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Warme Sonnenstrahlen kitzelten Rose in ihrer kleinen Stupsnase. Ihre roten Haare fielen ihr in perfekt geformten Locken um ihr hübsches, mit Sommersprossen besätes Gesicht. Sie hob in einer für ihre 9 Jahre ungewöhnlichen majestätischen Bewegung, ihre zierliche Hand und rieb sich kurz mit geschlossenen Augen über die Nase. Doch dann merkte sie, dass sie das Niesen nicht unterdrücken konnten. Ihre Augenlieder, mit den langen, dichtbesetzten Wimpern, flatterten und ihre klaren, hellgrünen Augen kamen zum Vorschein. Sie glitzerten wie Diamanten in der Morgensonne. Dann nieste sie und ihre Locken sprangen ihr um Kopf. Ungewollt nahm sie ihre Umgebung im Augenwinkel wahr. Ruckartig hob sie den Kopf und sah sich erschrocken um. Sie war nicht in ihrem Zimmer. Sie war an einem anderen Ort, doch es kam ihr trotzdem so vertraut vor. Sie lag in einem Bett aus Glas, mit einer schneeweißen Decke. Rose fuhr mit ihren rot lackierten Fingern über den Bettrand. Nein, das war kein Glas. Das war Eis. Bläuliches, schimmerndes und eiskaltes Eis. Da entdeckte sie das weiße Nachthemd, das sie trug. Das Mädchen stand langsam auf, um es besser sehen zu können. Es wallte ihr in sanften Wellen bis zu ihren Zehnspitzen hinunter. Es hatte lange, lockere Ärmel, die an den Handgelenken durch einen Gummizug enger wurden. Der kleine Ausschnitt um ihren Hals war mit blumenartigen Rüschen besetzt.
Sie hob ihren Kopf. Ihr Mund klappte auf. Über ihre roten Lippen trat ein zartes „Oh“, als sie das Zimmer in Augenschein nahm. Der Boden war aus Eis, die Wände waren aus Eis, der große Schrank war aus Eis, ja selbst die Fensterscheiben! Der Rand des Spiegels war vereist und an der Decke schwebte ein Kronleuchter aus Eis. Es war alles zu schön um wahr zu sein. Rose zitterte und sie blies eine Rauchwolke aus ihrem Mund, da es in dem Zimmer sehr kalt war. Plötzlich klopfte es an der Tür und vor Schreck wusste das Mädchen sich nicht anders zu helfen, als wieder in ihr warmes Bett zu springen, um sich zu verstecken. Die Tür öffnete sich und eine Frau mit Schürze und braunen Haaren trat herein. Sie trug ein Tablett, was Rose bemerkte, als sie über den Rand der Decke lugte. Auf ihm stapelten sich dampfende Pfannkuchen mit Marmelade und heiße Schockolade schwamm in einer schönen Porzellantasse.
„Du musst dich nicht vor mir verstecken, Rose. Und du brauchst auch keine Angst vor mir zu haben. Ich bin Melina, deine Mentorin und Stylistin. Ich erwarte dich nach dem Frühstück ein Zimmer weiter. Bitte sei pünktlich.“
Und schon war sie, nachdem sie das Tablett neben dem Bett auf einen kleinen Tisch gestellt hatte, verschwunden. Rose wagte einen Blick auf das Essen. Sie roch daran. Es duftete himmlisch und sie konnte einfach nicht wiederstehen, es nicht zu essen.
Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt, um einen kleinen Blick nach außen zu werfen. Durch das Zimmerfenster hatte sie schon erkennen können, dass sie in einer verschneiten und vereisten Gegend erwacht war. Doch Rose hatte nicht damit gerechnet, dass das ganze Haus in dem sie sich befand, ein einziger Eispalast war. Das kleine Mädchen konnte erkennen, dass sie sich am Anfang eines Flures befand und vor ihr eine Eiswendeltreppe mit tausenden von Stufen, an denen glitzernde Eiszapfen hinunter hingen, war. An der Decke, die mindestens zwanzig Meter hoch war, hing wieder ein Kronleuchter, nur dass dieser fünfmal so groß war, wie der, in dem Zimmer, in dem sich Rose mit halbem Körper befand. Neben ihr wurde auf einmal eine Tür geöffnet und die Frau von vorhin streckte ihren Kopf heraus.
„Ah, da bist du ja!“ Sie nahm ihre Hand und zog sie zu sich ins Zimmer. „Los, wir müssen dich für den Auftritt fertig machen!“ Sie lachte und schloss die Tür hinter sich.
Rose sah sie fragend an. „Was für einen Auftritt? Und wo bin ich überhaupt?“
„Oh, du bist in Daplom. Das ist das Winterland, wie man erkennen kann. Hier liegt über das ganze Jahr Schnee.“ Melina lächelte Rose freundlich an. „Du wirst die Glocke läuten. Das ist dein Auftritt, für den wir dich jetzt fertig machen müssen.“
„Ich muss was machen?“, fragte das kleine Mädchen verwirrt, während Melina ihr die Haare aus dem Gesicht strich.
„Du hast wirklich noch keine Ahnung, was?“ Sie holte aus einer Schublade eine Tube mit einer bräunlichen Flüssigkeit und befahl Rose sich auf einen Hocker zu setzen. Dann begann sie die Feuchte in ihrem Gesicht mit einem Pinsel zu verteilen. „Du bist das auserwählte Kind, das den ersten Schnee herbei holen darf. Also, den ersten Schnee auf der Erde. Die Glocke kann nur von der Auserwählten in Bewegung gebracht werden. Du musst wissen, es gab eine Göttin Namens An. Sie stand für den Frieden und die Ruhe. Vor hunderten von Jahren war sie diejenige, die den ersten Schnee herbei rufen sollte. Doch als sich das Volk über sie lustig machte, dass es sie doch überhaupt nicht geben würde, überließ sie uns die Aufgabe. Mit ihren Zauberkräften verwandelte sie den Brunnen auf dem Rathausplatz in die riesige Glocke, die jedes Jahr, um dieselbe Zeit wieder erscheint. Wenn diese da ist, weiß das Volk, dass es Zeit ist, sie schwingen zu lassen. Von der Auserwählten natürlich. An sagte, wir müssten die Auserwählte finden, denn nur diese kann die Glocke läuten, sodass es auf der Erde Schnee gibt. Als die Menschen bemerkten, dass es schwer ist, die Richtige in einem Jahr zu finden, versuchten sie sich bei An zu entschuldigen, doch sie verzieh ihnen nicht mehr. Und so müssen wir jedes Jahr die Richtige finden. Tja und dieses Mal bist du es.“
Rose musterte Melina. „Ist das wahr?“
„Ja, aber sicher doch. So steht es in den Legenden! Glaubst du mir etwa nicht?“
Rose zuckte mit den Schultern.
„Gut. Du siehst fabellhaft aus. Sieh dich ruhig im Spiegel an.“
Das kleine Mädchen erhob sich und lief durch den Raum zu einem Spiegel an der Wand. Melina hatte ihre Augen dunkel geschminkt und mit einem schwarzen Eyeliner umrandet, was ihre grünen Augen noch stärker wirken ließ. Ihre Lippen hatten einen rötlichen Stich, der perfekt zu ihren Haaren passte.
„Okay, komm wieder zu mir! Ich mach dir jetzt deine Haare. Und dann bekommst du noch dieses Kleid.“ Sie zeigte auf einen Schrank, an dessen Griffen ein dunkelrotes, fast schon schwarzes Gewand hang.
Rose bekam große Augen, weil sie es nicht erwarten konnte, dieses Kleid zu tragen.
„Gefällt es dir?“, fragte Melina.
Rose konnte nur nicken.
„Das freut mich. Ich habe es selbst entworfen. Du wirst einfach bezaubernd drin aussehen.“

Als sie fertig waren war Roses Haar nach oben zu einem Dutt zusammengesteckt und sie trug das wundervolle Kleid. Es hatte dünne Träger, doch dass ihr nicht kalt wurde, bekam sie eine Weste, die dieses Mal pechschwarz war. Das Kleid war eng und hatte an der Taille ein rotes Band. Ab dort ging es etwas nach außen und endete bei den Knien. Sie bekam Stiefel in derselben Farbe, wie das Band um ihrer Taille. Zum Schluss steckte Melina ihr noch rote Schützer auf die Ohren, die sie warm halten würden und eine Kette, die mit Rubinen besetzt war. Zu Roses Verwunderung war ihr nicht kalt, als sie aus einer großen Tür trat, obwohl ein eisiger Wind um ihre Ohren pfiff. Selbst das Kleid wurde irgendwie erwärmt, als Melina etwas an ihrem Nacken herumgefummelte hatte. Doch das, was Roses am meisten beeindruckte, war die Tatsache, dass wenn sie sich bewegte, ihr Kleid so schimmerte und glitzerte, dass es aussah, als wäre es mit Schneeflocken besetzt. Es sah einfach fantastisch aus, genauso, wie Melina es ihr versprochen hatte.
Bis jetzt hatte sie noch nichts von ihrer Umgebung wahr genommen. Doch jetzt sah sie sie. Die Menschenmasse, die sich bis zum Horizont vor einer Bühne ausgebreitet hatte. Aber dort waren nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und andere Wesen, die Rose noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Sie erspähte eine Gruppe Feen und Elfen, die verrückt durcheinander flogen und mit hellen und piepsigen Stimmen miteinander kommunizierten. Einen riesigen, schwarzen Raben mit glänzenden grauen Augen. Rose musste den Blick von ihm losreißen, sonst hätte sie den Verstand verloren, weil seine Augen so anziehend und unheimlich wirkten. Sie sah sogar Wesen, die halb Pferd, halb Mensch waren.
Melina gab ihr einen sanften Stoß von hinten, damit sie weiter auf die Bühne trat. Sie hatte ihr erzählt, sie solle einfach zu der Glocke auf der Bühne treten und sie läuten. Doch zuvor sollte sie auf das Podest gehen und sich bei der Göttin An bedanken, dass sie dieses Jahr die Auserwählte sein dürfte und dem Volk ein schönes und glückliches Jahr wünschen.
Als Rose vor dem Mikrofon stand war sie aufgeregt und traute sich zuerst nichts zu sagen, doch als sie den Raben erblickte und er sie anlächelte, fand sie ihre Worte.
„Ich möchte euch, das Volk von Daplom, herzlich zum Glockenschlag begrüßen. Ich bin Rose Meyer und habe heute die Ehre, diese Aufgabe zu vollbringen.“ Sie lächelte, als das Publikum klatschte, pfiff und sogar ihren Namen rief. „Ich möchte mich bei der Göttin An bedanken, dass ich die Auserwählte bin und euch ein schönes Jahr, Gesundheit und Glück wünschen.“ Wieder brach das Volk in Jubel aus.
Rose entfernte sich von dem Mikrofon und steuerte auf die Glocke zu. Sie war groß. Sehr groß. Die größte Glocke, die sie jemals gesehen hatte. Bronzenes Metall, mit Applikationen am Rande in Form von Schneeflocken. Sie hang an zwei Eisenstäben, die in den Eisboden befestigt worden waren.
Sie berührte mit ihren Händen das kalte Metall der Stange, die die Glocke zum Schwingen brachte. Es war kinderleicht. Aber das lag daran, dass Rose die Auserwählte war. Melina hatte ihr erzählt, dass kein anderes Kind im Stande wäre, die Glocke auch nur einen Millimeter zu bewegen. Sie drückte leicht gegen die Stange nd dann ertönte auch schon der erste Ton. Es war ein lauter und dunkler Klang. Es fühlte sich an, als ob der Boden unter ihren Füßen beben würde. Wahrscheinlich tat er das sogar. Das Volk verstummte für einen Augenblick. Und dann fielen Schneeflocken, so groß wie Golfbälle vom Himmel. Als das Volk das sah, schrie es laut und alle umarmten sich. Der große Rabe flog in die Höhe und entfernte sich vom Geschehen. Doch Rose hatte noch erkennen können, dass er ihr zugezwinkert hatte. Rose lachte laut auf.
Und dann erklang der zwölfte und letzte Schlag. Alle Augen richteten sich auf das Mädchen. Die Gesichter verschwammen vor ihren Augen und wurden immer undeutlicher. Ebenso wie die verschneite und vereiste Landschaft. Und dann war alles weg.

Rose war in ihrem Bett. In ihrem Zimmer. In ihrem Haus. War das etwa alles nur ein Traum gewesen? Sie spürte etwas Schweres auf ihrer Brust liegen. Sie fühlte. Es war die Rubinkette, die Melina ihr gegeben hatte. Vielleicht zum Dank? Kurz bevor sie wusste, dass es kein Traum gewesen war, sah sie aus dem Fenster. Und es schneite. Zum ersten Mal in diesem Jahr.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Alle Rechte liegen bei mir!

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