeug nach dem Anderen alarmiert.
Leben Retten. Am Samstagmorgen.
Rettungsdienst.

Nach dem ersten kurzen Stück unserer Beziehung war es dann soweit. Eltern.
Die Erzeuger. Erzieher. Schläger. Ich sollte sie kennenlernen. Wir waren vorher schon öfter mal kurz bei ihr. Wenn sie was geholt hat oder was brachte. Ich wartete draußen im Auto.
Bis die Zeit reif war.
Kurzbeschreibungen hatte ich von Annika schon bekommen über den Kern ihrer Familie. Ihr Vater, ihre Mutter und ihr Bruder. Zusammen im EFH. Dass Haus hatte ihr Vater zusammen mit seinem Bruder wohl per Hand selbst gebaut. Hinten im Grundstück. Zwei Jahre später war wieder Geld angespart für die Doppelgarage. Alles im hinteren Eck des Grundstücks.
Vorne an der Straße dass Haus seiner Eltern. Oma und Opa von Annika. Nur noch die Oma war am Leben, wohnte im Erdgeschoss. Drüber die Tante von Annika. Alleinstehend, Krankenschwester. Knapp über 40. Lebte ein Singleleben. Dafür flog sie jedes Jahr mit Freunden und Kollegen in den Urlaub. Dominikanische Republik, Türkei, Malediven. Dass ganze Programm. An sich eine der wenigen ungestörten Persönlichkeiten der Familie. Etwas korpulent geraten für ihre 1,60, dafür liebenswert. Ruhig. Gemütlich. Still.
Straße, Gartenzaun, Gemüsebeet und Rasen. Zwei Häuser, eine Doppelgarage. Hinten im Garten neuerdings noch ein Holzhäuschen. Eigentlich ein Holz-EFH. Strom, Wasser, Beheizt. Kühlschrank und Essecke.
Dass Haus ihrer Eltern. Eher klein, hellgelber Anstrich. Graue Fensterumrandungen. Holzbalkon. Hinten zum Garten raus die Terrasse. Außen und innen durchdekoriert. Blumen und Blümchen, Figuren und Figürchen. Dekoriertes Chaos. Ihre Mutter hielt die Bude sauber. Jeden Tag mehrere Stunden lang. Zusätzlich zu ihrer Teilzeitbeschäftigung beim Supermarkt. Günter kümmerte sich um die Böden. Staubsaugen. Mit seinen eigenen Staubsaugern. Günter war ja Handelsvertreter. Staubsaugervertreter. An und für sich eine ruhige Persönlichkeit, wirkte geerdet. Nicht risikobehaftet. Ein Familienvater. Passend zur Einbauküche. Rustikal, Gediegen. Ihre Mutter, depressiv angehaucht, zwanghaft lustig. Hatte dass Unvermögen einem Gespräch zu folgen. Trotzdem Herzlich. War halt in ihrer eigenen Gedankenwelt oft. Im Wald, bei ihrem Ex-Mann.
Oder damals bei Günter, im Krankenhaus.
Oder bei ihrem Sohn, auf dem Boden liegend. Davor Günter. Mit einem Gürtel.
Markus wohnte noch daheim. Spielte Fussball im Verein, bekam zum 16.Geburtstag einen Roller.
Und dass ehemalige Kinderzimmer von Annika. Im Keller des Hauses.
Nach dem Quali dann Wirtschaftsschule. Mit der Wirtschaftsschule kam seine erste Beziehung. Oder was auch immer. Ich weiß ihren Namen nicht mehr, spielte auch nie eine große Rolle.
Typische Jugendliebe, dennoch waren sie eine lange Zeit zusammen. Am Wochenende oder in den Ferien schlief sie auch bei Markus. Vorher gingen sie Billard spielen oder fuhren mit dem Roller durchs Dorf. Sie war sehr schlank, dunkelhaarig, brettmäßig. Keinen Arsch, keine Titten. Gehemmt. Lächelte nur, sagte wenig. Wenn sie was sagte, war es sehr leise. Fast ein Flüstern. Markus war wohl glücklich, beide waren wohl glücklich. Billard, Roller und ab und zu ficken. Stille Wasser sind tief. Tief und Schmutzig. Drecksloch. Fickloch.

Annika klingelte. Sonntag nachmittag. Der klassische Tag für den Erstkontakt. Erstkontakt mit der Familie des Fickkissens. Ich war nervös. Auf eine gewisse Art und Weise setzte sie mich unter Druck. Es sollte ja nichts schiefgehen. Die Türe wurde geöffnet. Markus. Ein normaler pubertierender Jugendlicher mit Pickel im Gesicht.
Annika umarmte ihn, zog mich mit ins Haus. Gleich links beim Eingang, Gästeklo und davor die obligatorische Garderrobe mit dem Schuhkästchen. Zwischentür. Treppenhaus, das erste Stück Wohnung. Ein synthetischer Geruch Sauberkeit empfing mich. Ich habe nie eine Beschreibung dafür gefunden. Nicht unangenehm, dennoch unnatürlich. Meister Proper. Dass Treppenhaus, der Eingangsbereich vollgestellt mit Blumen und Sträuchern und Töpfen. Dass ganze komplettiert von einem DSL-Router mit zughörigem Telekom-Mobiltelefon. Durch die Küche (Einbauküche) kamen wir ins Wohnzimmer. Dort saß sie. Auf der Couch aufgereiht. Die Fickkissenfamilie.
Vorne Günter, daneben seine Frau. Rosi. Markus legte sich wieder auf die Couch. Ging die ganze Zeit vor uns her.
Nach den üblichen Floskeln beim Begrüßungszeremoniell setzten wir uns zu den restlichen Fickkissen. Annikas Mutter redete im Fluss, dieses und jenes. Manches schien wichtig, manches ohne Zusammenhang. Günter grunzte ab und zu eine Bestätigung in sein Weißbierglas, manchmal lächelte er zur Bestätigung. Annika trank Fruchtsaft, ich bekam ein Bier. Markus verzog sich in sein Zimmer. Dass Verhältnis zwischen Annika und ihren Eltern schien recht gut zu sein. Wirkte warm.
Wirkte und Schien. Wirken und Scheinen. Zwei relativ Wichtige Worte im Bezug zu ihren Eltern.
In der dritten Woche unserer Beziehung standen wir abends am Balkon. Annikas Balkon. Sie telefonierte. Mit Günter. Kurz dafür Schmerzhaft. Er drohte ihr wohl irgendwelche Gemeinheiten an, war außer sich. Wegen Kleinigkeiten die anscheinend schief zu gehen drohten. Nicht gegossene Blumen, Auto nicht gewaschen. Nach zwei Minuten beendete sie dass Gespräch. Auch außer sich.
Dass erste nicht weiß gewaschene, die Familienidylle störende Geheimnis war gelüftet. Neben den blank geputzten Fließen und den gewaschenen Autos gabs wohl auch Dreck. Familiendreck. Dreck der Fickkissen.
Eben seit Günter krank war. Akut krank war. Gesund ist er heute noch nicht. Er lebt mit dem Tod in seinem Körper. Killerzellen. Schlafenden Hunden die irgendwann wohl wieder aufwachen werden.
Seit die Bestandteile der Familie zu denken begannen. Annika und Markus. Mittendrin.
Kurz nach dem Telefonat machten wir uns Kaffee. Zwei Brötchen. Ich hatte Visionen. Fernab der Spedition, in der ich zu dem Zeitpunkt noch tätig war. In vier Monaten war Schulbeginn. Rettungsdienstschule. Jedoch war mir von vornherein klar, dass ich "nur" mit dem Examen in der Tasche und bestandenem Anerkennungsjahr nicht am Ende meiner Karrierewunschleiter angekommen sein werde. Annika und ich redeten über einen unbestimmt langen, dennoch begrenzten Aufenthalt im Ausland. Zum Erfahrungen Sammeln für mich. Zur Befriedigung meines Freiheitsdranges.

Die Ausbildung zum Rettungsassistenten besteht, im Überblick betrachtet, aus zwei Teilen. Man beginnt mit dem Schulischen Part. Dauer: 1 Jahr. Wesentlich zu kurz in Anbetracht des vorgesehenen Stoffumfanges. Beliebtestes Argument: "Nur" Notfallmedizin, Physiologie, Anatomie und Biochemie. Vertieft. Ansonsten etwas Recht, Berufskunde, Einsatztaktik, Organisationskunde, Deutsch. Physik und allgemeine Chemie.
Der gesamte Stoffumfang wird in einen großen, 1600 Stunden umfassenden Kuchen gepackt. Der kann dann gefressen werden. Wer zu kotzen anfängt, hat verloren. Keiner kann in einem Jahr so einen Kuchen essen. Ohne Probleme zumindest.
Zwei, besser drei kleinere Kuchen wären besser. Im Endeffekt wäre es ein "Mehr" an Zeit (Kuchen, Kekse, Gebäck) und weniger zu Essen auf ein Mal.
Unser Kurs begann mit 28 Auszubildenden. 23 davon wurden zum Examen zugelassen und 16 bestanden letztendlich.
Was auch daran lag, dass eine Zulassungsbeschränkung für diese Ausbildung quasi nicht vorhanden ist. Hauptschulabschluss, vollendetes 18. Lebensjahr, keine Vorstrafen und geistige / körperliche Eignung reichen aus. Wobei in der Praxis lediglich die ersten drei Voraussetzungen geprüft werden. Auf Prüfung und / oder Wertung des Letzteren wird von Seiten der Schulen großzügig verzichtet. Ich denke an Pascal. Den 6-Jährigen Vollidioten. Dem Sackerguss aus Michaels Lenden. Seine Lenden stehen wohl in direkter Verbindung zu seinem Arschloch. Pascal, ein biologisches Wunder. Aus Scheiße wird Gold; Manchmal. Selten. In diesem Fall wird aus Enddarmscheiße ein blonder, dürrer und jetzt atmender Scheißhaufen. Staub zu Staub und Scheiße zu Scheiße. So wars.
Rennt mit Harndrang dreimal gegen die Klotüre und pisst dann heulend auf den Balkon. Wenn er nur endlich mal runterfallen würde. Reißt aus meiner ehemaligen Einbauküche sämtliche Schübe und Rondelle raus. Nicht dass mir was daran gelegen wäre – dennoch ein weiterer Beweis für die intellektuelle Degeneration seinerseits. How ever, Typen solchen geistigen Kalibers werden zur Ausbildung zugelassen.
Nicht von der Regierung, die später prüft. Von den Schulen, die dafür Geld kassieren.
Allesamt Privatschulen. Nur die Ausbildungsinhalte sind staatliche geregelt (RettAssG, RettAssPG); die Umsetzung dessen ist den Schulen überlassen. Selbstverständlich sehen die meisten privaten Ausbildungsstätten großzügig über etwaige körperliche und / oder geistige Defizite hinweg. Der Idiot bringt ja zwischen 250.- und 500.- Euro Schulgeld jeden Monat.
Lösungsansatz: So wie seit langem schon vorgesehen; eine dreijährige betriebliche Berufsfachschulausbildung, ähnlich der Krankenpflege. Vielleicht auch als Kombinationsausbildung. Kein Schulgeld, keine Privatschulen. Ausbildungsvergütung durch die Betriebe (Hilfsorganisationen oder auch Krankenhäuser, Berufsfeuerwehren).
Endlich weg von den ewigen Halben Sachen im Bereich der präklinischen Notfallmedizin.
Weg mit den verdammten und verschissenen, geldgeilen Privatschulen. Weg mit unausgebildeten, unerfahrenen ehrenamtlichen Sanitätern. Weg mit 65-Jährigen Allgemeinmedizinern die versuchen Notarztdienst zu verrichten. Was soll das bitteschön für gequirlte Scheiße sein, die sich unsere Bevölkerung gefallen lässt. In Ballungszentren gibt es unlängst qualifiziertes ärztliches Personal.
Intensivmediziner mit Notfallmedizinischem Schwerpunkt. Innerklinischem Schwerpunkt. Fährt nicht von der Landarztpraxis weg, sondern vom Krankenhaus. Notarzt, nicht Homöopath. Es gibt Schlaganfall-Einsatzfahrzeuge, rollende neurologische Intensivstationen. Medikamente in den Rettungsmitteln, die Blutkoagel auflösen können. Der Schlaganfall-Patient auf dem Land kann präklinisch sehr gut grundversorgt werden. Jedoch wird ihm außer der Gerätschaften und Fahrzeuge , die aus Kostengründen nur in Ballungszentren vorgehalten werden, auch noch qualifizierte ärztliche Hilfe verweigert.
Es kann eigentlich nicht sein, dass in einer ländlichen Kreisstadt ein sichtlich besoffener Notarzt bei einem Verkehrsunfall in ein Polizeiauto einsteigt und damit nach Hause fährt. Oder sich mit körperlicher Gewalt an schwächeren Patienten vergeht. Wieder besoffen. Dennoch hindert in weder die Polizei noch die Kassenärztliche Vereinigung an der Ausübung seiner Tätigkeit.
Besagter Notarzt, ein niedergelassener Facharzt, wurde erst vor kurzem und nach jahrelangem Misshandeln von der Kassenärztlichen Vereinigung vom Notarztdienst entfernt.
Landarzt-Phänomen.
So wie vieles in Kleinstädten und Dörfern geduldet wird.
Um im Notarztdienst tätig zu sein, genügt der Fachkundenachweis des Arztes.
Dieser beinhaltet einen kurze Schulung zum Thema Notfallmedizin. Wer Humanmedizin studiert hat, ist nicht automatisch befähigt, Notfallmedizin qualifiziert zu betreiben. Notfallmedizin ist nicht Kernaufgabe des Arztes. Ärzte lindern oder heilen Krankheiten. Selbstverständlich basiert ein Notfall meist auf einer Erkrankung. Aber auch Unfälle oder sonstige Umstände ("blöd gelaufen") können zu einem Notfall führen. Dementsprechend komplex ist der Bereich "Notfallmedizin". Desweiteren gehört dazu eine Praxiszeit.
In dieser Praxiszeit soll der angehende Notarzt bei einem erfahrenen Kollegen mitfahren.
Sich die Sache mal anschauen. Sozusagen.
Dann gibts einen Zettel "Fachkundenachweis" und der akademische Held der präklinischen Medizin ist geboren.

Zurück zum Rettungsassistenten. Nach erfolgreich bestandenem schriftlichen, mündlichen und praktischen Examen folgt der zweite, praktische Teil der Ausbildung an einer Lehrrettungswache.
Selbstverständlich wird an den Rettungsdienstschulen ebenfalls Fachpraxis trainiert. Sämtliche Szenarien, die eintreffen könnten, werden in der San-Arena nachgestellt. Da gibt es zerschnittene Autowracks, halbe Wohnzimmer, Schlafzimmer, Treppenaufgänge. Alles, um so realistisch wie möglich Notfallmedizin praktisch zu trainieren. Dennoch ist diese überwiegende Indoor-Ausbildung nicht mit der Realität zu vergleichen. San-Arena bleibt San-Arena und ein geschminkter Patient bleibt geschminkt. Die Stimmung "draußen", in der Realität, ist eine ganz Andere. Kein Dozent, keine Mitschüler die zuschauen. Keine Kunstblutlachen, die ewig nicht mehr aus den Klamotten gehen und nach Synthetik riechen. Echtes Blut riecht gar nicht. Ich zumindest empfinde es so. Frisches Blut klebt und koaguliert sehr schnell. Kunstblut nicht.
Die Stimmung "draußen";
Eben, Gerüche, Geräusche; sämtliche Sinneseindrücke. Angehörige, die absolut paradox zur Situation reagieren. Oder eben absolut konkruent – und durchdrehen. Kein Schwanz ist so hart wie dass Leben und keine dargestellte Wunde so ekelhaft real wie die Wirklichkeit.
Dennoch muss ja auf irgend eine Art und Weise die im Unterricht vermittelte Theorie in die Praxis umgesetzt werden. Und dass nicht irgendwann, sondern, da pädagogisch wertlos ansonsten, möglichst in Kombination mit dem theoretischen Unterricht. Aus diesem Grund, San-Arena.
Wäre die gesamte Ausbildung (endlich) in einem Stück an einer Lehrrettungswache, könnten die praktischen Aspekte sofort, unter Einbeziehung sämtlicher realen Patienten- und Umgebungsbedingungen, aufgearbeitet werden.
Ein weiteres Jahr nach dem Examen verbringt der angehende Rettungsassistent nun als RA-Praktikant an der Lehrrettungswache. Ihm zur Seite, der Lehrrettungsassistent. Praktikantenverantwortlicher. Der Lehrrettungsassistent soll den Auszubildenden "draußen" anleiten. Ihm Wissen vermitteln oder dabei helfen, Gelerntes in Getanes umzusetzen. Zusammenhänge am Patienten erklären. Einsatztaktisch grundausbilden.
Theoretisch.
In der Praxis deckt der Praktikant oft diejenigen Schichten ab, die mangels hauptamtlichen Personal nicht gedeckt werden können. Im Sinne einer Krankheits- oder Urlaubsvertretung. Weit weg von "seinem" Lehrrettungsassistenten. Misswirtschaft. Gesundheitswesen in Deutschland. Alle machen mit. Ähnlich dem jetzt auslaufenden System Zivildienstleistender.
Auch im Rettungsdienst wurden annähernd völlig sinnfreier Weise Zivildienstleistende eingesetzt.
Vorher, vier Wochen Lehrgang. Fachlehrgang Rettungsdienst für Zivildienstleistende. Minimale Grundkenntnisse der präklinischen Notfallmedizin. Für einen Abiturienten, der anschließend wohl BWL studieren wird, nicht schlecht. Vorher, Krankenwagen Fahren.
Zivildienstleistende dürfen keine Hauptamtlichen Mitarbeiter ersetzen.
Keine Stellen kosten, quasi.
Laut der offiziellen Version.
Tun sie trotzdem.
Ein Zivi im Rettungsdienst wird oft (gleich dem RA-Praktikanten s.o.) als "vollwertiger" hauptamtlicher Mitarbeiter eingeplant. Zeitverträge von hauptamtlichen Mitarbeitern in unserem Kreisverband wurden oftmals erst verlängert, nachdem feststand dass "kein Zivi kommt" / "kein RA-Praktikant kommt".


Alles Gut soweit.
Ich war froh zu dem Zeitpunkt, nicht mehr alleine zu sein. Nach der wilden Zeit damals, die ich rumfickend, masturbierend oder depressiv und dauergeil verbrachte. Etwas "Normalität". Scheinbar. Ich wollte keine Normalität. Ich wollte mein Leben endlich umsetzen.
Was damals schiefging, sollte jetzt funktionieren. Ausbildungstechnisch tat es dass auch, die letzten Jahre bis heute. Ich konnte meinen beruflichen Werdegang ausleben.
Meinen speziellen Abweichungen entsprechend.
Meiner kotzig-negativen Grundstimmung entsprechend.
Mir entsprechend.

Noch während der Ausbildung an der Rettungsdienstschule begann ich, mich in den örtlichen BRK-Kreisverband zu intergrieren. Aus Finanzieller Sicht war es sinnvoll, nach den Abschlussprüfungen
dass Anerkennungsjahr vor Ort zu absolvieren. Wohnung vorhanden, Freundin vorhanden. Gemeinsame Perspektiven. Leuchtend an die Wand gemalt.
Ich stellte mich vor. Wurde Mitglied der lokalen Rot-Kreuz-Bereitschaft. Dem Ressort der Ehrenamtlichen des Roten Kreuzes. Dadurch erst wurde es möglich, als Dritter auf dem Rettungswagen mitzufahren. Nicht mehr am Ort meiner Eltern. In der Kleinstadt, an dessen Ortsrand ich pubertierte und meine ersten Erfahrungen im Rettungsdienst sammeln konnte.
Jetzt, Rettungsdienst in der Stadt. 30000 Einwohner.
Ein 24-Stunden RTW und mehrere Krankentransport-Fahrzeuge. Ich expandierte. Sozusagen.
Meine erste RTW-Schicht als Dritter in der neuen Stadt. Erster Einsatz um 10 Uhr. Über mehrere Kreuzungen und verwinkelte Gassen zur Kopfplatzwunde. Kurz danach, Reanimation.
Alter Mann. Unterwegs zur Dialyse. Im Krankentransporter.
Spricht mit dem Kollegen des KTW. Über alte Zeiten. Alles war besser. Die Mädchen hübscher. Das Geld war mehr wert. Eine Zeit, in der Titten noch Titten waren.
Dass Übliche. Senioren-Small Talk. Plötzlich, Stille.
Lautlosigkeit.
Inmitten der Hektik des Mittagsverkehrs, die sich akustisch in die Fahrzeuge durchschlägt.
Die Sonne scheint. Der Himmel, blau.
Kleine Wölckchen ziehen weiße Streifen.
Windstille.
Atemstille.
Ende des Small Talks.
Over and Out. Nach 75 Lebensjahren. Zyanose.
Kollaps.
Der Kollege war nach vorne gewandt. Um kurz mit dem Fahrer zu sprechen.
Steckte den Kopf durch die kleine Plexiglasluke.
Bemerkte die Stille. Hatte noch den letzten Wortfetzen im Ohr, im Hirn.
"(...)die Natur, meine Enkel werden..." Abriss.
Zusammenbruch.
Was die Enkel wohl werden?
Kopf aus der Luke, Körper drehen.
Der Patient war zusammengesackt. In sich gefaltet. Im Sitz des KTW.
Draußen ein lautes Hupen. Drinnen Lautlosigkeit.
Die Augen des alten Mannes sind geschlossen. Er kippt zur Seite.
Flüsterndes Sabbern organischer Substanzen. Über sein stoppeliges Seniorenkinn, seitlich nach unten.
Nachforderung Rettungswagen. Notarzt.
Die gesetzlich vorgeschriebene Routine, ein gelebtes Leben wiederherzustellen.
Beginn der Reanimation, der Wiederbelebung durch die KTW Besatzung.
Perfekt im Zeitfenster. Im biologischen Zeitfenster.
Ein Versuch, die Rhythmik des Seins und Gewesenen zu unterbrechen.
Ohne Frage nach Sinnhaftigkeit.
Die Sinnhaftigkeit ergibt sich durch Regelungen. Gesetze. Vorschriften. Ethischen Vorstellungen.
Sterben ist Natürlich.
75 Jahre lasten auf den Zellen seines Körpers. Dauerbelastung. Ohne Pause.
Weltliche Werte geschaffen; Haus gebaut. Kinder gezeugt. Im Garten, sein Baum.
Gepflanzt vor 40 Jahren.
Er wird ihn überleben. Der Baum seinen Schöpfer.
Dauerbelastung.
Die Haut macht sich krumm, legt sich faltig um dass arthrotisch-osteoporotische Knochengerüst.
Sehnen, Bänder, organische Strukturen, gedehnt, überdehnt, gezeichnet von den letzten Jahrzehnten.
Dass Herz, unter Strom.
Jetzt, Out of Order.
Sein Gehirn.
Bis zuletzt am Prozess seines Lebens beteiligt. Dauerbelastet. Zelle um Zelle verloren.
Die Grundstruktur bleibt bestehen. Bis zum Schluss.
Erinnerungen. An seine Eltern. Erster Schultag.
Den Krieg, den Aufschwung danach.
Sein erstes Mal. Die Hochzeit, dass Haus.
Den Verkehrsunfall, an dem er beteiligt war.
Dass gestohlene Geld, aus dem Küchenschrank seiner Mutter.
Eingebrannt für die Ewigkeit. In organische Gebinde, Zellen. Synapsen.
Verschaltungen seiner Persönlichkeit.

Die Trage des KTW passte bei uns auch. Sie hatten ihn schon umgelagert. Den schlaffen Körper aus dem Sitz gezogen und auf die Trage gelegt. Basismassnahmen. Herzdruckmassage. Beatmung mit dem Beutel. Beatmungsbeutel.
Er war fahl, grau, eingefallen als wir ihn übernahmen.
Führten die Basismassnahmen fort.
Bereiteten uns und ihn vor. Auf den Kampf.
Gegen die Zeit und dass endgültige Sterben.
Venöser Zugang. Klebeelektroden auf die Brust. Notfall-EKG.
Asystolie. Nulllinie.
Intubation durch den Rettungsassistenten des RTW. Ein Plastikschlauch.
Durch den Mund in die Luftröhre. Schlauch dran. Ein Gerät presst eine Mischung aus Raumluft und reinem Sauerstoff in die Lungen des Patienten.
Die seitliche Schiebetüre des Rettungswagen stand einen Spalt offen.
Einige Passanten bleiben stehen, beobachten den Prozess des Sterbens.
Ich führte die Herzdruckmassage durch. Zügig. Tief. Kraftvoll.
Es ging ganz leicht. Der Brustkorb des Mannes, verknöchert.
Die Rippen schon durch die KTW-Besatzung gebrochen.
Durch die Herzdruckmassage seines Small Talk-Gegenüber.
Wenig Widerstand setzte sich mir entgegen.
Zügig. Tief. Kraftvoll. Ohne Frage nach der Sinnhaftigkeit meines Handelns.
Helden retten Leben. Auch wenn es schon gelebt wurde. Also, weiterdrücken.
Begleitet von routinierter Hektik des RTW-Teams und dem monotonen Pfeifen des Beatmungsgerätes.
Ich versuchte, die Situation, die für mich noch ungewohnt war, mehr oder weniger professionell zu sehen. Konzentrierte meine Gedanken auf mein Handeln. Versuchte es zumindest.
Der Notarzt traf ein. Mittag. Kurz vor Praxisschluss. Schnell noch ein Rezept unterschrieben.
Und die Krankmeldung eines Büroangestellten. Kurze Übergabe, Fortführung der Begonnenen Massnahmen. Dass Krankenhaus war nur wenige Minuten entfernt. Sonderrechte.
Obwohl der Mensch in unserem Rettungswagen schon lange nicht mehr in Lebensgefahr schwebte.
Eigentlich.
Sein Körper hatte aufgehört, zu funktionieren. Die Homöostase beendet.
Die große Pause hatte begonnen. Nach 75 Jahren, mit Recht.

Alles, was die Beziehung mit Annika anging, lief schief.
Meiner, ich bezeichne sie mal als Projektionsfläche.
Schieflage. Klogriff. Irgendwann. Dann. Fickkissen. Ohne Luft.
Nach ungefähr Ein-einhalb Jahren Beziehung bemerkte ich die Trägheit.
Die Trägheit der Beziehungsmasse.
Annika wurde immer mehr zu – sich selbst. Sich selbst? Wahrscheinlich.
Unflexibel. Faul.
Wir nahmen beide zu.
Gewicht. Trägheit der Beziehungsmasse lagert sich um und wird zur Trägheit der Körper.
Der Gedanken. Der Emotionen.
Zur Trägheit des Geistes.
Warum genau bin ich bei ihr?
So ähnlich die Frage in meinem Kopf. Immer wieder.
Dass anfängliche Rot schwappte immer mehr ins Dunkle, begann Schwarz zu werden.
Annika ging arbeiten. Ansonsten, chatten.
Surfen. Internet Surfen.
Online-Shopping.
Social Networks. Dazu Essen von McDonalds.
Oder Pizza. Von Wagner.
Sie ist blond. Reinrassig. Blondine.
Nicht hübsch. Nicht übermäßig intelligent.
Nicht kritisch und nicht konversationsfähig. Auf normalen Wegen.
Online war sie eine der Besten.
Dass, ihre Faulheit und die starre Heimatverbundenheit ihrerseits trieb große Holzkeile zwischen uns.
Einbauküche, Katzen, Kinderwunsch. Doppelgarage und Einfamilienhaus.
DSL-Anschluss.
Ein Auslandsaufenthalt kam nicht mehr in Frage. Starre Heimatverbundenheit. Schleichend.
Vor der Wohnungstüre, Müllbeutel.
Voll. Stinkend. Dreckig. Fettig. Wagners Reste.
Daneben, Katzenklo. Und Zwei Katzen, die immer mehr ihr Frauchen repräsentierten.
Faul, Gefrässig. Rumscheißend.
Verfettend.
Ich fragte mich immer mehr und immer mehr, eher unbewußt, was dass Ganze eigentlich soll.
Ich wollte keine Einbauküche, keine Doppelgaragen. Keine Otto-Normalverbraucher-Normalität.
Ich bekam es auch nicht. Bis auf die Einbauküche.
Die verschissene Einbauküche in L-Form. Mit verschissenen Siemens-Geräten.
Die Eckcouch als unser Lebensmittelpunkt. Mein Fernseher und ihr Laptop. Meine Resignation und ihr Chat.
Was genau passierte, wußte ich nicht. Ich denke, ich verwechselte Wunschdenken und Projektion mit Liebe. Und begann langsam abzuschalten. Weg zu projezieren. Abschalten und gleichzeitig wachwerden.

Während des Prozesses meiner gedanklichen Umstrukturierung und des symbolischen Aufwachens
lernte ich Lena kennen. Eher schleichend, als bewußt. So nebenher.
Als Freundin eines Kollegen. Er war beim Bund, zwei Jahre. Kam wieder zurück, ins zivile Leben. Arbeiten. Existieren. Sie war noch beim Bund. Acht von Zwölf Jahren lagen noch vor ihr.
Lena. Stillschweigend verstanden wir uns gut. Wenn wir uns verstanden. Kommunizierten.
Wenn. Man kann nicht Nicht-kommunizieren. Aber man kann sich nicht wahrnehmen.
Viel Gelegenheit zum Wahrnehmen hatten wir nicht. Vier oder Fünfmal im laufenden Jahr.
Für mich war es jedesmal wieder überraschend, Lena neu zu erleben.
Kurze Haare, Lange Haare, Blonde Haare, Dunkle Haare, Bunte Haare.
Dezente Kleidung, Chaotische Kleidung. Neue Schuhe, alte Schuhe. Riesensonnenbrille.
Grelle Farben machten ihr Gesicht leuchtend. Strahlend fast. Ähnlich ihrer Augen.
Hübscher Hintern. Tussi. Bundeswehrschlampe. Abgestempelt.
Trotzdem und deswegen auch, ganz unpassend zu den Plänen ihres Freundes.
Hier bleiben, sesshaft werden. Programmende kurz nach Programmstart.
Haus bauen. Verlegte Holzböden in ihrer Wohnung. Eckcouch und Wohnzimmerschrank.
Wochenweise war Lena in NRW. Für Deutschland. In Deutschland. Der wiederum fraglichen Sinnhaftigkeit verpflichtet, für dass Verteidigungsministerium Dienst zu tun.
Kam nur alle zwei Wochen, am Wochenende. Nach Hause. Zu ihren Eltern. Ihrem Freund.
Ihr Freund. Niedergelassen in der Stadt ihrer Eltern. Dem Haus ihrer Eltern. Erdgeschoss.
Mein Kollege. Unsere Rettungswache. Ab und zu unser Rettungswagen. Immer wieder fragte ich mich, ob denn der einzige Grund für die Dauerhaftigkeit dieser Beziehung die räumliche Trennung
ist. Dachte nicht weiter darüber nach. Nahm die Paradoxität als Gegeben. Ließ den drei Jahren, die beide schon gemeinsam und doch auseinander verbracht hatten, ihre Richtigkeit.
Dann kam 2009. Verlief sich wie die letzten Jahre. Fast bis zum Schluss.
September. Sonntag. Tagdienst.
Manchmal kam sie mit. Als Dritte.
Lena. Ihr Freund. Ich.
An einem Sonntag im September.
Mussten uns die Kante geben. Einsatztechnisch. Einsatzart-Technisch.
Gesichtsplatzwunde am Autobahnrastplatz. Herzinfarkt. Schlaganfall. Kleiner Verkehrsunfall.
Samstagsstandart. Das Übliche. Einsatzroutine. Abgearbeitet bis 15 Uhr.
An der Wache lief der Fernseher. Die Couch als mein Bett. Ließ mich auf sich liegen.
Die Couch, dass Fenster, die vergilbten Vorhänge und ich.
Nichts desto weniger war der Tag bisher stressig. Notruf reihte sich an Notruf. Dazwischen waren noch allgemeine Wachtätigkeiten zu erledigen. Beschäftigungstherapie für Rettungsdienstler.
Fahrzeughalle reinigen und RTW desinfizieren.
Ein Hoch auf den Dampfdruckreiniger. Und die Desinfektionslösung. Sowie die latexfreien Gummihandschuhe. Als Hautschutz.
Ein Anflug von Glück überkam mich. Oder irgendwie sowas ähnliches.
In Ruhe auf der Couch liegen. Bereitschaftszeit. Bezahlte Bereitschaftszeit. (...)

Ende der Leseprobe

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Tag der Veröffentlichung: 19.03.2011

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