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Vergangenheit

Eine in Schatten gelegte Person flitzte die James Street entlang. Der dunkelblaue Pullover, den die Gestalt trug, sah in der finsteren Nacht aus wie der schwarze Himmel. Der dunkle Stoff der Kapuze warf das Gesicht in geheimnisvolle Schatten, so, dass man es nicht erkennen konnte. Es regnete sehr stark in der kohlenähnlichen Dunkelheit. Nur die gelblichen Straßenlaternen flimmerten, doch die Person befand sich im Schatten der mächtigen Wolkenkratzer, die drohend zwischen den leeren Straßen emporragten. Selbst wenn die fremde Person nicht in diesen Schatten gewesen wäre, hätte sie normalerweise niemand aufspüren können, da auch die gedämmten Laternen nichts gegen die Dunkelheit ausrichten konnten.

Und die Person bewegte sich unmenschlich schnell.

Doch diesen Abend blieb sie nicht unentdeckt. Ein zerknirschtes, kleines Mädchen saß in ihrem dunklen Zimmer vor ihrem großen Fenster eines rieseigen Hochhauses. Sie hatte die dunkle Person gesehen, als sie kurz im matten Schein der Laternen stehen geblieben war, die sich direkt neben einer kalten und feuchten Mauer befand, um sich zu bücken, als würde sie sich den Schuh binden wollen. Dabei rutschte die fast schwarze Mütze herunter und die Kleine konnte kurz rasierte Haare sehen. Der Mann stand wieder auf und schob seine langen Ärmel des Pullovers nach hinten. Mit seinen großen Händen fing er an die Mauer zu betasten, ging dann in die Knie und sprang. Mindestens zwei Meter über dem gepflasterten Gehweg berührten seine kräftigen Finger die Mauer und er blieb wie eine menschliche Spinne daran kleben. Das kleine Mädchen sah seine Armmuskeln. Sie waren stark ausgeprägt und für so eine schmale Person unnatürlich. Dann trat unter dem Mann eine weitere Person auf. Sie war nicht sehr viel älter als das Mädchen, vielleicht zwei Jahre. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund, drehte sich diese kleine Person um und sah ihr geradewegs in die Augen. Sie konnte erkennen, dass es ein Junge war. Er hatte dunkle Haare, helle Haut, eine kleine Nase, rote Lippen und schwarze Augen. Kaum hatte er sie entdeckt, rief er dem fremden Mann, der oben auf der Steinmauer saß, etwas zu und er antwortete.

Und dann waren sie plötzlich weg…

Montag

Das Wetter am heutigen Morgen in Seattle war alles andere als berauschend. Es war eisig und der kalte Boden war teilweise gefroren. Der betrübte Himmel war mit einer dicken und dunklen Wolkenschicht überzogen, doch hin und wieder brach ein Sonnenstrahl hindurch und ließ die kleinen Kristalle auf den Dächern der Häuser in allen Farben des Regenbogens glitzern.

Als ich aus dem warmen Haus trat und fast ausrutschte, musste ich mir eingestehen, dass flache Sneakers mit Sicherheit nicht die beste Idee waren. Schließlich zwang ich mich zurück in den Flur zu gehen, um mir meine dicke, knallrote Winterjacke überzuwerfen und in dicke, braune Boots zu steigen. Im Haus überkam mich eine wohlwollende Wärme und es fiel mir sehr schwer, wieder nach draußen in die Kälte zu gehen. Doch was hatte ich für eine Wahl?

Die Winterferien waren vorbei und die Schule startete nun erneut. Ich fand das nicht weiter schlimm, da die Ferien ausnahmslos monoton vergangen waren. Fast all meine Freunde waren in den Skiurlaub gefahren oder hatten Besuch, während ich alleine in meinem Zimmer gesessen und versucht hatte, die Zeit tot zu schlagen. Ich hatte mich nur einmal mit meiner besten Freundin Heaven Barrymoore getroffen, die an den anderen Tagen ebenfalls im Urlaub oder ausgebucht war.

Wir hatten einen Ausflug in die Stadt gemacht, weil das der beste und längste Weg war, mein neues Auto zu erproben. Es war ein rotes Cabrio mit dunklen Fensterscheiben. Obwohl es schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte, sah es aus wie neu. Meine Eltern hatten es von einem Autohändler für Gebrauchtwagen, für gar nicht so viel Geld gekauft und es mir – zu meiner riesen Freude und genauso großen Überraschung – zu meinem 17. Geburtstag geschenkt. Man kann nicht wirklich sagen, dass wir Einkaufen waren, da wir die meiste Zeit im Auto saßen und in den vollen Straßen herum gebraust waren. Nun, gebraust sind wir nicht wirklich, da das teilweise viel zu gefährlich gewesen wäre. Da meine Freundin genauso alt ist wie ich, hatte sie ihren Führerschein auch schon und wir hatten uns mit dem Fahren abwechseln können. Das war der beste Tag in den Ferien gewesen, auch wenn man ihn mit den anderen überhaupt nicht vergleichen konnte. Außerdem lernte ich für die Schule, weil nach den Ferien oft noch Prüfungen anstanden und ich meinen Durchschnitt nicht verschlechtern wollte.

Während ich den Drehknopf der Heizung bis zum Anschlag wandte, bretterte ich über die Straßen und hoffte, ich würde keinen Unfall bauen. Zwar hatte mein Dad, Carson McCarthy, meine Autoreifen gegen nagelneue, wintertaugliche Räder eingetauscht, aber ich konnte spüren, wie ich immer noch über den halb gefrorenen Boden schlitterte.

Als ich auf den vollen Parkplatz unseres großen Schulgeländes fuhr, bemerkte ich, dass meinem Auto einige Blicke zugeworfen wurden. Eigentlich hatte ich befürchtet, dass die Schüler die Fassade durchschauen könnten und sahen, dass das Auto eigentlich viel älter war, als es aussah, aber anscheinend fiel es niemanden auf. Aber im Grunde wäre es mir egal gewesen.

Als ich nach kurzem Suchen auf einem der Parkplätze zum Stehen gekommen war, zog ich meine braune Wildledertasche vom Beifahrersitz und öffnete die Tür. Ungeschickt stieg ich aus dem Wagen und schloss anschließend die Türen zu.

Ich blickte mich suchend um, doch schon bald entdeckte ich meine beste Freundin Heaven, die mit einigen anderen vor der großen, hölzernen Eingangstür der Schule warteten.  Ich steuerte auf die Gruppe zu. Heaven hatte mich schon von Weitem entdeckt und zeigte in meine Richtung. Ein paar Jungs drehten sich auch zu mir um und lächelten. Jedoch lächelten sie nicht mir zu, sondern dem Auto. Als wäre dieses ein Lebewesen und musste als neuer Schüler begrüßt werden. Bei diesem Gedanken verkniff ich mir innerlich ein Grinsen.

Heaven kam mir entgegen: „Hey, da bist du ja endlich!“ Sie hatte ihre dunkelblonden Haare zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden und ihre Augen dunkel umrahmt. Sie trug dicke Boots, ihren braunen Wintermantel offen und darunter kamen ein cremefarbener Wollpullover, ein schwarzer Lederrock und dicke Strümpfe zum Vorschein. Ihre Fingernägel hatte sie mit einem dunkelroten Nagellack lackiert, wobei sie oft über den Rand gekommen war. Heaven fand Nagellack zwar totschick, war jedoch viel zu ungeduldig ihn sauber aufzutragen und erste recht lange genug zu warten, bis die Farbe endgültig getrocknet war.

„Hi!“, sagte ich und umarmte sie fröhlich. Es tat gut, sie wieder zu sehen und in den Armen zu halten. Es fühlte sich an, seinem Zuhause näher gekommen zu sein; geborgen und vertraut. „Wie lange wartest du schon?“

Das fragte ich, weil ich wusste, dass sie immer sehr früh hier war. Das lag nicht daran, dass sie sich extra früh auf den Weg machte. Ich meine, ja, das tat sie auch, aber um den Schulbus zu erwischen, der es nicht schaffte eine angemessene Zeit zu finden, die Schüler an der Bushaltestelle abzuholen. Denn im Gegensatz zu mir hatte Heaven noch kein Auto, weil ihre Eltern strickt dagegen waren ihr eines zu kaufen oder ihr selbst eines kaufen zu lassen. Sie meinten, meine Freundin wäre noch nicht bereit alleine Auto zu fahren. Heaven und ich fanden das wäre völliger Schwachsinn, denn sie hat ihren Führerschein schließlich schon, doch alle Diskussionen führten uns wieder an den Anfang. Es war aussichtslos.

„Nicht sehr lange. Meine Mum hat sich heute überreden lassen, mich am ersten Schultag nach den Ferien in die Schule zu fahren, da sie sowieso in die Richtung musste. Du weißt schon, heute öffnet doch dieser kleine Laden Smell&Taste mit den hochgelobten Seifen, Kerzen und Gewürzen. Meine Mum wollte ihn unbedingt als Erste besichtigen.“ Sie lachte und verdrehte ihre grünen Augen.

Ich grinste. „Richtig! Davon hat meine Mum auch schon die ganzen Ferien über geschwärmt und gemeint, dass sie den Laden unbedingt besuchen muss, sobald sie Zeit hätte.“ 

Smell&Taste war einer dieser kleinen Läden, die bei niemanden bekannt waren und auch nicht von Nöten. Sie verkauften Dinge, die man nicht unbedingt brauchte, aber doch irgendwie süchtig machten, wie zum Beispiel Duftkerzen, viereckige Seifenstücke mit Gerüchen wie Kokosnuss, Schokolade, Mango, Orange und natürlich Vanille. Außerdem hatten sie eine riesige Anzahl von Gewürzen wie besondere Pfefferarten, Muskat, Chilli, Curry, Paprika, Piment und Lorbeer. Zudem gab es getrocknete Früchte, die man sich beliebig in sein Frühstücksmüsli mischen konnte, welches man an der Kasse nach der Masse abbezahlen musste. Der Laden machte viel Werbung in Form von Plakaten, Zeitungsberichten und Mitarbeiter, die in der Stadt Werbezettel verteilten, um bekannt zu werden. Dadurch wurde er zum Gespräch der ganzen Stadt und obwohl alle wussten, dass der Laden viel zu viel verlangte, wollte trotzdem jeder am Eröffnungstag dabei sein.

„Im Übrigen bin ich auf der Suche nach einem Geschenk für meine Oma. Ich dachte mir, dass ein Koffer mit Gewürzen genau das Richtige für sie ist.“

Ich nickte meiner Freundin zustimmend zu. „Ja, das würde ihr sicherlich gefallen, so kochverrückt wie sie ist.“ Ich lachte.

Heaven kratzte sich am Hinterkopf.

„Was ist los?“, fragte ich sie misstrauisch.

„Hm, würdest du vielleicht mitkommen?“ Sie sah mich fragend an.

Ich zuckte mit den Achseln. „Klar, wieso nicht. Vielleicht finde ich ein paar gute Duftkerzen.“

„Oder ein Schaumbad! Die sollen der absolute Wahnsinn sein!“

Ich packte sie begeistert an den Schultern. „Die bei der Wassertemperatur die Farbe ändern?“ Heaven nickte und ich konnte sehen, wie sie innerlich auf und ab sprang. „Der absolute Wahnsinn!“ Ich machte eine Pause und ließ die Arme langsam sinken. „Ich hoffe nur, wir werden die Zeit dafür finden.“

Heaven wirkte genervt. „Stimmt, Schule ist verdammt zeitraubend.“

Wir beide stöhnten, als wir an die ganzen Prüfungen und Tests dachten, die uns noch bevorstünden. Schon bei dem Gedanken daran, wollte ich einfach wieder nach Hause in mein Bett und in einen hundertjährigen Schlaf fallen, der mich erst bei etwas Spannendem erwachen ließe. Natürlich wusste ich, wie wichtig die Schule ist und auch wie wichtig gute Noten sind, dass Extraleistungen nur Vorteile einbrachten und sich am Ende alles lohnen würde. Schule war ein kaum endender Teufelskreis; kaum hatte man die eine Klasse geschafft, kam auch schon die nächste mit ihren Foltern und Hindernissen. Doch dann, irgendwann, wenn man ein Viertel seines Lebens hinter sich gebracht hatte, ja dann war es soweit und man konnte in die weite Welt hinaus marschieren. Und da ich wusste, dass es nach der Schule noch viel Schlimmer werden konnte, versuchte ich so gut es ging, die Schulzeit hier zu genießen.

Heaven riss mich aus meinen chaotischen Gedanken zurück in die Realität. „Ich weiß, das wird sich jetzt bestimmt merkwürdig anhören, aber es scheint so, als würde dein Auto gerade als Accessoires für ein Fotoshooting verwendet werden.“ Sie zeigte in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war, und kicherte. Heaven war so verwundert und belustigt, weil sie genau wusste, was das Auto tatsächlich auf dem Kasten hatte. Und das war nicht sehr viel.

Ich drehte mich um und tatsächlich. Da stand Calvin Despain mit ein paar Freunden neben meinem Auto. Calvin ist der von den Mädchen beliebteste Junge an der Schule. Ich hatte nie viel mit ihm zu tun gehabt, obwohl ich ihn schon eine Ewigkeit kannte, doch jeden Monat gingen irgendwelche Gerüchte in der Schule herum, sodass man sein Leben mitbekam, als wäre man sein bester Kumpel. Zwar wussten fast alle Schüler, dass das Meiste davon nur erfunden waren, aber trotzdem erzählten sie sie weiter, bis Calvin schließlich mitbekam, was sich seine Feinde wieder mal ausgedacht hatten. Allerdings schien es so, als würde dies ihm völlig egal sein und man hatte fast den Eindruck, er wäre darüber belustigt. Gerüchte bedeuteten schließlich immer, dass sich jemand für ihn interessierte und über ihn redete.

Ich hatte nicht bemerkt, dass Heaven losgelaufen war. Sie war auf dem Weg zu Calvin, der jetzt grinsend vor der blitzenden Handykamera stand. Ich rannte Heaven hinterher.

„Was macht ihr da?“, fragte sie mit lauter, belustigter Stimme und erhobenem Kopf.

Die Jungs zuckten erst zusammen, aber dann sagte Calvin ganz lässig: „Sieht man das denn nicht?“ Er trug weiße Sneakers, eine helle, löchrige Jeanshose, ein kirschrotes Langarmshirt und darüber einen braunen Mantel. Seine blonden Haare waren perfekt gestylt und seine blauen Augen leuchteten.

„Wenn man euch genauer betrachtet, sieht es wohl so aus, als wolltet ihr Noah Mills imitieren!“, antwortete sie frech. 

„Und?“, fragte einer der anderen Jungs, der mir von der Schule sehr bekannt vorkam, allerdings wusste ich nicht, wie sein Name war. „Haben wir es geschafft?“ Er zwinkerte Heaven zu und schmunzelte.

Heaven ignorierte die Frage und meinte dann: „Ich glaube kaum, dass der Besitzer dieses Wagens sehr euphorisch wäre, wenn er erfahren würde, was ihr hier abzieht.“ Sie warf ihnen einen ernsten Blick zu.

Calvin grinste begeistert. „Sag bloß, das ist deiner?“

 „Nein, er gehört mir“, mischte ich mich nun ein und sah Calvin grinsend an, der sich gerade durch sein blondes Haar wuschelte.

„Dir?“ Er sah mich mit offenem Mund an. „Das… das ist echt cool. Du könntest mich ja mal auf eine Spritztour mitnehmen“, schlug er vor, lachte und seine blauen Augen leuchteten. Seine Freunde stimmten ihm zu.

„Ganz bestimmt“, meinte  ich sarkastisch, denn ich wusste, dass ich keinen von ihnen auf eine Spritztour mitnehmen würde. Vor allem Calvin nicht. Keiner wollte freiwillig in seinen Gerüchten eine Rolle spielen.

„Okay, bis dann!“, rief er uns mit einem erhobenen, winkenden Arm nach, als wir wieder gingen.

„Oh mein Gott“, machte Heaven, lachte und stieß mir in die Seite. „Calvin will sich tatsächlich mit dir treffen.“

Ich schüttelte verneinend den Kopf und lachte ebenfalls.

Sie grinste frech und es klingelte zur ersten Stunde.

 

In unserem viel zu kleinen Klassenzimmer war es muffig und es roch vermodert, weshalb unser Lehrer Mr Leeve uns sofort beauftragte einige der Fenster zu öffnen.

Als ich mich auf meinen Platz setzte und meine Tasche auf den Boden stellte, merkte ich, dass mein Banknachbar fehlte. Blöderweise konnte ich Heaven nicht fragen, da wir beide weit voneinander entfernt saßen, seit unser Lehrer einen eigenen Sitzplan erstellt hatte. Der neue Sitzplan hatte das Motto „Weit weg von den besten Freunden“.

In der Reihe hinter mir saß Nils Jonas, der gerade seine Schulsachen auf seinem Tisch ausbreitete. Zögernd drehte ich mich zu ihm um und lächelte freundlich. „Hey, Nils! Und wie waren deine Ferien?“ 

Nils, dessen Gesicht mit einer schlimmen Akne übersät war, meinte: „Naja, waren ganz in Ordnung. Wir waren Skifahren, wie fast jeder. Doch dann hat sich meine Schwester die Bänder am Knöchel gerissen und wir mussten nach Hause fahren. Das war ziemlich nervig.“ Nils trug einen dunklen Pullover, dessen Ärmel er nach hinten geschoben hatte, und seine ausgelatschten, ehemalig weißen Turnschuhe. Seine braunen Haare standen mit viel Gel wild vom Kopf ab und auf seiner Nase trug er eine Brille mit weißem Rand, die seine braunen Augen unnatürlich groß wirken ließ. Nils ist einer von diesen netten Typen, die zwar aussehen wie Nerds, aber keine sind. Er ist kein Typ der den ganzen Tag vor seinem PC verbracht, nie das Tageslicht sieht und Augenringe bis zum Boden hat.

Ich verzog das Gesicht. „Autsch, das hört sich nicht gut an. Richte ihr eine gute Besserung von mir aus.“

Die kleine Schwester von Nils hieß Sarah Jonas und war neun Jahre alt. Ich kannte sie, seit drei Jahren, als sie sich auf einem Schulfest verlaufen hatte und ich sie weinend und verloren in einem verlassenen Gang gefunden hatte. Sarah hatte mir erzählt, dass sie Nils kleine Schwester war und sich verlaufen hatte. Hand in Hand suchten wir dann in der Menschenmenge nach ihren Eltern und Nils. Als wir dann ihren Vater fanden, brach sie vor Freude in Tränen aus. Sie war sehr nah am Wasser gebaut, weshalb ich mir gut vorstellen konnte, dass Nils eine Sarah mit gebrochenem Bein als nervig bezeichnete.

 Nils grinste, schnappte sich einen Stift aus seinem Mäppchen und begann mit ihm zu spielen. „Klar, kann ich machen. Wie waren deine Ferien?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Nichts Besonderes. Eher totlangweilig!“ Ich lachte. „Wir sind leider nicht in den Urlaub gefahren, so wie ungefähr die halbe Schule.“

Nils sah mich mitleidend an, während er den Kugelschreiber auf und zu drückte, und grinste schließlich. „Na dann kannst du ja jetzt richtig froh sein, dass wieder Schule ist.“

Ich lachte. „Apropos Schule: Hast du Finn gesehen?“ Ich zeigte auf den leeren Platz neben mir.

Nils hob die Hände. „Da bin ich leider überfragt. Ich hab auch schon lange nichts mehr von ihm gehört, tut mir leid.“

Traurig sagte ich: „Schon okay.“

Gerade wollte ich mich wieder nach vorne drehen, als ein Mädchen mit blonden Locken hinter Nils rief: „Hey Molly Noel!“ Anscheinend hatte sie das Gespräch zwischen mir und Nils mit angehört. „Ich habe gehört, dass er sich seinen Fuß gebrochen hat.“

„Den Fuß gebrochen? Wie hat er das angestellt?“, fragte ich verwundert.

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber mir wurde erzählt, er sei die Treppe heruntergefallen.“ Sie und ihre Freundin kicherten verächtlich.

„Okay, danke!“, rief ich und war ein bisschen verärgert über das Lachen der beiden. Das war sicherlich nur eine Ausrede.

Ich kramte mein Handy aus der braunen Wildledertasche und schickte ihm eine Nachricht, ob es wirklich stimmte, dass er sich seinen Fuß gebrochen hätte. Er schrieb kurzdarauf zurück. In der Nachricht stand, dass es wirklich die Wahrheit ist und er in den nächsten paar Tagen nicht in die Schule kommen würde. Das wunderte mich wirklich, weil er sonst nur Ausreden hatte, als er nicht in die Schule kam.

Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken wieder zu sortieren.

Plötzlich hörte ich eine tiefe, laute Stimme: „Molly Noel McCarthy! Her mit dem Handy!“

Ich sah ruckartig hoch. Direkt vor meinem Tisch hatte sich unser Biolehrer Mr Leeve aufgebaut und blickte drohend auf mich herab. Die anderen Schüler beobachteten das Geschehen gespannt und im Klassenzimmer herrschte plötzlich eine Totenstille. Ich wurde etwas nervös und spannte meinen Körper an.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich angefangen hatte zu träumen und mein Handy mit leuchtendem Display auf den Tisch gelegt und angefangen hatte es zu drehen.

„Was?“, sagte ich total verwirrt, obwohl ich bereits erfasst hatte, was er gesagt hatte.

„Her damit! Oder haben Sie über die Ferien vergessen, was hier für strenge Regeln gelten?“, meinte Mr Leeve und streckte seine Hand fordernd nach meinem Handy aus.

Ich streckte es ihm fügsam entgegen, weil ich keine Lust auf Ärger hatte. Vor allem aber, weil mir die Situation schon peinlich genug war. Jeder starrte mich an.

Als er wieder vor der stillen Klasse stand, sagte er: „Sie können es sich nach der Schule abholen.“

Innerlich stöhnte ich genervt auf, ließ mir jedoch nichts anmerken und versuchte so cool wie möglich mit der Situation umzugehen. Die Schüler wandten schließlich ihren Blick von mir ab und sahen wieder nach vorne in Richtung Tafel und Mr Leeve. Sofort entspannte ich mich und versuchte mein Gesicht mit einem Vorhang aus meinen haselnussbraunen Haaren, vor den Blicken der anderen zu verstecken.

Nach der ersten Stunde hatten wir Geschichte bei unserer Klassenleiterin, Mrs Appletree. Sie war die beste Lehrerin an unserer Schule und alle Klassen sind gänzlich mürrisch, weil nicht sie sie als Klassenleiterin bekommen hatten. Schon letztes Jahr waren alle sehr traurig gewesen, als sie in den Mutterschutz gegangen war. Jedoch hatte sie es nur ein Jahr ausgehalten, weshalb sich ihr Mann, mit dem sie schon seit vielen Jahren verheiratet war, dazu entschlossen hatte, seinen Job zu kündigen, um auf das Baby aufzupassen. So einen Mann musste man erst mal finden! Wir hatten ihn bei einem Schultheater kennengelernt, als er die Rolle eines Riesens übernommen hatte, denn Mrs Appletrees Mann war zwei Meter groß und passte perfekt. Er war nicht nur ein grandioser Schauspieler, sondern auch wahnsinnig nett und erzählte, er wollte schon immer mal in einem Film mitspielen. Während der Proben alberten Mrs und Mr Appletree herum und man hatte das Gefühl, die beiden würden sich schon Ewigkeiten kennen und für einander bestimmt sein. Deshalb war die ganze Schule auch total aus dem Häuschen, als sie erfuhr, dass die beiden ein Baby erwarteten. Die ganzen Schüler unterschrieben auf einer Glückwunschkarte und schenkten ihr einen großen Weidenkorb mit Unmengen an Babyutensilien.

Mrs  Appletree betrat den Raum und schob vor sich einen großen Rollschrank, in dem sich ein alter, geradeso funktionierender Fernsehe befand. Mrs Appletree hatte sich an ihr Versprechen anscheinend erinnern können, dass wir nach den Winterferien einen Film aus der Schulbibliothek anschauen durften, der über unser aktuelles Thema ging. Wir konnten sie überreden, in dem wir sagten, das würde den Unterricht viel abwechslungsreicher und anschaulicher machen.

„Morgen!“, rief sie fröhlich in die Klasse und packte eine DVD aus ihrer Tasche. „Ein paar von euch müssten mir mal bei dem Video helfen“, meinte sie. Sie war eine der Lehrerinnen, die sich mit den elektronischen Geräten an dieser Schuler überhaupt nicht auskannten. Doch als ich mir darüber Gedanken machte, fiel mir auf, dass im Grunde niemand der Lehrer den Fernseher zum Laufen brachte. Sofort fragte ich mich, ob das irgendeinen pädagogischen Hintergrund hatte und sie nur so taten, als wären sie technisch zurückgeblieben, um den Schülern einzureden, dass auch sie den Lehrern etwas beibringen konnten. Denn wenn Lehrer tatsächlich so wenig von Technik verstehen würden, müssten sie ja einmal in der Woche einen Fachmann zu sich nach Hause holen, der ihnen die Nachrichten, ihren Lieblingsfilm und vielleicht sogar die Mikrowelle an machte.

Vor genau diesem mysteriösen, technischen Wunder plapperten die Schüler wild durcheinander, bis sie es endlich schafften und der Bildschirm zu flimmern begann, während wir uns in kleine Gruppen zusammensetzten, damit wir einen besseren Blick auf den Fernsehapparat werfen konnten. So saß beispielsweise eine Reihe von Schülern auf Stühlen direkt vor dem leuchtenden Apparat, während andere auf den Bänken lümmelten.

Die Ausstattung der Schule war miserabel. Im ganzen Haus gab es fünf Rollfernsehers, die oft nicht funktionierten und manchmal sogar besetzt werden mussten, da sie sonst nicht ausreichten.

Gerade als der Film startete, sprang Mrs Appletree wie vom Blitz getroffen von ihrem Stuhl in der ersten Reihe auf. „Oh! Ich habe etwas vergessen!“ Sie suchte vergeblich im Fernseherschrank nach der Fernbedienung.

Ein Schüler räusperte sich. Er saß ebenfalls auf einer der Stühle, trug eine schwarze Hose, nasse Sneakers, einen grauen Pullover und einen dicken, flauschigen Schal um den Hals. „Suchen sie vielleicht die hier?“ Er hob die Hand und hielt darin das kleine Gerät.

Mrs Appletree lächelte. „Ach, da ist sie ja! Würdest du bitte für einen kurzen Moment den Film anhalten?“

„Klar“, sagte der Junge lässig und drückte einen Knopf. Gespannt sahen wir Mrs Appletree an.

„Es gibt eine neue Nachricht“, verkündete sie freudig. „Wir bekommen einen neuen Schüler in die Klasse.“

Durch diese Nachricht brach Unruhe im Klassenzimmer aus. Alle Schüler sprachen wild durcheinander und waren plötzlich ganz aufgeregt. Seit ein paar Jahren hatten wir keinen neuen Schüler mehr in die Klasse bekommen, weshalb die Nachricht etwas Besonderes war. Davon mal abgesehen, war es immer spannend und aufregend sich vorzustellen, wie der Neue wohl sein könnte, um schließlich enttäuscht oder überrascht zu werden.

Heaven sah mich verwirrt an. „Wir bekommen einen Neuen? Wieso sagt sie uns das denn erst jetzt?“

Ich lachte: „Außerdem weiß man das doch schon mehrere Wochen zuvor, oder etwa nicht?“

Heaven grinste. „Wie er wohl aussieht?“

„Eigentlich ja schon“, sagte Taylor Demigod, als er sich umdrehte. Er saß direkt vor Heaven und hatte irgendeine Störung mit seinem Kopf, denn er warf jede fünf Minuten seinen Kopf ruckartig zur Seite, sodass seine braunen Haare, wieder perfekt saßen – ich weiß, dass das keine richtige Störung ist, aber es sieht nun mal so aus. Obwohl es viel zu kalt war, trug Taylor ein T-Shirt von ACDC, aber das war ihm egal, denn es war seine Lieblingsband und anscheinend sollte das jeder wissen.

„Vielleicht hatte sie es ja vergessen uns zu sagen“, sagte Phil O’Sallivan hinter uns.

„So was vergiss man doch nicht einfach… oder?“, fragte ich und war sehr darüber verwundert. Man vergisst doch nicht die wichtigste Nachricht des Tages.

Alice Wonder warf ihre blonden, langes, glänzendes Haare zurück und scherzte mit ihrer mädchenhaften Stimme: „Vielleicht hat sie ja ein Kurzzeitgedächtnis?“

Während wir immer lauter wurden, stand Mrs Appletree auf.  „Okay, jetzt geht doch wieder auf eure Plätze! Das ist eindeutig zu viel Krach!“, rief sie laut.

Wir hörten auf sie und gingen stöhnend zurück, auch wenn ich liebend gerne geblieben wäre und weiter über den Neuen gesprochen hätte. Was für eine Nachricht! Ein Neuer Schüler! Heaven hatte absolut recht mit der Frage, wie er wohl aussähe. Vielleicht sah er aus wie ein Topmodel oder konnte wie ein Gott Gitarre spielen und singen und würde den Chor unserer Schule irgendwann bei einem Musikstück begleiten. Doch all diese Überlegungen waren völlig überflüssig, denn etwa zwanzig Minuten später, in denen wir versuchten dem langweiligen Film zu folgen und uns nicht von der Versuchung verführen zu lassen, über den Neuen zu quatschen, hämmerte es rumpelnd an der Klassentür.

 

Die aufgedunsene Sekretärin mit den schulterlangen, brünetten Haaren, schob einen großen, schlanken aber trotzdem muskulösen Jungen in unser Klassenzimmer. Er hatte dunkle Haare, keine blasse aber auch nicht gesonnte Haut, relativ rote Lippen und sehr dunkle Augen. Obwohl er sich lässig, cool und auch anmutig bewegte, wirkte er gequält, als er in den Raum gezerrt wurde und die Sekretärin anfing zu sprechen. Als ich ihn ansah bekam ich ein komisches Gefühl, wusste aber nicht wieso, da er eigentlich gut aussah. Okay, er sah verdammt heiß aus! Ich musste weggucken.

Die Sekretärin warf uns einen kurzen Blick zu, doch selbst dieser kleine Moment reichte aus, um uns zu zeigen, wie sehr sie uns verabscheute. „Also Leute, das ist Jerry Lee McGowan. Er geht ab heute in eure Klasse. Ich muss dann auch wieder. Viel Spaß“, sagte sie in einem äußerst unfreundlichem Ton, aber so waren die Frauen im Sekretariat immer missgestimmt. Ich fragte mich jedes Mal wenn ich sie sah, wie sie an dieser Schule angenommen werden konnte. Aber wahrscheinlich hatte sie sich bei ihrem Vorstellungsgespräch völlig verstellt oder hatte sich in der langen Zeit, die sie hier schon arbeitete, von Grund auf verändert.

Mrs Appletree ging auf den Neuen zu und gab ihm die Hand: „Schön dich kennen zu lernen, Jerry Lee McGowan. Ich hoffe du kommst mit diesen Chaoten gut zurecht“, sie lachte – er lachte nicht, sondern musterte sie von oben bis unten - und sah sich kurz in der Klasse um, als ob sie etwas suchen würde. Ihr Blick blieb an mir hängen. Dann sagte sie irgendetwas, was ich zu meinem Bedauern nicht verstand, da sie zu leise sprach.

 „Kann ich nicht lieber einen Einzelplatz haben?“, fragte Jerry Lee jetzt.

„Das tut mir wirklich schrecklich leid, aber im Moment haben wir nur zweier Bänke und ich habe vergessen noch einen extra Tisch zu besorgen. Du musst dich wohl mit dem Platz neben Molly Noel anfreunden.“

Der Typ sah in meine Richtung und als er mich sah zuckten seine Augen, so, als ob es dunkel wäre und er mich nicht richtig erkennen würde oder er etwas im Auge hätte und es seine Sicht verschwimmen ließe.

Ich versuchte freundlich zu wirken, also lächelte ich leicht. Er schlenderte zwischen den Bänken zu seinem neuen Platz und setzte sich neben mich ohne auch nur „hallo“ zu sagen.

Mrs Appletree fragte Jerry Lee noch tausend Fragen, während ich mich an ihm vorbeiquetschte und auf die andere Seite des Raumes ging, ohne auch nur einen Kommentar von Mrs Appletree zu bekommen.

Als ich mich bei Heaven mit auf den Stuhl gequetscht hatte, meinte ich: „Er scheint ja nicht sonderlich freundlich zu sein. Er mich nicht mal beachtet.“ Genau als ich das ausgesprochen hatte, sah er zu uns hinüber.

„Mist, hat er uns gehört?“, fragte mich Heaven, die seinen kritischen Blick wohl auch bemerkt haben musste.

Ich schüttelte aber den Kopf. „Niemals, wir sitzen fünf Meter auseinander und in der Klasse ist es viel zu laut“, sagte ich und senkte trotzdem ich die Stimme.

„Das hoffe ich. Aber hast du dir den Namen mal angehört? Jerry Lee McGowan?“

„Klar habe ich das. Aber ich sollte lieber nichts sagen, denn meiner klingt genauso bescheuert. Woher kommt er eigentlich?“

„Keine Ahnung, aber ist ja nicht so wichtig… Sag mal bist du sicher, dass er uns nicht hört?“

„Wieso?“, fragte ich, war verwirrt und sah in die Richtig von Jerry Lee.

„Er hat schon wieder zu uns geschaut“, erklärte mir Heaven.

„Jeder in der Klasse redet über ihn, wieso sollte er ausgerechnet uns anschauen. Er sieht die anderen sicherlich auch an. Er will vielleicht nur sehen, wer alles in seiner neuen Klasse ist. Das würde ich auch machen.“ Das war für mich die einfachste Erklärung, also glaubte ich sie auch.

Sie sah sich kurz in der Klasse um und zuckte dann mit der Schulter. „Stimmt.“

Wir beobachteten Jerry Lee noch eine Weile schweigend. Dann klingelte es endlich. Ich wollte gerade aus der Tür gehen, als ich Mrs Appletree meinen Namen rufen hörte: „Molly Noel, warte einen Moment!“

Ich blieb stehen und rief den anderen hinterher: „Ich komm gleich nach!“ Sofort fragte ich mich, was sie wohl von mir wollte.

Ich lief zu ihr herüber und merkte, dass auch Jerry Lee dort stand. Ich bekam ein ungutes Gefühl.

Mrs Appletree sah Jerry Lee und mich freundlich an. „Also, da ihr jetzt eh schon neben einander sitzt, wollte ich dich fragen, ob du Jerry Lee vielleicht ein bisschen hilfst sich zurecht zu finden“, sagte sie.

Das war zwar etwas, auf das ich nicht unbedingt Lust hatte, aber aus reiner Höflichkeit hätte ich es natürlich getan, aber was er sagte, änderte meine Meinung etwas.

„Oh, das ist wirklich nicht nötig!“, sagte der Neue mit arrogantem Unterton in der Stimme und hob einen Zettel hoch, „Ich habe einen Plan vom Schulgelände.“ Er klang so, als ob er schon gar nichts mit mir zu tun haben wollte.

„Naja, diese Pläne sind sehr ungenau“, sagte Mrs Appletree. Wahrscheinlich versuchte sie ihn nur in die Klasse zu integrieren und suchte irgendeine simple Ausrede.

Ich beschloss dem Gespräch ein Ende zu setzten, weil ich sehen konnte, dass weder ich noch Jerry Lee sonderlich große Lust darauf hatten. Außerdem wollte ich in die nächste Stunde. „Schon okay“, meinte ich, „Ich mach das.“

„Ach?“, sagten beide gleichzeitig, auch wenn ich nicht wusste, was daran so sonderlich erstaunlich war. Jerry Lee sah mich schließlich mit zusammen gezogenen Augenbrauen an, was ich bemerkte, als ich zu ihm aufsah. Seine Augen glitzerten mysteriös.

Dann fügte Mrs Appeltree noch dazu: „Das ist wirklich eine vorbildliche Entscheidung!“

Ich sagte nichts sondern lächelte nur spielerisch.

„Okay, dann geht jetzt in die nächste Unterrichtsstunde. Ihr habt jetzt zusammen Mathematik. Am besten ihr setzt euch gleich nebeneinander, damit ihr euch schon mal ein bisschen besser kennenlernt.“

Bestimmt, dachte ich, als ob ich keinen eigenen Sitzpartner hätte.

Ich nickte und wir verließen neben einander den Raum. Doch kaum hatten wir hinter uns die Tür geschlossen, lief er einen Schritt schneller. Er hatte also nicht die Absicht freundlich zu sein. Und wenn er das nicht hatte, dann hatte ich das auch nicht. Zumindest tat ich so. Zu einem neuen Mitschüler wäre ich natürlich nett gewesen, aber wer schon so arrogant und andere Schüler oder Leute unfreundlich behandelt, wenn er am ersten Tag durch die Tür marschiert, hat dies nicht verdient.

Jerry Lee war natürlich vor mir in unser nächstes Klassenzimmer gekommen, aber er stand noch neben dem Lehrer und plauderte. Höchstwahrscheinlich wie er hieße und wo er her komme.

Ich setzte mich auf meinen gewohnten Platz neben Heaven. Das Klassenzimmer war anders gestaltet, als das vorherige. Hier gab es Dreierbänke und einen breiten Gang in der Mitte des Klassenzimmers, den die Lehrer meist auf und ab gingen, während sie irgendeinen Schulstoff herunterbeteten.

„Und? Was wollte Mrs Appletree von dir?“

„Sie hat gefragt ob ich diesem Jerry Lee nicht helfen könnte, oder so einen Schwachsinn“, berichtete ich und schüttelte den Kopf.

„Und du hast ganz offensichtlich ja gesagt“, sagt sie und nickte mit dem Kopf nach vorne. Dort stand Jerry Lee und unser Lehrer. Mr White zeigte mit dem Finger auf den Platz neben mir. Mist, ich hatte ganz vergessen, dass Finn heute ja nicht da war. Und das war schon wieder der einzig frei Platz im Klassenzimmer. So wie es aussah, kam ich einfach nicht von dem Typen los. Ich konnte nur hoffen, dass Finn bald wieder zurück in die Schule kommen würde, damit er wieder mein Banknachbar sein konnte. Aber da er sich den Fuß gebrochen hatte, könnte das wohl noch diverse Zeit dauern.

Dieses Mal lächelte Jerry Lee mich schräg an und hob beide Augenbrauen: „Wie ich sehe, kommen wir wohl erst mal nicht von einander los“, sagte er.

„Ja“, hauchte ich ihm entgegen. Meine Stimme war nicht auf meiner Seite. Es hätte aber auch daran liegen können, da mit wieder klar wurde, wie gut er aussah.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich deine Zeit in Anspruch nehme.“

Ich schüttelte den Kopf. „Dafür musst du dich nicht entschuldigen.“

„Ich dachte nur…“, den Rest musste er flüstern, weil Mr White mit dem Unterricht begann, „Weil du mir nicht helfen wolltest.“

„Ich war bereit dir zu helfen, aber so wie es den Anschein hatte, brauchtest du meine Hilfe überhaupt nicht“, sagte ich laut. Mr White sah mich ärgerlich an und ich verstummte für einen Augenblick.

Aber als er sich wieder der Tafel zu wandte sagte Jerry Lee: „Aber es wäre vielleicht ganz nett gewesen.“

„Gut, dann bin ich jetzt mal nett und frage dich, ob ich dir helfen soll, dich hier schneller und besser einzuleben“, antwortete ich leise.

„Danke, das ist wirklich nett von dir, aber ich denke ich komme auch ganz gut alleine zurecht“, sagte er zufrieden und grinste.

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. So ein…! Ich klappte wieder den Mund zu und sah zu Heaven, die unser Gespräch verfolgt hatte. Sie hob eine perfekt gezupfte Augenbraue und sah mich skeptisch an.  Ich wusste genau was sie dachte.

Ich versuchte den ganzen Unterricht zu folgen, aber ich musste immer wieder zu Jerry Lee schauen, der immer noch vor sich her grinste. Naja, schlecht sieht er schon mal nicht aus, aber seine Freundlichkeit lässt eindeutig zu wünschen übrig, dachte ich und sah wieder zur Tafel, bis ich meinen Blick nicht mehr von dem einen Punkt abwenden konnte und schließlich vom Klingeln aus meinen Tagträumen gerissen wurde.

Jetzt begann die Pause, die wir erst nach drei Stunden Unterricht hatten, dafür aber eine halbe Stunde lang. Dies lag an unseren Busfahrzeiten, die, wie schon erwähnt, das aller Letzte waren.

Als ich aus dem Klassenzimmer trat, merkte ich, dass Jerry Lee neben der Tür stand und mich anstarrte. Ohne ihn weiter zu beachten ging ich an ihm vorbei.

 „Hey, warte mal“, sagte er und stupste mir mit dem Ellenbogen gegen meinen Oberarm.

„Wieso? Damit ich mir weiter deine Sprüche anhören muss?“, fragte ich ihn, hielt unwillkürlich die Stelle mit meiner Hand fest, an der er mich gerade berührt hatte und ging in meinem Tempo weiter, wobei er locker mithalten konnte.

„Nein“, sagte er nur.

Jetzt blieb ich stehen: „Und weshalb dann?“

Was sollte das? Erst will er nicht, dass ich ihm helfe und plötzlich rennt er mir hinterher?

„Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du mir vielleicht den Stoff der letzten Stunden aus jedem Fach geben könntest.“ Er sah mich belustigt an.

Sofort wurde ich rot und bereute meine freche Antwort. „Oh. Nein, also ich meine, meine Schrift und meine Heftführung... Blockführung sind wirklich schrecklich. Frag doch Nils Jonas“, sagte ich ihm. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn meine Schrift war recht ordentlich und außerdem hatte ich für jedes Fach ein eigenes Register in meinem dicken Ordner.

 „Wer ist dieser Nils?“, fragte er, was mich nicht wunderte, da er sich für die Schüler in seiner neuen Klasse ganz offensichtlich nicht sonderlich interessierte.

 „Das ist der Kerl der in Geschichte hinter uns sitzt“, erklärte ich ihm und bemerkte, dass er mich aufmerksam beobachtete.

„Ich habe echt keine Ahnung wer er ist“, sagte er entschuldigend, auch wenn es mir ziemlich egal war.

Ich stöhnte: „Ich werde ihn dir in der nächsten Unterrichtsstunde zeigen, wenn wir wieder zusammen sind“, sagte ich und ging weiter. Nur leider ging Jerry Lee mir nach.

„Könntest du ihn mir denn nicht gleich zeigen?“, fragte er und lief plötzlich wieder neben mir.

„Tut mir leid, aber ich habe echt keine Ahnung wo er ist“, log ich, denn ich wusste genau wo er immer war. Nur wollte ich auf die Anwesenheit von Jerry Lee einfach verzichten.  Sein arrogantes Verhalten hatte ihn so abstoßend gemacht, dass es mich sogar wunderte, wie unfreundlich ich sein konnte.

„Wo ist er denn sonst immer?“, fragte er schließlich.

Ich zuckte mit den Schultern. „Du kannst nicht etwas warten, bis ich ihn sehe?“, fragte ich und wurde langsam wütend. Und dann kam die Rettung. Zwei Meter vor uns lagen die Türen zur Toilette.

„Es wäre mir aber lieber, wenn ich das gleich klären könnte“, gestand er, als wir gerade an der ersten Holztür vorbeigingen, auf der mit goldener Schrift Mädchen stand.

Ich räusperte mich. „Ja, tut mir leid, aber ich geh mir jetzt die Nase pudern.“

Jerry Lee wollte noch etwa sagen, aber da war ich auch schon verschwunden und ließ die Holztür hinter mir laut ins Schloss krachen. Ich lehnte mich für einen Moment gegen sie und atmete tief ein und aus, obwohl es hier nach Urin, Klostein, schlechter Seife und Deo stank. Dann nutzte ich die Gelegenheit, betrat eine der Kabinen und ging auf die Toilette. Anschließend drehte ich den Wasserhahn auf, doch anstatt mir die Hände abzutrocknen, stützte ich sie am Rand des Waschbeckens ab und blickte im Spiegel meinen eigenen Augen entgegen. Sie funkelten und blitzten mir entgegen, ich erschrak vor mir selbst und fragte mich, wie Jerry Lee es schaffte, mich so aus der Fassung zu bringen. Ich musste mich wirklich zusammenreisen.

 

 „Dieser Jerry Lee McGowan treibt mich noch in den Wahnsinn“, berichtete ich, als ich Heaven endlich gefunden hatte. Sie stand in der Nähe des duftenden Pausenverkaufs mit ein paar Schülern.

„Ach was“, meinte sie ironisch. „Ich hoffe wirklich, dass er irgendwann noch netter wird. Sonst wird er hier wohl keine Freunde finden. Dabei sieht er gar nicht schlecht aus!“ Sie stieß mir in die Seite.

„Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“, rief ich. „Im Gegenteil“, sagte ich und dachte an seine dunklen Augen, die mich andauernd angesehen hatten.

Sie grinste und ich ließ mich von ihr anstecken, bis wir schließlich lachend nach Luft schnappten.

 „Hey, was gibt’s denn bei euch so lustiges zu lachen?“, fragte jemand mit einer tiefen Stimme hinter uns.

Wir drehten uns erschrocken um und sahen… Calvin. Er grinste uns breit an und seine blauen Augen leuchteten gespannt, während er seine Hände in die löchrigen Hosentaschen schob.

 „Nichts“, sagte ich schließlich und tat so, als wäre nichts gewesen. Leider hatte ich immer noch ein Grinsen auf den Lippen, genau wie Heaven.

Calvin meinte: „Also, mir ist aufgefallen, dass ich deine Handynummer gar nicht habe.“

Heaven sah mich mit großen Augen an, ich sah Calvin mit großen Augen an und Calvin sah mich mit großen Augen an. Ich brachte kein Wort heraus.

Er sah mich stirnrunzelnd an. „Äh, ich wollte eigentlich nur fragen, ob du mir vielleicht deine Handynummer geben könntest?“

„Du willst meine Handynummer?“ Ich war immer noch etwas verwirrt und fragte mich, wozu er sie haben wollte, schließlich interessierte er sich noch nie sonderlich für mich.

Er nickte, wie ein Hund mit Wackelkopf, den man sich hinten in sein Auto stellen kann.

Ich sah ihn misstrauisch an. „Wieso?“

Calvin packte mich an den Oberarmen. „Sag bloß du hast vergessen, dass wir zusammen eine Autotour machen wollen?“ Er lachte.

„Oh“, brachte ich heraus. Er hatte das ernst gemeint. Ich wusste erst nicht was ich sagen sollte und überlegte verzweifelt nach irgendeiner Ausrede. Es war nicht so, dass Calvin nicht nett wäre, aber an unserer Schule gab es viele Mädchen, die schnell eifersüchtig wurden und anschließend Gerüchte in die Welt zu setzten. Und ich wollte nicht eines dieser Mädchen sein, über die getratscht und erzählt wurde, sie hätte etwas mit Calvin am Laufe. Schließlich wusste jeder, dass Calvin nicht der Typ fester Freund ist.

Also offenbarte ich ihm: „Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, was ich von dieser Idee halten soll.“

„Ist doch egal“, meinte er und grinste immer noch, „Das wird bestimmt lustig.“ Er versuchte doch gerade tatsächlich, mich zu überreden, etwas mit ihm zu unternehmen.

In meinem Kopf kam es zu einem totalen Durcheinander, ich fragte mich was ich jetzt machen sollte und wog die positiven Seiten gegenüber den negativen ab. Doch es kam nichts Brauchbares dabei raus, außer Kopfschmerzen, während Calvin mich immer noch hoffnungsvoll ansah und freundlich lächelte. Verdammt, dachte ich. „Warte mal kurz“, meinte ich und suchte vergeblich nach meinem Handy. Ich fand es aber nicht und erst nach kurzem Überlegen fiel mir wieder ein, wo es war. Bei Mr Leeve.

„Verdammt! … Hey, Calvin, tut mir leid, aber ich habe vergessen mein Handy nach dem Unterricht bei Mr Leeve abzuholen“, erklärte ich ihm.

„Das ist jetzt aber nicht nur irgendeine Ausrede, oder?“

„Nein, du kannst gerne meine Tasche durchsuchen“, meinte ich aufgebracht.

Er tat es natürlich nicht, sondern grinste frech. Stattdessen sagte er: „Okay, wir sehen uns.“

 

Die nächste Stunde verbrachten wir im 4. Stock, was bedeutete, dass wir erst die tausenden von Treppen hochlaufen mussten. Über die Weihnachtsferien hatte ich meine komplette Kondition verloren, die man sich bei dem Treppen hoch und runter Rennen in der Schule angeeignet hatte, weshalb ich vollkommen aus der Puste oben ankam. Deshalb war ich auch unendlich froh, als ich sah, dass der Physiksaal schon aufgesperrt war und ich mich auf meinen Platz fallen lassen konnte.

Unser Lehrer, Mr Herrison, saß schon an seinem Pult und las Zeitung. Wie an allen anderen Tagen im Jahr auch, trug er ein kariertes Hemd, seine rote, runde Brille mit dicken Gläsern und seine dunkelgrauen Locken klebten an seinem Kopf. Circa zehn Minuten nach dem Gong ließ er die Zeitung zerknittert auf den Tisch sinken und stand auf. Da ich, unter Zwang meiner Lehrkraft, in der ersten Reihe saß, konnte ich sehen, dass er die Todesanzeigen gelesen hatte.

Als er anfing zu spreche zitterte seine Stimme. Ich schnappte mir meine Brille, die ich wirklich nur im äußersten Notfall aufsetzte und jetzt konnte ich etwas ganz Neues sehen. Ich konnte erkennen, dass seine Augen leicht gerötet waren. Wahrscheinlich war er von den Worten der angehörigen Familien gerührt, die sie den Toten mit ins Grab gaben.

Irgendwie war Mr Herrison völlig aus dem Konzept. Er erzählte uns Sachen von der Normalkraft, der Schwerkraft und irgendwann begann er von der Reibungskraft zu faseln. Zur Information: Dass war der Stoff der 8. Jahrgangsstufe. Was war denn bloß mit ihm los?

In der fünften Stunde teilte uns Mrs Smith, unsere Deutschlehrerin, jedem ein Blatt aus, auf dem ein Gedicht „Neue Liebe, neues Leben“ von Johann Wolfgang von Goethe abgeduckt war. Mrs Smith ist eine große und kräftige Frau, die einen kurzen, braunhaarigen Bob und ihre Brille auf der Nasenspitze trägt. In ihren Omaklamotten stellte sie sich mit erhobenem Brustkorb vor die Klasse und begann mit ihrem lauten Organ zu sprechen:

 

„Herz, mein Herz, was soll das geben?
Was bedränget dich so sehr?
Welch ein fremdes, neues Leben!
Ich erkenne dich nicht mehr.
Weg ist alles, was du liebtest,
Weg, warum du dich betrübtest,
Weg dein Fleiß und deine Ruh –
Ach, wie kamst du nur dazu!

Fesselt dich die Jugendblüte,
Diese liebliche Gestalt,
Dieser Blick voll Treu und Güte
Mit unendlicher Gewalt?
Will ich rasch mich ihr entziehen,
Mich ermannen, ihr entfliehen,
Führet mich im Augenblick,
Ach, mein Weg zu ihr zurück.

Und an diesem Zauberfädchen,
Das sich nicht zerreißen lässt,
Hält das liebe lose Mädchen
Mich so wider Willen fest;
Muss in ihrem Zauberkreise
Leben nun auf ihre Weise.
Die Veränderung, ach, wie groß!
Liebe! Liebe! Lass mich los!“

 

Während sie sprach rollte sie die Wörter immer stärker und  wurde immer lauter, obwohl sich die Schüler in der ersten Reihe jetzt schon heimlich die Ohren zuhielten.

Als sie fertig war fragte einer der Jungs laut: „Das müssen wir jetzt aber nicht auswendig lernen, oder?“

Unsere Deutschlehrerin lachte nur, antwortete aber nicht auf die Frage. Wahrscheinlich weil sie beleidigt war, dass kein einziger Schüler über ihren Vortrag begeistert war oder klatschte und jubelte hatte.

Am Schluss stellte sich heraus, dass wir das Gedicht natürlich auswendig lernen mussten. Niemand war sonderlich darüber begeistern einen Text auswendig zu lernen, aber was sollten wir schon machen? Das schlimmste an allem ist jedoch nicht das Vortragen, wovor die meisten ziemlich Angst hatten, sondern das Lernen. Ich bekomme nämlich nur mit Mühe den Text in meinen Schädel. Aber wenn ich ihn dann kann, habe ich kein Problem vor der Klasse zu stehen und das Gedicht vorzutragen.

Jedenfalls hatten wir in der nächsten Stunde Musik bei Mr Parker. Auch diese Stunde verging wie im Flug. Wir sangen ein Lied, was eigentlich nicht stimmte, denn singen tat nur unser Lehrer und wir lachten über die stark verpeilten Töne.

„Wusste gar nicht, dass es Musiklehrer gibt, die so schlecht singen können“, flüsterte Taylor eine Reihe hinter mir.

Ich drehte mich zu ihm um: „Also bitte! Das hat echt nichts mit „Können“ zu tun.“

Er und seine Freunde lachten.

Plötzlich stoppte die Musik und ich sah nach vorne. Mist, unser Lehrer hatte uns bemerkt.

„Könnt ihr bitte leise sein? Wir anderen wollen Musik machen.“ Unser Lehrer sah uns bittend an und blickte dabei über den Rand seiner Brille mit Metallfassung.

Mr Parker war ein großer, magerer Mann, dessen Klamotten immer viel zu groß waren und davon abgesehen, hatte er noch eine Halbglatze. Er hatte große, strahlendblaue Augen, die ihn im Zusammenspiel mit seinen eingefallenen Wangen und den vielen Falten, putzig und süß wirken ließen.

„Natürlich, Entschuldigung“, sagte ich und blickte nach unten auf mein Notenblatt, auf dem ich schon so herum gemalt hatte, dass man den Liedtext nur schwer lesen konnte.

„Schon okay. Machen wir weiter“, meinte er und drehte die Musik wieder auf volle Lautstärke.

Nach dem Unterricht bei Mr Paker, hatten wir dann endlich Mittagspause. Taylor, Nils und Kevin waren schon vorgegangen. Also, sie sind eigentlich losgerannt, um einen Tisch zu besetzen, denn wenn man sich nicht beeilte, bekam man keinen Platz mehr.

Als Heaven, Phil O’Sallivan – welcher ebenfalls in einige unserer Fächer ging – und ich in die Cafeteria traten, kam uns ein wahnsinnig guter Geruch entgegen. Aber das war alles nur Schein, denn das Essen schmeckt einfach nur abartig. Es schmeckt wahrscheinlich noch schlimmer als Pappe, aber so genau kann ich das nicht sagen, da ich dies noch nie probiert hatte, doch der Geruch von Pappe ist nicht gerade der schönste.

Von einer Seite hörte ich Heavens, Phils und meinen Namen. Ich sah in die Richtung und entdeckte rechts neben der langen Fensterreihe Kevin mit den Armen wild in der Luft herum fuchteln.

Meine Güte, dachte ich und hob kurz und unauffällig meine Hand. Ich wollte weitergehen, doch jemand baute sich vor mir auf. Es war unser Biologielehrer, der mir in der ersten Stunde mein Handy abgenommen hatte.

„Oh, hallo Mr Leeve“, sagte ich und lächelte, als ich mein Handy in seiner Hand sah. Aber irgendwie war ich auch ein bisschen sauer. Und mein Handy tat mir leid, weil es dort in der Hand dieses Lehrers steckte.

„Hallo“, begrüßte er mich unfreundlich. „Also, ich habe mir gedacht, dass ich Ihnen jetzt schon ihr Handy geben werde.“

 „Und wie kamen Sie zu dieser wunderbaren Entscheidung?“, fragte ich ironisch.

„Versuchen Sie bloß nicht witzig zu sein. Calvin Despain ist zu mir gekommen und hat mich dazu gebracht, es ihnen wieder zu geben.“ Er lachte.

„Was? Calvin ist gekommen?“

„Ja!“

„Wieso?“, fragte ich entsetzt.

„Woher soll ich das denn wissen? Sehe ich aus wie Gott?“ Aufgebracht verschränkte er die Arme vor der Brust.

Ich unterdrückter mir ein Nein und lächelte nur freundlich.

 „Hier. Bitte. Und passen Sie das nächste Mal besser auf… Oder lassen Sie es einfach ganz aus.“

„Okay“, meinte ich, damit Mr Leeve zufrieden war. Dann ging mein Lehrer einfach, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Ich schob das Handy in meine Hosentasche, wo es gerade so hineinpasste, und schlenderte zur überfüllten Essenstheke. Ich schnappte mir einen Teller und ließ ihn mit dem Zeug, was man hier als Essen bezeichnete, beladen. Den Teller stellte ich mit einem Jogurt auf das Tablett, das ich mir aus einem Halter geschnappt hatte. Ich drehte mich um und schon wieder stand jemand vor mir. Heute wurde ich aber auch wirklich nicht in Ruhe gelassen, dachte ich. Jetzt war es aber kein Lehrer, sondern ein Schüler. Es war Calvin.

„Na?“ Er lächelte freundlich.

„Was willst du?“, fragte ich.

„Hey, du bist mir was schuldig.“ Calvin sah mich fordernd an.

Ich wusste genau was er meinte. Die Sache mit dem Handy. Er hatte dafür gesorgt, dass ich mein Handy wieder hatte, mit dem Hintergedanken mir schreiben zu können, und dann sollte ich auch noch etwas für ihn machen.

„Vergiss es.“ Ich wollte mich aus dem Staub machen, doch er versperrte mir mit seiner breiten Brust den Weg.

„Na, du hast dein Handy wieder. Wegen mir.“ Er zwinkerte mir zu.

„Das hätte ich auch so wiederbekommen“, konterte ich, musste aber jetzt daran denken, dass es wirklich wahnsinnig nett von ihm gewesen war, dass er mir mein Handy zurückgebracht hatte.

„Also, was machst du für mich?“

„Ähm, nichts?“ Ich war nicht drauf aus etwas für den Typen zu machen, über den Unmengen an Gerüchten im Umlauf waren. Und ich war mir sicher, dass ich darin mittlerweile auch eine Rolle spielte.

„Also, nichts ist mir ein bisschen zu wenig“, meinte er grinsend.

„Okay, ich gebe dir meine Nummer?“, schlug ich vor, denn so wie es aussah, würde er nicht lockerlassen, bis er einen guten Vorschlag erhalten hatte.

Calvin verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust. „Tz, das kannst du vergessen!“

„Wieso?“, fragte ich verdattert, weil er plötzlich verstand, dass ich mich so durchschmuggeln wollte.

„Das ist viel zu wenig. Ich weiß wie sehr dir dein Handy am Herzen liegt.“

Innerlich schnaubte ich auf. Als würde ich ohne mein Handy sterben. Er übertrieb maßlos!

„Wie wäre es, wenn ich dir meine Nummer gebe und du darfst dir noch etwas aussuchen“, schlug ich vor, dachte aber nicht daran, was er sich alles in seiner abgefahrenen Fantasy ausdenken konnte.

„Okay.“

Ich stellte mein Tablett ab, kramte mein Handy heraus – mit einem suchenden Blick nach Lehrergefahr - und suchte schnell meine Nummer. Nach dem ich die Nummer laut vorgelesen hatte, wollte ich gehen, doch Calvin hielt mich davon auf.

„Hey, hast du Lust, dich zu uns zu setzen?“

„Ähm, ich denke eher nicht.“ Mit einem entschuldigenden Nicken zeigte ich in Richtung meiner Freunde. „Ich werde wohl schon erwartet.“

Ich sah zu unserem Tisch und es war noch genau ein Platz frei. Ich checkte kurz die anderen Leute die mit an dem Tisch saßen und konnte feststellen, dass dort keine unangenehme Person war. Meine braunen Augen zuckten einen Tisch weiter. Und wer saß da? Jerry Lee McGowan. Und er beobachtete uns. Und als er merkte, dass ich ihn ansah, hob er beide Augenbrauen und sah mich herausfordernd an, als würde er genau wissen, wie unangenehm mir diese Situation war. Ich funkelte ihn an und um sich sein schelmisches Lächeln zu verkneifen, biss er herzhaft in ein belegtes Sandwitsch, das er zuvor von seinem beladenen Teller genommen hatte.

Jetzt, wo ich ihn wieder sah, merkte ich, dass ich ihn schon die letzten drei Stunden nicht mehr gesehen hatte.

Und ich bekam schon wieder dieses komische Gefühl, das sich aus Übelkeit und einem leichten Stechen im Bauch bemerkbar machte.

Ich drehte mich um und Calvin stand wie erwartet immer noch neben mir.

„Okay, ich komme mit.“ Und das sagte wirklich nur, weil ich nicht neben Jerry Lee sitzen wollte. Und vielleicht würde, dann auch dieses Gefühl aufhören.

„Wirklich?“, fragte Calvin verdutzt und sah mich verblüfft an. Wahrscheinlich war ich auch selbst etwas verblüfft über meine Antwort.

„Ja, aber wenn du nicht gleich zum Platz gehst, dann überlege ich mir es noch mal anders.“

Er zeigte auf die entgegengesetzte Richtung von dem Tisch meiner Freunde: „Ist der Platz da drüben okay?“

Ich folgte seinem Finger mit den Augen und sah, dass er auf einen Tisch mit zwei Stühlen zeigte. Von wegen zu uns setzten.

„Ja“, sagte ich und folgte Calvin durch den lauten Raum. Ich konnte die interessierte Blicke meiner Freunde zwar im Rücken spüren – sie brannten quasi Löcher in mich hindurch –, aber ich war bemüht, mich nicht umzudrehen. Oder mich umzudrehen und durch den ganzen Raum zu brüllen, sie sollen nicht so gaffen.

Wir setzten uns gegenüber und stellten unsere Tabletts auf den Tisch ab.

„Okay, also, ich finde, da du mir deine Nummer gegeben hast, ist es nur loyal, wenn du auch meine bekommst.“

„Wenn das sein muss. Ich werde dich zwar eh nicht anrufen, aber okay.“ Ich versuchte meine Stimme ironisch wirken zu lassen, damit er nicht durchschaute, wie ernst ich es eigentlich wirklich meinte.

Er lachte: „Man kann nie wissen.“ Er zwinkerte mir zu.

„Also, in dieser Hinsicht kann ich mir wirklich sicher sein. Das kannst du mir glauben.“

Anstatt auf meinen Kommentar zu antworten, griff sich Calvin in die Hosentasche und zog einen Zettel hervor. Er streckte seinen Arm über den Tisch und reichte mir den Papierfetzen.

„Was ist das?“, fragte ich und nahm ihn zögernd aus seiner Hand.

„Na, meine Handynummer“, erklärte er lachend.

Calvin hatte tatsächlich einen Zettel mit seiner Nummer vorbereitet. Naja, vielleicht war dieser ja nicht der einzige, den er in seiner Hosentasche mit sich herumschleppte. Vielleicht hatte er dort ja zehn Stück stecken, um jedes Mädchen, das ihm gefiel, seine Nummer zustecken zu können.

„Oh, ach so“, sagte ich verlegen, weil ich mir natürlich nicht denken konnte, dass es seine Handynummer war. Ich sah kurz auf den Zettel. Darauf stand: Handynummer von Calvin. Darunter waren ein paar Zahlen und dann kam noch ein Satz, den ich aber nicht mehr lesen konnte, da mich Calvin dazu brachte aufzuschauen.

„Sag mal, kennst du den Typen da drüben?“ Er sah nicht mich an.

„Welchen Typen?“

„Na, der da drüben!“, er nickte mit seinem Kopf in die andere Richtung des Raumes. Dort saß Jerry Lee.

„Wieso?“, fragte ich unauffällig und unschuldig, weil ich wissen wollte, wie er darauf kam, dass ich ihn kennen würde.

„Also, ist dir nicht aufgefallen, dass er die ganze Zeit in unsere Richtung glotzt?“

„Ähm, nein?“ Diese Antwort war auf beide Fragen bezogen, doch Calvin musste noch mal nachfragen.

„Kennst du ihn nicht, oder ist es dir nicht aufgefallen?“

„Beides!“ Naja, in gewisser Weise, war das ja auch die Wahrheit. Mir ist zwar aufgefallen, dass er mich angesehen hatte, als wir in die Mensa gekommen sind. Aber das hätte auch daran liegen können, dass er einfach nur sehen wollte, wer zum Essen kam, wenn man ignorierte, wie er mich angesehen hatte… oder so. Zudem ich kannte ihn ja auch nicht. Zumindest noch nicht lange und erstrecht nicht gut. Und so wie ich das jetzt beurteilen konnte, war ich darüber auch ganz froh.

„Dann gibt es also keinen Grund wieso er dich anstarrt wie ein Museumsobjekt?“

„Nein, nicht das ich wüsste. Aber wieso findest du das so schlimm. Das müsste doch eigentlich mein Problem sein, oder nicht?“

„Ja, aber ich dachte, ich mache dich darauf aufmerksam“, sagte er zögernd und sah vor sich auf seine Hände.

„Tja, immer wenn du denkst, dann denkst du falsch“, sagte ich und wieso auch immer, mir war plötzlich total schlecht. Vielleicht bekam ich auch sofort Gewissensbisse, weil ich Calvin so angefahren hatte. Er konnte ja nichts dafür, dass wir Beobachter hatte.

Calvin war gerade dabei, sich einen gehäuften Löffel Kartoffelbrei in den weit aufgesperrten Mund zu schaufeln, als er kurz inne hielt. „Wieso isst du nichts?“

„Mir ist der Appetit vergangen. Und das nicht nur, weil du isst wie…“, ich  biss mir schnell auf die Lippen, um die nächste Beleidigung zu unterdrücken. 

„Vielleicht solltest was trinken?“, fragte er mich.

„Nein, ich glaube ich gehe kurz auf die Toilette.“

„Okay“, meinte er und sah mich mit einem besorgten Gesichtsausdruck an.

„Und ich denke, ich werde auch nicht wieder kommen. Vielleicht liegt es ja an der schlechten Luft hier innen. Wahrscheinlich werde ich auch nach außen gehen“, sagte ich vorsichtig und das war wirklich keine Ausrede, um von Calvin wegzukommen.

„Soll ich mitkommen?“ Er wollte mitfühlend seine große Hand auf meine legen, doch ich erkannte was er vor hatte und zog sie schnell weg.

„Nein, so schlimm ist es nicht. Außerdem darfst du eh nicht auf die Mädchentoilette“, scherzte ich, um ihn zu beruhigen.

„Okay“, sagte er.

Ich stand langsam auf und wollte gerade davon laufen, als er mich nochmal kurz aufhielt.

„Ähm, also, ich wollte nur fragen, ob du deine Portion noch isst?“

„Sicherlich nicht!“, sagte ich angewidert.

„Gut“, meinte er strahlend.

Ich sah ihn fragend an.

„Ach, ich denke, dann hast du nichts dagegen, wenn ich sie esse, oder?“

„Nein, ganz bestimmt nicht.“

„Danke! Das schmeckt nämlich echt genial!“

Ich ging mit gerunzelter Stirn aus der Mensa und dachte mir, wie schlecht seine Mum wohl kochen würde.

Ich verließ das große Schulgebäude und setzte mich auf eine feuchte Holzbank, die in der Nähe der Parkplätze auf einer verlassenen Wiese stand. Eigentlich war es viel zu kalt, um hier außen herum zu sitzen, aber ich merkte schnell, dass ich durch die Kälte wacher wurde und mein rebellierender Magen sich schnell beruhigte. Es tat gut und deshalb blieb ich auch noch länger außen als gedacht.

Als ich nach einer langen Zeit aufstand, um ins Gebäude zugehen, ging es mir wieder wie immer. Ich kam in die Aula, in der alle Vorträge und die Pausen stattfanden und sah dort auf die Uhr. Wir hatten noch zehn Minuten, dann würde der Nachmittagsunterricht beginnen. Da ich in der nächsten Stunde wieder mit Heaven im Kurs war, begann ich sie zu suchen. Ich fand sie kurz vor dem lauten Klingeln der Schulglocke, auf dem Mädchenklo.

Dann begann der Nachmittagsunterricht.

 

Nach der Schule verabschiedete ich mich schnell von meinen Freunden. Ich wollte einfach nur noch nach Hause, nicht nur, weil ich tierischen Hunger hatte, sondern auch, weil ich einfach weg von Calvin und Jerry Lee wollte.

Also fuhr ich, viel schneller als es die Straßenschilder erlaubten, zu mir nach Hause. Doch schon auf halber Strecke begann mein Magen wie wild zu protestieren. Ich sah mich um und suchte nach einem Fastfood-Laden. Dann entdeckte ich ein rot, gelb leuchtendes Schild. McDonald‘s. Perfekt.

Ich bog ab und fuhr in den Drive In, weil ich keine Lust hatte aus dem Auto zu steigen, da es gerade schön warm geworden war und außen ein kalter Wind wehte. Am krachenden und knackenden Sprechautomat ertönte eine helle Stimme.

„Ihre Bestellung bitte!“

„Einen Cheeseburger, eine Pommes und eine Cola!“, schrie ich zurück.

„Sonst noch was?“

„Nein, das wäre alles!“

„Dann fahren sie jetzt zum Abholen weiter!“

Ich startete den Motor und gab Gas.

An der Ausgabe stand schon eine kleine Frau mit schwarzen Haaren und dunkel geschminkten Augen. Sie reichte mir mit einem affektierten Lächeln die Tüte und verschwand dann wieder nach hinten in das nach Fett stinkende Gebäude.

Ich fuhr noch eine Runde und bog dann bei der Abzweigung zu den Parkplätzen ab. Dort stellte ich mich auf einen und begann in Seelenruhe meine Bestellung zu vertilgen.

Gerade, als ich an dem Strohhalm der Cola trinken wollte, ertönte Musik und ich erschrak mich so sehr, dass ich mich an meinem Trinken verschluckte und heftig husten musste. Ich kannte die Melodie nur zu gut. Aus meiner Hosentasche fischte ich mein Handy heraus.

„Hallo?“, fragte ich, weil ich in der ganze Hektik natürlich nicht auf das Display blickte, um zu erkennen, wer mich anrief.
„Wo bist du?“, fragte meine Mum fürsorglich und etwas aufgebracht und mir rutschte das Herz in die Hose, da ich schon fast befürchtet hatte, es wäre Calvin.

„Keine Sorge. Ich war nur kurz… in der Stadt. Hab ein paar Besorgungen gemacht. Ich bin aber so gut wie zu Hause“, besänftigte ich sie. Ich sagte Stadt, weil meine Mum es nicht mochte, wenn ich Essen bei McDonald‘s, oder überhaupt Fastfood-Läden,  holte.

„Okay, pass auf, dass du keinen Unfall baust. Dann bis gleich“, meinte sie und legte auf, ohne auf meine Antwort zu warten, die aus einem Augenverdrehen bestand. 

 

Zehn Minuten später kramte ich in meiner braunen Wildledertasche nach dem Haustürschlüssel, während ich versuchte aus dem Auto zukommen, ohne dabei auszurutschen. Als ich den klimpernden Schlüssel herauszog, öffnete sich die Haustür und meine Mum streckte den Kopf heraus. Als sie mich sah, lief sie auf die Veranda vor unserer Haustür und winkte.

Viele sagen, meine Mum sieht genau aus wie ich. Nur mit kürzeren Haaren und vielen Lachfalten. Und meiner Meinung nach tausendmal hübscher. Sie trug eine gemütliche Jogginghose, einen flauschigen Morgenmantel und warme Hausschuhe mit dicken Wollsocken. 

„Da bist du ja. Komm lieber schnell rein bevor du dir einen Schnupfen holst. Es ist eiskalt hier draußen. Wie war der erste Schultag nach den Ferien?“

„Och… eigentlich wie immer. Allerdings haben wir unerwartet einen neuen Schüler in die Klasse bekommen“, erzählte ich.

Meine Mum schmunzelte. „Wie heißt er denn?“

„Jerry Lee McGowan“, meinte ich und sah sie stirnrunzelnd an.

Sie hob die Augenbrauen. „Sieht er gut aus?“

Ich verdrehte die Augen. „Mum!“

„Hm“, machte sie. „Ich versteh schon.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, tust du nicht. Er ist… ich weiß auch nicht Er will nicht mal etwas mit seinen Klassenkameraden zu tun haben.“

„Und das findest du bejammernswert?“, fragte sie, als wollte sie etwas andeuten.

Ich zischte sie an. „Nein, nur das Problem ist, dass ich neben ihm sitze und mich um ihn kümmern soll.“

„Oh“, sagte sie. „Das ist doch schön. Freunde dich doch mit ihm an.“

„Nein“, sagte ich bestimmt. „Ich habe ihm meine Hilfe angeboten und er hat sie abgelehnt. Ich glaube kaum, dass er etwas mit mir zu tun haben möchte.“

Meine Mum nickte und fragte schließlich: „Gibt es sonst irgendetwas neues?“

Ich schüttelte nachdenklich den Kopf und ließ die Geschichte mit Calvin bewusst aus, da sonst wieder ihr „Ein Freund für meine Tochter“-Tick zum Vorschein gekommen wäre. „Nein.“ 

„Möchtest du etwas essen?“, fragte sie mich schließlich und ich konnte genau erkennen, dass sie immer noch an den Neuen dachte.

„Ich habe eigentlich was in der Stadt gegessen.“ Ich schulterte meine Tasche.

„Alles klar!“ Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ich muss sowieso noch das Bad putzen.“ Sie stöhnte.

„Soll ich dir helfen?“, fragte ich sie.

Sie schüttelte schnell den Kopf. „Ach Quatsch! Ich denke, du hast besseres zu tun, als mir im Haushalt zu helfen. Zum Beispiel für die Schule lernen!“ Sie zwinkerte mir zu.

Das war eine der besten Eigenschaften meiner Mum. Sie ließ mir Freiraum und bedachte dabei, dass ich irgendwie immer noch ein Kind war.

„Okay… ich gehe jetzt nach oben!“, rief ich ihr schnell zu, als ich schon mit einem Fuß auf der Treppe stand.

Als ich in meinem rosa, weiß gestrichenen Zimmer war schleuderte ich meine Tasche unter den Schreibtisch, schmiss mich gleich auf mein Bett und schloss die Augen. Mein Zimmer war schon seit Jahren im gleichen Farbton gestrichen. Meine Mum meinte oft, ich könne doch mein Zimmer neu streichen, doch ich lehnte jedes Mal ab. Die Farbe erinnert mich an alte Zeiten, in denen alles noch einfach und unkompliziert war. Selbst meine Möbel, die ich seit meinem zwölften Lebensjahr hatte, wollte ich behalten. In dem Tisch waren Einkerbungen, die ich mit einer Schere eingeritzt hatte, als ich keine Lust hatte meine Hausaufgaben zu machen. Und auf dem Holz waren Spuren von Stiften, weil ich den Fußboden im Alter von zwei Jahren nie von einem Blatt Papier unterscheiden konnte.

Im nächsten Moment riss ich meine Augen wieder auf, denn mir fiel der Papierschnipsel mit der Handynummer von Calvin wieder ein, der in meiner Hosentasche steckte. Mit der rechten Hand zog ich ihn heraus und öffnete ihn. Wie erwartet stand seine Nummer immer noch da und der Satz darunter auch:

Ich hoffe du benutzt sie auch!

Ich schüttelte schmunzelnd den Kopf und legte mich wieder hin. Und dieses Mal schloss ich die Augen und öffnete sie erst, als ich mitten in der Nacht um halb drei aufschreckte und dann bis zum Morgen wieder einschlief.

Dienstag

Als ich aufstand war es sechs Uhr – eine halbe Stunde vor dem Klingeln des Weckers. Doch da ich eine halbe Ewigkeit geschlafen hatte, war ich hellwach, also beschloss ich unter die Dusche zu springen.

Das kleine Badezimmer, das direkt neben meinem Zimmer lag, im oberen Stockwerk gehörte mir alleine und war mit meinem Zimmer das Einzige was ich im Haushalt putzen und ordentlich halten musste.

Nach etwa zwanzig Minuten unter dem warmen Strahl, drehte ich nochmal auf eiskalt, stieg dann aus der Dusche und wickelte mich in ein Handtuch ein. Meine tropfenden Haare legte ich in einem kleineren Handtuch auf meinem Kopf zu einem Knoten und trocknete mich dann ab. Ich zog mir zueinanderpassende Unterwäsche und ein schwarzes Top an und machte dann meine Haare wieder auf, um sie zu kämmen. Mit einem neonpinken Haarband fabrizierte ich sie aus meinem Gesicht und trug dann helles Make-up und pechschwarze Wimperntusche auf. Aus einer Schublade der kleinen Holzkommode, die gerade so in mein Badezimmer unter das weiße Waschbecken passte, nahm ich den pinken Föhn heraus und schaltete ihn an. Nach dem meine Haare trocken waren sahen sie aus wie ein Hühnernest oder ein Schlachtfeld. Ich stellte den Föhn zurück und zog gleichzeitig aus einer Schulblade daneben ein schwarzes Glätteisen hervor.

Nach einer Viertelstunde waren meine haselnussbraunen Haare aalglatt und glänzend.

Meine Mum saß schon am Tisch und blätterte in der Zeitung. Als ich hineinkam sah sie kurz auf und lächelte. „Einen wunderschönen, guten Morgen!“, rief sie viel zu erheitert.

„Das wird sich noch herausstellen“, gab ich als Antwort.

„Ach, Schätzchen“, sagte sie. „Sei nicht immer so melancholisch. Du weißt doch, man erntet was man sät.“

Mein Kopf verschwand im überfüllten Kühlschrank und ich konnte die Augen verdrehen.

Meine Mum räusperte sich. „Glaub bloß nicht, wenn ich dein Gesicht nicht sehe, weiß ich nicht wie der Ausdruck darin ist.“ Sie wandte sich wieder den Artikeln in der Zeitung zu.

Ich holte die Milch heraus und schüttete sie in eine gepunktete Schale mit Müsli. „Und was soll ich deiner Meinung nach machen?“

Sie drehte sich zu mir um und strahlte mich an. Ihre Augen funkelten und glänzten. „Lächle!“, rief sie. „Zeig der Welt, dass du glücklich bist! Du hast die beste Freundin die es gibt und- “

„ –Und die beste Mutter. Schon klar.“ Ich verdrehte gespielt die Augen, setzte mich ihr gegenüber und schob mir einen Löffel in den Mund.

Sie grinste mich an. „Das wollte ich hören.“

Ich starrte auf mein Essen.

„Nur weil Jerry Lee unzufrieden mit sich selbst ist, heißt es noch lange nicht, dass du das Gleiche fühlen musst.“

Ich sah sie an und wusste nicht, ob ich aufgebracht sein – weil sie schon wieder über irgendwelche Typen faselte – oder lachen sollte. „Wie kommst du darauf, dass er unzufrieden mit sich selbst ist?“

Sie sah mich wissend an. „Ach, ich hab Psychologie studiert. Ich weiß was Sache ist.“

„Du hast das Studium nach zwei Monaten abgebrochen“, konterte ich.

Sie nickte. „Trotzdem. Lass dich von seiner miesen Laune nicht herunterziehen. Du musst die Vernünftige von euch sein. Einer muss immer der Erwachsene sein.“ Sie zwinkert mir zu.

Ich sah sie skeptisch an. „Mum, ich habe nichts mit ihm zu tun!“

Sie lachte. „Noch nicht, Schätzchen. Noch nicht.“

Schnell kippte ich den Rest meines Essens in meine Mund und schluckte alles hinunter.

„Okay, ich geh jetzt lieber.“ Ich stand auf, stellte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und ging in den Flur. Dort schlüpfte ich in meine braunen Boots und warf mir wieder die knallrote Winterjacke über.

Meine Mum kam mir hinterher, als ich die Türklinke herunterdrückte.

„Denk dran“, rief sie. „Immer lächeln.“ Sie strahlte mich mit ihrer positiven Energie an, die bei meiner Vererbung dem Anschein nach etwas Besseres zu tun hatte, als auf mich über zu gehen.

Doch für sie rang ich mir ein Lächeln ab.

„Na bitte!“, rief sie und ich schlug die Tür von außen zu.

In meinem Auto drehte ich die Musik auf, um etwas positive Energie zu empfangen – meine Mum wäre stolz auf mich gewesen. Doch bevor ich von der Autobahn abfuhr machte ich die Musik aus, denn ab da war es nicht mehr weit bis zum Gelände der Schule.

Ich musste auf einem der hintersten Parkplätze halten, da die anderen alle schon besetzt waren. Aber das habe ich eben davon, wenn ich zu spät aus dem Haus gehe.

Mit einem Klicken schloss ich die Türen meines Autos und machte mich dann auf den Weg zum Schulgebäude.

Vor der Eingangstür erspähte ich Jerry Lee. Als er mich entdeckte stand er auf und lächelte sogar.

Immer lächeln, dachte ich. Immer lächeln. Sofort sah ich das Gesicht meiner Mutter vor mir, die mir ihre beiden Daumen zeigte.

Erst wollte ich an ihm vorbei laufen, doch dann verzog sich mein Mund schließlich zu einem misslungen Lächeln.

 „Hey“, sagte er und seine Augen funkelten.

Ich sah ihn nur an und nickte mit dem Kopf. Dabei versuchte ich zu ignorieren, wie toll er in der schwarzen Winterjacke, der schwarzen Hose und den schwarzen Schuhen aussah. Wie perfekt seine glänzenden Haare saßen und den unheimlichen Kontrast, den sie zu seiner Haut bildeten.

„Ich... also, ich wollte mich für gestern entschuldigen, da ich etwas unhöflich zu dir gewesen war.“ Er steckte seine Hände in die Taschen seiner Jacke.

Ich brachte nichts heraus, weil ich zu überwältigt war, dass er sich tatsächlich, bei mir entschuldigte. Ob er wohl auch eine Mutter hatte, die ihm pausenlos Vorschläge machte, wie er sich zu verhalten hatte?

„Okay, vielleicht auch etwas mehr“, fügte er hinzu. „Also, nimmst du meine Entschuldigung an?“

Ich überlegte kurz, was ich sagen sollte, entschied mich dann aber für die freundliche Tour – für meine Mum. „Okay. Ich nehme sie hundertprozentig an.“

„Gut. Wir haben jetzt übrigens zusammen Geschichte“, erzählte er mir.

„Ich weiß, dass ich Geschichte habe“, sagte ich.

„Hey!“, sagte er und boxte mir gegen die Schulter, was ziemlich weh tat. „Hatten wir nicht gerade beschlossen nett zu sein?“

„Anscheinend hast du deine Meinung ja wieder geändert. Man schlägt Leute normalerweise nicht und vor allem keine Mädchen, die sehr viel kleiner sind, als man selbst.“ Ich hob meine Augenbrauen und sah ihn an.

„Aber ich habe doch nur… Entschuldigung“, murmelte er und sah kurz zu Boden. Dann wieder in meine braunen Augen.

„Schon okay“, sagte ich, obwohl ich immer noch die Berührung spürte.

„Also, weißt du wo wir jetzt hin müssen?“, fragte er.

„Klar. In Raum E111.“ Fast hätte ich etwas unfreundlich hinzugefügt: „Der selbe Raum von gestern, falls du schon wieder vergessen hast, das wir gestern auch Geschichte hatten.“.
„Okay, wollen wir zusammen dorthin gehen?“ Seine schwarzen Augen starrten mich unverbindlich an und er wartete auf meine Antwort.

„Wenn’s sein muss“, meinte ich.

„Muss es nicht… Naja, wenn ich es mir so recht überlege, muss es das eigentlich schon“, sagte er und ich musste lachen. „War das jetzt freundlich genug?“

„Mal sehen“, sagte ich nur, musst mir aber mein Grinsen verkneifen.

„Ach komm, das war doch nett?“

„Sicher, das war wunderbar!“, meinte ich übertrieben gedehnt und mit einem ironischen Unterton in der Stimme.

Jerry Lee grinste nur und wir gingen nebeneinander – ich lächelnd, er immer noch grinsend – in unser Klassenzimmer.

In dem Raum war es schön warm, viele Schüler saßen schon auf ihren Plätzen oder quatschten in Gruppen, so dass das Zimmer mit einem angenehmen Plaudern erfüllt war.

Wir setzten uns nebeneinander, da der Platz neben mir immer noch frei war. Heaven starrte von ihrem Platz aus  zu uns herüber und war vollkommen abgelenkt von dem Gespräch zwischen ihr und Taylor. Ich lächelte ihr kurz zu, sah dann aber verlegen wieder weg. Ich wollte nicht wieder auf unangenehme Fragen meiner Freundinn antworten. Das Gespräch mit meiner Mum am gestrigen Abend hatte mir gereicht. Was ich gestern mit Calvin gemacht hatte oder wieso ich mich jetzt mit Jerry Lee unterhielt und dabei lachte. Aber um ehrlich zu sein, wusste ich die Antwort selbst nicht. Nicht die auf  Calvin und erstrecht nicht die auf Jerry Lees Frage.

„Alles okay bei dir?“, fragte Jerry Lee plötzlich und riss mich aus meiner Gedankenwelt.

„Was?“ Ich sah ihn verwirrt an.

„Du sahst gerade irgendwie gequält aus“, sagte er.

„Oh… Nein, nein. Mir geht es gut“, versicherte ich ihm, wobei mir im selben Moment klar wurde, dass er mich beobachtet haben musste. Bei diesem Gedanken färbten sich meine Wangen rot.

Zum Glück kam in dem Moment Mrs Appletree in den Raum, begrüßte uns fröhlich und begann mit dem Geschichtsunterricht.

„Woher kommst du?“, flüsterte ich Jerry Lee zu, um ihn abzulenken, da ich spüren konnte, dass er mich immer noch beobachtete.

„Hmm“, meinte er ernst, „Ich komme aus dem Wunderland.“

Ich sah ihm direkt in die schwarzen Augen und sagte: „Ach, komm! Erzähl keinen…“ Ich sah schnell weg, denn auf einmal kam dieses komische Gefühl wieder. Meine Kinnlade klappte ein bisschen nach unten, aber es sah nur so aus, als ob ich meine Lippen leichte geöffnet hatte. So, als würde ich durch den Mund atmen. Denn plötzlich wusste ich, wieso ich dieses Gefühl hatte.

„Was ist los?“, hörte ich ihn leise sagen.

Ich sah ihn wieder an. Direkt in seine schwarzen Augen.

„Sag mal, kennen wir uns?“ Ich sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

Er lachte mit einem verwirrten Gesichtsausdruck und sagte: „Weiß ich nicht. Ich gehe seit gestern in ein paar Kurse von dir, wir haben vor einem Tag mit einander geredet. Es war zwar nicht unbedingt ein anregendes Gespräch, aber wir haben geredet. Tja, ich habe dir gerade gestanden, dass ich aus dem Wunderland komme und falls es dich interessiert; ich bin der verschwundene Bruder der Alice.“

Ich ignorierte Seinen Kommentar und versuchte nicht zu grinsen. „Nein, nein! Davor. Haben wir uns schon mal irgendwo gesehen?“

Plötzlich zogen sich seine Augenbrauen ruckartig zusammen und seine Miene wurde ausdruckslos. „Ich… ich glaube nicht.“

„Komisch. Ich hätte schwören können, ich hätte dich schon einmal gesehen“, sagte ich und schweifte mit den Gedanken ab.

Er schüttelte den Kopf und meinte nur: „Das kann wohl kaum sein.“ Jerry Lee wurde nervös und er verschränkte krampfhaft seine Finger ineinander, während er die Handflächen eng aneinander presste. Wollte er ein Zittern unterdrücken?

Besorgt wollte ich eine Hand auf seinen Unterarm legen, ließ es dann aber doch bleiben und sagte mir, dass er das nicht gewollt hätte.

Dann räusperte er sich, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und versuchte sich zu entspannen. „Du beobachtest mich“, stellte er mit einem Grinsen im Gesicht fest.

 „Ach, ich kann einfach nicht glauben, dass ich dich nicht schon mal gesehen habe. Mir ist das zwar gerade erst aufgefallen, aber ich hatte schon die ganze Zeit so ein komisches Gefühl. Genau wie es sich manchmal anfühlt, die gleiche Situation schon einmal in seinen Träumen erlebt zu haben.“

Plötzlich fing Jerry Lee an zu grinsen und flüsterte: „Vielleicht hast du ja heute Nacht von mir geträumt.“ Dann zwinkerte er mir zu.

Ich sagte nichts, sondern starrte nach vorne an die Tafel.

Das war das Letzte, was er in dieser Stunde zu mir sagte.

E wusste etwas, was ich nicht wusste.

In der nächsten Stunde hatten wir Englisch und diesen Kurs hatten wir leider nicht zusammen, worüber ich wirklich sauer war. Ich hätte zu gerne gewusst, was er mir verschwieg. Vielleicht kannten wir uns ja tatsächlich. Aber wieso konnte ich mich nicht genau daran erinnern, sondern hatte nur so ein „komisches Gefühl“? 

Gerade als ich aus dem muffigen Klassenzimmer rausgehen wollte – Jerry Lee war in Windeseile aufgesprungen und mit einem kurzen Tschüss, auch schon aus dem Raum gewesen –, wurden mir zwei Finger in die Seiten gepiekt. Ich quiekte kurz auf.

„Na!“, sage meine beste Freundin Heaven und grinste mich vielwissend an.

„Meine Güte hast du mich erschreckt“, meinte ich immer noch alarmiert.

„Ja, du mich auch. Seit wann verstehst du dich mit Jerry Lee?“

Ich überlegte kurz was ich ihr sagen sollte.

„Er hat mich heute früh auf Knien um Gnade gebeten, weil er gestern so gemein zu mir war.“

„Im Ernst?“ Sie starrte mich mit großen Augen an.

„Nein, aber er hat sich entschuldigt. Und er ist überhaupt nicht so übel.“ Ich zuckte mit den Achseln, als wäre mir das völlig egal.

Heaven hob eine Augenbraue: „Ach?“ Dann wackelte sie mit ihnen und grinste.

„Wow, du denkst ich steh auf ihn?“ Ich sah sie entgeistert an. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr mit Heaven zu reden, denn es machte ihr wahnsinnig Spaß, sich andere als Liebespärchen vorzustellen. In dieser Hinsicht passte sie wunderbar mit meiner Mutter zusammen. 

Wir gingen schweigend zum nächsten Klassenzimmer.

Die Englischstunde bei Mrs Adams dauerte Ewigkeiten. Zumindest fühlte es sich so an. Ich sagte nichts zu Heaven und sie auch nicht zu mir, weil sie wusste, dass sie nicht hätte sagen sollen, ich würde auf Jerry Lee stehen, nur weil er vielleicht doch kein Idiot war. Sie sah mich öfters von der Seite an, doch ich ignorierte den Blick. Ich fühlte mich dazu gezwungen immer nach vorne zu starren. Doch dann war die Stunde endlich vorbei.

Ich wollte gerade meine Schulsachen in meine braune Wildledertasche stopfen, als mich Heaven vorsichtig am Arm antippte. 

„Hey, tut mir leid was ich zu dir gesagt habe. Ich glaube auch überhaupt nicht, dass du auf ihn stehst. Ich war nur etwas sauer, weil du mich nicht mal beachtet hast und die ganze Zeit bei ihm warst. Und dann hattest du noch nicht mal auf mich gewartet.“ Sie sah mich flehend an.

„Schon okay“, sagte ich. Heaven hakte sich bei mir ein und wir gingen nebeneinander zum nächsten Klassenzimmer.

Mr White war noch nicht da, deshalb hatte sich die ganze Klasse vor das Zimmer versammelt, da dieses noch zugesperrt war. Auch Jerry Lee war da. Er stand aber etwas abseits von den anderen. Ich wollte ihm zu lächeln, doch er beachtete mich nicht. So, als ob er mich nicht gesehen hätte, dabei wusste ich ganz genau, dass er mir einen Blick zu geworfen hatte, als wir gekommen waren.

Heaven flüsterte: „Du bleibst jetzt schöne hier.“

„Ich hatte auch nicht vor weg zu gehen“, behauptete ich.

„Gut. Ich meine, er könnte ja auch kommen.“

„Wieso sollte er?“, fragte ich verwirrt. „Wir sind keine Freunde“, meinte ich und kreuzte Zeigefinger und Mittelfinger.

„Aber er kennt doch nur dich?“, räumte sie ein.

Ich zuckte nur mit den Schultern und tat so, als wäre es mir egal.

Zehn Minuten nach dem Klingeln war Mr White immer noch nicht da. Und auch nach fünfzehn und zwanzig Minuten nicht. Ein paar Leute aus dem Kurs wollte schon in das kleine Sekretariat gehen, um nachzufragen wo er bliebe, aber wir hielten sie davon ab.

Zusammen mit Nils Jonas, Taylor Demigod, Phil O‘Sallivan, Kevin Steel, Lucy Tyre, Leon Cavanagh, Kathja Johnstone und noch einigen anderen setzten wir uns in eine Gruppe. Vier Mädchen und zwei Jungen standen noch abseits von uns, näherten sich aber etwas und setzten sich schließlich ganz zu uns. Jetzt saßen alle auf einem Haufen… alle außer Jerry Lee.

Ich sah ihn an und er erwiderte meinen Blick. Ich lächelte ihn an und auch er lächelte kurz zurück. Ich machte ein Kopfbewegen, die heißen sollte, dass er sich doch mit zu uns gesellen könnte, doch er hob abwehrend die Hand. Ich zuckte mit den Schultern, obwohl ich ein bisschen traurig darüber war. Er hätte ruhig zeigen können, dass er kein arroganter Mistkerl war.

„Tz, der hat ja überhaupt kein Interesse an der Klasse“, sagte Taylor leise und wühlte durch seine braunen Haare.

Ich sah wieder zu ihm hinüber und konnte sehen, dass sich seine Augenbrauen zusammen gezogen hatten. Er sah zu uns und sofort drehten sich die Köpfe, die ihn beobachtet hatte, in eine andere Richtung. Nein, eigentlich sah er nur Taylor an. Auch er sah zurück. Ich beobachtete sie kurz. Und dann senkte tatsächlich Taylor seinen Blick auf den Boden. Wurde er etwa rot? Was eigentlich völlig unmöglich war, da er ein ziemlich dunkler Hauttyp war.

Ich sah wieder zu Jerry Lee. Er lehnte an der Wand und schmunzelte vor sich hin. So wie es aussah, gefiel es ihm, dass er gegen Taylor einen Anstarre-Wettbewerb gewonnen hatte. Ich schüttelte den Kopf und grinste ebenfalls.

Weitere zehn Minuten vergingen, aber Mr White war immer noch nicht da. Und dann war es fünf Minuten vor der Pause.

„Also, ich gehe jetzt!“, sagte Heaven und stand auf, nachdem schon einige andere verschwunden waren. „Kommst du mit?“, fragte sie mich und blickte von oben auf mich herab.

„Ähm, nein. Ich denke ich bleibe noch kurz.“

Sie merkte wen ich ansah. „Alles klar. Verstehe!“

„Was?“

„Schon okay. Ich bin nicht sauer oder so“, meinte sie und als sie meinen Blick sah fügte sie hinzu: „Wirklich nicht!“

„Okay“, sagte ich glaubhaft und lächelte sie an.

Jetzt verschwand auch der Rest unserer Klasse. Nur noch Jerry Lee und ich waren hier. Ich wollte aufstehen und zu ihm rübergehen, doch das war überhaupt nicht nötig, denn er war wie aus dem Nichts aufgetaucht und stand plötzlich vor mir.

„Wieso gehst du nicht mit den anderen mit?“, fragte er.

„Gegenfrage. Wieso bist du nicht zu uns gekommen?“

Er überlegte kurz: „Ich betrachte lieber alles von der Ferne. So und jetzt du?“

Ich sagte nichts. „Du hast gute Ohren“, stellte ich dann fest.

„Wie kommst du darauf, dass ich gute Ohren hätte?“

„Du hast Taylor verstanden“, sagte ich.

„War das der Kerl der neben dir saß?“, erkundigte er sich interessiert und seine Augen wurden dunkler – wenn das überhaupt möglich war.

Ich nickte und musste bei seinem Blick schlucken.

„Ich habe ihn nicht verstanden. Ich… Ich habe nur zufällig zu euch geschaut.“

„Und zwar im selben Moment, als er etwas über dich ausgesprochen hatte?“

„Ja! Aber was hat er denn gesagt?“, fragte er zur Ablenkung und grinste frech.

Er hatte ihn verstanden. Aber wie? Taylor hatte es mir zugeflüstert. Wahrscheinlich hatte es nicht mal Heaven verstanden, die auf meiner anderen Seite saß.

„Nicht so wichtig.“ Ich winkte ab.

„Nein, sag schon. Was hat er über mich gesagt. Hat er gelästert? Ist doch irgendwie… kindisch, oder?“ Aber lachte trotzdem in sich hinein.

Ich verdrehte die Augen. „Es war gar nichts. Und wieso soll das kindisch sein?“

„Naja, seit wann lästern Jungs über andere Jungs? Außer wenn sie auf das gleiche Mädchen stehen.“

„Er ist nicht kindisch.“

„Denkt er, ich steh auf dich?“

„Wie bitte? Wieso sollte er… Oh. Du denkst, er steht auf mich. Und weil du auch auf mich stehst, lästerst du gerade über ihn?“

„So ein Schwachsinn!“, rief er.

„Das war auch nur ein Scherz“, sagte ich und lachte.

Er sah ein bisschen beleidigt aus, doch seine Gesichtszüge veränderten sich schnell und er sah gar nicht mehr belustigt oder beleidigt aus. „Oh oh“, sagte Jerry Lee.

„Was ist?“, wollte ich neugierig wissen.

„Mr White kommt…“

„Ich kann ihn aber gar nicht sehen“, meinte ich, nach dem ich kurz in den leeren Flur geblickt hatte.

„Tatsächlich?“, sagte er, nahm meine Hand und zog mich nach oben in den Stand.

„Nein, mal im Ernst. Halt, warte! Du kannst ihn hören!“, scherzte ich, weil mir der vorherige Gedanke plötzlich total albern vorkam. Wie sollte er ihn denn hören können? Lächerlich!

„Komm jetzt, oder willst du deine ganze Klasse verpetzten müssen? Bei einem Klassenverweis wären wir auch mit dabei.“ Er unterdrückte ein Lachen.

„Also bitte!“, sagte ich und wollte stehen bleiben. „Wahrscheinlich kommt er überhaupt nicht.“

Jerry Lee fasste sich an die Stirn. Dann ging alles ganz schnell. Mit zwei Schritten ging er auf mich zu und packte mein Handgelenk und hob mich hoch über seine Schulter. Ich quiekte auf und schlug ihm auf den Rücken.

„Ruhe da oben!“, befahl er mir.

Ich sah zu der Treppe die am Ende des Flurs war und an der wir auch vorbei kommen mussten. Und genau in dem Moment, als Jerry Lee loslaufen wollte, kam Mr Whites Kopf zum Vorschein. Außerdem konnte ich sein Keuchen hören, das er immer von sich ließ, wenn er die Treppen rauf und runter lief.

„Hey, der kommt ja wirklich“, stellte ich verdutzt fest.

„Klappe!“, zischte Jerry Lee.

Dafür bekam er noch einen Schlag auf seinen Rücken. Und was machte er? Er lachte! Und nicht nur das. Er öffnete einen Schrank gegenüber dem Klassenzimmer und stellte mich darin ab. Es war verdammt eng. Anscheinend dachte er, es wäre noch nicht zu eng, denn auch er quetschte sich mit hinein. Erst wollte ich ihn wieder heraus schupsen, aber er hielt meine Handgelenke fest, als ich sie zu seiner Brust bewegen wollte.

„Vergiss es! Dann gehen wir beide drauf!“, flüsterte er, als ob es um Leben und Tod ginge.

„Dann mach endlich die verdammte Schranktür zu!“, maulte ich.

„Oh.“ Er steckte seinen Arm nach der Türkannte aus und schloss sie dann geschickt.

Es war stockdunkel. Nur durch einen Spalt am Boden kam Licht hinein. Der Spalt war fünfzehn Zentimeter hoch. Von außen konnte man sicher unsere Füße sehen!

Jerry Lee folgte meinen Blick und als er merkte, was ich sah flüsterte er: „Verdammt.“

Mit seinen Füßen tastete er die Wand ab. Auch ich tat es. An der Wand waren zwei Schrauben, auf die man sich stellen könnte. Aber es waren nur zwei.

„Auf meine Seite sind zwei Schrauben“, flüsterte ich erfreut und wollte hochsteigen.

„Ja, auf meiner aber nicht“, sagte er, nahm mich, drehte uns geschickt um 180 Grad, stellte mich wieder auf ab und stieg selbst auf die Schrauben.

„Was soll das denn jetzt werden. Gut, ich habe vielleicht kleinere Füße als du, aber man würde sie trotzdem sehen.“

„Ich denke nicht, dass du möchtest, dass ich mich auf deine Füße stelle“, sagte er leise und bückte sich. Er legte seinen Arm um meine Taille, nahm mich hoch und stellte mich auf seine Schuhe. Mit der einen Hand stützte er uns an der anderen Seite des Schrankes ab. Sein zweiter Arm lag immer noch an meiner Taille und hielt mich so fest, dass ich nicht von ihm wegrutschte. Ich wusste nicht ganz was ich machen sollte, weshalb ich einfach nur meinen einen Arm auf seine Schulter legte.

Meine Güte muss das für ihn ungemütlich sein. Jetzt wo ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass mein Platz sehr viel angenehmer war. Eigentlich richtig gemütlich.

„Bin ich zu schwer?“, fragte ich und vergas fast leise zu sein.

„Machst du Scherze? Ich spüre dich ja nicht mal. Und jetzt Ruhe. Er ist jetzt gleich da.“

„Woher…?“, wollte ich sagen, doch Jerry Lee nahm die eine Hand von der Wand und legte sie auf meinen Mund. Wie kann man so dastehen? Und ihm selben Moment wurde es ihm Schrank noch dunkler, weil sich ein Schatten vor der Tür befand. Es war Mr White. Sofort verstummten wir beide und ich konnte Jerry Lees warme Brust spüren, die sich langsam sank und hob. Das weiß seiner dunklen Augen glitzerte trotz der Dunkelheit und ich sah, dass er mir direkt in die Augen starrte. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.

„Wo sind die denn?“, fragte er laut. „Die können was erleben!“ Er machte eine Pause. „Alle!“ Das „Alle“ schrie er durch den ganzen Gang und es hallte von den Wänden wieder. Ich konnte es nicht unterdrücken zusammenzuzucken, worauf Jerry Lee mich noch fester an seinen warmen Körper drückte.

Dann hörten wir zwei Schritte ganz dicht am Wandschrank. Er blieb stehen und wenn die Tür nicht gewesen wäre, wäre mein Kopf genau neben seinem gewesen.

Ich spürte wie Jerry Lee aufhörte zu atmen. Ich tat es ihm gleich.

Wir standen noch eine Minute still da. Dann fing Jerry Lee auf einmal an loszulachen. Ich sah ihn entsetzt an und wollte ihm den Mund zuhalten, schließlich stand unser Lehrer direkt vor der Schranktür, nur wenige Zentimeter von uns entfernt. Doch Jerry Lee nahm den einen Fuß von der Schraube, wobei ich nun mit einem frei in der Luft schwebte, und trat damit die Tür auf. Wieder fragte ich mich, wie man auf einer Schraube stehen konnte, mit einer Person im Arm, der man noch den Mund zu halten musste.

Doch jetzt musste ich einen Schrei unterdrücken, da ich ahnte, er würde unserem Lehrer die Tür mit voller Wucht gegen den Schädel donnern. Doch das passierte nicht. Leichtfüßig sprang er aus dem Schrank. Mit mir auf dem Arm. Ich sah mich im Gang um. Es war weit und breit kein Mr White zu sehen.

„Er ist schon weg?“, fragte ich außer Atem.

„Schon ungefähr eine halbe Minute lang“, kicherte er.

„Was sollte das?“

„Ich wollte nur testen, wie lange du die Luft anhalten kannst“, wieder lachte er.

Erst sah ich ihn entsetzt an. Doch ich wollte nicht, dass er sich schon wieder bei mir entschuldigte.

„Und wie war ich?“, fragte ich schließlich und grinste trotzdem.

„Gut. Sehr gut!“

„Ich hätte es noch länger ausgehalten!“ Ich sah ihn siegesbewusst an.

„Ach wirklich?“, meinte er ungläubig  und seine Augenbrauen fuhren schellmisch nach oben.

„Klar! Du etwa nicht?“

„Ich bitte dich! Das war noch gar nichts!“, lachte er.

„Aber sicher doch. Wieso hast du dann aufgehört?“, konterte ich.

„Weil ich mich einfach nicht mehr beherrschen konnte.“ Er grinste mich an.

Ich boxte ihm gegen die Schulter und dann klingelte es zur Pause. Zwei Sekunden nach dem Gong öffneten sich die Klassentüren und die Schüler stürmten heraus.

Mit Jerry Lee an meiner Seite ging ich die Treppe hinunter und wir setzten uns nebeneinander auf eine Bank, die von unten mit einer Heizung gewärmt wurde.

„Willst du etwas essen?“, fragte er mich.

„Oh, nein, ich esse erst in der Mittagspause und natürlich am Morgen. Zu der jetzigen Zeit habe ich meistens keinen Hunger. Aber willst du was?“

„Ach nein, schon okay. Ich bin nicht einer dieser überhungrigen Muskelprotze, die bei jeder Gelegenheit ein halbes Hühnchen verdrücken können. Doch wenn ich in der Nacht vom Knurren meines Magens aufgeweckt werde, muss ich kochen.“

„Du kochst in der Nacht?“

„Klar!“, meinte er, als wäre das das Normalste auf der Welt.

„Wieso?“

„Sonst kann ich nicht mehr schlafen.“ Er grinst mich an.

Diese Antwort befriedigte meine Neugier. Dann räusperte ich mich. „Ich fasse jetzt mal zusammen was ich bis jetzt von dir weiß. Also, du heißt Jerry Lee McGowan.“

„Ja, ein ziemlich bescheuerter Name.“

Anstatt zu antworten, fing ich an zu lachen und verlor den Faden. Ich musste mich zusammenreisen, während er mich belustigt beobachtete.

„Mist, jetzt hast du mich unterbrochen. Tu das nie wieder. Okay? Außer, wenn ich anfange irgendetwas vor mich hin zu faseln. Genau wie Heaven. Die ha-“

„-Okay!“

„Oh…“, machte ich, musste mir aber ein Schmunzeln unterdrücken. „Also, du heißt Jerry Lee McGowan, wobei du den Namen bescheuert findest. Du kommst aus dem Wunderland, deine Schwester heißt Alice und ich nehme an sie ist die Alice. So, du hast gute Ohren, bist so geschickt um in einem verdammt engen Wandschrank auf zwei Schrauben zu stehen, dabei jemanden zu halten und ihm gleichzeitig den Mund zu zuhalten. Nein, warte. Das kannst du ja auch auf einem Fuß und auch nur auf einer Schraube und dabei öffnest du die Tür mit dem anderen Fuß. Und du kannst Leute sehen, die noch nicht mal im Sichtfeld sind. Naja, oder hören. Und du kochst gerne in der Nacht.“

„Gut. Das ist wirklich gut für den Anfang. So jetzt bin ich dran.“

„Nur zu“, sagte ich und kicherte.

„Also, du heißt Molly Noel McCarthy und du findest deinen Namen auch sehr schrecklich, wobei er nur halb so schlimm ist wie meiner, auch wenn sie sich ziemlich ähnlich sind. Heaven ist deine beste Freunden, nehme ich an?“ Er sieht mich fragend an und ich nicke zustimmend. Dann fiel mir auf, dass die beiden noch nie ein Wort miteinander gewechselt hatte, er aber trotzdem ihren Namen wusste. Vielleicht war er ja doch an der Klasse interessiert. „Und du… Ähm also… eigentlich weiß ich nicht viel über dicht… im Grunde gar nichts.“ Er hob entschuldigend die Hände.

„Hm, das war nicht ganz so gut wie ich.“ Ich streckte ihm die Zunge raus.

Jerry Lee lachte. „Stimmt, aber vielleicht erzählst du mir etwas über dich?“

„Nein.“

Er sah mich verwirrt an.

„Also ich meine, du kannst Fragen stellen, wann immer du willst.“

„Na gut“, rief er und es sah so aus, als würde er sich einen Keks freuen. 

„Aber du kannst nicht immer mit einer Antwort rechnen.“

Jerry Lee zuckte einverstanden mit den Schultern. „Alles klar! Das Gleiche gilt für dich!“

„Abgemacht!“ Ich grinste.

„Ich fange an“, verkündete er schnell, damit ich ihm nicht zuvorkommen konnte.

Ich lachte: „Das habe ich mir schon gedacht.“

„Du kannst auch gerne anfangen“, meinte er schnell. Er war so wie es aussah, immer noch überzeugt davon, dass er nett zu mir sein musste, obwohl ich schon lange aufgehört hatte, ihn als einen Penner zu charakterisieren.

„Frag jetzt endlich!“, meckerte ich, aber ich fand es sogar ziemlich entgegenkommend, dass er mir den Vortritt gewährleistet hätte.

Er schmunzelte und fragte dann: „Wieso willst du mir nicht preisgeben, was Taylor gesagt hat?“

Ich wurde rot, weil mir das irgendwie peinlich war. „Weil es dich vielleicht… wahrscheinlich verärgern würde.“

„Also bitte. Ich bin ein Kerl, also sag schon!“

„Abgelehnt. Jetzt bin ich dran! Also, woher wusstest du, dass Mr White kommen würde?“

„Keine Ahnung“, murmelte er und sah weg.

„Du verweigerst die Beantwortung der Frage?“, stellte ich fragend fest und klang wie ein Richter.

Er schüttelte demonstrierend den Kopf.

„Das machst du aber nicht bei jeder Frage, oder?“

Er grinste und fuhr sich durch seine schwarzen Haare. „Okay, ich habe eine erstmalige Regel!“, meinte er.

Ich sah ihn fragend an.

„Man hat die Chance seine Antwort zwei Mal zu unterschlagen.“ Er klang ebenfalls wie ein Richter und ich musste lachen.

„Meinetwegen“, entgegnete ich.

„Gut, jetzt bin ich dran. Was hat Taylor gesagt?“

„Sag ich nicht. Und auch wenn du es noch mal fragst, werde ich dir nicht antworten.“

„Wenn du das machst, hast du nur noch einmal frei“, meinte er.

„Ja, ich weiß. Genau wie du“, konterte ich.

Er sah mich mit schräggelegtem Kopf an. „Also, bleibst du dabei?“

„Klar!“ Ich grinste frech.

Er sah etwas enttäuscht aus, zuckte dann aber mit den Schultern. „Wieso hast du meine Entschuldigung so einfach angenommen? Die meisten Mädchen hätten wahrscheinlich ein Theater arrangiert. Aber du hast es einfach angenommen. Wieso?“ Er meinte die Tatsache, nicht auf meine Frage geantwortet zu haben.

„Vielleicht bin ich nicht so wie die anderen  Mädchen.“ Ich hob spielerisch meine Augenbrauen.

„Wenn du meinst“, sagte er grinsend und sah mich auffordernd an, weil ich nun wieder an der Reihe war.

„Hast du mich und Calvin in der Cafeteria beobachtet?“

„Ähm, vielleicht ein bisschen“, gab er zu und versuchte ein Lachen zu unterdrücken.

„Also, ja?“, hakte ich nach.

Er lachte nun doch und lenkte schnell vom Thema ab: „Da du ihn ansprichst, was stand auf dem Zettel den er dir gereicht hat?“

Ich wollte fast aufspringen und mit dem Finger auf ihn zeigend rufen: „Du hast uns also doch beobachtet!“. Doch stattdessen stellte ich ganz cool fest: „Okay, du hast uns beobachtet. Aber es war seine Nummer. Wieso grenzt du dich so aus?“

„Das hatte ich dir schon mal gesagt.“

„Ich will aber die Wahrheit“, konterte ich geschickt und sah ihm dabei lange in sein Gesicht.

„Das war die Wahrheit. Ich betrachte das Geschehen lieber von der Ferne. Wie lange sind du und Heaven beste Freundinnen?“

„Schon immer. Wer ist dein bester Freund?“, hakte ich schnell nach.

„Ach, irgendwer“, meinte er schnell und fügte hinzu, „In welcher Verbindung stehst du zu Calvin?“

„In gar keiner“, kam es wie aus einer Pistole geschossen.

„Wieso habt ihr dann gemeinsam gegessen?“, hakte er sofort nach.

Ich hob eine Hand. „Vergiss es, ich bin dran.“

„Okay, okay, bin ja schon still“, lachte er.

„Also, wieso bist du hierhergekommen?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Du willst nicht antworten?“

„Jetzt nicht. Noch nicht. Vielleicht sag ich es dir wann anders. Bei Gelegenheit.“

„Dir ist schon klar, dass du mir jetzt sämtliche Antworten geben musst, die ich versuchen werde, aus dir herauszuquetschen?“

„Ja, aber nur diese Unterhaltung und die ist gleich zu Ende. Also, wieso hast du mit Calvin gegessen? Lag das an mir? Weil ich am Tisch nebenan brütete?“

Er war verhältnismäßig gut im Beobachten. „Darauf sage ich jetzt nichts.“

„Also ja? Jetzt haben wir wieder Gleichstand.“ Er grinste zufrieden.

Und im nächsten Augenblick klingelte es und die Pause war vorbei.

Jerry Lee sprang auf und reichte mir seine Hand. Ich nahm sie und er zog mich mühelos nach oben. 

„Was hast du in der letzten Stunde?“, fragte er wissbegierig.

„Das gehört jetzt aber nicht mehr zum Spiel, oder?“

„Nein, tut es nicht.“ Er lachte.

„Ich habe in den letzten beiden Stunden Informationstechnologie.“

„Kein Nachmittagsunterricht?“

„Negativ“, bestätigte ich und fragte mich, wieso er das unbedingt wissen wollte.

„Gut, ich auch nicht.“ Er grinste zufrieden.

„Wieso gut? Und wieso grinst du so?“ Sein Grinsen bereitet mir kein gutes Gefühl, aber trotzdem ließ ich mich davon anstecken.

„Wir könnten gemeinsam etwas unternehmen? Wenn du möchtest?“

„Ich weiß nicht. Ich muss noch dieses gottverfluchte Gedicht auswendig lernen.“ Bei dem Gedanken bekam ich schon wieder Bauchschmerzen.

„Wir könnten es zusammen machen? Ich kenne einen traumhaften Ort um Dichtungen zu lernen“, meinte er und schmunzelte mich an.

„Du musst es aber nicht lernen.“

„Ist doch bedeutungslos. Soll ich dich von zu Hause abholen?“

Ich hatte zwei Eventualitäten. Die eine wäre, mich nicht mit ihm zu treffen und das Gedicht alleine lernen zu müssen. Was ziemlich quälend wäre. Und das, was ich jetzt von Jerry Lee wusste, war, dass er gar nicht mal so schlimm war, wie ich zu Beginn gedacht hatte. Die zweite Möglichkeit wäre, mich mit ihm zu treffen, was eventuell sogar Spaß machen könnte.

Ich hatte mich sehr schnell entschieden. Und es fühlte sich ganz gut an. Komischerweise war ich jetzt schon aufgeregt.

„Okay“, entschied ich mich schließlich.     

„Gut, dann bis später“, sagte Jerry Lee, schob die Hände in die Hosentaschen und ging, ohne sich noch ein einziges Mal zu mir umzudrehen, während ich in der Schülermenge stehen blieb, die ihre verschiedenen Klassenzimmer aufsuchte, und ihm nachstarrte. Als er weg war, wachte ich wieder auf und merkte, dass er überhauptkeine Ahnung hatte, wo ich überhaupt wohnte. 

Aber ich rannte ihm nicht hinterher, sondern machte mich auf zu meinem Klassenzimmer und versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren, während ich bemerkte, dass ich noch eine Frage stellen durfte, da er angefangen und auch aufgehört hatte.

 

Der Rest des Unterrichts verging langsam und je näher er dem Ende kam, desto mehr wurde er in die Länge gezogen. Doch irgendwann war es dann endlich vorbei. Nach dem Unterricht sah ich Jerry Lee nicht mehr, was ich ziemlich bedauerlich fand. Also konnte ich ihm auch nicht sagen, wo er mich abholen sollte. Ich rechnete hundertprozentig damit, dass er mich nicht abholen würde und es schon wieder vergessen hätte.

Doch so war es nicht.

 

Ich startete den Motor meines Wagens. Ich fuhr aus der engen Parklücke, wobei ich fast den Seitenspiegel des Autos neben mir abfuhr. Doch ich schaffte es, trotz meiner wirklich jämmerlichen Fahrkünste. Ich fuhr auf die Autobahn und dieses Mal machte ich keinen Abstecher bei McDonald‘s.

Als ich daheim ankam sperrte ich die Haustür selber auf, da mir niemand die Tür öffnete. Sofort fragte ich mich, wo meine Mum steckte, da sie Dienstags normalerweise ihren freien Tag hatte.

Ich streifte meine Schuhe ab und stellte sie zu den anderen ins Regal. Ich hängte meine Winterjacke auf den Kleiderhaufen an die Wand und meine Tasche legte ich auf die erste Stufe der Treppe. Dann schlappte ich in die Küche und sah mich im überfüllten Kühlschrank nach Essbarem um. Fand aber nichts außer Eier und Würstchen. Ich hätte mir auch ein Brot schmieren können, aber darauf hatte ich überhaupt keine Lust. Also schnappte ich mir das Telefon aus dem Flur und wählte die Nummer des Thailänders. Ich bestellte mir eine Portion gebratene Nudeln, wobei ich genau wusste, dass ich diese niemals alleine schaffen würde.

Eine viertel Stunde nach dem Anruf schellte es an unserer Haustür. Ich beeilte mich, weil mein Magen kannibalisch knurrte. Auf dem Weg schnappte ich mir noch den Zehner, den ich mir schon griffbereit auf die Kommode neben die Tür gelegt hatte. Dann machte ich auf und ein kleiner Mann mit schwarzen Haaren stand auf dem Treppenabsatz. Er grinste freundlich und reichte mir meine Bestellung. Ich reichte ihm das Geld und dann ging er auch schon, stieg in sein olivengrünes Lieferauto und düste davon, in Richtung Stadtmitte. Und ich ging wieder mal in die Küche, um mir dort aus einem Schubfach Besteck zu holen. Mit meinen Nudeln und einer Gabel in den Händen kuschelte ich mich unter eine Decke vor den Fernseher und schaltete ihn an.

Ich vertilgte die Hälfte meines Essens und den Rest stellte ich auf den Wohnzimmertisch. Ich machte den Fehler die Augen zu schließen und mit einem Mal war ich eingeschlummert.

 

Ich wachte erst auf, als ich von einem lauten Knall geweckt wurde. Es war die Haustür gewesen. Ich stand nicht auf, weil ich wusste, dass es lediglich meine Mum sein konnte, da mein Dad auf einer Geschäftsreise war und erst in einer Woche wieder kommen würde.

Ich erspähte die Uhr an der Wand. Es war erst halb drei, was bedeutete, dass ich nur eine halbe Stunde geschlafen hatte. Ich schnappte mir die Fernbedienung, drückte auf den obersten Knopf und schon wurde der Bildschirm schwarz.

„Molly Noel?“, rief meine Mum durch das gesamte Haus.

Wer sonst?, fragte ich mich.

„Ich bin im Wohnzimmer“, sagte ich in normaler Lautstärke, weil ich wusste, dass sie mich ohne Probleme hören würde. Nur wenige Sekunden später stand sie mit ihren dicken Hausschuhen an den Füßen im Wohnzimmer und sah gelangweilt und gleichzeitig gestresst aus. Doch als sie die Nudeln auf dem Tisch entdeckte, hellte sich ihre Miene sofort auf. Sie ging mit leuchtenden Augen am Sofa vorbei, schnappte sich mit der linken Hand den Pappbecher und mit der anderen die Gabel.

„Du willst das doch nicht mehr, oder?“, fragte sie und schaute wie ein Dackel.

„Nein, nein. Das kannst du gerne haben“, sagte ich und stopfte mir aus meiner Hosentasche einen Kaugummi in den Mund. „Wo warst du?“

„Ich war bei einer Freundin“, erklärte sie kurz und stopfte sich eine beladene Gabel in den Mund, kaute ausgiebig und schluckte das gemanschte Essen herunter. „Ich dachte eigentlich, dass ich vor dir nach Hause komme, aber dann haben wir uns leider verquatscht.“ Sie kicherte und verschluckte sich fast an einer neuen Gabel Nudeln. Mums freie Tage waren Dienstag und Donnerstag und an diesen Tagen unternahm sie immer etwas mit Freundinnen oder ging einkaufen.

„Und war es schön?“, fragte ich völlig beiläufig.

Meine Mum konnte nur nicken, denn wenn sie auch nur die Lippen auseinander bewegt hätte, wäre ihr der Inhalt, der vollgestopften Backen auf den Boden gefallen.

Doch als sie hinuntergeschluckt hatte fragte sie: „Und?“ Sie sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Ich stöhnte.

„Hast du meinen Tipp denn wenigstens umsetzen können?“, fragte sie schnell, um mir keine Gelegenheit geben zu können, die Flucht zu ergreifen.

Ich nickte. „Ja, hab ich. Ich bin mit einem Lächeln durch die Schule gelaufen und alle haben mich als völlig bescheuert betitelt.“ Meine Stimme triefte nur so vor Spott.

Mum verdrehte die Augen. „Soll das heißen, dass Jerry Lee sich nicht wie ein Idiot benommen hat?“

Ich antwortete eine Weile nicht. Doch dann sagte ich: „Aussage bejaht.“

Sie hätte sich vor Freude fast verschluckt. „Das ist doch toll!“ Kurz dachte sie nach. „Habt ihr überhaupt miteinander geredet?“

„Natürlich haben wir das!“, rief ich.

Mum klatschte in die Hände und murmelte mit vollen Backen: „Aber das ist doch toll! Was hat er erzählt?“ Ihre Augen glänzten vor Begeisterung. Ich wusste genau, dass sie so etwas dachte wie: „Oh mein Gott, meine Tochter hat endlich einen Freund gefunden!“ Dabei war ich erst 17 Jahre alt.

Ich verdrehte die Augen. „Alles Mögliche.“

„Wie wäre es mit ein paar Einzelheiten? Hat er zu gestern etwas gesagt?“

„Er… er hat sich entschuldigt“, gab ich schließlich zu.

„Oh“, jauchzte meine Mutter. „Und weiter?“

Ich biss mir auf die Lippen und frage mich, wieso ich ihn jemals erwähnt hatte.

„Mum, kann es sein, dass du ein bisschen neugierig bist.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ach was.“

„Das war keine Frage, sondern eher eine Feststellung.“

Mum lachte und strich sich verlegen eine Strähne hinter das Ohr.

Schnell sprang ich vom Sofa auf und ergriff die Flucht.

„Unser Gespräch ist noch nicht beendet“, rief sie mir hinterher.

Ich sprang die Treppe nach oben, bog links ab und war in meinem viel zu kleinem Zimmer. Aber wenn man genau darüber nachdachte, war mein Zimmer gar nicht so klein, denn das Problem war, dass mein Kleiderschrank Unmengen an Platz verbrauchte, da er die ganze Wand links neben der Tür einnahm und natürlich das Bett, das mitten im Raum stand. Gegenüber dem Bettende war ein Spiegel an die Wand angebracht, der vom Boden bis zur Decke reichte. Wenn man zur Tür eintrat, blickte man gleich auf die Wand mit Bildern und Fotos und einem Fenster, durch das nicht besonders viel Licht fiel und mein Zimmer so immer etwas schummerig war. Vor dem Fenster standen mein kleiner Schreibtisch, ein Drehstuhl und daneben ein Elefantenfuß, dessen Blätter in einem wunderschönen Grün leuchteten und es an ein Wunder grenzte, dass er hier überhaupt wuchs. Neben dem Kleiderschrank lag ein Teppich auf dem Boden, der bis unter das große Bett reichte. Das kam allerdings nicht davon, dass der Teppich so groß war. Es kam davon, dass mein Zimmer einfach durch die massigen Möbel kleiner wirkte.

Auf dem hellen Holzschreibtisch stand mein Laptop und eigentlich hatte ich vor ihn anzumachen und ein bisschen im Internet zu surfen, doch auf dem Weg kam ich an dem großen Spiegel vorbei und als ich mich sah erschrak ich erst mal. Meine kastanienbraunen  Haare, die ich eigentlich geglättet hatte, waren geknickt und standen wild in alle Richtungen. Meine Wimpertusche saß nicht mehr auf den Wimpern, sondern war verwischt, da ich mir, als ich durch den Haustürschlag aufgeweckt wurde, durch die Augen gerieben hatte. Es sah jetzt so aus, als hätte ich Augenringe. Nein. Es sah so aus, als hätte ich keine Augenringe, sondern richtige Krater. Ich war wie immer blass im Gesicht, aber durch den Rest sah ich gerade aus wie ein Geist oder ein Zombie.

Ich umging den PC und eilte ins Badezimmer. Ich rannte schon nahezu. Erst bändigte ich meine Strähnen mit einem Haarband aus dem Gesicht und band mir einen Zopf. Ich entfernte mein ganzes Make-up und wusch danach mein Gesicht. Dann öffnete ich meine Haare und kämmte sie mir ordentlich durch, machte mir wieder einen Zopf, weil ich keine Lust hatte, meine Haar erneut zu glätte. Zudem dies überhaupt nicht gut für sie war. Schließlich wollte ich wieder in mein Zimmer gehen, doch es klingelte an der Haustür. Ich hörte wie meine Mum fluchend zur Haustürlief. Anscheinend hatte sie sich gerade hingelegt, um sich auszuruhen. Also lief ich in mein Zimmer zurück, um mir ein paar gemütliche Kleidungsstücke überzuwerfen. Ich öffnete meinen vollen Schrank und ein Stapel T-Shirts fiel mir entgegen, den ich notdürftig in eines der Fächer gestopft hatte. Ich wollte mir gerade eine Jogginghose anziehen, als ich eine Stimme hörte und bemerkte, wer da überhaupt vor der Tür stand. Ich schmiss die Hose zurück in den Schrank und im selben Moment rief meine Mum freudig und aufgeregt von unten meinen Namen. Sofort wurde ich rot und schämte mich für die übertriebene Reaktion meiner Mum. Wieso konnte sie nicht einfach cool bleiben?

„Ich komme!“, brüllte ich zurück und sprang die Treppe herunter.

Ich hatte recht. Er stand vor der Tür.

Jerry Lee McGowan.

Er lächelte als er mich sah: „Hey! Wie geht’s?“

„Oh, hey. Gut“, sagte ich verwirrt und stotternd, weil er tatsächlich gekommen war und auf mysteriöse Weise mein Haus gefunden hatte.

„Hast du das Gedicht?“, erinnerte er mich.

Ich sah ihn kurz an und überlegte was er gemeint hatte. Und dann fiel es mir wieder ein.

„Oh, das Gedicht! Ähm, nein. Aber warte kurz. Ich hol es schnell.“

„Okay. Ich warte hier unten“, sagte er.

Das hatte ich zwar erwartet, aber ich nickte trotzdem.

Auf dem Weg nach oben überlegte ich verzweifelt, wo ich das Gedicht nur verschlampt hatte, aber dann fiel es mir wieder ein. Ich hatte es in die Schublade des Schreibtisches gestopft. Ich ging um das Bett herum und zog aus dem Chaos den kleinen Zettel heraus. Ich faltete ihn zusammen und steckte ihn in meine Hosentasche. Als ich aus meinem Zimmer kam, stand meine Mum davor. Sie grinste mich an.

„Ist er das?“, flüsterte sich mir zu und hob vielsagend eine Augenbraue. An ihrem aufgeregten Blick konnte ich erkennen, dass sie ihn als äußerst sympathisch und gutaussehend bezeichnet hätte.

Ich verdrehte die Augen und quetschte mich an ihr vorbei.

„Du hast mir überhaupt nicht verraten, dass ihr euch so gut versteht!“ Dabei vergaß sie fast leise zu reden.

Genervt legte ich einen Finger vor den Mund, deutete erst nach unten und dann auf mein Ohr.

Sie nickte verstehend.

 Dann stolperte ich vor Aufregung die Treppe hinunter. Jerry Lee stand jetzt grinsend an der Wand gelehnt und betrachtete die Familienbilder, die auf einer Kommode standen. Ich wollte ihn davon abhalten, tat es dann aber doch nicht. Stattdessen schlüpfte ich in meine gefütterten Schuhe und in meine rote Winterjacke.

„Okay, wir könne los“, sagte ich und ging aus dem Haus, bevor meine Mum uns noch Viel Spaß wünschen konnte. Jerry Lee folgte mir lässig und sprang die Treppe der kleinen Veranda hinunter. Vor der Tür stand ein schwarzer, extra tiefgelegter BMW.

„Cooles Auto“, war das Einzige was ich herausbrachte, als er die Beifahrertür für mich öffnete. Das Leder der Sitze und das Lenkrad waren rot, sonst war alles schwarz.

Und ich dachte schon, mein Auto wäre der Hammer gewesen – zumindest wie es von außen aussah.

Kaum als ich saß öffnete Jerry Lee auch schon die andere Tür und setzte sich auf den Fahrersitz. Ich schnallte mich an und er startete den Motor.

„Anschnallen?“, fragte ich ihn.

„Nicht nötig“, meinte er und gab Gas.

Als wir dann endlich auf die Autobahn kamen, fuhr er noch schneller. Ich wurde richtig in den Sitz gepresst.

„Willst du nicht etwas langsamer fahren?“, fragte ich ängstlich.

„Wieso?“ Er sah mich spöttisch an.

„Naja, es gibt hier eine Geschwindigkeitsbegrenzung und das was wir gerade fahren ist weit über diese hinaus. Und wer weiß ob hier geblitzt wird?“

„Ich kann dir sagen, dass hier nicht geblitzt wird. Aber wenn doch, sind wir so schnell, dass uns die Kameras überhaupt nicht erwischen.“ Jetzt lachte er.

„Weißt du was“, sagte ich und er sah mich an, „Das beruhigt mich jetzt wirklich nicht. Nicht mal ein bisschen. Und schau gefälligst auf die Straße!“

„Keine Sorge. Hier bist du sicherer, als im Bauch deiner Mutter.“ Er grinste wieder sarkastisch und warf mir noch einen Blick zu.

„Ich bin aber schon lange nicht mehr im Bauch meiner Mum und irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich da auch nicht mehr so schnell hinkomme.“

Er lachte wieder, diese Mal aber lauter. Ich blickte wieder auf den Tacho. Und tatsächlich sank die Geschwindigkeit. Aber wir fuhren immer noch zu schnell.

„Könnte es sein, dass uns so die Kameras noch eher erwischen“, meinte ich.

„Oh, du willst wieder schnell fahren?“, fragte er begeistert.

„Du meinst wohl, eher noch schneller als eh schon. Wir fahren schon schnell. Aber nein, ich lehne dankend ab.“

„Schade, ich hasse es langsam zu fahren“, sagte Jerry Lee klagend. „Deine Mum ist sehr nett.“

Sofort wurde ich wieder rot und wollte am liebsten aus dem Autofenster springen.

„Sie hat mir Kaffee und Kuchen angeboten“, erzählte er.

Ich verdrehte innerlich die Augen, weil wir überhaupt keinen Kuchen hatten. Das war sicherlich wieder irgendein Psychologietest, den sie ausprobieren wollte. „Ja, wirklich sehr nett und dezent“, meinte ich ironisch.

Auf dem ganzen Weg zu diesem Platz, den er mir unbedingt zeigen wollte, wurden wir natürlich nicht geblitzt. Was mich ein bisschen enttäuschte, denn ich hätte gerne sein verdutztes Gesicht gesehen, um ihm anschließend unter die Nase reiben zu können, dass ich recht hatte. 

Jerry Lee fuhr in eine Abzweigung. Einen winzigen Waldweg, den ich übersehen hätte, da die hohen Bäume ihre langen Arme über ihn warfen. Am Wegrand waren große Sträucher, die das Auto streiften, als wir auf dem gefrorenen, sehr unebenen, mit Löchern betupften Weg entlang fuhren. Doch das alles hinderte ihn nicht so zu fahren, als wären wir immer noch auf der Autobahn. Ich konnte das Knacken der Eisplatten unter den Winterrädern fast schon hören und spüren, wäre da nicht das leise Summen des Wagens gewesen. Ich krallte mich jetzt an den Sitz, weil ich jetzt erst recht Angst hatte. Wir konnten zwar in keinen Straßengraben landen, weil es keinen gab, aber das Hüpfen auf dem Sitz ließ sich durch meinen starken Griff an dem Leder etwas lindern.

Jerry Lee wollte mich damit besänftigen, dass er immer wieder sagte, ich solle keine Angst habe und dass er diesen Weg sehr oft fahren würde. Ich glaubte ihm zwar, aber weil er mich die ganze Zeit über anstarrte rief ich ihm - von mir aus auch schrie - öfters zu, er solle jetzt verdammt noch mal seine Augen auf den Weg richten. Weil er aber ein Kerl war, hörte er natürlich nicht auf mich, lachte nur und fuhr in seinem halsbrechenden Tempo weiter. Und als er dann endlich hielt, sprang ich sofort aus dem Auto, weil ich es keine Minute länger ausgehalten hätte.

„Du fährst wohl nicht oft Auto, oder?“

„Doch. Und falls du es noch nicht weißt, ich habe sogar eigenes. Aber ich halte mich im Gegensatz zu dir an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Meistens zumindest.“

„Du meinst die alte Schrottkarre?“ Er grinste schelmisch. „ Im Übrigen: Bei diesem Weg gibt es aber keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Und weißt du auch wieso? Weil hier niemand außer dir und mir entlang fährt“, sagte er.

Ich nickte und sagte: „Und ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass das auch einen wirklich guten Grund hat!“

Jerry Lee sagte nichts. Er lachte nur.

Jetzt musste ich auch lachen. Nicht weil es lustig war, sondern weil es ansteckend war. Ich meine, er kennt sich hier aus und vielleicht sollte ich seinen Fahrkünsten einfach mal vertrauen. Ich kann zwar Angst um mein Leben haben, aber Jerry Lee kann mich nicht dazu zwingen, seine Geldstrafen zu bezahlen, auch wenn ich neben ihm im Auto sitze. Ich könnte sagen, dass ich ihn ja gewarnt hätte oder etwas Ähnliches.

 „Okay und jetzt?“, fragte ich nach Lachen und einer Weile Schweigen.

„Jetzt müssen wir noch eine ganze Strecke laufen.“

„Das ist nicht dein ernst?“, stöhnte ich und trat von einem Fuß auf den anderen. „Könntest du mich tragen?“, fragte ich scherzend.

Er lachte nur und ging los. Ich hinter ihm her. 

Als wir irgendwann anhielten hörte ich das plätschern von Wasser und ich roch den Duft von Lavendel.

„Wir sind fast da!“, sagte Jerry Lee.

„Und wo genau sind wir?“

„Im Wald.“ Er drehte sich zu mir um und zeigte wieder sein schelmisches Grinsen. „Aber jetzt müssen wir erst nach da vorne“, sagte er und zeigte in eine Richtung. Anschließend streckte er sich und ich hörte seine Schultern knacken.

„Das ist widerlich, Jerry!“

„Also bitte! Okay, du hast recht, aber…Moment. Hast du mich gerade Jerry genannt?“

„Oh, tut mir leid. Das habe ich nicht mit Absicht gemacht.“

„Hey, nein! Du musst dich nicht entschuldigen. Ich mag den Namen. Du kannst mich jetzt immer Jerry nennen.“

„Ach wirklich?“ Verdutzt sah ich ihn an.

Er nickte und sagte: „Klar, aber nur, wenn ich dich ab heute Molly nennen darf.“

Ich überlegte kurz. Ich hatte noch nie einen Spitznamen gehabt. Aber Molly gefiel mir.

„Klar, wieso nicht!“ Ich kicherte.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir bereits losgelaufen waren und jetzt an einem kleinen Fluss standen..

„Komm mit. Wir müssen noch etwas flussaufwärts“, sagte Jerry und ich folgte ihm.

Der Weg war ziemlich schmal, weil die Sträucher voluminös waren und den meisten Platzt des Trampelpfades, der sich leicht hinter Jerry bildete, einnahmen. Aber schon nach ein paar Metern verließen wir ihn und mussten in das eisige Wasser steigen, weil wir einfach keinen Platz mehr am Ufer hatten. Es klingt vielleicht verrückt, aber wir liefen tatsächlich mit nackten Füßen im Winter durch einen Fluss.

Jetzt hätte mich Jerry ruhig tragen können.

Spitzige Steine bohrten sich in meine Füße. An manchen Stellen war allerdings Sand, was ich sehr genoss, da die Stellen mit Steinen oder zu vielen Pflanzen, einfach nur abscheulich waren.

Jerry lief vor mir her und ich versuchte immer dort hinzutreten, wo er auch mit seinen Füßen war. Doch es stellte sich heraus, dass er sich nicht gerade die schmerzfreisten Stellen aussuchte. Aber ihm schienen die Steine und die ganzen anderen Sachen, die unter der Wasseroberfläche waren, überhaupt nicht zu stören. Das Einzige was er machte, war mir die Äste und Sträucher aus dem Weg zu halten und immer wieder zu fragen, ob ich kommen würde, wenn ich im Schlamm stecken geblieben war, oder Pausen, die allerdings nur ein paar Sekunden dauerten und eigentlich den Sinn hatten, auf mich zu warten.

An einer Stelle war die Strömung sehr stark und ich kam fast nicht gegen sie an. Ich musste laufen wie ein Storch und große Stritten machen, damit ich Jerry hinterher kam und das, obwohl er immer auf mich wartete. Und logischerweise wäre ich ziemlich oft hingefallen, hätte mich Jerry nicht festgehalten. Oder ich habe mich an ihm festgehalten und ihn manchmal fast auch ins Wasser gezogen. Es war ein Wunder, dass der Zettel mit dem Gedicht nicht nass geworden war.

Nach einem endlosen Marsch durch das Nasse kamen wir an die Stelle, die er gemeint hatte: Von Weitem sah ich einen zugewachsenen Gegenstand, bei dem ich erste von Nahem erkennen konnte was es war. Es handelte sich um eine alte Steinbrücke, die zum größten Teil schon völlig zerstört war. Überall schlängelte sich Efeu mit glitzernden Kristallen überzuckert die Steinmauer hinauf. Der Fluss verlief genau durch die Brücke hindurch und streifte das hohe Gras, unter der Verbindung der beiden Seiten, mit sich. Doch bevor das Wasser durch die Öffnung verschwand wurde der Fluss breiter und bildete eine Art Teich mit Eingang und Ausgang. Von der Brücke waren Steine herunter gestürzt und sind so aufgekommen, dass sie wie eine Treppe in das Wasser führten. Das Flusswasser war nicht sehr tief und mit hochgekrempelter Hose konnte man gut darin stehen. Der Grund bestand aus weißem Sand, wie ich erkennen konnte. Neben dem Fluss stand ein großer Kirschbaum an dem aber keine Kirschen hangen. Es war ein wundervoller Anblick. Alles zusammen sah aus wie ein eingefrorenes Landschaftsgemälde. Wie in einem Märchen. Aber das war es nicht. Es war echt. Und es war wunderschön.

„Das ist es“, sagte Jerry und deutete mit seinem Finger auf die Brücke.

Ich sagte nichts, weil ich immer noch ganz verzaubert von der Schönheit dieses Ortes war.

„Alles okay bei dir?“ Jetzt sah ich ihn an und merkte, dass er mich stirnrunzelnd musterte.

„Ja, aber… das sieht so verdammt toll aus!“

„Du solltest dir deine Schuhe lieber anziehen. Du läufst schon viel zu lange in der Kälte herum.“ Er reichte mir seine Hand und zog mich aus dem Wasser unter einen Baum. Hier konnte ich problemlos in meine braunen Boots schlüpfen.

Jerry war schon voraus gegangen und ich sprang ihm schnell hinterher. Schweigend setzte er sich auf die Steine der Brücke.

„Vorsicht. Die Brücke ist total vereist.“

Mit kleinen Schritten rutschte ich zu ihm hinüber und setzte mich neben ihn. Er hatte recht. Das Wasser vom Regen war in die Ritzten der Brücke gesickert und hatte sich durch die plötzlich kommende Kälte zu Eis frieren lassen.

Ich kramte aus meiner Hosentasche den Zettel mit dem Gedicht hervor. Das Papier war geknickt und ich musste es erst auseinanderfalten.

Jerry streckte fordernd seinen Arm nach dem Blatt aus. Ich reichte es ihm ohne zu zögern. Er sah es sich an und begann es in Gedanken zu lesen. Ich sah ihn die ganze Zeit über an. In ihm konnte ich kein einziges Gefühl sehen. Er war in dem Gedicht versunken und konzentrierte sich auf die Zeilen und Strophen. Seine Augen wurden glasig und es sah so aus, als ob er sich in den Zeilen verlieren würde. Als er dann fertig war atmete er kräftig ein und aus und sah mir dann direkt in die Augen. Und das komische Gefühl kam nicht.

„Okay. Sprich mir nach:  Herz, mein Herz, was soll das geben?
Was bedränget dich so sehr?“, begann er zu sprechen.

„Herz, mein Herz, was soll das geben? Was bedränget dich so sehr?“, sprach ich ihm nach.

Jerry lächelte und folgte den Zeilen auf dem Blatt: „Welch ein fremdes, neues Leben!“

„Welch ein fremdes, neues Leben!“

„Okay, jetzt noch mal von Vorne. Herz, mein Herz, was soll das geben? Was bedränget dich so sehr? Welch ein fremdes, neues Leben!“, sagte er und als er das Gedicht sprach, sah er nicht auf das Blatt.

Und auch ich brauchte nicht spicken. „Herz, mein Herz, was soll das geben? Was bedränget dich so sehr? Welch ein fremdes, neues Leben!“

„Gleich nochmal!“

Ich zitierte die Zeilen noch zwei Mal hintereinander und konnte sie dann. Anschließend sollte ich die nächsten drei Zeilen auswendig lernen und ich wunderte mich, wie leicht es mir fiel. Schon nach ein paar Minuten konnte ich die erste Strophe.
„Herz, mein Herz, was soll das geben?
Was bedränget dich so sehr?
Welch ein fremdes, neues Leben!
Ich erkenne dich nicht mehr.
Weg ist alles, was du liebtest,
Weg, warum du dich betrübtest,
Weg dein Fleiß und deine Ruh –
Ach, wie kamst du nur dazu!“

„Sehr gut! Okay, weiter geht es mit: Fesselt dich die Jugendblüte, diese lieblich Gestalt, dieser Blick voll Treu und Güte mit unendlicher Gewalt?“

Ich sprach es ihm ohne Probleme nach. Anschließend fügten wir die neuen Zeilen zu den alten, bis ich den ganzen Text konnte. Oder, wir ihn konnten.

„Und jetzt alles zusammen“, vorderte Jerry mich auf.

„Herz, mein Herz, was soll das geben?
Was bedränget dich so sehr?
Welch ein fremdes, neues Leben!
Ich erkenne dich nicht mehr.
Weg ist alles, was du liebtest,
Weg, warum du dich betrübtest,
Weg dein Fleiß und deine Ruh –
Ach, wie kamst du nur dazu!

Fesselt dich die Jugendblüte,
Diese liebliche Gestalt,
Dieser Blick voll Treu und Güte
Mit unendlicher Gewalt?
Will ich rasch mich ihr entziehen,
Mich ermannen, ihr entfliehen,
Führet mich im Augenblick,
Ach, mein Weg zu ihr zurück.

Und an diesem Zauberfädchen,
Das sich nicht zerreißen lässt,
Hält das liebe lose Mädchen
Mich so wider Willen fest;
Muss in ihrem Zauberkreise
Leben nun auf ihre Weise.
Die Veränderung, ach, wie groß!
Liebe! Liebe! Lass mich los!“ Jerry sprach leise mit mir mit und der Text saß perfekt.

„Na, bitte! Du kannst es!“, rief er.

„Das lag an meinem fantastischen Lehrer“, meinte ich und lachte.

„Nein. Das lag an diesem Ort.“

Ich dachte über seine Worte nach und fragte mich, ob dieser Ort Wunder bewirken würde. Zu Hause vor meinem Schreibtisch brauche ich Stunden um Gedichte auswendig zu lernen. Aber hier. Wir saßen hier nicht mal eine halbe Stunde. Aber als mir klar wurde, dass wir hier schon eine ganze Weile auf dem kalten Steinboden saßen, merkte ich, dass mir kalt war.

„Wollen wir gehen?“, fragte Jerry, als ob er meine Gedanken hätte lesen können.

Ich nickte und er half mir beim Aufstehen. Nebeneinander liefen wir den Weg wieder zurück und fuhren dann im warmen Auto nach Hause, während ich einschlief, so erschöpft war ich. Ich vertraute sogar auf seine Fahrkünste.

Mittwoch

Am nächsten Tag in der Schule sah ich Heaven, als ich gerade mein Cabrio auf einen freien Parkplatz lenkte. Zur gleichen Zeit erspähte sie mich, winkte und kam auf mich zu.

„Hey!“, rief sie mir aus einiger Entfernung zu, während ich noch aus dem warmen Auto kroch. Ich lächelte und verriegelte die Türen.

Heaven sah mich unsicher an, aber dann platzte es doch aus ihr heraus. „Okay, ich weiß, dass diese Fragen nerven, das kenne ich selber. Zum Beispiel, als ich Adam im Urlaub kennengelernt hatte, hast du auch die ganze Zeit solche indiskreten Fragen gestellt. Oder als-“

„Komm zum Punkt, Heaven!“, wütete ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.

Sie schüttelte kurz den Kopf um ihre Hirngespinste zu koordinieren und fing dann wieder an: „Okay, also dieser Jerry Lee und du…“

Ich hatte schon befürchtet, dass so etwas kommen würde, als der Name „Adam“ fiel.

Er war, so wie Heaven dachte, ihre große Liebe gewesen. Sie hatte ihn in der neunten Klasse kennengelernt, als sie mit ihrer Familie die Ferien zwei Wochen in Griechenland verbracht hatte. Er hatte ihr einen Milchshake über ihr Oberteil gekippt. Sie meinte, sie habe sich wie in einem Film gefühlt. Und als sie ihm und er ihr in die Augen geblickt hatte, war es um sie geschehen. Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Als sie es mir in einem Internetcafé schrieb, meinte sie, dass wenn so etwas in Filmen passierte, es immer die große Liebe sei. Deshalb hatte sie sich auch eingeredet, dass es bei ihr und ihm genau so sein musste. Dann sahen sie sich erstmals nicht mehr und Heaven war schon ganz verzweifelt und dachte, er sei abgereist. Aber dann trafen sie sich zufällig und die Sache zwischen ihnen wurde ernst. Naja und dann kam durch Adams große Schwester heraus, dass er eine Freundin hatte. Aber dieser Betrüger hat nicht mitbekommen, dass Heaven es erfahren hatte. Sie machte mit diesen Worten mit ihm Schluss: „Es ist vorbei, du Betrüger!“

Darauf antwortete er: „Ich habe dich nicht betrogen.“

„Ja, mich nicht!“, schrie Heaven zurück und dann stapfte sie wütend davon.

Ein Glück, dass Adam am nächsten Tag abreiste. Aber in dem Moment, hatte er ja keine Ahnung, was Heaven mit seiner Schwester ausgeheckt hatte. Heaven hatte seine Schwester gebetenen, heimlich ein Foto zu machen, während Adam sie küsste. Anschließend suchten die zwei die Handynummer von Adams Freundin und schickten ihr das Bild. Seine Schwester, Zoey, informierte sie über eine SMS und erzählte, dass seine Freundin schon am Abend, als sie heimkamen, Schluss mit ihm machte. Sie hatte einen Brief und das Bild in einen Umschlag gesteckt und vor die Haustür gelegt. Zoey erzählte außerdem, dass die beiden kein einziges Wort mehr mit einander sprachen. Heaven und Zoey waren sich sicher, dass sie den Kontakt abbrechen würden, sobald diese „Sache“ erledigt wäre, da Adam sonst vielleicht auf Heaven zurück kommen könnte. Aber Heaven schaffte es einfach nicht, die Nachrichten zu löschen und auch Zoeys Nummer blieb in ihrem Handy gespeichert.

Heaven meinte, dass das das Beste war, was sie je fabriziert habe. Aber ich wusste genau, dass es ihr auch etwas leid tat, was sie Adams Ex-Freundin angetan hatte. In mancher Hinsicht war sie froh, dass Adams Ex, so wie sie, jetzt die Wahrheit wusste, aber demgegenüber, tat es ihr auch leid, dass die Beziehung zwischen ihr, beziehungsweise der Ex, vorbei war. Und auch sie war niedergedrückt, dass er nicht ihre große Liebe gewesen war, wobei sie im Nachhinein nur über sich selbst lachen konnte, dass sie wirklich geglaubt habe, er sei die Liebe ihres Lebens. Ich selbst dachte mir schon die ganze Zeit, dass ein Urlaubsflirt nicht für immer halten konnte, doch dies behielt ich für mich, da ich ihr nicht den Spaß verderben wollte.

Und jetzt wollte sie mir eigentlich die Fragen stellen, die ich ihr damals gestellt hatte. Nur dazu kam es nicht.

„Was hast du am vergangenen Tag mit Jerry Lee gemacht?“ Sie sah mich neugierig an und ich wollte ihr bloß nicht in die Augen sehen, da mir sonst nur Gedanken gekommen wären, was sie sich gerade ausmalte, was wir ihrer Meinung nach getan haben könnten.

„Was genau meinst du?“, fragte ich sie, als hätte ich nicht den Hauch einer Ahnung.

„Du bist doch gestern beim Klassenzimmer geblieben. Und sicherlich nicht, weil du die Schnauze von uns voll hattest. Es war wegen diesem Kerl, habe ich recht?“

„Ach so. Ja, ich wollte fragen, weswegen er sich so ausgrenzt. Er ist schließlich erst seit kurzem an der Schule. Ich finde, er sollte gleich Anschluss zum Unterricht finden“, verdeutlichte ich ihr, auch wenn es irgendwie eine Ausrede war.

„Und du denkst, dazu bräuchte er Freunde?“

Was sollte das? Meinte sie mit Freunden mich? Wollte sie mich fragen: „Und du denkst, dazu bräuchte er dich?“ Wollte sie mich beleidigen? Oder ist sie einfach nur sauer? Vielleicht will sie aber auch einfach nicht, dass ich ihn kennenlerne. Vielleich will sie ihn selber kennenlernen? Aber wieso sollte sie mich von jemand fernhalten, damit sie sich ihn selbst schnappen könnte? Zudem wollte ich ihn ja nicht… oder? Eigentlich hatte ich darüber noch gar nicht recht nachgedacht. Natürlich sah er verdammt gut aus und war auch nett, aber… Ich ließ den Gedanken offen in der Luft hängen.

Ich wusste es nicht, also ausforschte ich nur: „Was willst du mir damit sagen?“

Sie sah mich zögernd an, doch dann sagte sie es doch. „Ich will dich nicht wegen dem verlieren.“

Ich sah sie besorgt und etwas aufgebracht an. „Das wirst du auch nicht! Ich verspreche es dir.“

„Sag nicht, du wirst es mir versprechen, denn dann geht es selbstverständlich schief.“

Ich verdrehte fast unsichtbar genervt die Augen. „Okay, dann eben nicht, aber was soll das Ganze dann?“

„Hast du nichts bemerkt?“ Sie sah mich traurig an.

„Was sollte mir aufgefallen sein?“, fragte ich ungeduldig. Heaven sollte jetzt endlich mit der Sprache herausrücken und im Klartext mit mir reden, da ich sonst noch die Fassung verlieren würde.

„Ach komm schon! Als ob du nicht gemerkt hättest, seit du mit diesem Kerl rumhängst, wir uns überhaupt nicht gut verstehen.“

„Ja, aber ich denke nicht-“

„Und am Ende sitze ich alleine herum.“

„Okay, ich glaube du spinnst total. Du stehst neben meiner Familie an erster Stelle! Ach, Quatsch! Du gehörst zu meiner Familie. Du steigerst dich in etwas hinein, das zu keiner Zeit so sein wird. Ich werde dir niemals so etwas antun!“

„Aber woher willst du das wissen?“, rief sie.

„Weil…“ Ich wusste es nicht, aber ich spürte es.

„Ja?“

„Ich weiß es eben!“, rief ich und ging zornig an ihr vorbei.

Wie konnte sie nur so etwas von mir denken? Ich bin doch nicht einer dieser Menschen, der seine Freunde wegwirft und sich einfach und ohne jegliche Rücksicht neue sucht. Vor allem Heaven nicht!  Ich kenne sie schon Ewigkeiten. Sie ist meine beste Freundin und das bleibt auch so. Für immer.

Und in dem Moment kam Jerry Lee. Am liebsten hätte ich schrill gekreischt. Das war der schlechteste Augenblick, um nach einem Streit mit Heaven, der auch noch um ihn ging, aufzutauchen.

„Hey!“, begrüßte er mich und grinste schief.

Ich sagte nichts, sondern drehte mich um und da stand Heaven, mit herunterhängenden Schultern. Und sie sah uns an. Also, eigentlich, sah sie Jerry an. Mit zusammen gekniffenen Augen.

Er folgte meinen Blick und machte ein leises: „Oh.“

„Das kannst du laut sagen!“, stimmte ich ihm laut zu und verschwand ohne ein weiteres Wort im Schulhaus. Glücklicherweise folgte Jerry Lee mir nicht. Ich hatte keine Lust, mir von Heaven anhören zu müssen, dass ich jetzt schon wieder mit diesem Kerl „abhängen“ würde und um ehrlich zu sein, fühlte ich mich etwas komisch. Erst ist er ein totales Arschloch und will nichts mit mir zu tun haben und dann treffe ich ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Vielleicht hatte Heaven ja tatsächlich recht und ich sollte nichts mit im „anfangen“. Was sollte das schon heißen: „Mit ihm etwas anfangen“? Das war derselbe Gedanke, den ich schon vor ein paar Sekunden hatte und ich wischte ihn schnell beiseite.

Ich stieg die Treppen zu unserem Klassenzimmer nach oben. Ich hoffte niemanden zu treffen, weil ich einfach nicht in der Stimmung war, mich mit jemand zu unterhalten. Doch natürlich war das Glück wieder einmal nicht auf meiner Seite. 

Calvin kam auf mich zu.

„Was geht?“, rief er mir entgegen.

„Ich!“, sagte ich und wollte mich an ihm vorbei drücken, obwohl ich wusste, dass er mich eh festhalten würde.

Er lachte und… hielt mich am Handgelenk fest. Ich blieb stehen und sah ihn abwartend an.

„Also, hast du heute schon was vor?“ Als er mich ansah glänzten seine blauen Augen wie immer.

„Äh, wie bitte?“, fragte ich, zumal ich eindeutig nicht folgen konnte.

„Die Autotour?“, half er mir auf die Spur.

Innerlich verdrehte ich die Augen und wollte meinen Kopf gegen irgendeinen steinharten Gegenstand hämmern.

 „Heute leider nicht“, log ich.

„Ich weiß, dass das nicht stimmt. Also, frag ich dich normal. Hast du heute Zeit für die Autotour?“

„Nein?“, versuchte ich es wieder und runzelte die Stirn.

Er lachte und sagte: „Okay, ich warte nach der Schule bei deinem Auto.“ Er wuschelte mir über den Kopf. Dann ging er.

Ich strich mir gestresst meine Haare zurecht und jetzt bemerkte ich, dass er ganz anders war, als sonst. Irgendwie nicht so… verpennt.

Kurz bevor ich ins Klassenzimmer ging, drehte ich mich nochmal um. Calvin lief gerade an zwei Mädchen vorbei, wirbelte zu ihnen um, zwinkerte ihnen zu und war wieder der alte Calvin, über den so viele Gerüchte herumgingen.

 

Meine beste Freundin und Jerry Lee kamen zur gleichen Zeit in das Klassenzimmer. Heaven setzte sich ohne ein Wort zu sagen neben mich. Jerry setzte sich auch neben mich, aber er lächelte mir und auch Heaven zu. Ich lächelte ihm  zurück, drehte mich dann aber flüchtig zu Heaven um, um zu sehen, wie sie auf ihn reagierte. Sie sah ihn ausdruckslos an.

Dann bemerkte sie meinen Blick und lächelte. „Hey, ein paar aus unserer Klasse gehen heute Schlittschuhfahren. Sie haben mich eingeladen und ich soll auch jemanden mitbringen, wenn ich möchte. Hast du vielleicht Lust mitzukommen?“

Ich wollte schon ja sagen, aber dann fiel mir ein, dass Calvin mich nach der Schule an meinem Auto erwartete. Aber was würde passieren, wenn ich gar nicht zu meiner Karre gehen würde?

„Ich hätte schon Lust…“, fing ich an, „Aber Calvin will heute mit mir eine Autotour machen.“ Ich sah sie entschuldigend und auch etwas gequält an.

Jerry Lee hatte unser Gespräch anscheinend mit angehört, denn er drehte sich ruckartig zu uns um und fragte entsetzt: „Was? Du willst mit Calvin-“

Weiter kam er nicht, denn Heaven hielt ihren Zeigefinger in die Luft und fragte: „Was? Du willst mit Calvin eine Autotour machen? Sag mal, bist du völlig gaga geworden? Hast du mir nicht immer erzählt, du will mit diesem Kerl nichts anfangen?“

„Wer redet denn hier was von anfangen?“, fragte ich sie. „Vielleicht ist er ja gar nicht so übel, sondern ganz nett. Vorhin als“, wollte ich erzählen, doch ich wurde von Jerry Lees lautem Lachen unterbrochen.

Heaven und ich sahen ihn beide an und zischten aus einem Munde: „Ruhe!“

Er presste seine Lippen aufeinander und wandte sich von uns ab.

„Also, Miss McCarthy. Kommst du heute mit?“ Heaven sah mich mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen an.

„Ich denke, ich kann nicht.“

„Was machst du denn?“, fragte sie, als ob sie es nicht schon wissen würde.

„Ich werde heute eine Autotour mit Calvin machen“, sagte ich entschlossen.

Heaven verdrehte die Augen. „Nein! Das wirst du nicht!“

„Doch.“

Plötzlich bekam ich richtige Lust mit Calvin durch die Straßen zu brettern. Das kam sicherlich daher, da er bis jetzt der einzige war, der mich nicht genervt hatte.

„Gut, dann komme ich mit“, meinte Heaven.

Und Jerry, der sich in der Zwischenzeit wieder zu uns gedreht hatte sagte: „Ich auch!“

Erst hatte ich nur Heaven entsetzt angesehen, aber jetzt drehte ich mich mit offenem Mund zu Jerry um. Und auch Heaven sah ihn jetzt verwirrt und mit offenem Mund an. Was war hier nur los?

 

Nachdem wir, besser gesagt ich, beschlossen hatte, Heaven und sogar Jerry dürften mitkommen, liefen wir zu dritt in einer Reihe zu meinem Auto. Ich hatte zwar versucht, ihnen abzuraten mitzukommen, aber Heaven konnte man nichts mehr ausreden, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Bei Jerry war das anders. Ich kannte ihn nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass ich ihn recht gut zu einer anderen Meinung bringen könnte. Aber das war komischerweise überhaupt nicht der Fall gewesen. Er war sogar noch resistenter als Heaven gewesen, was bedeutete, dass ich es ihm einfach nicht ausreden konnte, so sehr ich mich auch angestrengt hätte. Also kamen wir jetzt zu dritt, um einen romantischen Ausflug mit Calvin zu machen. In Gedanken verdrehte ich die Augen, doch ich war mir sicher, dass sich Heaven genau das von unserem Treffen dachte.

Es hatte angefangen zu schneien. Vom Himmel fielen riesige Schneeflocken, die auf dem Boden, den Dächern, Bäumen oder in meinem Fall, auf dem Kopf und Schultern landeten. Ich hatte mir meinen dunkelbrauen Schlauchschal um den Hals gebunden und Handschuhe an die Finger gesteckt. Heaven lief mit ihrer dicken Lederjacke, Stulpen an den Finger, Stiefeln, die ihr bis zu den Knien reichten, eine graue Strumpfhose und einem kurzen Rock neben mir. Jerry trug einen schwarzen Mantel mit Kragen, eine schwarze Hose und dunkle, löchrigen und dreckbespritzten Chucks, die er umgekrempelt hatte. Er sah aus wie ein gefallener Engel, mit seiner hellen Haut, den schwarzen Augen, seinen vom Wind verwuschelten Haaren und den dunklen Klamotten. Ich sah ihn von der Seite an und bemerkte seinen starrenden Blick in Richtung meines Autos. Ich sah erst zum Boden und dann folgte ich seinen Augen.

Dort stand Calvin und ich musste mich schon sehr wundern, da er nur eine dunkelrote Weste trug. Keine warme Winterjacke. Nur eine Weste, die auch nicht gerade dick aussah. Er lehnte an der Fahrertür und sah uns deshalb nicht kommen.

Ich zückte den Autoschlüssel und das rote Cabrio machte ein leises Klicken, das Calvin aufschrecken ließ. Er drehte sich um und sein Grinsen verschwand einen klitzekleinen Moment, als er sah, mit wem ich den Parkplatz durchkreuzte. Mit Heaven, meiner besten Freundin, die einen zwar sehr schnell auf die Palme bringen konnte, aber eine treue Seele war. Und Jerry Lee, der… Neue. Über den ich gesagt habe, ich würde ihn nicht kennen, was mir Calvin jetzt selbstverständlich nicht mehr glauben würde, da ich jetzt mit ihm herumlief.

„Tatsächlich!“, sagte Heaven. „Er steht wirklich dort. Ich dachte, du würdest nur nach einer Notlüge suchen, weil… naja, ich weiß, dass du nicht gerade die beste Schlittschuhläuferin bist.“

Ich und Jerry sahen uns kurz an, ohne auch nur einen Gedanken zu zeigen. Meiner war allerdings: „Wieso seid ihr nur mitgekommen?“

Aber ich sagte: „Habe ich doch gesagt.“ Eine Bemerkung zu ihren Mutmaßungen ersparte ich mir.

Mir fiel auf, dass Calvin die anderen überhaupt nicht beachtete. Und das „Hallo!“, galt schätzungsweise auch nur mir. So wie es aussah, war er über meine Mitbringsel nicht sonderlich begeistert – sonnenklar, wer wäre das schon? 

„Sie haben sich selbst eingeladen!“, beteuerte ich ihm, ohne groß darauf zu achten, dass es die beiden anderen hören konnten.

Ich hörte Jerry neben mir kichern, aber Heaven gab kein Ton von sich.

„Ich bin mir nicht gewiss, ob das Wetter für den Ausflug passend ist?“, meinte Calvin. Er hatte meine Bemerkung überhaupt nicht wahr genommen.

Der Wind war stärker geworden und ließ mit seiner Kraft auch keinesfalls nach. Meine und Heavens Haare flogen ungezähmt durch die Luft und auch andere Mädchen quiekten oder fluchten vor sich her.

„Calvin hat recht“, sagte Jerry neben mir. „Das Wetter spielt heute wohl nicht mit.“

Meine beste Freundin grinste triumphierend. „Ist vielleicht auch besser so.“ Es war offensichtlich, dass Haven gegen den Ausflug war und langsam verging selbst mir die Lust, obwohl ich am Morgen noch guter Dinge war. Es lag vielleicht nicht nur daran, dass jetzt Heaven und Jerry mit dabei waren, sondern auch an Calvin. Heute Morgen war er so… so normal gewesen. Aber jetzt war er nicht mal in der Lage meinen Freunden Beachtung zu schenken.

Ich seufzte innerlich.

Wow! Stopp!

Hatte ich Jerry gerade zu meinem Freundeskreis dazu gezählt? Okay, er ist nur ein Schulkamerad. Nicht mehr und nicht weniger.

Aber wenn er das wirklich nur wäre, hätte ich mich doch niemals mit ihm getroffen?

„Also, was sagst du dazu?“, fragte Calvin und sah mich erkundigend an.

 „Zu was?“, fragte ich, weil ich nicht mitbekommen hatte, was er gerade von sich gegeben hatte.

„Wenn wir die Tour verlegen würden?“ Seine Lippen verzogen sich zu etwas, das aussah wie ein spöttisches Grinsen – aber nur ganz leicht.

„Ja, klar. Kein Problem“, meinte ich.

Über diese Entscheidung war ich so froh, dass es mir schwer fiel, meinen Freudenschrei zu unterdrücken. Es war die Richtige Wahl, da weder Calvin noch ich große Lust hatten, mit Heaven und Jerry zusammen in einem Auto zu sitzen.

Ich konnte spüren, dass Heaven mit dieser Entscheidung ebenfalls sehr zufrieden war. Nur der Gesichtsausdruck von Jerry blieb unverändert. Er starrte Calvin weiter mit seinen schwarzen Augen an.

„Cool, dann bis morgen!“, rief mir Calvin zu und verschwand zwischen den Autos. Doch kurz davor sah er Jerry an. Prüfend und mit einem etwas hochnäsigem Blick.

Heaven sagte: „Toller Ausflug. Wenn noch mal so was läuft, lade mich bitte abermals ein.“ Und dann verschwand sie in Richtung Schulgebäude.

Ich stand schweigend da, sah Heaven hinterher und fragte mich, was um Himmelswillen sie nur hatte.

„Ich habe mit ihr geredet.“ Ich hatte nicht gemerkt, dass Jerry immer noch neben mir stand.

„Mit wem hast du geredet?“, fragte ich.

„Mit Heaven.“

Sofort schoss meine Augenbrau nach oben und ich sah Jerry Lee prüfend an. „Und über was?“

„Ich habe sie gefragt, was sie gegen mich hat.“

„Wieso? Ich meine, wieso hast du sie das gefragt? Das kann dir doch eigentlich total egal sein?“ Ich sah ihn verwundert an.

Er sah mich eindringlich an. „Also stimmt es, dass sie was gegen mich hatte?“

„Ähm… Naja, ja. Vielleicht ein bisschen“, druckste ich herum.

„Aber dazu gibt es doch keinen Grund, oder?“ Seine Augen bohrten sich noch tiefer in mein Gesicht.

Seine Blicke wurden mir unangenehm und ich versuchte nicht rot zu werden. „Ich habe doch keine Ahnung. Nicht die geringste!“

„Gut. Ich nämlich auch nicht und das war der Grund, wieso ich sie darauf angesprochen hatte.“

„Okay, und was hat sie dir erzählt?“, fragte ich ungeduldig.

„Sie meinte, dass soll ich dir nicht sagen.“ Er zuckte mit den Schultern und sah mich unschuldig an.

„Wie bitte?“, fauchte ich. „Du redest mit ihr über mich und willst mir dann nicht erzählen, was sie gesagt hatte – mit meiner besten Freundin?“

Er hob abwehrend seine Hände. „Das hat sie mir gesagt.“

„Na warte“, murmelte ich und wollte Heaven hinterher stürmen, um ihr meine Meinung zu geigen.

Jerry stellte sich mir in den Weg. „Tu das nicht!“ warnend hob er seine Augenbrauen. Ich wollte fragen wieso, aber, als ob er meine Gedanken lesen könnte fügte er hinzu: „Sie meinte, sie bräuchte dich viel mehr als ich dich.“

Ich sah ihn verwundert an. „Und hat sie dir auch gesagt, was das genau heißen soll? Dass du mich nicht brauchst ist ja klar, aber wieso braucht sie mich so dringend?“

„Es geht um einen Adam, aber mehr wollte sie nicht-“

Plötzlich schwieg er, als er sah, wie ich ihn ansah.

Verwirrt.

Geschockt.

Entsetzt.

Wenn es der Adam war, dann war es dringend. Sie hatte am Morgen schon seinen Namen erwähnt. Hatte das eine Andeutung sein sollen?

„Was hat sie gesagt?“, fragte ich ernst. Ich konnte spüren, wie mir die Farbe aus dem Gesicht gewichen war.

„Du kennst diesen Typen?“

„Was hat sie gesagt?!“, sagte ich jetzt lauter. Um uns herum sahen uns die Schüler verwundert und belustigt an.

„Sie hat gesagt, sie müsste unbedingt mir dir reden.“ Er sah mich nichts wissend an. 

Ich schnaubte. „Das glaube ich auch“, meinte ich und lief weg. Im Laufen drehte ich mich nochmal um und rief Jerry zu: „Weißt du wo sie ist?“

Doch er zuckte nur mit den Schultern.

Ich stöhnte auf und fragte  mich, wie ich sie jetzt nur finden sollte. Die Schule war verdammt groß und es gab viele kleine und große Gänge, in die man sich verkriechen könnte. Aber mein erster Gedankengang war die Schulbibliothek, in der wir uns häufig nach dem Unterricht verkrochen und in Bücher geschmökert hatten.

Ich rannte die Treppe nach oben, in den höchsten Turm unserer Schule. Als ich oben ankam, war ich erst mal völlig erschöpft und schnappte wie ein Fisch, der gerade aus dem Wasser gezogen wurde, nach Luft. Es fühlte sich an, als ob ich ersticken würde, doch als mir wieder einfiel, wieso ich hier überhaupt war, stieß ich mit einem lauten Knall die Doppeltür auf, die in einen großen, runden Raum führte. Vor mir erstreckte sich ein langer Flur, an dessen Wänden sich viele Bücherregale anreihten. In der Bibliothek gab es Geschichtsbücher, Wissenschaftsbücher, Fremdsprachenbücher und alles andere, was man brauchte, wenn man in einem Fach nicht weiterfand oder Informationen für Referate brauchte.

Ich ging an die Theke, an der erfahrungsgemäß eine große Frau mit braunen, langen Haaren stand. Als sie mich sah lächelte sie, da sie mich und Heaven gut kannte.

Ich ging auf sie zu.

„Hallo, Molly Noel! Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte sie freundlich.

Mrs Cruz war einer der Menschen, die viel zu freundlich waren und die Menschen damit in die Flucht schlagen könnten – und dabei müssten sie es nicht einmal versuchen. Außerdem war sie etwas unheimlich, denn sie erschien immer hinter Regalen oder an Stellen, wenn man gerade am Wenigsten mit ihrer Anwesenheit rechnete.

„Ja, in der Tat. Ich suche Heaven. Ist sie zufällig hier herein gekommen?“

„Nein, tut mir leid. Sie war nicht hier“, antwortete sie und sie schien traurig zu sein, weil sie mir nicht helfen konnte.

„Okay, trotzdem danke, Mrs Cruz“, sagte ich und wollte mich zum Gehen wenden.

„Ist es denn sehr dringend?“, hielt sie mich auf und sah mich mit großen traurigen Blicken an.

Ich nickte. „Ziemlich.“

Dann nickte sie. „Wenn du nichts dagegen hättest, könnte ich sie ausrufen und hierher bitten lassen.“

„Das wäre sehr nett“, sagte ich hoffnungsvoll.

Sie schnappte sich das Telefon und rief im Sekretariat an, sie sollen einen Ausruf nach Heaven Barrymoore machen. Kurze Zeit später ertönte aus den Lautsprechern an den Wänden eine Durchsage, dass sich Heaven auf schnellstem Weg in die Bücherei machen sollte.

„Vielen Dank, Mrs Cruz!“, sagte ich und setzte mich auf eine der Sitzgelegenheiten und wartete.

 

Zehn Minuten später war immer noch nichts von Heaven zu erblicken, weshalb ich beschloss, weiterzusuchen und nicht auf sie zu warten. Und vielleicht würde sie mir ja auf der Treppe entgegen kommen.

Ich wusste, dass Heaven noch auf dem Schulgelände war. Also überlegte ich, wo sie noch sein könnte. Und wieso sie nicht kam. Ob sie keine Lust hätte oder… oder den Ausruf überhaupt nicht gehört hatte.

Kaum hatte ich das gedacht, wusste ich auch schon, dass es stimmte. Und der einzige Ort, an dem keine Lautsprecher waren und bis dorthin nicht laut genug waren, war der Ort hinter der Turnhalle. Dort, wo ein verrosteter Pavillon, den ich mit Heaven entdeckte hatte, zwischen dichten Sträuchern und Büschen stand.

Es ist fast unmöglich dort hinzugelangen, außer, man kriecht auf dem Boden unter den Büschen hindurch. Und genau das tat ich jetzt, nachdem ich aus dem Schulgebäude, die Treppe herunter gesprungen, an der verschneiten Rennbahn und den abgedeckten Weitsprungplätzen vorbei gehastet und hinter die Turnhalle gerannt war. Ich legte mich in den Schnee und robbte los, wobei meine ganze Kleidung voller Schnee wurde.

Kurze Zeit später stand ich vor dem vereisten Pavillon. Er war rund und hatte dünne Stäbe, die in einem gebogenen Dach zusammenliefen. An den Führungen nach oben schlängelte sich Efeu entlang, bis hoch zur Krone. Und wie ich vermutet hatte, war Heaven dort. Sie saß, mit den Beinen zur Brust gezogen, in der Mitte des Gestells.

Sie wusste, dass ich da war, denn sie hob den Kopf, drehte sich aber nicht zu mir um. Jedoch wusste sie es schon die ganze Zeit, denn während ich auf dem Boden kroch, hatte ich wütend vor mich her geschimpft hatte.

Ich setzte mich neben sie auf den kalten Boden.

„Hat dich Jerry Lee geschickt?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

Ich nickte, ohne auch nur zu zögern. „Ja.“

„Was hat er dir gesagt?“, fragte sie und blickte zu mir auf.

 Als ich ihr Gesicht sah erschrak ich. In ihren Augen schimmerten Tränen und sie waren leicht rot. Auch ihre Nase war rötlich und verstopft, weshalb sich ihre Stimme seltsam anhörte.

„Nichts. Er hat nur gesagt, du bräuchtest mich mehr als er mich. Und einen Namen hat er erwähnt.“ Ich brachte ihn aber nicht über die Lippen, weil ich sie nicht verletzten wollte, in dem ich ihn laut aussprach. Aber auch, als ich ihn nicht aussprach, hing er in der Luft.

„Adam“, hauchte sie knapp und nun kullerte ihr die erste Träne über die Wange, die bis jetzt in ihrem Auge geschimmert hatte. Sie wischte sie mit dem flachen Handrücken weg und streifte sie an der Strumpfhose ab.

Ich sah sie weiter an und wartete darauf, dass sie etwas sagte, aber es kam nichts. Also fragte ich vorsichtig: „Was ist mit ihm?“

Doch Heaven schüttelte den Kopf und schniefte. Sie wollte etwas sagen, doch es kam nur ein lauter Schluchzer aus ihr heraus.

Ich rückte näher an sie heran und wischte ihr die Tränen von der Wange, als weitere folgte. Dann legte ich meinen Arm schützend um ihre Schulter und nahm eine ihrer kalten Hände.

„Ich warte, bis du bereit bist, darüber zu reden.“

Sie nickte und schniefte.

„Keine Angst. Ich bin bei dir. Ich verlasse dich nicht. Niemals. Das verspreche ich dir und du kannst mir glaube, dass ich es nicht machen werde. Und das weiß ich, weil ich es so will. Es ist das Richtige. Und ich dich liebe. Du bist mir wie eine Schwester. Schon immer. Und das wird so bleiben.“

Heaven lächelte unter ihrem Tränenschleier und legte ihren Kopf an meine Schulter. Ich hielt weiterhin ihre eiskalte Hand und streichelte ihr weiches, dunkelblondes Haar.

Was immer es war. Es war schlimm und es ging um Adam. Doch woher wusste sie, dass etwas mit Adam war? Hatte sie nicht den Kontakt mit ihm unterbrochen? Was war passiert, das Heaven so fertig machte?

Nach einer Weile lag Heaven ganz ruhig in meinem Arm. Sie hatte aufgehört zu weinen und zu schniefen. Ich drückte sie ein bisschen von mir weg und sah sie prüfend an.

„Alles okay bei dir?“

„Ja“, sagte die sonst so starke Heaven mit zittriger Stimme. Sie musste zwar gerade nicht weinen, aber tief in ihr, war der Damm noch lange nicht versiegelt.

„Wie wäre es, wenn wir uns aus dem Automaten einen Kaffee holen?“, schlug ich vor und lächelte ihr aufmunternd zu.

„Ja. Das wäre perfekt.“ Heaven sprach ganz leise.

Ich half ihr beim Aufstehen und kroch vor ihr aus dem Gebüsch. Als wir zum Schulgebäude gingen, hielt ich die ganze Zeit über ihre zitternde und kalte Hand.

Wir setzten uns in die leere Cafeteria gegenüber an einen Tisch, der ganz hinten in einer Ecke stand.

Ich sagte nichts, sondern wartete einfach, bis Heaven anfing zu sprechen.

„Ich habe Adams Schwester, Zoey, eine SMS geschickt.“ Sie sah mich an.

Heaven dachte sicher, ich würde ihr jetzt ihren bezaubernden Kopf abreißen. Aber das tat ich natürlich nicht. Als ich die Nachricht hörte explodierte ausnahmslos alles, aber ich ließ nichts nach außen. Ich saß nur da und sah sie an.

Dann fuhr sie fort. „Ich wollte wissen, wie es ihr ginge… und natürlich Adam.“ Sie schwieg kurz. „Ach komm schon, sag was. Irgendetwas.“ Heaven sah mich flehend an.

„Was hat sie geschrieben?“, fragte ich knapp.

„Warte!“, sagte Heaven und holte aus ihrer Tasche ihr Handy. Sie tippte kurz auf dem Display herum und reichte mir anschließend das Mobiltelefon. „Hier. Lies selbst.“

 

Gottverflucht! Wieso hast du geschrieben? Ich dachte wir hätten ausgemacht, wir brechen den Kontakt ab? Egal, ich erwarte gar keine Beantwortung meiner Fragen. Du hast gefragt, wie es uns ginge? Ich kann dir sagen, hier ist die Kacke am Dampfen. Seit dem Brief mit dem Foto. Du weißt schon, was ich meine. Wir haben damals einen riesengroßen Fehler gemacht. Das ist aber alles so verdammt kompliziert. Er hat niemanden etwas erzähl gehabt, dass er mit seiner Freundin Schluss gemacht hatte, nachdem er dich zum ersten Mal gesehen hat. Er hat also niemand betrogen. Aber das wusste ich nicht. Seine Ex hat die SMS aber nie bekommen. Klar, denkst du dir jetzt, was für ein Arschloch, hat per SMS Schluss gemacht, aber er wollte niemanden betrügen, deshalb hatte er es gemacht.

Aber das Schlimmste ist, dass Adam die SMS gelesen hatte, die du vor einem Tag geschickt hast. Und jetzt? Und jetzt will er dich besuchen kommen. Für zwei Wochen. Er wird auf deine Schule gehen, aber nicht bei dir wohnen. Es sollte eigentlich eine Überraschung für dich werden, aber ich kann meine Klappe einfach nicht halten.

Ach, und wenn wir schon mal von mir reden, ich komme auch mit, aber werde nicht in den Unterricht gehen, da ich letztes Jahr meinen Abschluss gemacht habe und einen Job ganz in der Nähe gefunden habe.

Und frag mich nicht, wie er herausgefunden hat, wo du wohnst und auf welche Schule du gehst.

Ich freue mich auf künftiges Wiedersehen.

Deine Zoey.

 

Ich sah von ihrem Handy auf. Heaven hatte mich die ganze Zeit über beobachtet. Sie nippte an ihrem Pappbecher und fragte, nachdem ich ihr ihr Telefon zurückgegeben hatte: „Denkst du es war ein Fehler zu schreiben?“

Ich brauchte nicht lange zum Überlegen. „Nein“, sagte ich entschlossen.

„Nicht? Aber das war doch der Grund, wieso er überhaupt auf die Idee gekommen war zu kommen.“

„Ja, das stimmt. Aber er kommt sicherlich nicht, weil er dir sagen will, wie sehr er dich verabscheut. Das könnte er auch per SMS machen. Dazu müsste er nicht auf unsere Schule kommen und in einem Hotel schlafen. Und seine Schwester müsste auch nicht mitkommen, nur um ihn zu unterstützen. Außerdem, war es ja auch ihre Idee gewesen das Bild zu machen. Adam kommt, weil er noch etwas für dich empfindet. Und wenn das auch der Fall wäre, würde er verstehen, was du im Urlaub gemacht hast.“

Heaven überlegte kurz. „Was würdest du sagen, was wir jetzt machen?“

„Ich weißt nicht. Ich kann dir aber sagen, was wir nicht machen werden.“

Heaven lachte. „Und das wäre?“

„Ganz einfach. Wir werden nicht ausflippen und uns vor Angst in die Hose machen.“

„Und wie lange sollen wir das machen?“

„Solange, bis Adam da ist.“

„Ich weiß aber nicht, wie lange das ist“, stellte Heaven fest.

„Gut. Dann weiß ich jetzt, was wir machen.“

„Jetzt erst recht nicht ausflippen?“, fragte sie mich gerunzelter Stirn.

Ich lachte. „Falsch. Jetzt werden wir herauskriegen, wann Adam kommt.“ Ich grinste. „Darf ich nochmal dein Handy?“

Jetzt wurden ihre Augen größer. „Du willst doch nicht etwa…?“

„Ganz genau. Ich schreibe eine SMS!“

„An Zoey?“, sagte Heaven, als ob sie es immer noch nicht glauben würde.

„Ganz recht. An Zoey. An Adams Schwester.“

Mich wunderte es, wie locker ich mit dieser Geschichte umging. Aber wäre ich an Heavens Stelle gewesen, wäre ich schon lange durchgedreht.

Sie kicherte. „Schreib aber bloß nicht, wie entsetzt ich war, als ich das gelesen habe“, sagte sie und zeigte auf ihr Handy.

„Was denkst du wer ich bin? Ich frage nur, wann sie gedenken zu kommen. Mehr nicht.“

Nachdem ich die SMS geschrieben und auch abgeschickt hatte fragte mich Heaven: „Findest du, ich sollte mir Sorgen machen?“

„Wie bitte? Wieso das denn? Weil dein Ex, den du vor zwei Jahren im Urlaub getroffen hattest dich besuchen kommt? Hm… vielleicht ein bisschen.“ Wir lachten. „Du solltest dir aber vor allem Gedanken machen, was du anziehen wirst, auch wenn du in allem toll aussiehst.“ Ich sah sie verschwörerisch an. 

Heaven lachte und lehrte ihren Kaffeebecher in einem Zug. „Also nicht?“

„Nein. Das macht einen nur total nervös und das darfst du auf keinen Fall sein, wenn du ihn nach so langer Zeit wieder triffst. Wie schon gesagt, überlege dir was du anziehen willst. Du musst nämlich verdammt gut aussehen, wenn er kommt. Und nicht nur, damit er denkt, dass du verdammt toll bist, sondern auch, damit alle anderen Jungs an der Schule total neidisch werden.“ Ich grinste und wackelte mit den Augenbrauen.

„Alles klar, ich lass mir etwas Gutes einfallen. Und wenn mir nichts einfallen wird, frage ich dich, okay?“ Sie sah mich hoffnungsvoll an.

„Dir wird etwas einfallen“, besänftigte ich sie.

„Aber wenn ich keine Anziehsachen habe?“, fragte sie plötzlich total nervös.

Ich verdrehte ein kleines bisschen die Augen, lächelte aber. „Dann gebe ich dir welche… oder du gehst nackt.“

„Klar, dass würden sicher alle Jungs wahnsinnig toll finden“, gluckste Heaven und wir verfielen in einen fast endlosen Lachanfall.

 

Wir hielten am Bordstein vor dem kleinen Plasterweg, der zu der verzauberten Veranda von Heavens Holzhaus führte. Auf dem kunstvollverzierten Geländer der Veranda lag überall glitzernder Schnee. Das Holz der Schauseiten hatte einen wunderschönen, warmen Farbton, der auf einen Betrachter einfach nur einladen wirkte – eine Farbe zwischen orange und bräunlich. Ein veilchenblauer Blumentopf, der an einer Befestigung von der Decke hing und leicht im Wind baumelte, war leer, ebenso wie die entleerten, roten Blumenkästen, die rund um das Geländer der Veranda befestigt waren.

Im Sommer und Frühling sah ihr Haus noch schöner aus, als im Winter. Zu dieser Jahreszeit blühten die Blumen in allen Farben und die Sonnenstrahlen ließen das warme Holz des Hauses rötlich glänzen. Der Vorgarten, zwischen dem auch der kleine Weg aus Pflastersteinen hindurch lief, wäre mit großen, grünen Sträuchern und gepflegten Pflanzen bestückt, die alle um die Wette prahlten mit ihren leuchtenden und strahlenden Farben.

Wir hatten die ganze Autofahrt über gelacht und Witze nach dem anderem gerissen, so als ob der Name Adam nie gefallen war.

Zoey hatte bis jetzt noch keine SMS zurückgeschrieben, wobei wir darüber etwas verärgert waren. Aber ich gab ihr noch Zeit bis morgen früh, falls sie in der Nacht schreiben und Heaven die Nachricht nicht lesen würde. Und wenn sie bis dahin nicht geschrieben hätte, würde sie nichts mehr schreiben. Aber Heaven dachte anders. Sie glaubte nur, sie würde rechtzeitig antworten. Das hieß, bevor sie losfuhren. Also, falls sie losfahren würden, denn mir kam es doch etwas bizarr vor, dass er mit seiner Schwester her kommen würde. Ich hatte bisher nur von ihm gehört, aber ihm plötzlich gegenüber zu stehen, ihn in Realität zu sehen und ihn mir nicht mehr vorstellen zu müssen, konnte ich nicht glauben.

Heaven war bereits aus dem Auto gestiegen und lehnte sich nun mit ihrem linken Arm am oberen Türrahmen an.

„Kommst du morgen bitte gleich zu mir?“, fragte sie flehend.

Ich nickte einverstanden. „Klar. Wo wartest du?“

„Beim Haupteingang. Dort, wo Jerry Lee heute auf dich gewartet hatte“, erklärte sie knapp.

„Alles klar“, sagte ich und Heaven schloss die Tür, fragte mich aber unwillkürlich, ob Jerry Lee tatsächlich dort auf mich gewartet hatte oder einfach nur dort auf den Gong der Schulklingel gewartet hatte.

Ich wollte gerade den Motor starten, als Heaven nochmal an die Scheibe klopfte und mir mit der Hand zeigte, ich solle sie herunterfahren. Mit einem leisen Summen öffnete sich das Fenster.

„Wenn wir schon mal den Namen Jerry Lee erwähnen“, fing sie an, „Ich glaube, er ist doch nicht so übel. Und wenn bald auch mein Kerl kommt, können wir zusammen mit ihnen angeben.“

„Okay, alles… Was? Hast du gerade Jerry Lee als meinen Kerl beschrieben? Das ist er nämlich nicht.“ Ich warf ihr einen ärgerlichen Blick zu.

Wie kam sie nur immer wieder auf die absurde Idee, dass irgendwann etwas zwischen uns laufen würde. Schließlich hatte ich ihm erst vor kurzem verziehen, dass er sich wie ein Volltrottel benommen hatte.

„Ah ah! Noch, ist er das nicht“, sagte Heaven und grinste vergnügt.

„Ich denke, das Beste für dich ist, wenn ich jetzt fahre, du bekommst sonst wohlmöglich noch Entzugserscheinungen“, neckte ich lachend meine beste Freundin.

Heaven triumphierte laut: „Aber die Sache vor dem Klassenzimmer mit dir und Jerry Lee, musst du mir unbedingt noch erzählen.“ Sie zwinkerte mir wissend zu, obwohl sie überhaupt keine Ahnung hatte, was wirklich passiert war – zum Glück. Allein bei dem Gedanken, dass Jerry und ich zusammen in einem Wandschrank gesteckt hatten, lief ich rot an.

„Wahrscheinlich“, sagte ich und schloss das Fenster, während Heaven zu ihrem Haus ging.

„Nicht.“

Dann brauste ich davon.

 

Ich wollte mich gerade in mein weiches Bett legen, als mein Handy klingelte. Ich sah auf dem Display Heavens Handynummer aufblinken.

Sofort fragte ich mich, was nun schon wieder los war, denn es war nicht das erste Mal, dass Heaven anrief. Zu Beginn wollte sie wissen, ob ihre Haare noch einen schönen Schnitt hatten. Wollte sie sich denn tatsächlich noch einen Friseurtermin machen? Das zweite Mal hatte sie angerufen, um zu fragen, ob das Outfit, das sie zusammengestellt hatte, passen würde. Sie beschrieb mir alles bis ins kleinste Detail und meinte schließlich, dass es wohl doch das falsche Outfit wäre und hatte aufgelegt, bevor ich auch nur den Mund öffnet konnte, um etwas zu erwidern. Als sie zum dritten Mal anrief stellte sie mir ihr zweites Outfit vor und ich sagte, dass es sich gut anhören würde und fügte schnell hinzu: „Genau wie das erste!“. Erst hat sie mir zugestimmt, doch dann verwarf sie den Gedanken diese Klamottenkombination anzuziehen und legte wieder auf.

Natürlich war ich immer bereit, meiner Freundin zu helfen, aber ich konnte nicht sagen, was Adam gefallen würde – mal davon abgesehen, dass Heaven in allem gut aussah. Außerdem ging sie mir langsam ein wenig auf die Nerven.

Ich drückte auf die grüne Schaltfläche und nahm das Gespräch an.

„Hey, Heaven!“, begrüßte ich sie und versuchte so freundlich wie möglich zu klingen, schließlich konnte ich verstehen, weshalb sie so aufgedreht war. Doch es gelang mir in keinster Weise.

„Morgen!“, sagte sie total aufgebracht.

Ich blickte verwirrt auf das Telefon in meiner Hand. „Es ist Abend?“

War sie jetzt völlig verrückt geworden und konnte die Zeit nicht mehr einschätzen – oder lesen? Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, sie alleine zu Hause zu lassen – von ihrem großen Bruder, Jake Barrymoore, mal abgesehen, der in diesem Fall aber mit Sicherheit keine große Hilfe gewesen wäre. Doch möglicherweise war sie nicht mal mehr im Stande sich sicher von Raum zu Raum zu bewegen, ohne über einen Teppich oder ihre eigenen Füße zu stolpern, um sich dabei den Kopf an einer Kommode anzuschlagen und jämmerlich zu verbluten oder sich gleich das Genick zu brechen.

„Adam kommt morgen!“ Hörte ich dann aber ihre Stimme, die sich nur… etwas nervös anhörte. Okay, das stimmte nicht. Heaven war halb am ausrasten!

Zu Recht.

Ich sagte nichts.

Hatte ich wirklich richtig verstanden? Adam würde morgen in die Schule kommen? Aber das konnte nicht sein. Ich hatte doch erst vor Kurzem erfahren, dass er überhaupt kommen würde. Wieso kommt er denn schon morgen? Okay, ich weiß, dass ich mir darüber eigentlich keine Gedanken machen müsste, aber ich tat es. Wahrscheinlich für Heaven, weil sie überhaupt nicht in der Lage war, irgendetwas zu denken.

„Und… äh… also…“, stotterte ich, weil ich einfach keinen zusammenhängenden Satz heraus brachte.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Heaven schließlich. Völlig verzweifelt und mit den Nerven am Ende.

Keine Schwäche, dachte ich. Ich musste jetzt stark bleiben und eine Lösung finden. Natürlich fand ich keine.

„Du, ich habe echt keine Ahnung.“

Das war wirklich super. Ich, als Freundin sollte eigentlich für sie da sein, aber natürlich verschlug es ausgerechnet mir die Sprache.

„Soll ich mich krankstellen?“, fragte sie und es klang todernst.

Ich riss die Augen auf. „Was? Nein. Er weiß ja, dass du an der Schule bist und wenn du nicht kommst, ist das irgendwie sehr auffällig. Und er kommt ja wegen dir und will dich sehen. Du bist die einzige, die er kennt. Da kannst du ihn doch nicht im Stich lassen.“

Sie schnaubte leicht, aber ich konnte es deutlich hören. „Aber was soll ich sonst machen?“

„Ruhig bleiben. Und dich nicht krankstellen! Also, ich komme morgen kurz vor acht bei dir vorbei und dann fahren wir zusammen zur Schule.“ Ich machte eine Pause, doch dann fiel mir noch etwas Wichtiges ein, das ich ihr unbedingt als Rat geben musste, bevor eine von uns beiden auflegen konnte. „Ach, fang in der Nacht bitte nicht zu heulen an, sonst siehst du morgen total bescheuert aus. Leg dich einfach hin und schlafen. Schlaf auch wirklich und mach nicht die ganze Nacht durch. Also, ich sehe dich morgen. Wunderschön. Ist das klar?“ Doch in Gedanken fügte ich wieder hinzu, dass sie das sogar mit geschwollenen Augen sein würde.

„Ja, aber…“, wollte sie sagen, doch ich unterbrach sie.

„Was denn jetzt noch?“ Ich stöhnte. „Du schaffst das schon, schließlich hast du die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann, an deiner Seite.“ Ich grinste, was Heaven natürlich nicht sehen konnte.

„Okay, dann egal. Schlaf du aber auch. Gute Nacht… hoffentlich.“

„Schlaf schön!“, sagte ich und legte auf.

Ich kuschelte mich in mein Bett und starrte noch eine Weile an die Decke.

Er kommt tatsächlich. Was werden die zwei wohl denken, wenn sie voreinander stehen? Okay, Adam wird sicherlich denken, wie toll Heaven aussieht. Aber was würde Heaven von ihm denken? Ach, ich habe es. Wenn sie sich freut würde sie sicherlich verlegen auf ihn zu gehen und ihn mit einem schüchternen „Hi!“ begrüßen. Aber wenn sie auf einmal einen Panikanfall bekommt, denkt sie sicherlich: „Schnell weg von hier!“. Und dann wäre sie auch wirklich weg. Und was wäre mit mir? Keine Ahnung. Ist aber auch egal, weil es hier nicht um mich, sondern um Heaven und Adam geht.

Ich befahl mich dazu, endlich meine Augen zu schließen. Ich war schneller weg, als ich dachte. 

Donnerstag

Ich wachte vom Klingeln meines viel zu lauten Weckers auf.

Meine Hand schnellte hervor und donnerte auf das kleine piepsende Gerät, das ich am liebsten aus dem Fenster in den Garten geschmissen hätte – oder gleich in das Meer, in dem es niemals wieder hervorkommen würde und ich Ruhe hatte – bis meine Mum mir ein neues kaufen würde.

Ich stand auf und öffnete das Fenster neben meinem Bett. Davor ließ ich mich auf den Schreibtischstuhl sinken.

Was Heaven wohl gerade macht?

Ich verwarf den Gedanken sie anzurufen, denn jetzt wollte nicht ich diejenige sein, die die andere nervte. Und vielleicht war sie auch gerade dabei zu vergessen oder zumindest die bevorstehende Tatsache zu verdrängen.

Also sprang ich von meinem Stuhl auf und wandelte noch immer schlaftrunken ins Badezimmer.

 

Neben dem Toast, der auf einem schneeweißen Porzellanteller lag, stellte ich eine Tasse mit Kakao, als meine Mum in die Küche platzte. Sie war natürlich viel zu fröhlich. Außerdem trug sie einen langen, roten Rock, der ihre Taille betonte und bei jeder kleinen Bewegung um ihren schmalen Körper sprang, und dazu einen dunkelblauen Sweater mit Kragen. In ihren Ohren steckten ihre großen Hänger, die sie immer trug, wenn sie in die Stadt einkaufen ging – ich hatte keine Ahnung wieso.

Sie lächelte mich fröhlich an. „Na, heute besser gelaunt?“ Sie beugte sich über mich und blickte auf mein langweiliges Essen herab. „Hm, was ist das denn?“

Ich zuckte mit den Schultern. Auf keinen Fall durfte ich irgendwelche Bemerkungen machen, dass heute ein ganz besonderer Tag war. Sie würde nur wieder irgendwelche bescheuerten Fragen stellen, die meine Nerven an dem heutigen Tag einfach überspannt hätten.

„Besser als gestern“, meinte ich also und fügte hinzu, „Das ist ein einfacher Toast mit Marmelade und eine Tasse Kakao.“ Ich sah sie stirnrunzelnd an.

Sie nickte wissend. „Ja, ich weiß. Und wenn du es genau wissen möchtest, war das ein Versuch ein Gespräch aufzubauen. Du bist früh dermaßen muffelig, dass ich dich am liebsten überhaupt nicht aus dem Haus lassen würde.“

Ich überlegte kurz. Vielleicht wäre das überhaupt keine schlechte Idee gewesen.

Doch schließlich verdrehte ich nur die Augen.

„Aber wenn wir schon mal von Marmelade reden, hast du irgendeinen besonderen Wunsch für eine bestimmte Sorte?“, fragte sie mich und war wieder total fröhlich.

Ich stopfte mir ein Stück Toast in den Mund. „Wieso das denn?“, nuschelte ich.

„Oh“, machte sie. „Habe ich dir vergessen zu sagen, dass ich heute diesen neuen Laden besuchen gehe? Ach, wie heißt er doch gleich…“

Ich musste etwas grinsen. Es war so typisch, dass sich meine Mum nicht den Namen merken konnte, obwohl er so oft erwähnt wurde.

Smell&Taste“, erklärte ich.

Mum klatschte in die Hände. „Ach, richtig!“ Sie machte eine Pause. „Also, welche Marmeladensorte?“

Wieder zuckte ich mit den Schultern. „Ist mir relativ egal.“

Jetzt verdrehte sie die Augen. „Sag doch einfach irgendetwas.“

„Ähm“, machte ich. „Erdbeere?“

Mum stöhnte. „Du bist so langweilig.“

Ich sah sie finster an. „Es entzückt mich, dass du so von mir denkst. Da sieht man wieder einmal, wie viel du in den zwei Monaten Psychologiestudium gelernt hast.“

„Gut, dann kaufe ich eben, was ich in die Finger bekomme“, meinte sie schließlich und ignorierte meine Antwort. „Steht heute irgendetwas Besonderes in der Schule an?“

Natürlich dachte ich sofort an Adam. Es war fast so, als könnte meine Mum Gedankenlesen. Aber die Geschichte konnte ich ihr einfach nicht erzählen. Das wäre zu… Mein Blick schnellte zur Uhr.

„Verdammt“, rief ich und sprang vom Stuhl auf. „Wenn ich jetzt nicht fahre, komme ich zu spät.“

Mum verdrehte mal wieder die Augen und machte eine Bewegung, die mir sagte, ich solle mich beruhigen. „Schätzchen, du hast noch massig Zeit. Die Schule fängt doch erst um…“

„Ja, schon klar. Aber ich habe Heaven versprochen, sie heute mitzunehmen“, erklärte ich ihr in Windeseile, während ich in den Flur sprang.

Mum kam mir hinter hergeeilt. „So schlimm wäre es nun auch wieder nicht, wenn ihr zu spät kommt.“

Natürlich sah es meine Mum mal wieder total gelassen, wann tatsächlich die Schule anfing – ich fragte mich, ob sie überhaupt wusste, wann sie wirklich begann.

Ich schlüpfte in meine Schuhe, während ich meine knallrote Jacke vom Haken fischte und versuchte nicht umzufallen.

„Ja, Mum“, meinte ich nur und schnappte mir meine braune Wildledertasche, die sie mir entgegenstreckte. „Wir sehen uns später.“ Ich ging zur Haustür, öffnete sie und trat in die Kälte.

Meine Mum winkte mir kurz hinterher und rief in einer heiteren Stimme: „Ja, bis später!“

 

Ich hielt vor dem schmalen Pflasterweg der zu Heavens Haus führte. Sie stand noch nicht dort, also ging ich, so wie wir es besprochen hatten, zur Tür und drückte kraftvoll auf den goldenen Knopf der Klingel.

Ihre Mum machte mir auf. „Oh, Molly Noel!“, begrüßte sie mich freundlich. „Komm doch rein!“

Grace Barrymoore war meiner Mum sehr ähnlich – kein Wunder, dass sie schon lange vor unserer Geburt befreundet waren. Heaven und ich stellten uns die Freundschaft zwischen uns beiden in einigen Jahren genau so vor.

Grace war genauso überfreundlich und immer massig mit Energie vollgetankt wie Mum. Sie hatte meist bunte Lippen in rötlichen und orangenen Tönen, ihr Gesicht umrahmt von einem Meer aus blonden Locken und meist trug sie bunte und total ausgeflippte Sachen.

„Morgen, Grace“, sagte ich und trat in den Flur.

Bei Heaven roch es immer himmlisch. Eine Mischung aus wunderbarem Waschpulver, Orangen und frischen Blumen. Ein Gemisch aus Gerüchen, welches ich niemals vergessen würde.

„Heaven ist in der Küche. Sie ist noch am Essen. Es kommt mir vor, als ob sie heute irgendwie anders ist. Schreibt ihr heute eine Klausur oder ist heute irgendetwas Besonderes?“ Und genau wie meine Mum, hatte auch Heavens Mum die Begabung Gedanken lesen zu können.

„Nicht das ich wüsste“, log ich und lächelte, obwohl es mir schwer viel sie zu belügen – dafür hatte ich sie eigentlich viel zu gerne.

Ich folgte ihr in die Küche, in der sich Heaven gerade ein Brötchen in den Mund stopfte. Als sie mich sah lächelte sie.

„Hey!“, nuschelte sie mit vollen Backen und hielt sich die frischlackierte Hand vor den Mund. Erstaunlicherweise waren ihre dunkelblauen Nägel perfekt.

Ihre Mum zog ihr den Teller unter der Nase weg und meinte: „Ihr müsst jetzt wirklich los, sonst kommt ihr noch zu spät. Und du hast jetzt ja wohl genug gegessen. Das war schon dein drittes Brötchen – so viele isst du nie!“

Heaven lachte. „Okay, lass uns gehen.“ Sie sprang auf, schnappte sich ihre Tasche und wir gingen nebeneinander aus dem Haus zum Cabrio, nachdem Grace Heaven zwei Schokoriegel in die Tasche geschmuggelt hatte.

Heaven sah atemberaubend. Sie hatte sich ihre grünen Augen dunkler geschminkt und so leuchteten und schimmerten sie stärker als gewohnt. Auf ihren Lippen trug sie eine schimmernde Pflegecreme und ihre dunkelblonden Haare fielen ihr glatt über die Schultern. Sie trug die Schrumpfhose von gestern und dieses Mal einen dunkelblauen Rock, der ihr bis zur Taille reichte. Darüber ein graues Top, welches sie sich in den Rock gestopft hatte und darüber einen kurzen Blaser.

„Was guckst du denn so? Sehe ich so schlimm aus?“ Sie sah mich verzweifelt an.

„Was? Nein! Überhaupt nicht. Du siehst verdammt gut aus.“

Erst überlegte sie, doch dann lachte sie und stieg in mein Auto ein.

Die Fahrt verlief schweigend, während Heaven vor Aufregung auf ihrem Bein mit den Fingern trommelte. Sie kam mir auch irgendwie länger vor als sonst. Aber das war sie überhaupt nicht, denn wir fuhren um dieselbe Uhrzeit auf einen freien Parkplatz wie sonst auch immer. Und es war auch alles wie immer. Zumindest auf den ersten Blick: Ein paar Schüler saßen auf Bänken oder auf der Treppe, die zum Schulgebäude führte und lasen in ihren Schulbüchern. Andere standen zusammen in Gruppen aus Schülern und quatschten. Manche saßen bei ihren Autos und hörten Musik aus dem Radio, wobei das eher Krachen, als Musik war, da der Empfang auf dem Schulgelände miserabel war. Und ein paar wenige standen bei ihren Motorrollern, Mofas oder Motorrädern und redeten über ihre neusten Maschinen.

Aber auf den zweiten Blick war etwas anders. Ich wusste, dass es da war, aber nicht, was es war.

Auch Heaven schien es bemerkt zu haben. Sie sah stirnrunzelnd auf das Treiben. Ihre Augen glitten von einer Person zu der anderen.

„Merkst du das?“, fragte ich schließlich, weil ich diese Stille, obwohl es um uns herum laut war, einfach nicht aushielt.

„Ja.“ Heaven sah mich an. „Aber was ist das?“, fragte sie.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber irgendwie ist hier etwas anders. Anders als sonst.“

Heaven nickte und ihr Blick flog noch einmal über die Schüler. „Gehen wir hinein.“ Entschlossen trat sie einen Schritt nach vorne.

Aber ich blieb noch kurz stehen. Ich sah einem Schüler in die Augen. Sie waren völlig normal. Wie immer. Er hatte keinen glasigen Blick. Seine Seele war in seinem Körper und sein Geist war bei klarem Verstand. Nur erkannte er die Veränderung nicht, genau wie alle anderen Schüler. Außer Heaven und mir.

„Es sind nicht die Schüler“, bemerkte Heaven, nachdem sie meinem Blick gefolgt war.

„Ja, ich weiß. Aber was ist es dann?“

Heaven sah mich wieder an und der Typ, den wir gerade stark beäugt hatten, verschwand kopfschüttelnd in der Menge der Schüler. „Irgendetwas. Aber es merkt keiner außer uns, habe ich recht?“

Ich nickte nur, weil ich nicht wusste was ich hätte sagen können.

„Okay, lass uns hinein gehen. Vielleicht ist es dort anders.“

Wir tasteten uns vorsichtig durch die Menge. Wir sahen jeden an, der uns über den Weg lief. Wirklich jeden. Aber wir konnten beide nichts Ungewöhnliches entdecken. Alle waren wie immer. Aber Heaven und ich wussten, dass etwas um uns herum lag. Etwas Neues. Völlig neu.

Wir traten in die Schule ein. Die Atmosphäre war auch anders als sonst. Zwar waren alle Schüler wie immer, aber es roch anders. Und es war kälter als sonst. Der Geruch war fantastisch. Mir wurde leicht schwindelig und ich verlor fast das Gleichgewicht. Ich schwankte einen Augenblick hin und her. Dann konzentrierte ich mich und war wieder in meinem Körper, hatte mein Gefühl wieder und mein Kopf war nicht mehr vernebelt.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich erschrocken um. Es war Heaven. Sie keuchte auf und fasste sich an den Kopf. „Was war das?“, fragte sie, so, als hätte sie gerade eine unsichtbare Faust in den Magen bekommen. „Dieser Geruch… er war so-“

„Fantastisch? Stimmt, aber auch schwindelerregend.“

Heaven nickte und holte durch den Mund tief Luft. „Du musst durch den Mund atmen. So riechst du diesen Geruch nicht. Aber ich frage mich wirklich, was hier los ist. Und wieso ist es hier so kalt?“

Wir gingen nebeneinander in die Mitte der Aula und beobachteten die Sache genauer. Aber alles war genau wie vor dem Schulinneren. Die Augen der Schüler waren klar, sie benahmen sich normal, aber bemerkten anscheinend diesen Geruch und die Kälter überhaupt nicht. Aber woher kam eigentlich diese Kälte? Außen war es überhaupt nicht kälter geworden, sondern wärmer. Nicht besonders viel, aber ein paar Grad waren tatsächlich gestiegen. Also gab es doch keinen Grund für diese Kälte, oder? Aber irgendwie war sie ja trotzdem da.

„Heaven? Sind wir verrückt?“, fragte ich.

„Nein. Hier stimmt etwas nicht.“

„Aber wieso merken das nur wir beide, das kann doch nicht sein! Was ist denn so besonders an diesem Tag? Wieso benehmen die sich alle so wie immer? Die müssen das doch alle bemerken? Aber wieso tun sie das nicht! Wieso sind das nur wir?“

„Ich habe doch keine Ah-“ Und genau in dem Moment trat eine kleine Person in die Schule ein. Gefolgt von einer großen, mit blonden Haaren und heller Haut.

Heaven hielt die Luft an. „Molly Noel?“, fragte sie leise.

Ich folgte ihrem Blick.

„Sie sind da.“ Heaven packte nach meiner Hand.

„Wirklich? Das sind sie? Ich habe sie mir… ganz anders vorgestellt.“

Meine Freundin sah mich von der Seite an. Ich bemerkte wie sich ihre Nasenflügel bewegten und sie tief einatmete. „Kann es sein, dass der Geruch stärker geworden ist?“

Ich überprüfte es und verglich es mit dem Geruch zuvor. Der Duft war eindeutig süßer geworden, aber jetzt wurde mir nicht mehr schwindelig davon. Heaven schien es genauso zu gehen.

„Ja. Du hast recht“, meinte ich. „Aber ich finde, das dort vorne“, ich zeigte auf Adam, „ist jetzt viel wichtiger. Willst du vielleicht „Hallo“ sagen?“

Heaven schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß nicht.“ Sie sah zu den beiden rüber. Das Mädchen, das wahrscheinlich Zoey war, hielt einen Plan in der Hand. Es war sicherlich der, des Schulgebäudes. Zoey hatte kurze rote Haare, ein Piercing an der Unterlippe und linken Augenbraue. Unterhalb des Schlüsselbeines ragte eine kleine Tätowierung hervor. Es war eine runde Form, in der sich geschwungene Linien miteinander verschnörkelten, in deren Mitte eine Art Blume prangte. Die Tätowierung war ziemlich klein, doch es viel trotzdem stark auf, da ihre Haut noch heller war, als die von Adam… oder von Jerry Lee. Zoey wurde von den Schülern überhaupt nicht beachtet, wobei ihr Aussehen sehr speziell war. Aber auch Adam sah irgendwie nicht „normal“ aus. Er trug eine Lederjacke, Springerstiefel, eine schwarze Hose die ziemlich locker saß und so aussah, als würde sie ihm gleich herunterrutschen. Ihn beachtete wirklich jeder.

„Okay, ich geh jetzt zu ihnen rüber“, meinte Heaven entschlossen, doch das war gar nicht nötig, denn Zoeys Kopf zuckte plötzlich in unsere Richtung. Als sie Heaven erkannte lächelte sie und zog Adam mit sich. Er hatte, nach seinem Gesichtsausdruck zu deuten, keine Ahnung, wohin ihn seine Schwester ziehen wollte.

„Okay, ich lass euch mal alleine“, sagte ich und wollte die Schulmasse durchquerte, um an eine Wand des Gebäudes zu gelangen.

„Hey, warte doch noch kurz. Dann kann ich euch doch gleich vorstellen.“

„Na gut, aber dann verschwinde ich.“

„Alles klar!“ Sie sah mich Dankbar an.

Adam hatte uns immer noch nicht gesehen. Er sah verwirrt um sich und versuchte den Blicken der Schüler und Schülerinnen aus dem Weg zu gehen. Mich wunderte es aber nicht, dass er so beäugt wurde. Er war sehr groß und überragte jeden Schüler. Und Zoey war ein Winzling mit roten Haaren – ein kleiner Zwerg. Ich hatte mir beide ganz anders vorgestellt. Adam dunkelhaarig und gebräunt. Zoey groß, mit einer Modellfigur und langen blonden Locken, die ihr wild um den Kopf sprangen. Aber ich war froh, dass sie so aussahen wie sie aussahen, denn sie waren beide wirklich schön. Sehr viel schöner, als in meiner Vorstellung. Selbst Heavens Beschreibungen kamen nicht an die beiden heran, wobei sie das Aussehen nicht wirklich geschilderten hatte. Sie hatte meist nur gesagt, wie toll sie doch beide aussehen würden. Aber da hatte sie eindeutig recht.

Und dann sah Adam uns. Aber irgendwie schien es so, als würde er Heaven überhaupt nicht erkennen. Aber Zoey erkannte Heaven und sie schmiss sich in ihre Arme.

Sie kreischte auf. „Hey! Wow, du siehst ja Bombe aus! Sind deine Haare länger? Steht dir wirklich wahnsinnig gut!“ Sie grinste breit und ihre blauen Augen leuchteten.

„Hi.“ Das war das Einzige was meine Freundin herausbrachte. Aber sie sah nicht Zoey an, sondern Adam.

„Sag mal Adam, was ist denn los mit dir?“, fragte Zoey ihren Bruder.

Er deutete mit dem Finger auf Heaven. Sie sah ihn verlegen und bewundernd an.

Seine Schwester verdrehte die Augen. „Ja, das ist Heaven falls du sie nicht mehr erkennst!“, meinte Zoey.

„Hey, Heaven“, meinte Adam. Er sah sehr verwirrt aus.

„Hi.“

Ich stand die ganze Zeit neben an und sagte nichts. Zoey war genau wie ihr Aussehen. Total verrückt.

Ich räusperte mich und sagte: „Hi.“

Heaven kam wieder zu sich und meinte: „Ach ja, das Molly Noel. Meine beste Freundin.“

Zoey reichte mir ihre Hand. „Und ich dachte immer, ich wäre Heavens beste Freundin. Freut mich sehr dich kennenzulernen.“ Sie grinste weiterhin.

„Gleichfalls.“ Ich lächelte ihr zu.

Adam ignorierte mich einfach. Er sah Heaven an, deren Gesicht sich langsam in eine Tomate verwandelte.

„Ich finde es echt total süß, dass du wegen ihr hierhergekommen bist“, sagte Zoey.

Adam riss den Blick von Heaven los und sah seine Schwester an. „Ich bin nicht wegen… Ja, ich… ich habe-“ 

„Er hat sie einfach zu sehr vermisst. Nicht wahr?“, fragte Zoey und schlang ihren Arm um seine schmale Hüfte.

Er konnte nur nicken.

Ich sah eine schnelle Bewegung in meinem Augenwinkel und entdeckte Jerry Lee auf einer Seite der Aula. Er selbst hatte uns aber nicht entdeckt. Über seinem Kopf hatte er sich seine Kapuze des Pullovers gezogen. Plötzlich erschien in meinem Kopf ein Bild. Aber so schnell es gekommen war, verschwand es auch schon wieder. Das Einzige was ich mir merken konnte, waren Bäume, Efeu, Dunkelheit und am Rande ein Bewegung.

Ich lächelte in die Runde. „Hey, ich lass euch jetzt alleine und-“

„Das ist eine sehr gute Idee“, meinte Zoey und nickte zustimmend. „Ich muss jetzt eh wieder gehen. Ich wollte dich nur kurz sehen.“ Sie sah Heaven an und umarmte sie stürmisch. Und sie trat tatsächlich auch zu mir und nahm mich in den Arm. Ich wusste nicht recht was ich machen sollte, also legte ich ihr nur kurz die Hand auf den zierlichen Rücken. „War wirklich sehr schön, dich kennenzulernen.“ Dann verpasste sie Adam einen Hüftstoß und verschwand.

Heaven kam zu mir hinüber und flüsterte mir ins Ohr: „Und?“

Ich sah sie etwas verstört an. Wie konnte sie mich vor Adams Augen fragen, der uns übrigens beobachtete und wahrscheinlich auch versuchte uns zu zuhören, wie ich ihn fände? Wenn ich ihn nun als totales Arschloch beschrieben hätte, was hätten die beiden dann wohl gemacht? Sicherlich würde meine Freundin mir eine scheuern und mich als verfluchte Schlampe bezeichnen. Und Adam würde ihr beim Verprügeln zu Hundertprozent helfen. Aber so weit würde ich es nicht kommen lassen. Was jetzt aber nicht heißen soll, dass ich davon laufen oder mir irgendeinen Kerl schnappen würde, der mir helfen sollte, die beiden fertig zu machen. Nein, das sollte heißen, dass ich es ihr nicht vor Adam sagen würde. Und übrigens fand ich auch nicht, dass er ein Arschloch war.

„Später“, meinte ich also nur.

Heaven nickte mir verschwörerisch zu und grinste. Sie drehte sich wieder zu Adam um, der sie bewundernd beäugte und dabei lächelte, als würden ihm gleich die Augen herausfallen. Ich war mir so sicher wie noch nie, dass er sie noch genau so mochte, wie zuvor.

Adam hatte die richtige Entscheidung getroffen, wieder herzukommen. Und Heaven kann von Glück reden, dass sie die SMS an Zoey geschickt hatte, da er sonst ja niemals gekommen wäre.

Ich war bereits auf dem Weg zu der Wand an der Jerry Lee stand und in irgendein Buch, wahrscheinlich eines aus der Bibliothek, starrte. Er war total in das Buch vertieft und bemerkte mich noch nicht mal, als ich direkt vor ihm stand.

Ich beugte mich über die Lektüre. „Was liest du denn da?“ Ich konnte Zeichnungen von Muskeln und Menschenkörpern sehen.

Er erschrak und zog den Wälzer hinter seinen Rücken.

Ich zog eine Augenbrauch nach oben. „Muss ja sehr spannend sein?“

„Du hast mich erschreckt“, meinte er und sah mich grimmig an.

„Ja, das habe ich bemerkt. Was liest du da?“, fragte ich und wollte das Buch hinter seinem Rücken hervorziehen. Aber er war schneller und nahm es schnell in seine andere Hand. Ich zog meine zurück und nahm etwas Abstand von ihm. „Okay?“

Als er bemerkte, dass ich einen Schritt ausgewichen war, kam er auf mich zu und meinte: „Hier.“ Er reichte mir das geschlossene Buch.

Es war schwer und ziemlich dick. Die Seiten waren zum Teil eingerissen und schon gelblich gefärbt. Auf dem Cover war ein Zeichen in den Ledereinband gestempelt, das mir irgendwoher bekannt vorkam. „Ich habe es bei mir zuhause gefunden und-“ Ich wollte gerade eine Seite aufschlagen, als er es mir wieder aus der Hand nahm. „Also, ich habe es mir angesehen und… naja, ich fand es interessant.“

„Klar, verstehe schon. So wie bei jedem Buch, das man lesen will, nicht wahr?“

Er sah mich stirnrunzelnd an. „Ja… so ungefähr.“

„Darf ich es auch mal lesen?“, fragte ich, weil es mir vorkam, als ob dort etwas wirklich sehr Interessantes stand. Etwas, das er auf keinen Fall mit jemandem teilen wollte.

„Nein!“, sagte er etwas lauter und verstaute das Buch in seinem Rucksack. „Also, ich meine… es interessiert dich sicherlich nicht und es ist...“

„Geheim?“, fragte ich.

„Ja, so… so wie…“

„So wie ein Tagebuch?“

„Ja, genau! Es ist mein Tagebuch“, verkündete er schließlich.

„Ja, sicher. Dein Tagebuch, dass du bei dir zuhause gefunden hast und es so interessant fandest, dass du es unbedingt lesen musstest, weil du ja nicht weißt, was dort geschrieben steht.“ Ich sah ihn misstrauisch an. Er glaubte sich ja noch nicht mal selber.

„Oh, sagte ich gerade mein Tagebuch? Ich meinte natürlich, dass von meinem Großvater.“

Ich nickte und musste mir verkneifen loszulachen, weil seine Lüge so dämlich war.

„Und wie geht’s dir so?“, fragte er, nachdem ich ihn eine ganze Weile missmutig beobachtet hatte.

„Gut. Wieso fragst du?“

„Oh, darf ich nicht?“

 „Doch schon. Und dir?“

Er zuckte mit den Schultern und sah die Leute um uns herum an. Seine Miene wurde ernst.

„Was ist?“, fragte ich.

„Nichts. Es ist nur…“

Ich sah ihn fragend an. „Ja?“

„Ach, es ist nichts.“ Er schüttelte abwehrend den Kopf.

„Das sieht mir aber ganz anders aus.“ Ich sah ihn eindringlich an.

Jerry Lee war ganz normal im Gegensatz zu den anderen Schülern um uns herum. Und ich wusste, dass er das auch wusste. Er wusste ganz genau, dass hier etwas nicht stimmte. Aber wie konnte ich ihm nur sagen, dass es mir auch genau so ging?

Jerry hatte bemerkt, dass ich ihn beobachtet hatte. „Warum guckst du mich so an?“, fragte er schließlich.

„Ach… nichts. Es ist gar nichts, so wie du gesagt hast.“ Ich sah ihm fest in die Augen und konnte spürten, wie er innerlich in sich zusammen schrumpfte.

Er beugte sich zu mir herunter und kniff die Augen zusammen. „Was weißt du?“

Ich sah ihn verblüfft an und dann wieder interessiert. Er wusste eindeutig etwas und ich musste herausfinden, was es war. Also, ich wollte es herausfinden.

„Oh, ich weiß vieles. Mehr als andere hier.“ Ich tat einfach so, als wüsste ich genau, was er meinte, es aber geheim halten wollte. Die Spiele konnten beginnen.

„Okay und was denkst du gerade eben?“, fragte er und kam noch ein Stück näher an mich heran.

Ich musste schlucken. „Vieles!“, brachte ich schließlich heraus.

„Und was genau?“ Jerry Lee sah mir tief in die Augen und neigte seinen Kopf zur Seite.

Du musst durchhalten. Na los, du schaffst das! Auf keinen Fall, darfst du irgendetwas sagen, was du von hier weißt. Auch wenn das nicht gerade viel ist, wenn nicht sogar gar nichts.

„Dass du mir gerade ziemlich nah auf die Pelle rückst“, meinte ich und ging wieder einen Schritt zurück.

„Oh, wirklich?“, fragte er und kam mir hinterher. „Das tut mir sehr leid, aber vielleicht möchtest du mir jetzt erzählen, was genau du weißt?“

„Nein. Ich denke nicht, dass dich mein Wissen etwas angeht“, sagte ich und grinste, wobei ich innerlich einfach nur davon rennen wollte. Es muss ja etwas sehr Interessantes sein, wenn er mich so in die Enge treiben wollte. Aber aus mir wird er nichts heraus bekommen. Naja, ich versuchte es zumindest.

„Doch, ich denke schon, dass mich dein-“ Er blieb regungslos einen Millimeter vor mir stehen. Er duckte sich, so dass er kleiner war als ich und zog mich hinter eine Trennwand, an der Bilder von den Unterstufen hingen. Ich fühlte mich wie ein Schutzschild für ihn. Er sah an der Wand vorbei und dann wieder zu mir. Ich presste mich gegen die Bilder, um mich nicht an Jerry Lee zu pressen, da er mir nur wenig Raum zum Atmen ließ.

„Woher kennt Heaven den Kerl neben ihr?“, fragte er mich und sah wieder in die Aula.

Ich wusste sofort wen er meinte. Adam. „Wieso interessiert dich das?“

Er sah mich mit zusammen gekniffenen Augen an. „Woher?“, fragte er erneut und seine Augenbrauen zuckten nach oben.

Langsam machte er mir Angst. Ich versuchte mich gemächlich nach rechts zu bewegen, um im passenden Augenblick abzuhauen und mich unter die Masse der Schüler zu mischen. Ich würde nicht mehr lange seinem Blick standhalten können. Er dachte, ich würde etwas wissen, das er unbedingt von mir hören wollte. Aber das tat ich ja eigentlich gar nicht. Ich spielte ihm ja nur etwas vor.

Jerry stützte seinen Arm rechts neben mir an der Trennwand ab. „Du willst doch nicht etwa abhauen? Also, woher kennt Heaven den Typen?“

„Ich weiß nicht wen du meinst“, sagte ich.

Jerry rollte mit den Augen. „Okay, ich werde jetzt meinen Arm wieder zurück ziehen und dich gucken lassen, aber wenn du versuchst abzuhauen… es wird dir eh nicht viel bringen, da ich dich einholen würde. Alles klar?“ Seine Augen starrten in meine.

Ich nickte, aber in meinen Gedanken schüttelte ich wie wild den Kopf, weil es an der Zeit war abzuhauen.

Jerry biss sich auf die Lippe und nahm tatsächlich seinen Arm von der Wand. Ich bewegte mich langsam und ließ ihn nicht aus den Augen. Auch er verfolgte jede meiner Bewegungen. Dann sah ich um das Hindernis herum. Aber ich konnte die beiden nicht entdecken. Sie waren nicht mehr dort, wo sie vorher gestanden waren.

Ich sah wieder zu Jerry Lee. „Ich kann Heaven nicht sehen.“

Er sah mich verwirrt an und griff nach meinem Handgelenk, damit ich nicht abhauen konnte, während er nach den beiden Ausschau hielt. Er beugte sich vor und ich konnte einen Blick über seine Schulter werfen. Und dann entdeckte ich Heaven mit Adam auf einer Bank sitzen. Das war meine Gelegenheit.

„Ach, da ist sie ja. Sie sitzt dort auf einer Bank!“, rief ich und zeigte mit meinem freien Arm in ihre Richtung.

Jerry Lee fuhr zurück und drehte sich um. Und in dem Moment ließ er meine Hand los. Er wollte sich wieder zu mir umdrehen, aber es war zu spät. Ich war schon weg.

Jerry hatte also nicht recht gehabt, dass ich es nicht schaffen würde vor ihm abzuhauen. Auch wenn bis jetzt noch überhaupt nicht feststand, ob ich es schaffen würde, denn er kam mir hinterher.

Ich rannte so schnell ich konnte in den ersten Stock. Auf der Hälfte der Treppe brannten meine Beine. Oben angekommen sah ich mich um, wohin ich flüchten konnte. Ich fand aber nur ein paar Schülergruppen aus denen mich einzelne schräg ansahen und den Flur, den Glasgang der zum Neubau führte.

Eigentlich war es verboten, sich in der Pause und vor Schulbeginn dort aufzuhalten, aber in diesem Fall war es eine Ausnahme, auch wenn das die Lehrer ganz anders sahen.

Ich war heilfroh, dass die Tür die vom Gang in das Gebäude führte, nicht verschlossen war. Das hätte sonst sehr böse enden können. Dann wäre ich nämlich in der Falle gewesen, da ich nur zurück hätte gehen können, aber das wollte ich auf keinen Fall, denn da war Jerry Lee.

Heute war irgendwie alles anders. Jerry Lee war komisch drauf, obwohl er im Gegensatz zu den anderen Schülern ganz normal wirkte. Genau wie Heaven und ich uns zumindest fühlten. Und ich glaubte, Adam war auch ganz normal und diese Sache an der Schule färbte bei ihm schon mal nicht ab. Aber sichersein konnte ich mir da natürlich auch nicht, da ich ihn ja eigentlich gar nicht kannte und nicht wissen konnte, wie er so „normal“ war. Also, musste ich Heaven unbedingt noch über ihn ausfragen. Aber nicht vor Jerry, der würde sonst nur doofe Fragen stellen. Ich war ja schon recht froh, heute nur eine Stunde Unterricht mit ihm zu haben. Vielleicht hatte Heaven doch recht gehabt und ich hätte mich nie mit ihm anfreunden sollen. Er ist wirklich merkwürdig. Sonst war er ja noch nie so, aber heute…

Ich nahm die Treppe und joggte bis hoch in den dritten Stock, in dem kein einziger Schüler war. An einer Wand entdeckte ich die Schränke, in denen Jerry Lee und ich uns vor Mr White versteckt hatten. Ich drehte mich kurz um. Es war nichts von ihm zu hören, aber am Treppengeländer glitt eine Hand nach oben. Das war eindeutig seine.

Ich öffnete eine Schranktür, glitt hinein und versuchte sie möglichst leise zu schließen. An der Wand suchte ich nach den zwei Schrauben, stellte mich auf sie und stützte mich an der Wand ab. Dann lauschte ich. Aber das Einzige was ich hörte war mein Atem und mein Herz, das laut pochte.

Gerade, als ich aus meinem Versteck gehen wollte, hörte ich Schritte, die von der Treppe kamen und ein tiefes, aber ruhiges Atmen. Ich hielt inne und hielt die Luft an. Die Geräusche kamen näher und näher, bis ich genau wusste, dass die Person zu der es gehörte, direkt vor mir stand. Ich zitterte und es fiel mir schwer, nicht von den Schrauben abzurutschen. Ich biss mir auf die Lippen und fing an flach zu atmen.

Dann hörte ich Jerry rufen: „Verdammt!“ Und im selben Moment donnerte seine Faust an die Tür. Ich konnte fühlen, dass sie genau neben meinem Gesicht aufprallte und wäre die Tür nicht gewesen, hätte er mich mit voller Wucht getroffen.

Ich schaffte es keinen Ton von mir zu geben, wobei ich am liebsten vor Schreck auf gequiekt hätte.

Vor der Tür des Schrankes war plötzlich Stille. Entweder war er schon gegangen oder stand noch direkt vor der Tür, mit der Faust am Holz gelehnt.

Zur Sicherheit blieb ich noch kurz in meiner Pose verharren, aber dann, als ich wirklich gar nichts mehr hörte, öffnete ich leise die Tür. Ich sah erst nach links und dann nach rechts, aber der Flur war eindeutig leer. Ich stieg von den Schrauben auf den Boden und dann aus dem Schrank hinaus. Dieses Mal nahm ich nicht den Glasflur, um in den Altbau zu gelangen, sondern den überfüllten Pausenhof.

 

Gerade, als ich die Tür zum Klassenzimmer erreichte, klingelte es und ich sah Mrs Star schon zu unserem Raum eilen. Sie hatte eine Landkarte unter ihren Arm geklemmt und in derselben Hand hielt sie ihre Tasche. Mit der anderen presste sie sich einen großen Karton an den Körper, damit er nicht herunterfiel. Natürlich half ihr niemand. Das lag nicht daran, weil wir einfach keine Lust hatten ihr zu helfen – naja, vielleicht kam davon ein bisschen auch hinzu – aber hauptsächlich, weil sie die schlimmste Lehrerin war, die es an der Schule gab und wahrscheinlich je geben wird. Im Unterricht durfte man keinen Ton sagen und wenn man dann mal doch den Mund aufmachte, ohne sich gemeldet zu haben, durfte man zwei Seiten aus dem dicken Erdkundebuch abschreiben, was mir schon ungefähr sechs Mal passiert war und da es immer dieselben Seiten waren, konnte ich mittlerweile einzelne Teile schon auswendig. Sie kam übrigens auch noch auf die Idee, einen Verweis zu verteilen, wenn man das Klassenzimmer fünfmal nach dem Gong betrat. Und blöderweise kam ich schon zweimal zu spät. Aber nicht, weil ich verschlafen hatte, sondern weil der Busfahrer einfach keinen Bus fahren konnte. Aber das wollte Mrs Star mir auf keinen Fall glauben. Es war aber auch sehr schwer ihr irgendetwas auftischen zu wollen.

Doch dies war in der Zeit, in der ich noch kein eigenes Auto hatte und mit dem Omnibus fahren musste. Also hatte ich jetzt die Hoffnung, nicht mehr zu spät zu kommen.

Ich schlängelte mich zwischen den halbdemolierten Tischen hindurch und setzte mich neben Heaven auf den Stuhl, während Mrs Star neben der Tafel eine Landkarte aufbaute. Taylor teilte den Inhalt des Kartons aus. Es waren kleine Pläne von Afrika.

Unsere Lehrerin faltete die Hände und stellte sich bestimmend vor die Klasse. „Ich möchte, dass ihr euch jetzt in die Gruppen von den vorherigen Stunden der Ferien zusammensetzt und die Arbeitsaufträge auf diesem Arbeitsblatt durcharbeitet. Am Ende der nächsten Stunde möchte ich, dass einer aus der Gruppe eure erarbeiteten Ergebnisse vorträgt“, sagte sie während gleichzeitig Taylor noch am Austeilen war. Anschließend sollte er noch die Blätter verteilen, worüber er laut stöhnte.

Das war jetzt natürlich genau die Arbeit, die alle in der ersten Stunde nicht machen wollten. Was gibt es Langweiligeres, als irgendwelche Städte oder Länder auf einer Karte zu suchen, um sie am Ende der ganzen Klasse vorzutragen.

Mein erster Gedanke war, dass ich das nicht machen wollte, da ich sonst immer diejenige war, die die ganze Drecksarbeit erledigen musste. Also beschoss ich gleich meine Meinung zu sagen und die anderen nicht zuvor kommen zu lassen.

Wir anderen, das hieß Heaven, Leon Cavanagh, Nils Jonas und ich, hatten uns bereits an zwei Tischen versammelt.

Meine beste Freundin sah mich gespannt an. „Und was sagst du jetzt zu ihm?“, fragte mich Heaven, natürlich gerade, als ich sagen wollte, dass jemand anderes die Präsentation übernehmen sollte.

Und in dem Moment rief Leon: „Ich stell nicht vor!“

„Nett?“, sagte ich, weil ich nicht genau wusste, was ich anderes hätte sagen sollen, da ich ihn ja eigentlich nicht kannte. Und um ehrlich zu sein, machte Adam auf den ersten Blick einen etwas merkwürdigen Eindruck. Dann fügte ich noch schnell hinzu, bevor jemand anderes etwas sagen konnte – und  das war an alle am Tisch gerichtet: „Ich auch nicht! Das habe ich schon die letzten tausend Mal gemacht. Ich finde, jetzt ist mal jemand anderer an der Reihe!“ Dabei sah ich Leon an, der es bis jetzt schon immer geschafft hatte, sich vor allem zu drücken.

Heaven packte mich an der Schulter. „Nur nett?“ Sie sah mich unsicher und zugleich erschrocken an. Als ob sie sich nun nicht mehr sicher war, ob sie mit ihm zusammen sein wollte.

„Ähm, reicht das etwa nicht?“, fragte ich verwirrt, während unserer anderen Gruppenglieder anfingen herum zu maulen.

Sie verdrehte die Augen. „Das kann ja wohl nicht alles sein, was du von ihm denkst?“

Da hatte sie natürlich recht, aber wie konnte ich genau das sagen, was ich von ihm dachte? Ich fand nicht, dass es so aussah, als ob er gewusst hatte, dass er sie in der Schule treffen würde.

„Nun, kann es sein… naja, dass er vielleicht etwas überrascht war, dich hier zu treffen?“

„Was meinst du damit?“, fragte mich Heaven und sah mich mit zusammen gekniffenen Augen an.

Ich zuckte kurz mit den Schultern und lächelte unschuldig. „Kann natürlich auch sein, dass ich mich nur getäuscht habe.“

Heaven nickte und richtete den Blick auf das Arbeitsblatt, um anschließend den Kopf wieder zu heben. „Ich stell mit Sicherheit auch nicht vor!“

Nils sah sich verzweifelt um. „Ich habe doch schon letztes Mal das Video über die Kinder in Afrika zusammen geschnitten und abspielen müssen! Das hat Stunden gedauert – sicherlich weil ich der einzige Mensch in diesem Universum bin, der sich nicht mit diesen technischen Gerätschaften auskennt… mal abgesehen von meiner Oma.“

Jetzt sahen wieder alle zu Leon, der so tat, als würde er die Aufträge auf dem Blatt lesen und unser Gespräch überhaupt nicht mitbekommen. Er wusste genau, dass wir ihn schon längst durchschaut hatten. Als ich mich dann aber räusperte, sah er doch auf und schüttelte langsam den Kopf. „Nein nein nein! Ich mach das nicht!“

 

Als es nach dem Biologiekurs bei Mr Leeve und dem Deutschkurs bei Mr Smith, dann endlich zur lang ersehnten Pause klingelte, strömten alle Schüler aus den Klassenzimmern und machten sich auf zu den üblichen Sitzplätzten, die sie immer in Anschlag nahmen. Und erst jetzt bemerkte ich wieder, wie sich hier alles verändert hatte. Allerdings konnte ich mit Heaven nicht mehr reden, da sie die Suche nach Adam begonnen hatte. Sie war schneller verschwunden als man „Buch“ hätte sagen können. Sie hatte in Windeseile alles in ihre kleine Tasche gestopft und ich musste mich wirklich wundern, dass dort alles seinen Platz fand. Sie hatte sogar geschafft ihre Bücher mitzunehmen, wobei sie die sonst auch meist zu Hause ließ. Dann hatte sie sich schnell ihre Jacke über den Arm geworfen, die Tasche über die Schulter und war im selben Tempo aus dem Zimmer geeilt.

„Die muss es ja ziemlich eilig haben“, bemerkte Phil O‘Sallivan, der plötzlich hinter mir wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

Ich drehte mich um, während ich meine Tasche packte und versuchte mein erschrockenes Gesicht wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Ja, hat sie. Aus sehr gutem Grund.“ Ich hob eine Augenbraue und sah ihn verschwörerisch an.

„Du meinst diesen Kerl?“, bemerkte er.

„Welchen Kerl?“, fragte ich, wobei ich mir schon hätte denken können, wen er meinte.

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Du weißt genau wen ich meine! Mit dem sie vorhin so rumgemacht hat. Wer ist das?“

„Ach dieser Kerl! Das ist ihr Freund. Er heißt Adam“, erklärte ich ihm, auch wenn ich nicht wusste, ob es Phil etwas anging, wer er war.

Phil klang plötzlich total eifersüchtig. „Sie hat einen Freund? Das hat sie mir nie erzählt.“

Ich hob meine Schultern. „Wieso sollte sie denn auch?“, fragte ich ihn.

„Ich dachte nur, dass wir recht gut befreundet sind. Ich habe ihr doch auch immer alles erzählt, wieso also sie mir nicht?“

„Das lag vielleicht daran, weil sie nicht so gedacht hat wie du“, sagte ich vorsichtig, auch wenn ich wusste, dass sie ihn mochte.

Phil sah auf den Boden.

„Aber wieso ist dir das so verdammt wichtig? Ich meine, ihr seid befreundet, was willst du mehr?“

Phil antwortete nicht. Er sah mich einfach nur an. Mit diesem Blick.

Mir klappte der Mund auf. „Du bist doch nicht etwa…?“

Phil wurde rot wie eine Tomate. „Okay, sag ihr und jetzt einfach nichts!“, sagte er hastig und etwas aufgebracht, wippte von einem Fuß auf den anderen.

Ich musste grinsen und machte mich weiter daran meine Tasche zu packen.

Phil kam um den Tisch geeilt und packte mich an den Oberarmen. „Sag ihr nichts! Hast du mich verstanden?“ Er sah mir tief in die Augen.

„Hey, sie ist meine Freundin, wir erzählen uns alles“, meinte ich und zuckte mit den Schulter, wobei ich ihr das nicht erzählen würde. Aber dann bemerkte ich, dass sie mir zu Beginn auch nicht erzählt hatte, dass Adam kommen würde. Erzählten wir uns also doch nicht alles?

Phil hatte sich bereits durch die Haare gerauft und blies scharf die Luft aus.

„Okay, okay! Ich sag ihr nichts!“

„Versprochen?“, fragte Phil wieder ganz aufgeregt.

„Klar!“

Jetzt sah er erleichtert aus. „Danke! Und wer genau ist jetzt dieser Adam?“, fragte Phil schließlich.

Ich lachte und schüttelte den Kopf. „Das ist eine wirklich lange Geschichte.“

„Ich habe Zeit!“, sagte er schnell.

„Ich aber nicht“, konterte ich, schulterte meine Tasche und machte mich auf den Weg aus dem Klassenzimmer.

„Ach komm schon! Jetzt wo du weißt, was ich für sie empfinde, musst du mir das einfach sagen“, rief er mir nach.

„Nein, muss ich nicht. Und solange sie es nicht weiß, erstrecht nicht!“ Mit diesen Worten machte ich mich auf zu dem Verkaufsstand, weil mein Bauch knurrte wie verrückt. Phil kam mir glücklicherweise nicht hinterher, sondern traf sich in der Pause mit seinen Kumpels aus anderen Klassen.

Ein Junge ließ mich am Verkaufsstand sogar vor, vielleicht weil ihm die Geräusche meines Magens allmählich auf die Nerven gingen. Dann musste ich nur noch vier Schüler abwarten, bis ich endlich an die Reihe kam und mir etwas zu Essen bestellen konnte.

Kauend und mit einer Käsestange in der Hand machte ich mich auf in die Aula, um Heaven oder irgendjemand anderen zu treffen. Allerdings rechnete ich nicht damit, dass mir ausgerechnet Calvin über den Weg laufen würde.

Als ich ihn ganz lässig an einer Wand lehnen sah, um ihn herum ein Schwarm aus Mädchen, wollte ich sofort umdrehen, damit er mich nicht sah. Aber leider war es schon zu spät, denn als er mich entdeckt hatte, ignorierte er die Mädels und kam direkt auf mich zu. Dabei streifte er eines sogar grob an der Schulter.

Ich sah mich kurz um und suchte nach Heaven oder sonst irgendwem, zu dem ich ganz zufälligerweise flüchten könnte. Aber das Problem war, dass ich einfach niemanden entdeckte. Es war unvermeidlich mit Calvin zu reden.

„Was geht ab?“, fragte er nickend, mit seinen Händen in der Hosentasche, als er vor mir zum Stehen kam und ich immer noch in der Gegend nach irgendjemandem suchte.

Ich sagte nichts, sondern sah ihn fragend an.

Er konnte meinen Blick deuten. „Okay, ich wollte dich fragend, wie es heute mit unserem Ausflug aussieht?“

„Heute?“, fragte ich und dachte nur: „Bitte komm mir nicht schon wieder mit diesem dämlichen Ausflug!“

„Ja. Ich meine, heute sind Heaven und Jerry Lee ja sicherlich nicht von der Partie, oder?“ Da hatte er – leider – recht. Heaven war mit Adam beschäftig und hatte an diesem Nachmittag hundertprozentig schon etwas vor. „Also, ich warte bei deinem Auto, alles klar?“

Ich sah zufällig zu dem Mädchenschwarm hinüber, das mich eifersüchtig und feindselig anstarrte, als mein Blick zu einer Person glitt, die schnell in unsere Richtung kam. Es war Jerry Lee.

Ich musste weg. Ich sah mich schnell um. Wohin sollte ich gehen? Egal. Einfach nur weg.

„Okay, okay!“, rief ich schnell und stolperte über meine eigenen Worte, wobei ich mich fast verschluckte. „Bis dann!“ Ich drückte mich an Calvin vorbei und wollte mich aus dem Staub machen.

„Wieso so eilig?“, fragte mich Jerry Lee und legte mir seinen Arm um die Schulter. Das tat er allerdings nur, damit ich nicht abhauen konnte und nicht, weil er mich so gern hatte.

„Wieso eilig?“, fragte ich eine Oktave höher.

Jerry musste sich sein Grinsen verkneifen. „Du hast nicht zufälligerweise vor, vor mir zu flüchten, oder?“ Er sah mich mit erhobener Augenbraue an.

„Ähm… nicht, dass ich wüsste.“ Dies klang wohl eher wie eine Frage.

„Gut“, sagte er, packte mich am Arm und zog mich in ein leeres Treppenhaus, an dem wir gerade vorbeigingen.

Ich erschrak, bemühte mich aber, nicht zu schreien. Jerry drückte mich neben der Tür an die Wand.

Ich räusperte mich um meine Stimme wiederzubekommen, die ich vor Schreck fast verloren hätte. „Was wird das?“, fragte ich. Es klang nicht ganz so eingeschüchtert wie ich mich fühlte, was ich sehr erstaunlich fand, da mich fühlte, als ob ich mir gleich in die Hose machen würde.

„Nochmal wegen vorhin“, begann er. „Was weißt du?“

Ich sah zur Seite, aber Jerry griff nach meinem Kinn und richtete meinen Blick wieder auf ihn.

Okay, das reichte. Ich hatte keine Lust mehr. Am besten sagte ich ihm einfach, was ich wusste, beziehungsweise nicht wusste.

„Ganz ehrlich. Ich habe keine Ahnung was du meinst. Und du machst mir langsam Angst.“

Sofort ließ er mich los und ging einen Schritt zurück. „Tut… tut mir Leid“, sagte er stirnrunzelnd.

Ich grinste. „Muss aber etwas sehr interessantes sein, dass du so einen Aufstand machst. Um was geht es?“

Jerry schüttelte den Kopf.

Ich ging auf ihn zu und packte seinen Kragen. Er sah mich erschrocken an. Ich grinste und fragte: „Und? Was weißt du?“ Das sollte eigentlich bewirken, dass er auch lachen würde, aber das tat er nicht. Ich ließ seinen Kragen los. „Ist also was sehr Ernstes?“

„Ja und ich kann dir sagen, dass ich es dir nicht verraten werde.“

Ich sah ihn enttäuscht an. „Och, das ist aber schade.“

„Sag mal, du fühlst dich nicht irgendwie… komisch?“

„Was meinst du?“, fragte ich.

„Nichts. Ist schon in Ordnung.“

Plötzlich ging das Licht im Treppenhaus aus und ich wich automatisch einen Schritt vor Jerry Lee zurück. Es war jetzt dunkel, weil hier nur ein kleines Fenster war, das nicht besonders viel Licht hereinließ.

„Komm, verschwinden wir von hier“, lachte Jerry Lee und nahm meine Hand.

Wir setzten uns nebeneinander auf eine Bank und schwiegen.

Allerdings  bemerkte ich, dass Jerry die Schüler beobachtete, die an uns vorbei gingen. Sie waren immer noch total komisch drauf und ich glaubte, dass Jerry Lee das auch bemerkt hatte.

Ich begann auf meinem Platz hin und her zu rutschen, weil mich die ganze Situation nervös machte, bis es Jerry allmählich auf die Nerven ging.

„Sag mal, kannst du nicht mal ruhig sitzen bleiben?“

Ich atmete tief ein und wieder aus. „Ich hab gelogen.“

Er sah mich nicht an. „Was meinst du?“

„Ich weiß doch etwas“, sagte ich langsam und warf ihm zögernd einen Blick zu.

Jetzt richtete er seine Augen auf mich und ballte die Fäuste.

„Nicht viel… Aber ich habe bemerkt, dass hier irgendetwas anders ist als sonst. Und ich habe das Gefühl, dass du das auch bemerkt hast.“

Er nickte kaum merklich. „Was meinst damit, dass hier etwas anders ist?“

„Ach komm schon! Als ob du das nicht wüsstest!“

Jerry sah mich auffordernd an.

„Okay, okay! Ich finde alle Schüler benehmen sich anders als sonst. Was hast du bemerkt?“, fragte ich.

Er antwortete nicht. Er sah erschrocken in eine Richtung. Ich folgte seinem Blick und entdeckte Heaven und Adam.

„Sag mal, ich hab dich vorhin doch gefragt, woher Heaven diesen Typen neben ihr kennt?“

„Ja.“

„Woher?“

„Lange Geschichte“, sagte ich, genau wie ich es auch schon bei Phil getan hatte. Ich fand nicht, dass es ihn etwas anging, also sagte ich es auch nicht.

Jerry stand auf und ging in schnellen Schritten auf die beiden zu. Ich versuchte Schritt zu halten, was allerdings sehr schwer war, weil er ja fast schon rannte.

„Meine Güte, was haben denn heute alle mit Adam?“, rief ich.

„Ach, du kennst ihn auch?“, fragte mich Jerry ohne sich umzudrehen.

Auch?, dachte ich. Ich gab allerdings keine Antwort mehr, weil wir gerade die beiden erreicht hatten.

Als Heaven uns sah, sagte sie: „Oh, hi! Das ist…“

Als Adam Jerry Lee ansah, schluckten beide schwer.

 

Heaven wandte den Blick zum tausensten Mal wieder ab. Aber im Gegensatz zu ihr konnte ich ihn erst gar nicht abwenden. Klar, versuchte ich es, aber nach kurzen Sekunden sprang er wieder zu den beiden zurück.

„Sie kennen sich also“, bemerkte Heaven und guckte wieder über die Schulter. Sie hatte recht. Als sie sich sahen, packte Adam Jerry Lee sofort an den Armen und zog ihn ein paar Meter von uns weg, um in Ruhe mit ihm reden zu können. Das taten sie wirklich, aber sehr leise, sodass wir nichts verstehen konnten. Sie sahen beide wütend und zugleich verwirrt aus, aber sie schafften es, sich zu beherrschen und dem andere nicht an die Gurgel zu springen.

„Meine Güte“, sagte Heaven ironisch. „Die müssen sich aber richtig gern haben!“

Ich kicherte, aber das brachte mir nur einen bösen Blick von Jerry ein. Ob er uns gehört hatte? Naja, vielleicht, hatte er auch nur zufällig zu uns geschaut – wie im Klassenzimmer am ersten Tag.

Plötzlich wurden die Stimmen der beiden lauter.

Jerry boxte Adam gegen die Brust. „Wenn du auch nur irgendjemanden sagst, dass ich hier bin… Dann mach ich dich fertig!“, rief er.
Daraufhin schupste Adam Jerry und brüllte ihn an: „Fass mich nicht an, du Verräter!“

Jerry schlug ihm mit der Faust gegen die Schulter und schrie: „Ach, und du darfst das? Mich anfassen? Und du weißt ganz genau, wieso ich das gemacht habe!“

Adam lachte boshaft. „Ja! Aber ich verstehe dich nicht!“ Und mit diesen Worten riss er Jerry zu Boden.

Heaven und ich standen zu Beginn wie gelähmt da und sahen zu, wie sie aufeinander einschlugen, bis Heaven irgendwann sagte: „Okay, das reicht!“ Sie machte einen Schritt nach vorne, aber in dem Moment schlug Adam Jerry so hart, dass er nach hinten stolperte und Heaven auf den Boden riss. Ich konnte genau sehen, wie sie auf dem Hinterkopf aufprallte und so laut schrie, dass jetzt auch der allerletzte Schüler den Kampf mitbekam.

Die Aula wurde mit Schreien und wilden Rufen erfüllt, die nicht nur von mir, Heaven, Adam und Jerry kamen. Sofort eilten Schüler herbei und sahen beim Kampf zu, doch keiner traute sich, einzugreifen.

Ich rannte zu meiner Freundin hinüber. „Oh mein Gott, Heaven!“, schrie ich und kniete mich neben sie.

Jerry lag neben ihr, aber er ignorierte ihren Sturz. Heaven bewegte sich nur wenig. Ich hatte ihren Kopf auf meine Oberschenkel gelegt und sah ihr in die Augen. Es sah so aus, als ob sie durch mich hindurch starren würde. Langsam wurde es auf meiner Hose warm und ich spürte, wie das warme Blut sich im Stoff meiner Hose ausbreitete.

Adam brüllte ihn an: „Verdammte Scheiße! Schau mal was du da-“ Dann bekam er die Faust von Jerry auf der Nase zu spüren. Es knackste ganz fürchterlich und Adam schrie auf. Er wollte sich auf Jerry Lee stürzen, doch in dem Moment stellte sich unser großer Sportlehrer zwischen die beiden.

 

Nun saßen wir alle im Zimmer des Direktors und sollten ihm in allen Einzelheiten erzählen, was vorgefallen war. Aber wir sagte gar nichts. Nicht wieso der Streit überhaupt ausgebrochen war, wobei ich das überhaupt nicht wusste, weil wir nichts Genaues mitbekommen hatten und vor allem um was es überhaupt ging. Mal auch davon abgesehen, dass uns der Direktor sowieso nicht glaubte. Er meinte, wieso wir uns dann überhaupt eingemischt hätten. Eigentlich meinte er damit Heaven, aber sie konnte nicht mitkommen, weil unser Sportlehrer, nachdem er sie kurz untersucht hatte, sie ins Zimmer der Krankenschwester geschickt, beziehungsweise getragen hatte.

 Das war auch der Grund, wieso ich hier war. Ich sprang sozusagen für sie als „Vertretung“ ein. Ich sollte sagen, was ich gesehen hätte, beziehungsweise was Heaven gesehen hatte. Dazu konnte ich aber nicht besonders viel sagen, da ich erstens; vom Streit nicht mal den Sinn fand und zweitens; zum größten Teil nur den Kampf mitbekommen hatte. Aber unserem Direktor war das egal und als er uns damit drohte, jedem einen Verweis zu geben, wenn wir ihm nicht sofort die Wahrheit erzählten, explodierte ich fast. Aber ich konnte ja nicht mehr erzählen, als ich gesehen hatte.

Meine Wangen glühten vor Wut. Aber nicht nur wegen des Direktes und dessen Verweise, die er uns androhte. Nein, ich war auch so wütend wegen Jerry Lee und Adam, die es anscheinend nicht für nötig hielten mich oder sich selbst zu verteidigen. Die meiste Zeit redete ich, aber ich sagte immer nur dasselbe. Dass ich nicht wüsste, über was Adam und Jerry Lee gestritten hätten und nur sah, wie sie übereinander herfielen. Und natürlich, dass ich es total unfair von ihm fände, mir mit einem Verweis zu drohen, nur weil ich nicht mehr wusste und ich nur daneben gestanden hatte. Ich war schließlich nicht die einzige gewesen. Die halbe Schule hatte sich um den Kampf versammelt gehabt.

Natürlich waren unsere Eltern zu diesem Zeitpunkt schon informiert. Beziehungsweise nur meine, das Problem war, dass bei Jerry Lee zu Hause niemand zu erreichen war und bei Adam nur seine Schwester abhob. Nur bei mir war meine Mum da. Ich würde riesigen Ärger bekommen, obwohl ich überhaupt nichts mit dem Ganzen zu tun hatte. Wahrscheinlich würde mir meine Mum noch nicht einmal Zeit lassen, ihr die ganze Geschichte zu erzählen und sie würde mir nur ein schlechtes Gewissen einreden. Heavens Eltern wurden sofort gebeten in die Schule zu kommen.

Mehr wusste ich von Heavens Zustand nicht und der Direktor wollte mir und Adam auch nicht mehr sagen, obwohl wir mehrmals nachfragten. Das war aber das Einzige, was Adam sagte. Und Jerry war das Ganze herzlich egal. Er nickte oder schüttelte nur manchmal mit dem Kopf, wenn ihm eine Frage gestellt wurde.

„Wenn ihr mir nicht antwortet, kann nicht euch gar nicht helfen“, sagte der Direktor und versuchte so gut es in seiner Gewalt stand, freundlich und vertrauenswürdig zu erscheinen. Aber ich fragte mich nur, wie er uns – oder nur Adam und Jerry -  helfen konnte, denn Tatsache war ja, dass sie sich verprügelt und dabei eine Schülerin, Heaven, verletzt hatten.

 

Nachdem eine halbe Stunde lang geschwiegen wurde, gab der Direktor es auf und schickte uns zurück in unsere Klassenzimmer – und ich sollte mir eine frische Hose anziehen. Wir nickten brav und verschwanden.

Außen angekommen ging Adam eiskalt an Jerry Lee vorbei und rammte ihn absichtlich an die Schulter. Aber zu meinem Erstaunen ignorierte Jerry ihn. Wahrscheinlich, weil er nicht noch mehr Ärger haben wollte – drei Tage an der Schule und schon machte er Ärger, von Adam ganz zu schweigen.

Ich wollte eigentlich zum Klassenzimmer, aber dann dachte ich wieder an Heaven und beschloss zu ihr zu gehen.

Doch zuvor packte mich Jerry Lee am Handgelenk. „Hey, warte.“

„Was?“, fragte ich wütend.

„Es tut mir leid… was mit deiner Freundin passiert ist.“

Ich lachte. „Das brauchst du mir nicht sagen. Sag es Heaven doch einfach selber!“ Ich riss mich von ihm los und ging zum Schwesternzimmer. Ich bemerkte, dass er mir folgte.

Als ich ungefähr zehn Meter gegangen war, drehte ich mich zu ihm um.

„Was soll das? Verfolgst du mich jetzt schon?“

„Ich gehe mich entschuldigen“, sagte er und ging an mir vorbei.

Oh, nein! Das würde er nicht tun. Er war jetzt mit Sicherheit die Person, die Heaven am allerwenigsten sehen wollte.

Ich rannte ihm hinterher. „Stopp!“, schrie ich, doch er ignorierte mich und ging einfach weiter. Ich wollte seinen Arm packen. Er zog ihn weg.

Ich musste also etwas deutlicher werden. Ich lief jetzt rechts neben ihm, rammte ihn und versuchte ihn gegen die Wand zu drücken, damit er keine Chance hatte, davon zu eilen.

„Spinnst du?“, rief er.

„Du wirst Heaven heute nicht mehr sehen! Ist das klar?“, fragte ich laut.

Jerry Lee lachte nur und dann wurde seine Miene wieder ernst und zielstrebig. „Werden wir ja sehen.“

Eigentlich hätte ich von Anfang an wissen müssen, dass ich niemals gegen ihn ankommen würde, aber ich versuchte es dennoch.

Anstatt zu warten, bis er an mir vorbei ging, um das Krankenzimmer vor mir zu erreichen, rannte ich los.

„Molly Noel McCarthy!“, rief er mir nach, aber ich drehte mich gar nicht nach ihm um, denn ich wusste sowieso, dass er dicht hinter mir war. Dann packte er mich, wirbelte herum und setzte mich wieder ab, sodass ich in die andere Richtung sah, in die ich eigentlich wollte.

Und als ich so in der Luft war, spürte ich ein Kribbeln in meinem Bauch und merkte, dass ich es belustigend fand, wie wir hier auf dem Flur herumrannten.

Ich kicherte und nahm wieder die Verfolgung auf. Ich holte Jerry ziemlich schnell ein, was aber daran lag, dass er extra langsam lief – zumindest hatte ich das Gefühl, dass er das tat.

Als ich an ihm vorbeirannte, lachte er auch und rief: „So einfach schaffst du das nicht!“

Ich drehte mich nur um und streckte ihm die Zunge heraus. Und dann konnte ich das Schwesternzimmer schon sehen. Also zumindest bevor mich Jerry Lee über seine Schulter warf und mich erst wieder vor der Zimmertür abstellte.

Dann wurde ich wieder ernst und sah zu ihm auf.

„Was ist?“, fragte er und wollte an mir vorbei in das Zimmer gehen. Ich stellte mich aber vor die Tür und versperrte ihm den Weg.

„Ich würde gerne alleine mit ihr sprechen. Darf ich?“, fragte ich.

Er nickte nur.

Ich öffnete langsam die Tür, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Und als ich so weit war, um mich umzudrehen, nahm er den Türgriff und riss die Tür ganz auf.

„Heaven?“, fragte er verwirrt.

Ich drehte mich um, als ich seinen suchenden Blick bemerkte. Das Bett war leer. Keine Heaven.

„Heaven?“, fragte jetzt auch ich, aber natürlich bekam ich keine Antwort.

Allerdings kam in dem Moment die weißgekleidete Schwester aus dem Nebenzimmer.

Ohne ihr auch nur eine Chance zu geben uns zu begrüßen fragte Jerry: „Wo ist Heaven?“

„Seid ihr Freunde von ihr?“, fragte sie uns. Wir nickten beide. „Oh, war das das Mädchen, das gerade verprügelt wurde?“, fragte sie.

Ich wollte sagen, dass sie überhaupt nicht verprügelt wurde, aber sagte stattdessen: „Wo ist sie?“

„Sie wurde ins Krankenhaus gebracht. Sie muss genäht werden und außerdem hat sie wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Aber besonders sicher konnten wir uns nicht sein, weshalb sie erstrecht mit dem Krankenwagen abgeholt wurde.“

„Oh mein Gott“, brachte ich heraus.

Die Schwester lächelte, begutachtete aber den roten Fleck auf meiner Hose. „Keine Sorge, es ist nichts Ernstes. Hast du dich etwa auch verletzt?“

Klar, nichts Ernstes, dachte ich nur. Meine Freundin wurde von der Schule mit dem Krankenwagen abgeholt und diese Frau sagt, nichts Ernstes?! Langsam wurde ich wütend und dieser überfürsorgliche Blick der Krankenschwester machte mich aggressiv.

Ich verließ aufgebracht das Zimmer ohne auch nur auf irgendjemanden zu achten und vor allem nicht auf die lauten Rufe von Jerry, der mir versichern wollte, dass doch so gut wie nichts passiert wäre. Aber er wusste genauso wie ich, dass das nicht stimmte.

 

Eigentlich hatte ich vor wieder zurück in meine Klasse zu gehen, aber es zog mich in eine ganz andere Richtung. Raus aus dem Schulgebäude und zu meinem Auto. Irgendwo anders hin, nur weg von hier. Von diesen Leuten. Adam und Jerry Lee.

Als ich bemerkte, wo ich plötzlich stand, schüttelte ich kurz den Kopf, um meine Gedanken wieder zu ordnen. Ich stand direkt vor dem Haupteingang, mit der rechten Hand am Türgriff. War ich gerade tatsächlich auf die absurde Idee gekommen, Heaven im Krankenhaus zu besuchen? Das konnte ich auf keinen Fall machen. Außerdem wusste ich ja noch nicht einmal, wohin sie genau gebracht wurde. Hier in der Gegend gab es mehrere Krankenhäuser. Woher also sollte ich wissen, in welches dieser sie gebracht wurde? Außerdem war es völlig unmöglich, während der Schulzeit einfach abzuhauen, um seine Freundin im Krankenhaus zu besuchen. Vielleicht nach dem Unterricht, aber jetzt musste ich erst einmal wieder zurück in meine Klasse. Dort würden sich sicherlich schon einige fragen, was eigentlich genau passiert war – alleine schon, wegen dem blutroten Fleck auf meiner Hose.

 

Am Ende des Schultages war ich ausgequetscht wie eine Zitrone, die gerade von der Saftpresse kam. Jeder wollte alles haargenau erzählt bekommen. Ich konnte nicht besonders viel erzählen und über den Besuch bei unserem Direktor wollte ich nicht sprechen. Deshalb winkte ich meistens alles ab, außer es kam die Frage auf, was denn eigentlich mit Heaven passiert war und wie es ihr jetzt ginge. Ich sagte nur, dass es nichts Ernstes sei, so wie es mir die Krankenschwester eintrichtern wollte. Immer wenn meine Mitschüler diese Antwort bekamen, nickten sie nachdenklich und pressten die Lippen zusammen, sahen verstohlen auf den Boden und gingen, wenn ich anfing sie zu ignorieren. Aber ich wusste, dass sie mir nicht alles glaubten und auch nicht, dass das alles war, was ich wusste. Dem einzigen dem ich zum größten Teil alles erzählte war Phil. Das lag zum einem daran, dass ich mich ausquatschen und das Verfahren irgendjemanden erzählen musste. Und dann lag es noch daran, dass ich es ihm schildern musste, da er mir offenbart hatte, wie er meine Freundin fand und ich mich dazu verpflichtet fühlte, ihm die Sorgen aus dem Kopf zu reden. Das komische war aber, dass er mich nicht einmal fragte, was passiert war, dennoch hatte er interessiert zugehört.

Ich ging gerade aus dem Schulhaus, als ich Calvin plötzlich an meinem Auto lehnen sah. Ich schlug mir mit der flachen Innenseite meiner Hand gegen die Stirn. Das Geschehnis mit Adam, Jerry Lee und Heaven hatte mir jeglichen Gedanken über Calvin aus dem Kopf genommen. Allerdings konnte ich ihm nicht schon wieder absagen und außerdem hatte ich gesagt, dass heute der perfekte Tag für diesen Ausflug wäre. Und dann hätte ich ihn endlich hinter mir.

„Hi, Molly Noel!“ Er winkte mir zu. Sichtlich erfreut.

Ich winkte auch zurück, allerdings musste ich mir ein freundliches Lächeln aufzwingen. Ich hoffte inständig, dass er es nicht bemerkte.

„Und?“, fragte er mich und fügte hinzu, „Bist du bereit?“ Er lachte.

Ich nickte kurz.

Er sah mich besorgt an. „Was ist los? Du siehst fertig aus.“

Ich nickte erneut. „Ich würde gerne mit Heaven reden. Du weißt schon was heute passiert ist… Adam und Jerry Lee, diese beiden Vollidioten, haben sich doch-“

Ich kam nicht weiter, denn Calvin hielt mir mit seiner großen Hand einfach den Mund zu. „Hey, hey, hey. Schon okay. Ich weiß es. Ich hab es gesehen – wer nicht. Ich möchte, dass du nicht mehr an das denkst, was heute in der Pause geschehen ist.“

„Aber das ist unvermeidlich!“, gestand ich ihm.

„Nein, ist es nicht.“ Er lächelte aufmunternd und legte den Kopf leicht zur Seite. „Ich… ich möchte dich ablenken. Wir machen uns einen schönen Tag, gehen spazieren und reden. Hauptsache ablenken.“

Jetzt musste ich auch lächeln. Diese Idee klang wirklich wundervoll, doch ich war mir nicht sicher, ob es auch etwas helfen würde, mich von diesen Gedanken und den Bilder zu lösen. Ich nickte trotzdem und sperrte mit einem Klicken mein Auto auf.

„Na bitte!“, stieß er freudig aus. „Was dagegen wenn ich fahre?“ Er streckte seine Hand nach dem Autoschlüssel aus.

Ich lachte und schüttelte den Kopf. Calvin nahm die klimpernden Schlüssel aus meiner Hand und sprang um das Auto herum zur Fahrerseite. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber es hatte den Anschein, als würde Calvin in seinem Inneren jubeln. Bei diesem Anblick entfuhr mir ein Lachen.

 

Wir fuhren eine Weile bis ich das Schweigen brach. „Wo genau fahren wir eigentlich hin?“ Doch es war kein unangenehmes Schweigen gewesen, bei dem man sich den Kopf zermarterte, was man sagen könnte und ganz nervös wurde. Bis jetzt hatte ich nur auf dem Beifahrersitz gesessen, den ich so gut wie nie belegte, und hatte vor mich hin geschwiegen, aus dem Fenster gestarrt und ein paar Blicke auf Calvin geworfen, der so glücklich aussah, wie noch nie in der langen Zeit zuvor, die wir uns schon kannten. Und glücklicherweise merkte er auch nicht, dass das Auto eigentlich nicht besonders viel auf dem Kasten hatte.

Calvin presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und schwieg.

„Ach komm, stell dich nicht so an! Sag schon!“, drängte ich und reckte meinen Hals vor Aufregung.

Er lachte. „Lass dich einfach überraschen.“

Ich schaltete die Heizung an und drehte sie auf höchste Stufe, damit es im Auto nicht vollkommen still war. Aber das wäre eigentlich auch überflüssig gewesen, denn Calvin fing plötzlich an über alles Mögliche zu reden und ich musste zum größten Teil nur nicken oder lachen. Möglicherweise tat er das aber auch nur, um mich abzulenken, weil er nicht verraten wollte, was und wo unser Ziel eigentlich war.

Wir redeten unter anderem über Finn, der immer noch nicht zurück in den Unterricht gekehrt war und fragten uns, wie es ihm wohl ginge und wann er wieder komme. Er erzählte mir die Handlungen von seinen Lieblingsfilmen und Büchern. Alle kannte ich nicht und deshalb beschloss ich, sie mir einmal anzusehen, um das nächste Mal mit ihm über diese ganzen Dinge reden zu können und nicht nur daneben zu sitzen und zuhören zu müssen.

Das nächste Mal, dachte ich.

Die Fahrt dauerte eine gute Stunde und ich war heilfroh, als Calvin meinen Wagen auf einem Parkplatz endlich zum Stehen brachte.

Wir stiegen beide aus und Calvin sperrte das Auto zu. Anschließend reichte er mir die Schlüssel und sagte: „Echt coole Karre!“

„Danke“, sagte ich lächelnd und tat so, als würde ich mich darüber überrascht freuen, wie toll er meinen roten Wagen fände, denn eigentlich wusste ich es ja schon. Und er war auch nicht der einzige an meiner Schule, der so dachte – falsch dachte.

Ich sah mich um und bemerkte, dass wir in einem großen Park angelangt waren. Ich entdeckte einen großen, unförmigen Teich, der in der Mitte einer kräftigen Wiese lag, unterbrochen durch kleine Wege. Das klare Wasser lag unter einer zarten Eisdecke, die unter Einfluss der steigenden Temperaturen des heutigen Tages langsam anfing zu schmelzen und sicherlich keinen Menschen getragen hätte. Von den Ästen der großen, kahlen Bäume, die über den ganzen Park verteilt waren, fielen große Wassertropfen auf die feuchte Erde. Ein paar Vögel kreisten am Himmel und ließen sich nach einem kurzen Flug aufgeplustert auf den Zweigen nieder oder suchten auf dem Boden nach Essbarem, was sie allerdings nicht fanden und so nach der Suche, wieder in die Luft empor flogen.

Calvin sah mich erforschend an. Nach einer Weiler sagte er: „Wir sind da.“

Nickend sagte ich: „Es ist sehr schön hier.“

Ich zog meine Handschuhe aus meiner Jackentasche und schlüpfte schnell in sie hinein, um sie anschließend mit meinen Händen in den Tiefen meiner Taschen zu verstecken.

Wir gingen nebeneinander in Richtung Mitte, zu dem starren Teich. Wir setzten uns schweigend auf eine hölzerne Bank, die unter zwei großen Bäumen stand und dessen dunkles Holz feucht und kalt war.

Calvin brach nach ein paar Minuten das Schweigen. „Wir kennen uns schon eine Ewigkeit und trotz dessen weiß ich nichts über dich“, stellte er fest und sah mich an. Ich versuchte seinen intensiven Blick zu ignorieren, schaffte es aber nicht und erwiderte schließlich seine eisblauen Augen.

Ich nickte und schmunzelte etwas verlegen. „Ja, sieht so aus.“

„Aber woher kommt das? Dass wir noch nie miteinander gesprochen haben, meine ich.“

Ich lachte, denn mich wunderte das überhaupt nicht. Seit ich ihn kannte, hatte ich ihn gehasst. Er wollte immer im Mittelpunkt stehen, alles besser machen als anderen und immer der Coolste mit den besten Sprüchen sein. Allerdings waren seine Sprüche meist nicht lustig wie ein guter Witz, sondern eher lustig, weil sie nur so vor Dummheit sprühten. Aber er sah schon immer so verdammt gut aus und deshalb, war er auch der größte Mädchenschwarm an unserer Schule.

„Wieso lachst du?“, fragte mich Calvin.

Schnell schüttelte ich abwehrend den Kopf. „Nichts. Ich frage mich gerade auch nur, wieso wir noch nie miteinander geredet haben“, log ich und kicherte wieder.

„Was ist daran denn so lustig?“, fragte er und musterte mich.

Ich konnte nur meinen Kopf abermals schütteln und musste nach Luft schnappen.

Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, sagte Calvin schließlich: „Ich finde wir sollten das ändern.“

Jetzt lachte ich nicht mehr, sondern musste husten, weil ich mich vor Lachen verschluckt hatte und wahrscheinlich lag es auch daran, dass ich mich vor seiner Bemerkung so erschrocken hatte. Ich sah ihn an, um zu überprüfen, ob er es ernst gemeint hatte. Hatte er.

Ich räusperte mich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ähm… Wenn du meinst.“ Es klang eher wie eine Frage als eine Antwort. Ich versuchte zu lächeln, um nicht ganz so verzweifelt zu wirken.

„Okay, ich würde sagen, du stellst mir ein paare Fragen und ich antworte so gut ich kann. Dann wechseln wir und ich darf dir welche stellen, okay?“

Ich nickte und erinnerte mich wieder an das Spiel mit Jerry Lee, bei dem wir uns auch kennenlernen sollten.

Er sah mich abwartend an.

 In meinen Gedanken wirbelte alles wild durcheinander. Eines der Dinge, die ich hasste, war das schnelle Antworten auf unerwartete oder dringliche Fragen.

Ich dachte nach, was ich über ihn wissen wollte. Kurz darauf merkte ich, dass mir nicht besonders viel einfiel. Eigentlich gar nichts. Und das Einzige an das ich dachte, war die Frage, wie er es geschafft hatte, noch nie durchzufallen. Oder wie er es schafft, im Sportunterricht die Entfernung vom Ball abzuschätzen und ihn anschließend noch zu treffen.

Also fragte ich das, was ich mich selbst als erstes fragen würde: „Hast du Geschwister, oder bist du ein Einzelkind?“

„Ja.“ Er nickte bestimmt.

„Was ja? Du hast Geschwister oder du bist ein Einzelkind?“, fragte ich wieder.

„Ich bin ein Einzelkind.“

Ich nickte und plötzlich verstand ich seine Eltern, wieso er keine Geschwister hatte. Zwei von ihm hätten ihnen sicherlich den Verstand geraubt.

„Warst du ein schwer ehrziehbares Kind?“ Die Frage schoss mir aus dem Mund, bevor sie in meinem Kopf angekommen war. Ich hielt mir die Hand vor den Mund. Am liebsten hätte ich mich für diese dumme Frage mit dem Kopf unter der Erde vergraben – oder wäre ganz in sie verschwunden. Gerade wurde mir erst klar, was ich überhaupt für gemeine Dinge über ihn dachte. Ich musste mich wirklich besser beherrschen können.

Calvin sah mich aber nur verwirrt an und antwortete dann mit einem Nein.

Dann schwieg ich und sah auf den Teich.

„So wie es aussieht, hast du wohl keine Fragen mehr an mich?“, stellte er fest.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, du hast im Auto schon ziemlich viel erzählt.“

Er lachte und sagte dann: „Stimmt. Du aber nicht.“

Das war richtig und das lag nicht an mir, sondern an ihm. Er hatte mir keine Möglichkeiten gegeben mich zu äußern.

„Das heißt dann wohl, dass du einige Fragen an mich hast?“, schlussfolgerte ich.

Calvin nickte dinglich. „Allerdings hab ich das.“

„Dann schieß mal los!“, sagte ich und setzte mich so hin, dass mein rechter Arm auf der Lehne und mein rechtes Bein auf dem kalten und feuchten Sitz lag.

„Was ist deine Lieblingsfarbe?“

„Marineblau“, schoss es aus mir heraus. „Oder vielleicht ein schönes Frühlingsgrün… oder ein Blutrot.“ Ich grinste.

„Wie findest du Rosen?“, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich mag sie nicht besonders. Sie sind stachlig und sehen meiner Meinung nach auch nicht besonders interessant aus. Rot, Weiß oder Gelb, Blätter in einem hässlichem Grünton und langen Stielen. Sie erinnern mich an das Böse und an Blut. Nicht unbedingt an Liebe oder so etwas.“

Calvin sah überrascht aus. „Jedes Mädchen mag Rosen“, widersprach er schließlich.

Ich schüttelte widerstrebend den Kopf und grinste.

„Welche Blumen favorisierst du also dann?“

Ich musste nicht lange überlegen. „Orchideen.“

Er schmunzelte. „Wieso das denn?“

„Sie sind wunderschön und haben manchmal ein anziehendes Muster auf den Blättern. Meine Oma bestückt mit ihnen immer ihre Fensterbänke. Immer wenn ich bei ihr bin, muss ich sie einfach bewundern. Sie kann froh sein, dass sie so lange Fensterreihen hat, wenn nicht würden die ganzen Pflanzen dort gar nicht drauf passen. Aber das würde sie nicht davon abhalten, sie in Reihen auf dem Boden zu schlichten.“ Ich lachte leise.

„Dann hast du diese Vorliebe von deiner Oma geerbt?“

Bei diesem Gedanken musste ich grinsen. „Ja, so in der Art.“

Calvin musterte mich kurz. Dann meinte er: „Deine Augen glänzen bei dem Gedanken an sie. Scheint, als würdest du sie sehr lieben?“

„Natürlich!“ Ich nickte heftig. „Immer wenn wir spazieren gingen – ich war damals noch ziemlich klein – erzählte sie mir die tollsten Geschichten oder wie mein Opa eines Tages einfach einen Dackel mit nach Hause brachte, obwohl sie dagegen war. Der Dackel hieß Nina.“ Ich lächelte. „Außerdem war meine Oma, sie heißt Maggie McCarthy, eine exzellente Schneidermeisterin und konnte mir somit immer wunderschöne Bilder zeichnen… und die entzückendsten Kleidchen nähen und ich war somit die Schickste im Kindergarten.“

„Und dein Opa?“, fragte Calvin.

„Er heißt Oscar McCarthy und ist ein wundervoller Ehemann. Ich wünsche mir, einmal so zu sein wie sie. Opa ist ein begnadeter Handwerker. Er hat unser halben Haus renoviert, nachdem wir es gekauft hatten – und das Ergebnis ist wundervoll geworden! Und immer wenn die beiden zu Besuch sind, beschwert er sich über mein unordentliches Zimmer.“ Mir stiegen fast die Tränen in die Augen, als ich darüber nachdachte, was wäre, wenn sie nicht mehr bei mir wären. „Aber ich sehe sie nicht oft, weil sie… nicht gerade in meiner Nähe wohnen, was ziemlich traurig ist, da ich die beiden verdammt lieb habe – auch wenn sie es vielleicht überhaupt nicht wissen, wie gerne das wirklich ist.“ Ich musste die Luft anhalten, damit ich nicht in Tränen ausbrach.

Calvin wechselte sofort das Thema, als er merkte, dass mir dieses sehr ans Herz ging. „Hast… hast du ein Lieblingsobst?“

Trotzdem muss ich schlucken und gleichzeitig dankbar lächeln. „Kirschen und Erdbeeren. Aber nur die kleinen Beeren. Die großen schmecken nicht besonders gut, auch wenn man mehr von ihnen hat.“

„Und stehst du auf Torten?“, fragte er und erst wollte ich fragen, ob er damit sagen will, dass ich dick wäre, ließ es dann aber doch sein.

„Alles ohne Sahne! Aber dafür viel Schokoladensoße, auch wenn die eher zu Eis passt.“

„Würdest du Sahne mit Eis essen?“

Ich lachte. „Das erst recht nicht!“

Er grinste. „Und welche Bücher magst du?“

„Viele. Aber spontan fällt mir keines ein.“

„Hast du einen Lieblingsautor?“

„Ich mag Kerstin Gier“, sagte ich, ohne auch nur zu zögern.

 

Calvin und ich liefen still nebeneinander durch den wunderschönen Park. Nachdem er mich auf der Bank nach allem gefragt hatte, was ihm eingefallen war, wurde uns beiden kalt und wir hatten beschlossen uns die Bein zu vertreten, um wieder warm zu werden. Als ich aufstand merkte ich, wie steif meine Beine geworden waren und ich hatte das Gefühl beim Laufen nicht wirklich vorwärts zu kommen und dennoch lief ich genau so schnell wie immer.

Wir wussten nicht genau, über was wir noch hätten reden können, da wir schon so viel gesagt hatten. Also schwiegen wir einfach. Aber es war kein angespanntes Schweigen, sondern ein wohltuendes, genau wie bei der Autofahrt. So eines, das man nach einem anstrengenden Tag brauchte, um wieder zu entspannen.

Es war bereits dunkel geworden und ich schätzte, es war bereits nach fünf Uhr. Kaum Leute begegneten uns auf dem Weg, den wir vom Teich zurückgelegt hatten, und wenn doch, ignorierten sie uns und starrten stur auf ihre Schuhspitzen. Allerdings kam mir keiner dieser Personen bekannt vor, wahrscheinlich, weil wir so weit von unserem Zuhause entfernt waren. Wieder fragte ich mich, wo wir nun wirklich waren.

Irgendwann blieben wir unter einem großen Baum stehen, der uns Schutz vom eisigen Wind gab. Ich konnte ihn zwar in den Laubkronen zischen hören, aber nur ganz leise, sodass er kaum auffiel. Ich stand nur wenige Zentimeter von Calvin entfernt und versuchte so flach wie möglich zu atmen, da ich ihn sonst berührt hätte.

Als ich anfing mit den Zähnen zu klappern, fragte er mich schließlich: „Ist dir kalt?“

Ich nickte zitternd. „Wollen wir nicht nach Hause fahren?“ Schwach lächelte ich.

„Ich hätte eine bessere Idee, dich wieder warm zu bekommen“, meinte er und kam noch näher auf mich zu. Er streifte mich mit seiner breiten Brust. Dann nahm er mein kaltes Gesicht in seine warmen Hände und presste seine eisigen Lippen auf meine.

Bevor ich bemerkt hatte, was er überhaupt vorhatte, war es schon passiert. Er legte einen Arm um mich herum und presste mich näher an sich heran. Ich wollte mich von ihm wegdrücken, doch er war zu stark und hielt mich zu fest umschlungen. Als ich mich von seinen Lippen lösen wollte, griff er mit seiner Hand, die bis jetzt noch an meinem Gesicht gelegen hatte, in meinen Nacken und drückte meine Lippen noch fester gegen seine, bis ich einen leichten Schmerz spürte. Ich stemmte mich mit meinen Händen gegen seine Brust, doch seine feste Umarmung wurde nicht lockerer. Als er sich endlich löste um Luft zu schnappen, wollte ich protestieren. „Calvin, lass…“ Doch ich wurde von seinem zweiten Kuss zum Schweigen gebracht.

Plötzlich hörte ich in meinem Kopf einen Namen. Jerry Lee. Ein unglaublicher Schmerz strömte durch meinen ganzen Körper. Ich konnte nur noch in Calvins Haare greifen, um seinen Kopf von meinem zu reisen. Das klappte und er löste sich von mir. Im nächsten Moment gab ich ihm einen so heftigen Stoß gegen die Brust, dass er zwei Schritte zurück taumelte. Ich wischte mir meinen trockenen Mund an meinem Ärmel ab, weil ich die Vorstellung, über das was gerade geschehen war, einfach zu abartig fand. Ich wollte ihm ein Schimpfwort entgegen schreien – oder mehrere – doch in meinem chaotischen Kopf kam keines zustande. Also stapfte ich einfach davon. Der Wind war während der Zeit unter dem Baum stärker geworden und jetzt vielen auch winzig kleine Regentropfen. Ich konnte den Weg, den wir genommen hatten nicht finden, deshalb lief ich einfach wahllos in eine Richtung, die mich zum geschätzten Zielpunkt; zu meinem Auto, bringen sollte. Plötzlich kam mir der Gedanke, wie froh ich doch war, dass Calvin mir meine Autoschlüssel wiedergegeben hatte. Aber sollte ich einfach so wegfahren, ohne auf ihn zu warten?

Ich kam allerdings nicht dazu, diese Frage zu beantworten, da ich in dem Moment meinen Namen hörte. „Molly Noel!“ Es war Calvin. Ich hörte es zwar nur schwach, aber ich konnte mir sicher sein, dass er es gewesen war.

Ich drehte mich nicht um, sondern ging weiter. „Warte!“ Das war das Nächste was ich hörte. Dann stand er plötzlich neben mir.

Ich drehte mich giftig zu ihm um. „Was!“, rief ich laut.

„Du… ähm… du läufst in die falsche Richtung.“ Er konnte sein Grinsen einfach nicht unterdrücken und dafür hätte ich ihn am liebsten geschlagen.

 

Ich spürte seinen Blick den er mir von der Seite aus zuwarf. Als ob er es faszinierend fand, was ich tat. Dabei saß ich nur verkrampft am Lenkrad und versuchte mich auf die Straße zu konzentrieren. Aber ich konnte seine Blicke nicht ignorieren, die er mir zuwarf. Er wollte meine Aufmerksamkeit, er wollte, dass ich ihn ansah und ihm versicherte, dass es mir nichts ausmachte, was er getan hatte, wenn nicht sogar, dass es mir gefallen hätte. Aber das würde ich nicht machen und das wusste er auch. Aus diesem Grund versuchte er so zu tun, als ob überhaupt nichts geschehen war. Doch so einfach konnte ich nicht vergessen, dass er mich… dass er mich geküsst hatte. Es war unmöglich, diesen Gedanken aus dem Weg zu gehen. Und immer musste ich daran denken, wenn Calvin einen Laut von sich gab. Aber ich schämte mich dafür, was er getan hatte und ich wusste nicht, ob mein Gesicht vor Peinlichkeit oder vor Wut glühte.

Ich wollte nicht diejenige sein, die das Schweigen als Erste brach und zu dem wusste ich auch nicht, was ich hätte sagen sollen. Das machte nichts, denn ich wusste, dass Calvin etwas sagen wollte, aber noch nach den richtigen Worten suchte. Also wartete ich, bis er anfing.

Es dauerte lange, doch dann, nach gefühlten tausenden Minuten, kam er endlich zum Wort. „Also… was machen wir jetzt?“

Wäre ich nicht wütend auf ihn gewesen, hätte ich sogar gelacht. Stattdessen gab ich nur ein Schnauben von mir. „Wir machen gar nichts mehr. Ich fahre dich jetzt nach Hause.“

„Bist du sauer?“, fragte er, als ob er die Antwort nicht wusste. Vielleicht tat er es sogar nicht, aber um das zu erkennen, brauchte man wirklich nicht viel Menschenverstand.

„Dafür, dass du mich das überhaupt noch frägst, könnte ich dich…“ Ich brach den Satz ab, weil Calvin anfing zu lachen. „Was ist daran so lustig?“ Ich funkelte ihn wie eine wild gewordene Furie an.

„Du würdest mich nicht umbringen.“

Ich zuckte mit den Schultern und starrte wieder wie gebannt auf die Straße. Natürlich würde ich ihn nicht umbringen, auch wenn er es vielleicht verdient hätte. Doch er sollte wissen, dass ich ihn für diesen… Kuss verurteilte.

„Also, was war daran so falsch?“

Dass er diese Frage irgendwann stellte, hätte ich mir auch selbst denken können. Dass er es nicht verstand, wieso man so etwas aus Anstand nicht tun sollte, vor allem, wenn man diese Person kaum kannte.

„Alles! Du kannst ein Mädchen nicht einfach küssen. So etwas macht man nicht.“ Ich musste einen Schlag mit der flachen Hand auf das Lenkrad unterdrücken.

„Ich habe dich nicht einfach so geküsst. Aus Spaß, meine ich.“ Ich spürte den eindringlichen Blick von Calvin auf mir ruhen.

Erst wollte ich nach dem Grund fragen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich biss mir auf die Lippen, als mir klar wurde, wieso er es getan hatte. Jedes Mädchen behandelte er anders als mich. Vor allen zeigt er den Coolen, den gut Aussehenden Calvin. Diesen Nichtswissenden, mit den neusten Klamotten und der tollsten Frisur. Aber so war er überhaupt nicht. Es war eine Fassade. Und so wie es aussah, standen sogar einige dieser Mädchen an meiner Schule auf genau solche Typen. Doch vor mir war er der Kluge, der doch ein Gehirn besaß und nicht nur toll lächelte und gut aussah.

Ich sah wieder nach vorne aus dem Fenster um mein Gesicht vor ihm zu verbergen. Der Schock hatte tief gesessen. Aber auch ihm ging es in diesem Moment nicht besonders gut. Ich konnte seine Anspannung spüren.

Wir fuhren gerade in die nächste Straße, als er plötzlich sagte: „Halt an.“

„Was?“

„Ich habe gesagt, du sollst anhalten.“

„Ich weiß, ich habe dich verstanden. Aber wieso?“

„Ich geh von hier zu Fuß weiter. Oder nehme ein Taxi.“

Eigentlich hätte ich ihn nach Hause fahren sollen, da es schon ziemlich dunkel war, doch in diesem Moment war es mir völlig egal, ob er von irgendwelchen Typen zu Boden geschmissen und verprügelt worden werde.

Also hielt ich am schmalen Straßenrand, auf dem sonst immer die Taxen parkten. Calvin blieb noch kurz sitzen.

„Jetzt weißt du es also. Ich hoffe du gehst mir einer solchen Information behutsam um.“ Dann stieg er aus dem Wagen und eilte davon.

 Meine Augen blieben nur kurz an seinem breiten Rücken hängen, bevor ich meinen Blick wieder geradeaus richtete. Ich sah auf ein Straßenschild und bemerkte, dass wir in der James Street gelandet waren. Ich kannte mich hier gut aus, da ich und der Rest meiner Familie schon öfter bei meiner Tante übernachtet hatten, die in genau dem Hochhaus wohnte, vor dem ich gerade stand.

Was für ein Zufall, dachte ich, konnte aber immer noch nicht lächeln.

Ich sah durch das Fenster hinaus zu dem Stock in dem sie wohnte. In der Fensterscheibe  des Zimmers in dem wir immer schliefen, spiegelte sich die andere Seite der Straße. Eine Mauer mit Efeu und Laternen, die nicht viel Licht spendeten. Und dann sah ich ihn in meinem Kopf. Ein Mann. Groß und schlank, mit Muskeln, die sich über den ganzen Körper erstreckten. Kurze Haarstoppeln und einen Pullover. Ganz oben auf der Mauer saß er und sah nach unten auf den Boden. Ich folgte seinem Blick, doch dort war nichts. Ich blickte wieder zurück, doch die Person war verschwunden.

Als ich wieder klar denken konnte, fühlte ich mich wie in einem Rausch aus Erinnerungen, die mich umgaben, wie eine dicke Nebelwand.

 

Am Abend hatte ich immer wieder zwei Gedanken abwechselnd im Kopf. 1. Calvin hatte mich geküsst. Und 2. Calvin hatte mich geküsst. Das war allerdings kein gutes Zeichen, weil ich das, was er getan hatte, eigentlich echt mies fand. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn das die Mädchen an der Schule herausfänden würden.

Sofort schlug ich mir auf den Kopf. Nein, nein, nein! Sowas darfst du gar nicht denken! Der arme Calvin. Was wäre er doch gedemütigt, wenn das an die Oberfläche treten würde. Das wäre der heißeste Klatsch, den es wahrscheinlich je gegeben hat und je geben würde. Und ich war die einzige Quelle zu diesem Geheimnis. Naja, mal abgesehen von Calvin, aber der würde das sicher niemandem erzählen.

Wie würde Heavens Reaktion wohl sein, wenn ich ihr erzählte, dass er mich geküsst hatte? Ich musste im Halbschlaf grinsen. Sie würde ausflippen und es… Nein, wenn ich ihr sagen würde, die dürfe es niemandem erzählen, dann wird sie das auch nicht machen. Ich werde es ihr erzählen, dachte ich. Sie ist schließlich die einzige, die noch ganz klar im Kopf ist.

Mit einem Schlag war ich wieder wach. Das hatte ich total vergessen. Diese komische Reaktion der Schüler an diesem Tag. Aber möglicherweise würde morgen ja alles wieder normal sein.

Freitag

Es war nichts normal. Wenn nicht sogar schlimmer.

Ich lief gerade durch den großen Eingang, als ich erst Calvin und von der anderen Seite Jerry Lee auf mich zu kommen sah. Calvin war zuerst bei mir angekommen.

„Molly Noel“, fing er an, „Ich wollte mich für gestern entschuldigen.“

Ich sah ihn erst verwirrt an, weil ich erst nicht darauf kam, wieso und wofür er sich entschuldigen wollte. Doch dann fiel es mir wieder ein.

„Du weißt schon was ich meine. Für den…“

„Ja, das ist echt lustig!“, rief ich und lachte übertrieben laut, weil in dem Moment Jerry Lee zu uns stieß. Calvin wusste sofort was ich meinte und trat mit in unser Schauspiel ein.

„Ja, das hätte ich von ihm niemals erwartet. Als ich das gehört habe, war ich total verblüfft.“ Er lachte auch, nur dass es bei ihm einfach nur gequält aussah.

Jerry sah mich an und hob eine Augenbraue. Dann sah er zu Calvin, der zu meiner Überraschung rot wurde.

Schließlich sagte Calvin: „Ähm… ich muss jetzt gehen, ich muss noch… Mathe machen.“ Er fügte noch ein leises „Oder so“ hinzu, dass ich aber kaum verstand. „Also, wir sehen uns… vielleicht?“ Er sah mich fragend an.

Ich nickte. „Okay, wir sehen uns.“ Doch erst zwei Sekunden nach meiner Antwort begriff ich, was ich da schon wieder getan hatte. Verdammt, was hatte ich mir dabei gedacht, mich schon wieder mit ihm zu verabreden.

Jerry sah mich stirnrunzelnd an. „Was war gerade so lustig?“

Ich zuckte bei Jerrys Stimme zusammen, weil ich Calvin immer noch hinterher glotzte. Ich hatte ganz vergessen, dass er noch neben mir stand. „Nichts.“

„Ja, ist klar. Dann habt ihr also wegen nichts gelacht? Und deine Lache kam im Übrigen nicht gerade überzeugend rüber, wenn du mich fragst.“ Er sah mich an und grinste frech.

Ich funkelte ihn an. „Ich hab dich aber nicht gefragt. Und wenn es dich so sehr interessiert…“, ich dachte mich schnell irgendeine Story aus, „In den Ferien hat sich ein Junge aus unserer Schule total zugesoffen.“

Er sah mich fragend an. „Und was ist daran so lustig?“

Stimmt, daran war überhaupt nichts lustig. „Ähm… Um das zu verstehen… muss man den Typen kennenlernen. Was willst du?“, fragte ich ihn und versuchte ihn freundlich anzulächeln.

„Ich wollte mich für mein Benehmen gestern entschuldigen. Also die Sache mit Heaven und Adam, dass ich ihn verprügelt habe.“

„Meine Güte, wieso müssen sich heute alle bei mir entschuldigen!“

Er sah mich verwirrt an. „Wieso? Ach, hat sich Calvin auch bei dir entschuldigt?“

Ich sah ihn nicht an.

„Was hat er denn böses gemacht?“, fragte er und lachte.

„Das geht dich einen feuchten Kehricht an“, sagte ich und ging.

„Muss ja was sehr Schlimmes gewesen sein!“, rief er mir hinterher und ich wusste, dass er mich belustigt beobachtete, wie ich mich aus dem Staub machte.

Ich musste sehr mit mir kämpfen, mich nicht umzudrehen und ihm eine runterzuhauen. Ich stellte mir die Szene von gestern in meinem Kopf vor. Adam und Jerry ringend auf dem Boden, nur das es nicht Adam war, sonder ich. Ich schüttelte den Kopf. Als ob ich irgendeine Chance gegen ihn hätte.

In den Moment kam jemand auf mich zugestürm. Ich wurde nach hinten gestoßen und wäre um ein Haar umgefallen.

„Oh mein Gott! Molly Noel! Ich kann es gar nicht fassen, aber … Wir sind wieder zusammen!“ Es war Heaven, die mir aufgeregt ins Ohr brüllte.

„Oh. Das ist ja fantastisch! Wieso bist du eigentlich schon wieder hier?“, fragte ich. Mit dieser Nachricht hatte Heaven wirklich meine Laune gerettet.

„Die Ärzte haben gesagt, dass alles wieder in Ordnung sei und dass ich gehen könne, aber auch noch eine Nacht zur Überwachung dort bleiben könnte. Ich bin aber natürlich gegangen - wie du sehen kannst. Er hat mich gestern einfach so geküsst“, sagt sie stolz.

„Na, dann bin ich ja nicht die einzige, die einfach so geküsst worden ist“, meinte ich, ohne auch nur verstanden zu haben, was ich wirklich gesagt hatte.

„Oh, ich bin ja so glü… Was? Du wurdest geküsst?“ All ihre Gesichtszüge verschwanden und sie sah mich mit offenem Mund an.

Ich nickte.

„Von wem? Von diesem Jerry Lee? Das hätte ich mir schon fast denk… Warte. Es war nicht Jerry Lee, richtig?“, bemerkte sie, nachdem sie mich genauer gemustert hatte.

„Nein, er war es nicht.“

„Ja, wer denn dann?“, quetschte sie mich aus und packte mich an den Armen.

„Calvin“, gestand ich ihr und blickte mit rotem Kopf zu Boden.

Erst sah sie mich einfach nur an. Dann klappte ganz langsam, wie in Zeitlupe ihre Kinnlade nach unten und ihre Augen wurden ganz groß. Sie blinzelte zwei Mal, ganz schnell. Dann war sie wieder bei klarem Verstand. Naja, okay, vielleicht nicht ganz.

Sie schnappte wie ein Fisch nach Luft. „Calvin? Oh mein Gott. Und wie kommt er darauf, das zu tun? Wann war das überhaupt?“, fragte sie total erschrocken, am Schluss aber wie ein Detektiv.

„Gestern. Wir haben unseren Ausflug gestern gemacht.“

„Ha! Ich habe doch gesagt, dass das ein Fehler sein wird. Hast du ihm den wenigstens eine runtergehauen?“

„Naja, vielleicht ein bisschen“, sagte ich zögernd eine Stimmlage zu hoch.

„Was soll das denn jetzt heißen. „Ein bisschen“ und dann auch noch nur vielleicht. Hast du oder hast du nicht?“

Ich nickte und sah sie an.

„Hat er denn geschrien?“, fragt sie begeistert. Und entsetzt.

„Keine Ahnung, so genau habe ich darauf nun auch wieder nicht geachtet“, gestand ich, wie ein kleines Kind.

Heaven verdrehte ihre grünen Augen. „Und was hast du dann gemacht?“

„Ich bin weggegangen.“

Sie schüttelte über mein Verhalten nur den Kopf. „Wo ist er jetzt?“

„Woher soll ich denn das… Halt! Was hast du vor?“ Den letzten Teil sagte ich etwas lauter und wieder in normaler Stimmlage.

Heaven grinste heimzahlend. „Ich werde diesem Mistkerl gleich zeigen wo der Hammer hängt, das kannst du mir glauben!“, rief sie und sah sich in alle Richtungen um. Ganz klar, sie suchte ihn.

„Ja, das glaube ich dir, aber er hat sich entschuldigt.“ Ich sah sie flehend an, nichts Unüberlegtes zu unternehmen, das sie später vielleicht bereuen würde.

Sie sah mich giftig an. „Hast du ihm verziehen? Bist du nicht mehr sauer auf ihn und magst du ihn jetzt wieder?“

„Jain. Ich habe ihm so halb verziehen. Und ich weiß nicht ob ich noch sauer auf ihn bin. Und was soll die Frage: Ob ich ihn jetzt wieder mag?“

Heaven sah mich merkwürdig an. „Also komm schon! Du triffst dich doch nicht mit irgendwelchen Leuten, die du nicht magst! Und komm mir jetzt nicht mit dem Spruch, dass du dich doch auch mit mir treffen würdest!“

Fast hätte ich gelacht. „Es ist eben so gekommen! Und falls es dich interessiert, wir sehen uns wieder. Frag mich aber bitte nicht wann und wo, das weiß ich nämlich selbst nicht mal“, sagte ich und bereute es gleich darauf.

„Gut. Gut, das ist sehr gut!“ Sie lächelte hinterhältig. „Und, denkst du die Öffentlichkeit will nicht erfahren, was er gemacht hat?“ Sie wackelte mit den Augenbrauen.

Ich sah sie geschockt an. „Was? Nein, nein, nein! Nein. Du darfst es auf keinen Fall jemandem sagen. Niemals!“ Sie sah mich gar nicht an. Ich stellte mich direkt vor sie und verstellte ihr den Weg. Ich packte sie an den Schultern und zwang sie, mir in die Augen zu sehen. „Heaven! Hast du mich verstanden! Niemandem.“

Ich wartete solange bis sie ganz langsam nickte. „Ja, ich habe dich verstanden. Schon beim ersten Mal“, sagte sie ganz langsam, sah mich aber nicht an, sondern warf mir einen Blick über die Schulter.

„Gut“, sagte ich und wir gingen in unser Klassenzimmer. Aber irgendwie ließ mich der Gedanke nicht los, dass sie etwas plante. Sie sagte den ganzen Unterricht nichts und passte auch nicht auf. Gut, sie passt zwar so gut wie nie auf, aber dafür redet sie sonst immer wie ein Wasserfall. Heaven sah nur aus dem Fenster und wurde mehrere Male von unserer Lehrerin ermahnt, bis sie irgendwann die Schnauze voll hatte und die Jalousien herunterfuhr. Zehn Minuten vor dem Ende der ersten Stunde lächelte sie einfach nur vor sich hin. Ich dachte nur, dass da nichts Gutes rauskommen würde.

Und zu meinem Unglück hatte ich damit auch noch recht. Doch vor der Pause hatten wir eine sehr interessante Freistunde.

Heaven und ich saßen gerade auf einer Bank und versuchten den letzten Hefteintrag zu lernen, als eine große Person, sich nicht weit von uns entfernt an eine Wand lehnte und ein Buch herausholte. Es war Jerry und er holte nicht irgendein Buch heraus: Es war das, das er auch schon am vorherigen Tag gelesen hatte.

„Bin gleich wieder da“, sagte ich zu meiner besten Freundin, als ich ihn entdeckte und stand auf.

Jerry bemerkte mich, als ich etwa drei Meter von ihm entfernt stand.

„Ach, sie an! Wer ist da denn?“ Er lächelte schief.

„Hey“, gab ich knapp von mir.

„Was gibt’s?“, fragte er mich gut gelaunt.

Ich runzelte die Stirn. „Wieso so gut gelaunt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Einfach so. Und keine Gegenfragen, klar?“

„Alles klar, Boss.“ Ich verkniff mir ein Lachen. „Ich wollte dir sagen, dass ich deine Entschuldigung annehme.“

Er nickte. „Cool, alles klar!“, sagte er und stopfte das Buch in die Tasche, die er aber nicht verschloss. In dem Moment läutete es zur nächsten Stunde. „Also ich geh dann mal. Wir sehen uns“, meinte er und machte sich davon. Und als er sich umdrehte fiel das Buch zu Boden. Den lauten Aufprall hörte er gar nicht mehr, da sich der laute Gong mit vielen Stimmen mischte.

Ich zögerte, hob es dann aber doch auf und wollte ihm hinterherrufen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich sah auf das Buch hinab, auf dessen Deckel sich das mir bekannte Muster befand. Mit der flachen Hand fuhr ich über die raue Oberfläche und dachte, dass das Buch wohl sehr alt sein musste. Doch dann zuckte ich mit den Schultern, klemmte das Buch unter meinen Arm und kehrte zu der Bank zurück, neben der Heaven stand und ungeduldig auf mich wartete.

Sofort erblickte sie das Buch. „Was hast du denn da?“, fragte sie.

„Das ist das Buch, das Jerry seit Kurzem liest. Da muss etwas ganz Geheimes stehen, weil er mir es nicht zeigen wollte“, sagte ich mit ironischem Unterton.

Sie grinste. „Oh, zeig doch mal her!“ Sie schnappte sich das Buch an eine Ecke und zog es in die Mitte zwischen uns. Sie deutete mit ihren dunkelblau lackierten Fingern auf das Symbol auf dem Deckel. „Sag mal, ist das nicht die Tätowierung von Zoey?“

Mir klappte die Kinnlade runter. Natürlich war sie das! Und daher kam mir das Muster auch so bekannt vor. „Stimmt! Aber was hat sie auf dem Buch zu suchen?“

Meine Freundin zuckte mit den Schultern. „Mach doch mal auf, vielleicht ist es ein Buch über Tätowierungen.“ Sie lachte.

„Ja, mit Sicherheit!“ Ich wollte das Buch gerade öffnen, als unsere Lehrerin Mrs Star, mit einer Landkarte unter dem Arm, an uns vorbei lief und uns befahl, ihr ins Klassenzimmer zu folgen.

Es war die Stunde vor der Pause und ich konnte es gar nicht schnell genug erwarten, endlich aus dem Klassenzimmer zu kommen. Doch Heaven und ich saßen in der letzten Reihe und sie nervte mich mit dem Buch, das von Jerry Lee, dass wir es uns endlich einmal ansehen sollten. Also willigte ich ein und zog es hervor. Ich versteckte es natürlich unter dem Tisch, damit unsere Lehrerin nichts mitbekam, was aber auch nicht nötig gewesen wäre, da sie so auf die Vorträger der Arbeitsgruppen fixiert war. Gerade war unsere Gruppe an der Reihe und Leon stand mit zittrigen Händen vor der Klasse, da wir schließlich dazu zwingen konnten, unser Erarbeitetes vorzutragen.

Ich schlug leise die erste Seite auf. Es war ein vergilbtes Papier, auf dem aber nichts stand. Ohne zu zögern blätterte Heaven schnell um. Die Seiten raschelten. Wir stießen auf eine Seite mit viel Text. Allerdings konnten wir ihn nicht lesen, weil es eine andere Sprache war.

Ich sah Heaven an. „Super. Eine andere Sprache.“

„Egal! Blätter weiter“, forderte sie mich auf.

Ich verdrehte die Augen und machte, was sie sagte. Und dann stießen wir auf das Symbol, das auf dem Cover eingedruckt und neben Zoeys Schlüsselbein unter die Haut tätowiert war. Ich sah Heaven verschwörerisch an. Ihr Mund war begeistert geöffnet, ihre Augen waren groß und ihre Augenbrauen hochgezogen. Ich blickte wieder auf die Zeichnung. Von dem Symbol gingen mehrere Pfeile weg und am Ende dieser Striche stand etwas. Allerdings wieder in der anderen Sprache. Ich seufzte.

„So können wir wirklich nicht herausfinden, was da steht“, bemerkte Heaven.

„Das ist mir allerdings auch schon aufgefallen. Vielleicht sollten wir mal unsere ehemalige Französisch Lehrerin fragen. Sie hat doch mal erzählt, dass sie sogar zehn Sprachen sprechen kann.“

„Fließend“, fügte meine beste Freundin hinzu. „Okay, können wir machen, aber wie stellst du dir das vor? Sollen wir ihr das Buch direkt unter die Nase halten?“

„Hm… wir könnten ja auch etwas abschreiben und sie fragen, welche Sprache das ist.“

„Und dann? Dann haben wir einen Satz“, meinte Heaven und es klang leicht verärgert.

„Ach was weiß ich. Vielleicht Google-Übersetzter.“

Heaven lachte laut.

„Was ist das da hinten für ein Lärm?“, fragte unsere Lehrerin gereizt, die auf uns aufmerksam geworden war.

Meine Freundin räusperte sich. „Nichts.“

„Das will ich hoffen“, sagte sie. Dann sah sie erst Heaven und schließlich mich an. „Für euch beide!“ Das letzte schrie sie und die Hälfte der Klasse zuckte zusammen.

Den Rest der viel zu langen Stunde konnte ich kein einziges Wort mehr mit Heaven wechseln, da uns unsere Lehrerin immer wieder mit ihren abfälligen Blicken beäugte.

Es war entsetzlich und kaum auszuhalten. Kein einziges Wort in einer Stunde! Das muss man sich erst mal vorstellen und noch dazu zog sie sich in die Länge wie ein Kaugummi und dauerte viel länger, als sonst.

Kaum öffnete einer von uns beiden den Mund, zuckte Mrs Starks Blick zu uns hinüber. Sogar als sie an der Tafel stand und wir zwei Neuigkeiten austauschen wollten, drehte sie sich schon zu uns um. So, als ob sie über irgendeine Art Gedankenlesen verfügte, die darauf hinwies, wann jemand, in dem Fall wir, anfangen wollte, etwas zu sagen.

Doch kurz vor dem Ende der Stunde hielt Heaven es nicht länger aus und sagte: „Noch drei Minuten!“

Dafür bekamen wir beide erst mal drei Seiten aufgebrummt. Unsere Lehrerin meinte, wäre kein Wochenende, hätten wir nur zwei bekommen. Allerdings fand keiner, dass eine Seite wenige gnädiger gewesen wäre. Zumal wir ihr überhaupt nicht glaubten.

Ich war zwar genervt, aber ich versuchte ganz ruhig zu wirken. „Alles klar! Und über was, wenn ich fragen darf?“

Erst lachte sie nur, doch dann sagte sie: „Darfst du! Ihr werdet mir nächste Stunde drei Seiten bringen, weshalb man im Unterricht nicht schwätzen darf.“

„Drei Seiten?“, fragte Heaven entsetzt, „So viele Sachen gibt es doch gar nicht zu sagen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Das ist mir egal! Und falls ihr denkt, ihr könnt das zusammen schreiben, dann habt ihr euch gewaltig geschnitten. Und es wird schriftlich erledigt. Nicht auf dem Computer! Und erst recht nicht in dieser extrem überdimensionalen Schrift, bei der drei Worte in eine Zeile passen und die Schüler denken, damit durchkommen zu können. Bei mir nicht. Verstanden?!“

Natürlich ging es ihr am A-Wort vorbei, was wir dazu zu sagen hatten – wie fast jedem Lehrer, der sauer war. Aber Mrs Star war wie immer besonders streitlustig. Sie war eben eine verdammte Hexe, die ich bis auf den Tod verabscheute und in die Hölle wünschte, wo sie auch hingehörte.

Doch wir ließen uns auf keinen Streit ein und waren intelligent genug, uns nicht auf ihr Niveau hinunter zu begeben. Für diese Lehrerin hätte man sich fremdschämen müssen.

Die ganze Klasse drehte sich zu uns um und wartete gespannt auf unsere Antwort. Wir sagte nichts. Im Klassenzimmer war eine angespannte Stille entstanden und sie wurde erst durch das Klingeln der Schulglocke gebrochen.

Heaven und ich stopften schnell unsere Schulsachen in die Taschen und stürmten aus dem Klassenzimmer.

Heaven knurrte: „Ich könnte dieses Weib erwürgen!“ In ihr loderten die Flammen eines niemals endenden Feuers.

Ich tätschelte beruhigend ihre Schulter. „Über so jemanden sollte man sich nicht aufregen – man sollte so jemanden bedauern. Wer seine Wut an Schülern auslässt, hat eigentlich überhaupt keinen Kommentar verdient.“

Heaven nickte. „Stimmt, aber trotzdem ist sie ein behindertes Miststück.“

Erst wollte ich ihr sagen, dass behindert kein Schimpfwort war, ließ es dann aber doch bleiben und fragte mich, wieso sie eigentlich so in Eile war. Ich wusste zwar nicht, wohin Heaven lief, aber sie sah sehr zielstrebig aus, also lief ich ihr hinterher. Wieso ich das tat, wusste ich ebenfalls nicht.

Und dann sah ich ihn. Calvin, der an einer Wand lehnte. Ich fing an zu joggen um Heaven einzuholen, aber damit hatte ich keinen Erfolg.

Gerade, als ihr Arm in Reichweite meiner Hand war, fing sie an zu reden.

„Sag mal, hast du noch alle Tassen im Schrank?“, brüllte sie ihn an. Ein paar Schüler neben uns zuckten zusammen und machten sich leise aus dem Staub. Das war ja mal wieder super. Hauptsache keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen – von wegen.

Calvin sah Heaven erschrocken an. „Was?“ Das war das Einzige, was er rausbrachte, doch als er mich sah, wurde ihm einiges klar und seine Miene hellte sich auf. Vor Entsetzen oder vor Wissen?

„Du hast schon ganz richtig gehört! Was fällt dir ein, so etwas mit ihr zu machen? Ich hoffe, dir ist klar, dass ich ihre beste Freundin bin und sie mir alles anvertrauen kann, egal was es ist.“

Calvin sah mich an. „Du hast es ihr tatsächlich erzählt?“ Ich sagte nichts. „Das hätte mir von Anfang an klar sein müssen. Ich sagte doch noch, du solltest es niemandem erzählen. Aber natürlich, du machst es.“ Er sah zwar geschockt, wütend und vielleicht ein bisschen verletzt aus, aber es hatte den Anschein, als ob es ihn freuen würde, mich zu sehen.

Ich drängte mich neben Heaven. „Was soll das denn jetzt heißen? Ist das etwa meine Schuld, was du gemacht hast?“

Heaven sah mich wieder an. Ihr Mund war sperrangelweit offen. „Also ist es wirklich wahr? Du hast mich nicht verarscht oder so was?“

Ich schnaubte. „Natürlich nicht.“

„Oh mein Gott“, hörte ich jetzt Calvin von sich geben, der sich an die Stirn faste. Er konnte anscheinend nicht fassen, dass Heaven so einen Aufstand machte und es bisher selbst nicht geglaubt hatte. Dann sah er mich wieder an. „Nein, es ist nicht deine Schuld, aber wieso hast du es ihr erzählt?“

Ich musste gar nichts sagen, da fing Heaven schon an. „Wie bitte? „Wieso hast du es ihr erzählt“?“, äffte sie ihn nach. „Vielleicht weil ich ihre beste Freundin bin, was ich in diesem Gespräch aber schon angesprochen haben. Aber so wie es scheint, reichen deine wenigen Gehirnzellen nicht mal für diese paar Worte, die wir gerade miteinander gewechselt haben, aus!“

Plötzlich stieß ein Mädchen zu uns dreien dazu. „Was ist denn hier los?“, wollte sie wissen. Ich kannte sie vom Sehen her. Sie stand in den Pausen immer bei Calvin und ich hatte den Verdacht, dass sie mehr wollte als Freundschaft.  Das Mädchen trug einen sehr knappen Rock und ein Oberteil, dessen Ausschnitt bis zum Boden schleifte – und trotzdem sah sie richtig gut aus.

Keiner von uns beachtete sie. Heaven starrte Calvin an. Calvin starrte Heaven und mich im fliegenden Wechsel an. Und ich sah verlegen auf den Boden.

Dann sagte Heaven etwas, wofür ich sie hätte umbringen können. „Calvin hat Molly Noel geküsst.“

Er, das Mädchen und ich sahen sie geschockt an. Sie war die erste, die sich als Erste wieder zusammenreisen konnte.

„Ist das dein Ernst?“, fragte sie Heaven und sah sie herablassend an.

Sie nickte und grinste Calvin frech an. „Oh ja.“

„Heaven, was erzählst du da für einen Unsinn? Wie kommst du auf so etwas?“, fragte Calvin, dem das ganze peinlich wurde.

„Ach, komm! Jetzt tu doch nicht so unschuldig!“, meckerte Heaven und sah mich auffordernd an. Sie wollte, dass ich ihr zustimmte. Aber das konnte ich nicht. Viel zu viel Angst hatte ich vor den ganzen Gerüchten, die bald an unserer Schule herum kursieren könnten.

„Das stimmt nicht.“ Meine Stimme hatte mehr Kraft, als ich dachte, denn ich wäre am liebsten im Boden versunken.

Meine Freundin starrte mich an. „Was soll das denn jetzt?“

Ich schluckte. „Das Gleiche könnte ich dich auch fragen. Wieso willst du solche Lügengeschichten verbreiten? Ich dachte wir wären Freunde?“

Das hatte gesessen. „Sind wir immer noch.“

„Gut“, sagte ich.

Das Mädchen mit den kurzen braunen Haaren sah uns an. „Okay, ich nehme an du bist Molly Noel.“ Ich nickte. „Selbst wenn du gesagt hättest, dass es stimmt - dass er dich geküsst hätte - würde ich dir nicht glauben. Du willst es vielleicht, aber das würde Calvin nicht machen. Er ist treu. Nicht wahr?“ Sie sah ihn an, grinste und klimperte mit den Wimpern.

„Natürlich“, log er.

Was? Treu? Zu wem denn bitte schön. Zu meiner Erklärung küsste sie ihn.

Heaven schnaubte, schüttelte den Kopf und verschwand. Ich war unfähig mich zu bewegen, aber zu meinem Glück nahm das Mädchen Calvin an die Hand und verschwand mit ihm. In meinen Kopf rauschten tausend Gedanken. Calvin hatte eine Freundin. Calvin hat mich geküsst. Calvin hat sie betrogen. Und ich war auch noch der Grund dafür.

Und dann passierte es:

Ich entdeckte Jerry Lee, der wie immer an einer Wand lehnte und die Schüler beobachtete. Er sah verärgert aus und ich konnte an seinem zappelnden Fuß erkennen, dass er unruhig war. Plötzlich wusste ich auch wieso. Wegen des Buches, das sich gerade durch meiner Tasche in meine Taille brannte.

Ich musste es ihm wieder geben. Ich konnte es einfach nicht behalten. Das wäre dann so etwas wie Diebstahl.

Ich machte mich also auf den Weg zu ihm, doch schon nachdem ich drei Schritte gegangen war, verstummte das laute Summen der Stimmen in der gesamten Aula. Ich sah mich um. Alle Augen waren auf einen einzigen Punkt gerichtet. Auf die Eingangstür.

Es traten sechs Personen ein. Alle groß und muskulös. An erster Front lief ein zwei Meter hoher Schrank, mit Armen, die so dick waren wie meine Oberschenkel, wenn nicht sogar dicker. Er hatte kurz rasierte Haare und trug ein T-Shirt, obwohl es draußen Minusgrade hatte. Seine Hose war löchrig und schmutzig, aber trotzdem sah er in ihnen verdammt scharf aus. Er war wahrscheinlich Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig. Neben ihm lief ein Typ der genauso groß war, wobei das fast alle waren, bis auf die zwei in der zweiten Reihe. Diese sahen haargenau gleich aus. Sie hatten die gleichen schwarzen Haare, gleiche Augen, gleiche Nase… einfach alles war gleich, selbst die Kleidung. Daraus schloss ich, dass es eineiige Zwillinge sein mussten. Die vier restlichen Typen konnte ich nicht erkennen… okay, ich war mir nicht mal sicher, ob es überhaupt Kerle waren. Der Vorderste mit dem T-Shirt zeigte auf jemanden. Es machte ein einziges Geräusch, als die gesamten Schüler den Kopf in die Richtung drehten. Und wer stand dort? Alleine. Erstarrt. Geschockt. Jerry Lee.

Die Gruppe setzte sich sofort in Bewegung. Sie mussten den herumstehenden Schülern überhaupt nicht ausweichen, da die Schüler ihnen vor Streck schon aus dem Weg sprangen. In kürzester Zeit waren sie bei ihm angelangt. Sie wechselten ein paar Worte und dann packten sie Jerry am Arm und zerrten ihn einfach mit. Er wollte sich wehren, doch gegen sechs Leute hatte er keine Chance. Leider schaffte ich es nicht, einen genaueren Blick auf die Personen zu werfen, da ich nur Augen für Jerry Lee hatte, der verzweifelt um sich trat. Doch bevor ich sie mir noch genauer ansehen konnte, waren sie auch schon wieder verschwunden.

Ich hatte überhaupt keine Zeit mehr über das nachzudenken, was gerade geschehen war, als ich etwas weiteres bemerkte. Dieser Geruch… dieser süße, wunderbare und gleichzeitig abartige Geruch verschwand. Erst merkte ich es nicht, doch plötzlich wurde mein Gehirn klarer, so, als würden plötzlich meine Gehirnzellen wachsen, sich vermehren und ich zu einem Genie mutieren.

Ich musste mich kurz umsehen um zu erkennen, dass alles wieder so war wie immer. Die Schüler redeten über den neusten Tratsch und das, was gerade geschehen war, dass Jerry von irgendwelchen Typen mitgenommen wurde, war vergessen. Einfach so.

 

Ich fand Heaven alleine herumstehend mitten in der Aula, so wie ich gerade noch gestanden war. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge der Schüler zu ihr hindurch, wobei ich immer wieder Blicke auf Leute warf, um zu sehen, ob sie wirklich wieder bei klarem Verstand waren. Und ja, ich hatte recht. Sie waren wieder normal. Ich fand das es zwar unwahrscheinlich war, dass sie wieder wie immer waren und konnte es auch nicht recht glauben, aber die Tatsache, dass sie sich wie immer benahmen, lag direkt vor meinen Augen.

Meine Freundin bemerkte mich, als ich noch ein paar Meter entfernt von ihr war.

„Oh mein Gott!“ Sie kam auf mich zu gestürmt, mit den Händen erhoben. „Riechst du das? Ich meine… riechst du das nicht? Und guck dir die Leute an! Wie immer!“

Ich unterbrach sie. „Hast du gerade gesehen was geschehen ist?“

„Klar hab ich! Die Typen haben sich Jerry Lee gekrallt.“ Sie lachte. „Der hat ein Gesicht gemacht.“

Ich sah sie wütend an.

„‘tschuldigung.“

Aber natürlich hatte sie recht. Und wäre die Sache nicht so merkwürdig gewesen, hätte ich auch lachen können. Doch ich empfand das alles nicht als lustig. Diese fremden Typen konnten doch nicht einfach hier rein spazieren und irgendwelche Schüler mitnehmen.

„Ich wollte ihm gerade das Buch zurückgeben… da ist es passiert“, erklärte ich ihr.

Bei der Erwähnung des Buches vergaßen Heaven und ich sofort die Typen und unsere Gedanken drehten sich nur noch um eines.

„Hm… Ach und wegen des Buches! Ich hab im Unterricht einen Satz von dem Text abgeschrieben. Wollen wir jetzt Mrs Beauchamp aufsuchen?“

Ich nickte und wir machten uns auf den Weg in den ersten Stock zum Lehrerzimmer.

 

„Sind sie sich sicher?“, fragte Heaven zum hundertsten Mal. Wir standen vor dem Biologiesaal. Heaven und ich hatten die halbe Pause damit verbracht, nach Mrs Beauchamp zu suchen. Erst, nachdem wir im Sekretariat waren und sie uns gesagt hatten, dass sie in der Stunde zuvor Biologie gehabt hätte, hatten wir sie finden können.

Mrs Beauchamp wurde langsam ärgerlich, was ich daran erkennen konnte, dass das Stück Papier in ihrer Hand anfing leicht zu zittern. Heaven war manchmal wirklich eine Nervensäge.

„Ich denke, Mrs Beauchamp hat es jetzt oft genug gesagt, Heaven.“ Ich sah sie warnend an und die Französischlehrerin warf mir einen dankenden Blick zu.

„Heaven, ich bin mir zu Hundertprozent sicher, dass das Griechisch ist. Und hier steht: Sie sind nicht von dieser Welt, auch wenn sie hier wohnen. Du kannst mir das wirklich glauben. Was ist das überhaupt?“ Sie sah uns an, als hätten wir nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Meine Freundin überlegte kurz und sah die Lehrerin prüfend an. Dann zuckte sie mit den Schultern und nickte. „Okay.“ Die Frage ignorierte sie einfach.

Sie packte mich am Arm und wollte mich wegziehen. Ich konnte Mrs Beauchamp nur kurz danken. Und als ich mich kurz umdrehte, sah sie uns kopfschüttelnd hinterher. Was mich allerdings nicht wunderte.

Kaum waren wir um die erste Ecke fing Heaven schon wieder an zu reden.

„Ich hab mir was überlegt.“ Ich wartete neugierig bis sie weitersprach. „Ich komme nach der Schule mit zu dir und bevor du etwas sagst, lass mich ausreden!“ Ich schwieg und die Worte, dass ich überhaupt nicht wusste, ob das klappte, blieben mir im Hals stecken. „Du nimmst mich mit. Dann essen wir bei dir und machen Hausaufgaben… oder auch keine Hausaufgaben. Ich weiß ja, wie du dazu stehst und du kennst auch meine Meinung über diese Pflichten. Vorhin hast du diese Sache mit dem Google-Übersetzer angesprochen, aber das ist total unnötig. Mein Bruder hat ein Programm auf seinem Rechner, das man sich einfach aus dem Internet herunterladen kann. Natürlich kostenlos, das versteht sich. Mit diesem Programm kann man zu gescannten Texten alles Mögliche erfahren. Unter anderem auch die Sprache. Und man kann sie ganz einfach übersetzten lassen.“ Heaven grinste triumphierend.

Ich konnte gar nichts sagen, weil ich nicht glauben konnte, was Heavens Bruder für Programme auf dem Computer hatte. Das war ja so, wie bei irgendwelchen Geheimdiensten.

„Wie findest du das? Das ist doch super, oder nicht?“, fragte mich meine beste Freundin begeistert und mit glänzenden Augen.

„Und das ist auch nicht illegal oder so?“, fragte ich skeptisch.

„Ich… ähm… ich glaube nicht.“ Sie sah schnell weg.

„Heaven, wenn du dir nicht sicher bist, dann mach ich bei so einer Action nicht mit! Ich hab keine Lust wegen Verstoß gegen irgendwelche Gesetze im Gefängnis zu landen.“

„Okay, ich bin mir nicht sicher, aber meinem Bruder ist doch auch nichts passiert!“

„Ich bin aber nicht dein Bruder. Sowas mach ich nicht!“ Wie kam sie nur auf diese absurde Idee, illegale Programme aus dem Internet herunterzuladen? Hatte sie den Verstand verloren? Vielleicht wurde sie doch von dem Geruch erwischt und hatte eine Ladung in ihrem Kopf behalten.

„Ach, komm schon! Du willst doch auch wissen, was darin steht!“ Sie deutete auf meine braune Wildledertasche.

„Klar will ich das, aber…“

„Eben! Dann machen wir das jetzt einfach. So schlimm kann es schon nicht werden!“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Aber…“

„Es muss noch eine andere Möglichkeit geben, den Text lesen zu können.“

Heaven runzelte die Stirn und sah wütend in eine andere Richtung.

„Vielleicht doch Google-Übersetzer?“

Heaven fing auf einmal an zu lachen und legte ihre Hände auf meine Schultern. „Oh mein Gott! Wir sind doch so dumm!“ Sie fasste sich an die Stirn. „Wir müssen uns das Programm überhaupt nicht herunterladen!“

„Heaven!“, mahnte ich sie. „Nicht schon wieder dieses blöde Programm!“

„Was wäre, wenn es schon jemand hat? Auf seinem Computer?“

„Dann benutzen wir es aber trotzdem nicht!“, sagte ich.

„Mein Bruder hat es doch! Wieso bin ich nicht schon davor draufgekommen? Planänderung! Wir fahren mit deinem Auto zu mir nach Hause. Du gibst deinen Eltern Bescheid und so weiter. Und dann machen wir es mit dem Programm! Mein Gott, Molly Noel! Das ist doch so viel komfortabler, als irgendetwas anderes!“

Ich weiß, dass es falsch war, das zu tun, was ich jetzt machte. Aber in gewisser Weise war es auch egal, denn Heaven war von ihrem Plan nicht mehr abzubringen. Also willigte ich ein, woraufhin ich einen Kuss von Heaven auf die Wange kassierte.

Während sie sagte, dass wir solche Genies seien, klingelte es.

 

Heute war ein Tag an dem viele und auch komische Dinge geschahen. Das Buch, die Pause und dann noch die 6. Stunde, zwanzig Minuten vor dem Schulschluss.

Ich war gerade dabei eine Mathematikaufgabe zu lösen, also, ich versuchte es zumindest, während Heaven mich mit irgendwelchen Geschichten volllaberte. Ich hatte nur mit halbem Ohr zugehört, weshalb ich auch keine Ahnung hatte, über was sie nur wirklich geredete. Ich verstand nur so viel, dass Adam heute nicht in der Schule war, oder sie ihn zumindest nicht gesehen hatte und sie ihn unbedingt anrufen wollte, wenn die Schule aus war. Und dann kam die Durchsage.

„Calvin Despain, bitte sofort im Sekretariat melden!“, erklang die Stimme der unfreundlichen Sekretärin aus den krachenden Lautsprechern.

Als ich seinen Namen hörte zuckte ich zusammen und mein silberner Kugelschreiber hinterließ einen dunklen Strich auf meinem karierten Blockblatt. Erst dachte ich, ich musste mich wohl verhört haben, doch als mich Heaven leicht in die Seite stieß, wusste ich, dass meine Ohren im besten Zustand waren. Wir sahen uns an. Beide verwirrt. Das „Bitte sofort im Sekretariat melden“ war ausschlaggebend gewesen. So etwas sagten sie nur, wenn jemand schwänzte oder etwas sehr Dringliches gebraucht wurde. Und zwar wirklich dringlich. Und ich war mir sicher, dass Calvin nicht blaugemacht hatte.

Heaven sah mich jetzt fragend an, doch ich konnte nur mit den Schultern zucken.

Es vergingen zehn Minuten und plötzlich hielt ein Streifenwagen direkt vor unserem Klassenzimmer. Es stiegen zwei kräftige Polizisten aus, die in Richtung Eingang liefen. Es vergingen vielleicht aufgeregte fünf Minuten in der Klasse, als sie mit… als sie mit Calvin im Schlepptau wieder kamen. Calvin war bleich im Gesicht, doch seine Augen waren gerötet. Hatte er etwa geweint? Er wischte sich Schweiß von der Stirn. Dann sah er in unser Klassenzimmer und entdeckte mich. Wie ich ihn mit offenem Mund anstarrte. Er blinzelte und wischte sich mit dem Ärmelzipfel über die glasigen, blauen Augen. Ein Polizist warf seine Tasche auf den Rücksitz und zeigte mit der offenen Hand in das Innere, um Calvin aufzufordern, sich zu setzten. Er gehorchte und schob sich in das Innere des Wagens. Dann fuhren sie davon und in der Klasse brach panisches Gerede aus. Ich hörte einige fragen: „War das Calvin? Das war doch Calvin, oder?“ oder „Oh mein Gott! Was ist passiert?“. Andere sagten lässig auf ihren Plätzen: „Endlich passiert hier mal etwas Spannendes“ oder „Wurde auch mal Zeit, dass er einen auf den Deckel bekommt.“.

Meine Freundin und ich gingen wie ferngesteuert durch das Klassenzimmer zu den Fenstern, um einen letzten Blick auf das Auto werfen zu können, doch es war schon weg. Einige taten uns nach. Wie hypnotisiert blieben wir stehen und starrten in die weite Ferne, in der wir keinen Polizeiwagen mehr erkennen konnten.

„Was denkt ihr, was er angestellt hat?“, fragte ein Mädchen, Amy Scrimgeour, neben mir. Sie hatte kurze blonde Locken und große blaue Augen, mit denen sie uns aufgeregt ansah.

„Wieso sollte er etwas gemacht haben?“Ich sah sie fragend an und war etwas wütend, weil sie so jemand war, der dachte, dass Calvin der Böse hier war. Vielleicht hätte ich diejenige sein müssen, die sauer auf Calvin war, aber das war ich plötzlich nicht mehr. Ich machte mir eher Sorgen um ihn. Und deshalb versuchte ich ihn wahrscheinlich auch zu verteidigen. Und ich wollte nicht, dass noch mehr fiese Gerüchte über ihn in der Schuler herumgingen, als eh schon.

Heaven antwortete. „Sie ihn dir doch mal an. Er ist nicht der Typ von Junge, der brav auf dem Schoß seiner Mutter sitzen bleibt.“ Das Mädchen neben mir nickte zustimmend.

„Und was soll er eurer Meinung nach gemacht haben?“ Das war ein anderes Mädchen, das sich von hinten an uns heran genährt hatte. Sie hieß Merve Coskun und war das einzig türkische Mädchen in diesem Kurs.

„Sachbeschädigung?“, rief jemand.

„Ja, oder er hat jemanden bestohlen… oder verprügelt.“

„Oder umgebracht!“ Das war natürlich nur ein Scherz, aber keiner lachte darüber.

„Drogen!“, kam aus dem hintersten Eck des Klassezimmers gerufen.

Dann tauchte ein Typ neben mir auf. „Oder er hat ein Mädchen vergewaltigt?“ Er grinste mich frech an. Um uns herum brachen ein paar Schüler in Lachen aus.

Doch keiner kam auch nur annähernd darauf, was wirklich geschehen war.

 

„Ja, ich komme um sieben nach Hause!“, versprach ich meiner Mum.

Ich saß auf dem Bett von Heavens Bruder. Er war auch im Zimmer, saß vor dem großen, dunklen Schreibtisch und suchte gerade nach dem Übersetzungsprogramm auf dem PC.

Jake war neunzehn Jahre alt, hatte eine Figur wie sie jeder Typ haben wollte, dunkelbraune, zerzauste Haare und braune Teddyaugen – der totale Gegensatz zu Heaven. Und er sah nicht nur gut aus, er war ein wundervoller, lieber Bruder. Und immer, wenn ich mir wünschte einen Bruder zu haben, wünschte ich mir Jake. Seit dem Kindergarten kannten wir uns nun schon, in dem wir immer zu dritt gespielt hatten. Allerdings hatten wir zwei uns nie wirklich als Freunde gesehen, sondern immer nur als gute Bekannte.

Meine Mum und ich telefonierten schon einen halbe Ewigkeit, weil wir uns einfach nicht darauf einigen konnten, ob ich  nun bei Heaven bleiben durfte oder nicht. Doch ich war schon so weit, dass ich sie überzeugen konnte, bis heute Abend zu bleiben.

„Hey, ich hab es gefunden!“, rief Jake und drehte sich zu uns um.

„Bis dann!“ Ich legte schnell auf, bevor meine Mum ihre Meinung doch noch einmal ändern konnte.

„Na, endlich! Hat ja ewig gedauert“, meckerte Heaven gespielt und schubste ihren großen Bruder vom Stuhl. Dann setzte sie sich selbst drauf.

„Und?“, fragte er und sah uns gespannt an.

„Was?“, sagten Heaven und ich wie aus einem Mund.

„Wollt ihr mir nicht langsam mal sagen, wofür ihr das braucht?“

Heaven presste ihre Lippen aufeinander und tat so, als würde sie mit einem Schlüssel ihr Mundwerk absperren. Ich lachte und tat es ihr gleich.

„Ihr seid echt sowas von bescheuert!“, rief er, doch im Rausgehen zwinkerte er uns zu.

Wir warteten kurz, bis wir sicher waren, dass Jake weit genug entfernt war und dann packte ich das Buch aus meiner braunen Wildledertasche aus. Ich bekam ein mulmiges Gefühl, als ich es betrachtete. Doch ohne zu zögern legte ich es auf den Scanner, während Heaven ihn anschloss. Es dauerte eine Zeit lang, doch dann erschien dieselbe Seite auf dem leuchtenden Bildschirm des Computers. Jetzt mussten wir beide grinsen und es war mir egal, ob das Programm illegal oder legal war. Ich wollte einfach nur noch wissen, was auf den vergilbten Seiten stand.

Wir mussten lange rumprobieren, bis wir endlich den Text übersetzt hatten. Aber wir hatten es geschafft und was dort stand, schockte uns zutiefst.

 

Um ehrlich zu sein, ich habe das ganze Zeugs bis heute nicht verstanden. Diese Lebewesen. Sie sind nicht von dieser Welt, auch wenn sie hier wohnen. Vielleicht waren es Menschen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht waren sie schon immer so… anders. Sind so auf die Welt gekommen. Mit diesen unglaublichen Fähigkeiten. Aber ich weiß, dass sie trainieren müssen. Nicht um diese zu behalten, sondern um sie zu verbessern. Natürlich, wenn man  zufrieden ist mit dem was man hat, dann nicht. Doch wenn man noch besser in allem werden kann, wer verzichtet schon darauf? Jeden Tag machen sie ihre Trainingseinheiten. Nein, das stimmt nicht. Sie trainieren meistens in der Nacht, denn dort werden sie nicht so leicht auf den Dächern über den Straßen entdeckt. Und weil sie so auch ihre Fähigkeiten im Sehen verbessern können. Und Schnelligkeit, Kraft, Geschicklichkeit, Reaktionen. All dieses Zeugs, das man zum Kämpfen braucht und vieles mehr. Aber auch wenn sie anders sind, haben sie ihr Herz am rechten Fleck und können genau so fühlen, wie normale Menschen.

Ich würde sagen, ich beginne von Anfang an. An dem Tag, an dem ich sie zum allerersten Mal sah.

Es war ein guter Tag in meinem Nachtrestaurant gewesen. Viele Einnahmen. Aber ich glaube, das lag an meiner neuen Angestellten. Ach, was heißt ich glaube? Ich weiß es. Sie ist perfekt für diesen Job. Sie ist geschickt und wir haben auch mehr Männer zu Besuch als sonst. Nur wegen ihr. Jeder kommt um sie zu sehen und nicht wegen des Essens.

Aber gut, fahren wir mit der Geschichte fort:

Ich hatte gerade den duftenden Laden verlassen und drehte den Schlüssel so oft um, wie es nur möglich war, als ich ein komisches Geräusch hörte. Es klang wie ein dumpfer Schlag. So, als würde sich jemand verprügeln. Und kraftvolles, wütendes Stöhnen. Ohne darüber nachzudenken, was dort wohl alles geschehen konnte, verfolgte ich diese Geräusche und dann entdeckte ich zwei Typen. Groß und stark. Über und über mit Muskeln bepackt, standen sie auf der Straßen und schlugen auf sich ein. Das bedeutete der Größere der beiden schlug auf den Kleineren ein, welcher sich aber flink wehrte. Doch als ich bemerkte, mit welch einer Schnelligkeit sich die beiden bewegten, stockte mir der Atem. Sie sprangen mehrere Meter hoch und schubsten sich so heftig, dass sie zurück flogen, wie bei einer Explosion. Ich konnte meinen eigenen Augen nicht mehr trauen. Sie bemerkten mich erst, als ich meinen Schlüsselbund, den ich immer noch in der Hand hielt, vor Schreck klirrend fallen ließ. Erschrocken sahen die beiden auf. Der Kleinere wollte davon laufen, doch der andere hielt ihn zurück. Er kam unaufhaltsam auf mich zu.

Während er seine glitzernden Augen auf mich richtete, fragte ich mich, wieso ich überhaupt hierhergekommen war. Aus Neugier? Aber es war zu Hundertprozent ein Fehler gewesen, wie ich dachte. Ob er mich nun töten würde, weil ich sie gesehen hatte? Es war wie in einem Film, was sie gerade getan hatten. Und wenn sie aus diesem die Bösen waren, sah es für mich überhaupt nicht gut aus. Eher totengleich. 

„Du wirst vergessen, was du gesehen hast“, sagte er in einem ruhigen und ernsten Ton. Er war nicht außer Atem, nicht verschwitzt, nur sein blondes Haar war etwas zerzaust.

Doch dann dachte ich darüber nach, was hier tatsächlich passierte. Zwei Männer, die sich verprügelten. Hinter meinem Laden!

Ich sah ihn verwirrt und wütend an. So mit mir zu reden war unter aller Sau! „Wie war das? Was machen sie hier überhaupt?“ Meine Augen blickten die beiden vorwurfsvoll an.

Der große Typ drehte sich zu dem anderen um. Dieser sah verwirrt und irgendwie erschrocken aus. „Es geht sie nichts an, was wir hier machen“, sagte er dann zu mir.

„Und ob es mich etwas angeht. Das hier“, ich zeigte auf die rechte Mauer eines Hauses, „Ist mein Laden und ich möchte nicht, dass sich zwei Deppen wir ihr hier halb umbringen!“

Bei meinen Worten fingen die beiden Männer volltönend das Lachen an. „Du wirst vergessen, was du gesehen hast!“ Das war der Kleinere der hervorgetreten war.

Ich sah sie einfach nur an.

„Was haben wir gerade gemacht?“, fragte er, um zu testen, ob sein Zwang funktioniert hatte. Hatte er aber nicht. Ich wusste genau, was gerade geschehen war und das sagte ich ihnen dann nochmal.

Daraufhin fuhr sich der Große durch die Haare. „Er kann uns abwehren“, stellte er entgeistert fest. Ich verstand natürlich nur Bahnhof, aber ich fragte nicht nach, denn plötzlich kamen mir wieder die Erinnerungen hoch, wie sie gekämpft hatten. Mit dieser Schnelligkeit und Kraft.

„Wer seid ihr?“, fragte ich. Ja, im Nachhinein weiß ich auch, dass diese Frage total bescheuert klang, aber eigentlich wollte ich einfach nur wissen, wer sie dachten zu sein, um die Erlaubnis zu haben, sich hier verprügeln zu können.

Dieses Mal lachte keiner von ihnen. Aber der Kleine antwortete. „Die Frage sollte lauten: Was seid ihr! Aber wenn es dich interessiert, früher oder später würdest du es eh erfahren, also wieso nicht gleich jetzt? Also ich bin David Wotsford. Und das ist mein Onkel Mathias Wotsford.“

Ich sagte nichts.

„Aber kommen wir auf die Frage „Was sind wir“ zurück. Nun, das ist schwer zu erklären, aber sagen wir, wir sind keine Menschen. Aber falls du denkst, wir seien Vampire und würden jetzt dein Blut aus dir heraussaugen… nun, dann hast du dich geschnitten.“ Bei dem Gedanken musste der Große grinsen.

„Okay, hört einfach auf mich zu verarschen, okay? Ich wollte euch bloß ganz nett darum bitten, eure Schlägerei woanders fortzusetzen. Danke.“ Ich wollte gehen, doch urplötzlich stand Mathias neben mir und blickte aus seinen schwarzen Augen auf mich herab.

„Das hier ist keine Schlägerei. Das ist unser Training.“

Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter.

„Und wer bist du?“, fragte der Große.

„Jason Summer. Aber was geht euch das an?“, fragte ich, mit nicht unbedingt der sichersten Stimme.

„Wir treffen uns morgen wieder. Hier. Es gibt einiges zu klären.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Das sehen ich nicht so“, meinte ich. Was sollte es schon zu klären geben – zwischen mir und zwei Verrückten?

„Und ob! Aber frag jetzt nicht wieso. Das wirst du alles morgen erfahren.“

Ich wollte noch etwas Fieses erwidern, doch ich konnte sie nicht mehr sehen. Sie waren weg. Einfach weg. In binnen einer Sekunde. Ach was! Millisekunde!

Als ich am Abend im Bett lag grübelte ich über die zwei Typen nach. Was geschehen war, ihre Worte. Ich ging alles noch einmal von vorne bis hinten durch. Und immer wieder, bis mir auffiel, dass ich etwas total Krankes gesehen hatte. Zwei Menschen… Nein, sagen wir Lebewesen, die übernatürliche Kräfte hatten. Menschen konnten sich nicht mit einer solchen Schnelligkeit bewegen. Und diese wollten mir etwas mitteilen. Etwas, von dem ich keine Ahnung hatte, was es hätte sein können.

Als ich am nächsten Tag den Laden wieder abschloss, hielt genau neben mir eine schwarze Limousine mit getönten Fensterscheiben. Eine von ihnen fuhr herunter und der Kopf eines fremden Mannes erschien.

„Steigen Sie ein“, befahl er in einem so wahnsinnigen Ton, dass ich einfach gehorchen musste. Ich öffnete die Tür und sah in das Wageninnere. Es war überall mit Leder bezogen, welches mit Sicherheit nicht das billigste war. An der Decke brannten rötliche Lichter und hüllten das Innere in einen komischen Glanz. So einen Wagen hatte ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen und natürlich war ich erst recht nicht in so einem gesessen.

Ich bekam von hinten einen heftigen Stoß in den Rücken. Ich stolperte über die Kante des Wagens und fiel auf einen der Ledersitze. Ich drehte mich um. Mathias stieg in den Wagen. Er hatte mich von hinten geschubst. Okay, das war also das Treffen von dem er geredet hatte. Plötzlich entdeckte ich auch noch David, der mich angrinste. Dann sagte er: „Hey! Was geht ab!“

„Was wird das hier? So eine Art Entführung?“, fragte ich und versuchte lässig zu klingen. Doch in Wirklichkeit machte ich mir in die Hose – also, im übertragenden Sinne. Und das merkten die Typen, die mit mir im Wagen saßen, auch.

Der Fremde lachte. „Nein. Aber ich dachte, sie wüssten was Sache ist?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Also ich bin Benjamin Wotsford, der Gründer dieses Clans.“

„Was für ein Clan?“, fragte ich und fand das Ganze ziemlich lächerlich. „Und was wollt ihr von mir?“

„Hör einfach zu und lerne. Ich denke, wir sind schon so weit, dass wir uns duzen können.“

Das empfand ich nicht so, aber ich sagte nichts. Ich kannte diese Leute nicht, wieso sollten sie mich duzen dürfen? Aber auch wenn ich mich gegen ihre Meinung gewährt hätte, wäre ich nicht weit gekommen. Das wusste ich, obwohl ich es noch nicht einmal probiert hatte. Aber ich hatte das Gefühl, dass es so wäre.

„Also, ich habe den Wotsford Clan gegründet, was aber nicht heißt, dass ich der Anführer oder so etwas bin. Ich habe genau so viele Rechte, wie die anderen und muss mich an die gleichen Gesetze halten. Das wird für dich jetzt alles etwas komisch klingen, aber versuche damit klar zu kommen. Wir brauchen deine Hilfe!“

„Wozu?“, fragte ich.

„Das wirst du alles erfahren, wenn du Benjamin weiter zu hören würdest!“, zischte David gereizt.

„Beruhig dich“, zischte Mathias ihn an und drückte David, der beinahe aufgesprungen wäre – wobei er sich dann wahrscheinlich den Kopf an der Decke gestoßen hätte- wieder in seinen Sitz hinein. David warf Mathias einen wütenden Blick zu, der sich aber wieder legte, nachdem er ein paar Mal tief Luft geholt hatte.

„Ich habe diesen Clan gegründet, weil ich gemerkt hatte, dass ich anders bin. Ich war schneller, stärker, schlauer. Ich konnte alles besser. Und irgendwann haben sich diese Talente noch mehr verstärkt. Ich konnte so schnell laufen, dass ich unsichtbar wurde. Ich wurde so stark, dass ich Steine oder Eisenplatten in meinen Händen zerquetschen oder verformen konnte. Ich wurde so schlau, dass ich mir jedes einzelne Wort aus einem Buch merken konnte. Ich konnte die Regenbogenfarben in einer Glühbirne sehen, sowie die kleinsten Fussel, die in der Luft fliegen. Das erschreckte mich sehr, doch nicht so, wie die Tatschache, dass ich Menschen manipulieren kann. Gut, das vereinfachte mir vieles. Ich überfiel eine Bank, also ich manipulierte eine Frau, sie gab mir Zwanzigmillionen Dollar. Dann kündigte ich meinen Job und zog in einen Villa am Strand. Aber gut, das hat jetzt eher weniger mit dem zu tun, was ich dir eigentlich sagen will. Denn dort traf ich auf eine Person, die genau so war wie ich. Dimitri Pawlow stammte aus Russland, ist jedoch weggezogen, als das Gleiche mit ihm geschah, was damals mit mir passierte. Er wollte nicht, dass seine Familie etwas mitbekam und ist deshalb gegangen. Er brachte es einfach nicht über sein Herz, seine Familie das miterleben lassen zu müssen. Auf dem Weg gabelte er zwei Frauen auf. Suzanne Campbell und Kristen Piersons. Die drei zogen zu mir und wir lebten eine Weile glücklich zusammen, doch natürlich musste irgendetwas passieren, was uns aus unserer Ruhe lockte. Dimitri wollte in einer Bar etwas kostenlos zu Trinken bestellen. Mit Zwang. Also versuchte er die Frau hinter dem Tresen zu manipulieren, doch was er bekam war eine freche Antwort, er solle gefälligst bezahlen. Als Marie Pawlow, so hieß sie, das sagte, verliebte sich Dimitri unwiderruflich in sie. Sie fühlte das zu Beginn zwar nicht, aber das ist wieder eine andere Geschichte. Er versuchte oft sie zu manipulieren, aber nie klappte es. Und erst nach einigen Tagen erzählte er uns von ihr. Klar waren wir sauer, weil er es uns früher hätte sagen sollen. Doch wir waren viel verwirrter, weil wir noch nie jemanden gesehen hatten, der dem Zwang wiederstehen konnte. Da muss ich aber noch hinzufügen, dass wir uns gegenseitig auch manipulieren können. Was bedeutete, dass sie anders war, als alle anderen. Das interessierte uns natürlich und wir freundeten uns mit ihr an. Keine Ahnung, aber als wir ihr die Geschichte von uns erzählt hatten, wusste sie es schon. Sie erzählte uns nun ihre Geschichte. Sie wurde, ganz genau wie Dimitrie es machen wollte, manipuliert. Also, der Mann hatte es versucht. Ein paar Tage danach ist er gekommen und hat sie entführt. Er sprang mit ihr über Dächer bis sie auf einem hohen Wolkenkratzer standen und Marie nicht abhauen konnte. Und dann hatte er ihr alles erzählt. Sie glaubte ihm, denn der Weg, wie sie auf das Haus gekommen waren, war die Wirklichkeit und der Beweis dafür gewesen. Naja, Marie war bereit uns ganz genau zu beschreiben wie der Mann aussah, der sie entführt hatte. Sie schloss sich unserer Gruppe an. Und wen fanden wir? Mathias Wotsfort. Meinen Bruder. Und er hatte jemanden weiteren dabei. Dylan. Er war der einzige Sohn von Mathias und nicht mal ein Jahr alt, doch wir behielten ihn bei uns, weil er mit großer Wahrscheinlichkeit, auch so werden würde wie wir. Über die Jahre trafen wir niemanden, der genau so war wie Marie. Es vergingen genau zehn Jahre und dann tauchst du auf. Einfach so. Genau wie Marie.“

„Und was wollt ihr jetzt von mir?“, fragte ich.

„Wir wollen herausfinden, warum ihr so seid, wie ihr seid“, erklärte mir Mathias.

„Ich finde ihr solltet lieber mal herausfinden, warum ihr so seid wie ihr seid. Möglicherweise ist bei eurer Geburt etwas schiefgelaufen oder ihr seid mal auf den Kopf gefallen, weil ihr mir hier so einen Mist erzählt.“

„Ich wusste, dass er uns nicht glauben wird!“, rief David, in dessen Innerem ein Vulkan brodelte und nahe dem Ausbruch war. 

„Na warte“, murmelte Mathias. Er stieß mit seinem Fuß die Tür des Wagens auf, packte mich am Arm und zog mich mit einer Leichtigkeit aus dem Auto, die ich so noch nie gesehen hatte. „Du denkst also, das mit dem auf den Dächern springen war ein Scherz gewesen? Na dann pass mal auf!“ Er packte mich am Kragen und sprang. Wir landeten auf dem Dach meines Ladens.

„Oh mein Gott!“ Das war das Einzige was ich herausbrachte - keuchend.

„Und? Glaubst du es jetzt?“, fragte er mich und konnte es nicht unterdrücken, seine Zähne knirschen zu lassen.

Ich konnte nichts sagen.

Mathias griff nach meinem Arm und zerrte mich bis zur Kante des Daches. Dort schupste er mich hinunter. Dachte ich zumindest, doch er hielt mich fest. Ich baumelte im Abgrund und er grinste mich von oben geistesgestört an. „Glaubst du es?!“

„Lass mich sofort hier runter!“ Ich war vielleicht ein Mann und wollte kein Weichei sein, aber das ging zu weit. Ich baumelte mit den Füßen zehn Meter über dem Boden. Ich hatte vielleicht keine Höhenangst, aber da ich nur von einer einzigen Menschenhand gehalten wurde und seine Kraft, doch eigentlich für so etwas überhaupt nicht ausreichen konnte, schoss mir sofort ein Bild in den Kopf, auf dem mein toter Körper blutüberströmt und matschig auf der Straße unter mir lag.

„Sag mir, dass du es glaubst! Sag es!“, forderte er mich schreiend auf.

„Ich glaube es! Aber lass mich sofort hier runter!“ In diesem Moment hätte ich alles geglaubt, nur um hier wegzukommen. Ich wollte noch nicht sterben und vor allem nicht, da es gerade so gut in meinem Laden lief.

„Nichts leichter als das“, sagte er. Er ließ mich los und ich fiel. Ich dachte schon, das Bild von vorhin würde wahr werden, doch bevor ich auf dem Boden aufschlug, war er auch schon wieder unter mir und fing mich auf.

Mein Herz raste. „Was fällt dir ein?“ Ich wollte ihn mit der Faust schlagen, doch er fing sie mit einer lässigen Handbewegung ab.

„Leg dich lieber nicht mir an.“

„Aber was seid ihr? Irgendwelche Straßenpenner, die eine Limo geklaut haben, um fremde Leute zu verarschen, sie anschließend von einem Haus zu schmeißen und dabei fast zu töten?“

„Keine Ahnung? Sowas wie… Superhelden?“

 

Mehr wollte ich nicht lesen. Superhelden? So ein Blödsinn. Doch Heaven war wie darauf besessen immer wieder eine Seite in den Scanner zu legen. Ich schnappte mir das Buch aus ihren Händen.

„Heaven, das ist der größte Mist der dort innen steht!“, gab ich ihr Preis, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob das wirklich stimmte, was ich sagte.

„Wieso? Ist doch cool! Stell dir mal vor, dass würde alles stimmen!“ Ihre Augen funkelten, wie schwarzes Wasser im Mondschein.

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass es Leute gibt, die auf Dächer springen können?“

„Wenn es dir nicht gefällt, kannst du ja gehen.“ Das hatte sie zwar nur aus Spaß gesagt, aber ich tat es tatsächlich.

„Okay, mach ich. Aber das Buch lass ich bei dir. Ich habe nämlich keine Lust, besessen zu werden und mir schließlich doch noch das Programm herunterzuladen“, sagte ich und stand von meinem Stuhl auf.

Heaven sah mich traurig an. „Hey, das hab ich nicht so gemeint!“

„Schon okay, das ist nicht deine Schuld, aber ich hab bloß die Schnauze voll von diesem Quatsch“, erklärte ich ihr und zeigte auf den Bildschirm, mit diesen bescheuerten Geschichten. „Aber wenn du etwas Interessantes findest, sag mir Bescheid“, zwinkerte ich ihr zu. Ich nahm meine schwere Tasche vom Bett.

„Alles klar, mach ich.“ Jetzt lächelte sie wieder, worüber ich sehr froh war, denn ich hatte keine Lust auf einen Streit mit meiner besten Freundin.

 

Als ich zu Hause ankam, stellte ich meine Schuhe zu den anderen und hängte meine dicke Winterjacke an den Haken. Am großen Spiegel hing ein Zettel auf dem stand, dass meine Mum Einkaufen gegangen wäre, falls ich früher käme als gedacht. Ich sah auf die Uhr. Ja, ich war früher gekommen, aber auch nur  zwei Stunden. Die Zeit bei Heaven war sehr schnell vorbei gegangen, aber zum einen lag dies wahrscheinlich daran, dass das Scannen immer Ewigkeiten gedauert hatte.

Ich lief in die Küche und holte mir aus dem Hängeschrank schräg über der Spüle einen Teebeutel. Aus dem Hahn ließ ich rauschend Leitungswasser in den Wasserkocher strömen, schaltete ihn an und wartete etwa eine Minute. Dann füllte ich die heiße Flüssigkeit in eine Kanne und hängte den Teebeutel mit dazu. Ich nahm die Kanne und stellte sie im Wohnzimmer auf den Tisch. Aus meinem Zimmer holte ich mir die JOY und kuschelte mich mit einer warmen Decke in eine Ecke des Sofas. Ich schlug die Seite mit den Fashionbildern auf und begutachtete die Models. Doch schon bald schweifte mein Blick über den Rand der Zeitschrift, irgendwohin in den Raum. Ich dachte an das Buch. Okay, es war eher ein Tagebuch von einem gewissen Jason Summer gewesen. Allerdings fragte ich mich, woher es Jerry Lee nun wirklich hatte. Ob es wirklich auf dem Dachboden bei ihnen lag, total eingestaubt und vergessen? Oder war es einfach nur irgendeine Art Märchenbuch? Aber wenn… falls es ein Tagebuch von Jason Summer gewesen war und dieser wirklich gelebt hatte, wie kam es dann zu Jerry auf den Dachboden? Und was noch viel wichtiger war: War die Geschichte wahr, die auf den vergilbten Seiten niedergeschrieben worden war? Aber das konnte nicht wahr sein. Es gabt keine Leute, die sich als Superhelden beschrieben und auf Häuser sprangen konnten… glaubte ich. Ach Quatsch! Ich weiß es!

Ich zuckte zusammen, als ich etwas an meinem Bein spürte. Ich war so sehr in meine zerstreuten Gedanken versunken, dass mir fast das Herz stehen blieb. Aber es war nur mein Handy gewesen. Ich zog es aus meiner Hosentasche und sah auf das leuchtende Display. Da ich die angezeigte Nummer nicht kannte nahm ich das Gespräch nicht an. Ich wartete bis es aufhörte zu klingeln, doch kurz nachdem ich mein Handy auf den Tisch legen wollte, fing es wieder an zu vibrieren und zu summen. Verdammt. Der war aber auch hartnäckig – wer auch immer er war.

„Hallo?“, sagte ich und fragte mich in Gedanken, ob es ein gute Idee gewesen war, doch ran zu gehen.

„Hey, Molly Noel!“, sagte eine tiefliegende Stimme, zu der ich kein passendes Gesicht fand.

„Wer zum Teufel ist da?“, fragte ich zögernd.

Am Ende der anderen Leitung war kurz Stille. „Ähm… Hier ist Nils Jonas. Stör ich dich gerade?“ Er hörte sich sehr verwundert an.

Aber natürlich! Moment mal… „Woher hast du meine Handynummer?“ Meine Stimme schnellte zwei Oktaven in die Höhe. Nils und ich verstanden uns zwar gut, aber Handynummern hatten wir nie ausgetauscht.

Er gluckste etwas. „Die Frage ist wohl eher, wer die nicht hat. Aber ich muss dir unbedingt was erzählen.“

 „Alles klar, schieß los“, forderte ich ihn auf.

„Es geht um Finn!“, sagte er und ich wurde hellhörig.

„Okay, gibt es Neuigkeiten über sein gebrochenes Bein?“, fragte ich und vor meinen Augen tauchte ein Bild auf, in dem Finn die Treppe herunterfiel und vor Schmerz laut aufschrie.

„Von wegen, er hat sich sein Bein gebrochen! Er ist in der Psychiatrie gelandet!“ Nils Stimme überschlug sich beinahe, weil er über diese Meldung völlig aus dem Häuschen war.

Ich fauchte ihn wütend an: „Du hast sie doch nicht mehr alle! Wie kannst du so einen Mist behaupten?“ Ich wollte gerade auflegen, als er weiter sprach.

„Nein, das stimmt wirklich! Ich kann dir auch sagen warum.“ Ich wartete bis er weitersprach, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich da jetzt noch rausreden konnte. So ein Spinner, behauptet Finn sei in der Psychiatrie. „Okay, also am Sonntag, vor dem Schulbeginn, war er am Abend auf einer Party und hat so richtig abgefeiert. Wobei ich das total unsinnig finde, da man am nächsten Tag ja früh raus muss. Aber das ist sein Problem. Naja, in der Zeit wurde bei ihm zu Hause eingebrochen. Doch das Problem war, dass seine Eltern da waren und den Verbrechern im Weg standen. Anscheinend kam es zu einem heftigen Blutbad, denn die Typen die eingebrochen waren,  hatten Waffen und allesmögliche dabei. Sie haben auf Finns Eltern geschossen. Leider haben sie seine Mutter stark erwischt. Sie ist jetzt im Koma. Doch sein Vater ist noch am Unfallort… gestorben. Kannst du dir das vorstellen? Beide Elternteile zu verlieren? In einer einzigen Nacht, in der du feiern gehst? Sie haben sich die Ausrede schnell einfallen lassen, damit sie einen Grund hatten, ihm vom Unterricht zu befreien. Doch er ist total durchgedreht und wollte mit niemandem reden. Er war einfach total fertig mit den Nerven. Ich versteh ihn da total. Naja, zur Beruhigung haben sie ihn in eine Psychiatrie gesteckt. Dort schauen sie auch mal ob er ein Trauma oder irgendwelche bleibenden Schäden hat.“

Ich schaffte nichts zu denken und nichts zu sagen. Ich war wie gelähmt. Finns Eltern waren… tot? Also sein Vater. Und seine Mutter lag im Koma? Normalerweise würde ich sowas nicht glauben, aber bei dem Tonfall von Nils wusste ich, dass es wahr war. Aber wie kommt jemand auf die Idee einer Familie so etwas anzutun? Und wie geht es Finn jetzt?

„Hallo? Bist du noch da?“, fragte mich Nils am anderem Ende der Leitung.

Ich musste zweimal schlucken, um zu Wort zu kommen und meine Gedanken sortieren. „Nein… Äh, ja, aber… wie geht es Finn?“, stotterte ich, immer noch total verstört.

„Hm“, machte er. „Ich weiß es nicht recht.“

Zwischen meinen Augenbrauen bildete sich eine Falte. „Wer hat dir das überhaupt erzählt?“

„Mich hat heute Mrs Appletree angerufen. Sie hat gemeint, ich sei jemand, der mit sowas umgehen kann und ich solle es dir sagen, weil du in der Schule ja neben ihm sitzt. Ich weiß, ich hab das jetzt vielleicht etwas schnell und unpassend gesagt, aber es ging nicht anders. Außerdem wundert es mich, dass Mrs Appletree es mir, trotz ihres merkwürdigen Grundes, gesagt hat und dir nicht persönlich. Und ich weiß auch, dass man sowas eher nicht am Telefon bespricht, wer weiß was du jetzt vorhast…“

„Willst du damit sagen, dass du denkst, ich werde mich jetzt umbringen? Mach dir um mich keine Sorgen.  Ich habe nicht vor heute zu sterben. Und vor allem werde ich mich nicht einfach so umbringen. Ich kannte seine Eltern zwar nicht gut, aber natürlich ist es schrecklich, so etwas zu hören. Aber das ist noch kein Grund mich umbringen zu wollen.“

„Gut. Das ist gut. Setzt dich am besten einfach aufs Sofa, trink einen Tee und schau dir Zeitschriften an oder was Mädchen eben so lesen. Hat mir Mrs Appletree auch geraten.“

Wenn die Nachricht nicht so schockierend gewesen wäre, hätte ich sogar gelacht. „Ich weiß, dass du mir das jetzt nicht glauben wirst, aber das mache ich gerade schon“, sagte ich schließlich und legte auf.

Ich starrte ungefähr zehn Minuten einfach nur vor mich her und dann fiel mir Heaven ein. Sofort nahm ich mein Handy und suchte ihre Nummer bei meinen Kontakten, denn sie war die einzige, mit der ich im Moment darüber reden konnte. Ich brauchte jetzt jemanden.

„Hey, ich wollte dich auch gerade anrufen! Ich muss dir unbedingt was sagen!“, meinte sie ganz aufgebracht und aufgekratzt, als hätte sie zu viele Tassen Kaffee getrunken. Aber trotzdem tat es gut ihre Stimme zu hören.

Schnell nickte ich, obwohl ich wusste, dass sie es nicht sehen würde. „Ja, ich dir auch! Finns Vater wurde getötet und seine Mutter liegt im Koma!“, brach es aus mir heraus, ohne auch nur darauf bedacht zu sein, was ich Heaven gerade verkündete. Meine Gedanken waren also immer noch durcheinander, denn sonst hätte ich etwas taktvoller gehandelt.

„Bitte?!“, fragte sie und ich konnte sie mir haargenau vorstellen, wie sie in ihrem Zimmer auf dem Bett saß, mit offenem Mund und großen Augen, verwirrt auf ihr Handy blickend.

Ich erzählte ihr das, was Nils mir gerade schon erzählt hatte. Zu Beginn wollte sie es mir nicht glauben, doch als ich zum tausensten Mal meine Aussage bestätigte, begann sie zu begreifen.

Heaven schnappte nach Luft. „Das ist ja furchtbar! Wie geht es Finn denn jetzt?“ Sie dachte eben genau wie ich.

„Ich hab doch keine Ahnung, aber ich denke mal nicht so gut. Ich meine, wenn er sogar in die Psychiatrie musste…“

Eine Weile schwiegen wir nachdenklich.

Dann fiel mir wieder ein, dass sie mir auch etwas mitteilen wollte. „Was wolltest du eigentlich sagen?“, fragte ich, um vom Thema abzulenken.

Heaven reagierte nicht sofort. „Ach ja, richtig! Ich habe mir mal die letzte Seite angesehen und jetzt rate mal, welche Namen darin auftauchen!“, sagte sie, aber immer noch mit bedrückter Stimme.

Unwissend schüttelte ich den Kopf, was sie natürlich nicht sah. „Ich hab keine Ahnung. Und um ehrlich zu sein, ich bin nicht in der Stimmung irgendwelche Sachen zu erraten, auch wenn es um das Buch geht.“

Meine Freundin räusperte sich. Machte eine Pause. „Zoey Hold, Adam Hold und Jerry Lee McGowan!”

 

Zehn Minuten später tauchte meine Mum auf und ich zwang sie dazu, Heaven bei uns übernachten zu lassen. Ich wusste, wenn ich auf die liebe Art kam, würde sie es nicht erlauben. Und ja, ich schaffte es, denn als eine viertel Stunde vergangen war, stand Heaven in der Eingangstür, mit einem Koffer in der einen und einem großen Kissen in der anderen Hand.  Auf ihrem Gesicht ein hysterisches Grinsen und in ihren Augen ein aufgeregtes Glitzern.

Nachdem meine Freundin mich in mein eigenes Zimmer kommandiert hatte und wir uns bis zum Kinn unter die Decke verkrochen hatten, zog sie ein zerknittertes, kleines Blatt aus ihrer engen Hosentasche hervor.

„Hier!“, sagte sie und streckte es mir auffordernd entgegen.

„Was ist das?“, fragte ich, während ich es auffaltete.

Sie grinste irgendwie wissend. „Was wohl? Der letzte Satz!“, erklärte sie mir selbstverständlich.

 

Über die letzten fünf Jahre kamen genau sechs Leute zu uns. Desiree Swan, Julia Hold, Josephine Pawlow, Zoey Hold, Adam Hold und Jerry Lee McGowan.

 

„Heaven!“, jammerte ich. „Das verwirrt mich!“

Aber sie zuckte nur mit den Schultern. „Jetzt wissen wir wenigstens die Antwort, dass Jerry Lee da mit drinnen steckt. Und Zoey… und Adam. Das ist echt mies.“ Sie sah nachdenklich an die Decke.

„Aber das ist doch der totale Schwachsinn, den Jason Summer uns da verklickern will!“

Heaven runzelt die Stirn und blickt wieder gerade aus. „Hm… ich denke es ist wahr. Denkst du denn, dass es ein Zufall ist, gleich vier Namen auf einmal zu lesen, zu denen wir sogar Gesichter kennen? Außerdem ist die Vorstellung, dass Leute auf Dächer springen können, so stark sind um Steine in ihren Händen zu zerdrücken, so schlau sind um Bücher auswendig zu lernen und so gut sehen können, dass sie die Regenbogenfarben in einer Glühbirne sehen können, einfach unglaublich krass!“

„Klar ist das wahnsinnig! Aber auch unheimlich!“ Ich musste lachen, als ich mir ein Bild im Kopf malte, wie Heaven und ich auf einem Hochhaus sitzen und dem Sonnenuntergang bei seinem Lauf zusehen. „Aber, du hast gesagt, wir kenne vier Personen?“, stellte ich plötzlich fest.

Meine Freundin grinste frech. „Naja, du kennst nur drei, aber ich kenne vier.“

Meine Augen blinzelten sie erstaunt an. „Ach und wen noch?“

„Na, Julia Hold! Sie ist die Mutter von Adam und Zoey“, sagte sie und zeigte auf den Namen.

Ich folgte mit meinen Augen ihrem Finger. Und da stand er wirklich. Der Name von Julia Hold. Darauf, dass sie die Mutter der beiden war, hätte ich auch selber kommen können. Aber ich wusste den Grund, wieso nicht. Ich war zu sehr mit nur einem einzigen Namen beschäftig gewesen. Jerry Lee.

„Na, was sagst du jetzt?“ Heaven grinste mich an.

Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Öhm… Keine Ahnung. Krasse Sache?“

Heaven nickte. „Ganz genau! Das ist so… so unbeschreiblich. Aber auf eine gute Weise.“

„Ach wirklich?“, meinte ich, weil ich mir nicht sicher war, was ich von dem Ganzen halten sollte.

„Na klar! Wir kennen vier Leute, die möglicherweise etwas damit zu tun haben“, sagte sie und zeigte wieder auf den Zettel in meinen Händen.

Ich blickte wieder nach unten auf das Blatt und merkte, dass ich angefangen hatte zu zittern. Aber vor Aufregung. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Jerry Lee uns etwas darüber sagen würde? Und ich dachte, Zoey und Adam sind alleine gekommen. Also ohne Julia Hold?“

„Ja, sie sind auch alleine gekommen. Und wegen Jerry Lee… Ja, ich glaube auch nicht, dass er es so einfach sagen würde. Bei Adam bin ich mir nicht so sicher, aber Zoey“, sagte sie und wackelte vielsagend mit den Augenbrauchen. „Du hast sicherlich schon bemerkt, dass sie eine ziemlich große Klappe hat und total durchgeknallt ist. Vielleicht sagt sie uns etwas.“

Ich nickte. „Ja, sie war auch die einzige, an die ich gedacht habe. Aber… denkst du… naja, denkst du, dass Zoey, Adam und Jerry Lee auch so was können wie in dem Buch beschrieben wird?“

Heaven zuckte mit den Schultern. „Hm… keine Ahnung, aber ich fände es verdammt cool, einen Superhelden als Freund zu haben.“ Dann grinste sie mich an. Und ich konnte genau ihre Gedanken lesen.

Ich schnappte mir ein Kissen und donnerte es ihr über den Schädel. „Fang bloß nicht wieder mit mir und Jerry Lee an!“

Sie konnte nur noch schreien.

Samstag

Wir saßen zusammen unter einer flauschigen Decke gekuschelt, mit einer Tüte Chips vor dem Flachbildschirm im Wohnzimmer und sahen uns die vierte Staffel von Sex and the City an. Da meine Mum keine Lust hatte für uns zu kochen, durften wir uns Pizza bestellen, obwohl es schon weit nach Mitternacht war. Darüber waren wir beide sehr erleichtert, denn es war nicht zu verleugnen, dass meine Mum eine miserable Köchin war. Falls man sie als Köchin bezeichnen konnte.

Während des Pizzaessens hatten wir die letzten zwei Folgen der dritten Staffel angesehen und da wir beide weitersehen wollten, obwohl wir alle Folgen schon auswendig kannten, begannen wir mit der vierten Staffel.

Ich war mir nicht genau sicher, aber ich glaubte, um halb vier waren wir beide auf dem Sofa eingeschlafen. Der Fernseher lief die ganze Nacht durch und erst um acht Uhr morgens, als meine Mum aufstand, wurde er ausgeschaltet. Uns ließ sie aber noch schlafen, weil sie wusste, dass wir die halbe Nacht wach gewesen waren. Das war auch der Grund, weshalb wir bis zum Mittagessen schliefen, während Heavens Mum bestimmt zehn Mal bei uns anrief, um zu fragen, wann ihre Tochter endlich heimkommen würde.

Um halb vier fuhr ich sie dann nach Hause und ging anschließen in die Stadt Einkaufen.

 

Wie jeden Samstag war die Stadt rappelvoll und es grenzte an ein Wunder, dass ich überhaupt einen Parkplatz fand. Ich fuhr in eines der Parkhäuser, die im Zentrum der Stadt lagen und perfekt für Shoppingtouren waren. Anscheinend dachte nicht nur ich so, denn ich musste in eines der obersten Etagen fahren, um dort einen Parklücke zu ergattern. Mit dem Aufzug fuhr ich schließlich in das Erdgeschoss und trat dann in das Freie.

Eine riesengroße Menschenmasse trat in mein Blickfeld, als ich die schwere Tür des Parkhauses öffnete. Elegant gekleidete Frauen, die in hohen Schuhen auf den Pflasterwegen stöckelten; Männer in Anzügen mit Fliegen und Krawatten; Kleine Kinder, die Hand in Hand mit ihren Eltern liefen und ungeduldig an deren Armen zogen.

Ich klemmte mir meine braune Wildledertasche fester unter den Arm, da ich immer Angst hatte, jemand würde mir etwas klauen – vor allem zwischen so vielen Menschen. Dann machte ich mich auf zu den Läden.

Ich stöberte bis Ladenschluss in allen möglichen Geschäften herum, egal ob Klamottenläden, Drogeriemärkte oder Schreibwarengeschäfte. Ich versuchte meinen Kopf freizubekommen, indem ich mich mit den vielen Menschmassen, den bunten Geschäften und lauter Musik in den Ohren ablenkte. Natürlich fand ich auch Klamotten, die ich unbedingt kaufen musste, obwohl ich sowieso schon viel zu viele hatte.

Als es bereits dunkel war, fuhr ich nach Hause. Dort angekommen, entdeckte ich einen neongelben Zettel, der am Spiegel im Flur klebte. Darauf stand, dass meine Mum mit einigen Freunden spontan essen gegangen war. Ich zog meine dicken Boots und meine knallrote Winterjacke aus, schlüpfte in meinem Zimmer in eine kuschlige Jogginghose und ein Paar flauschige Socken. Im Wohnzimmer setzte ich mich vor den flackernden Bildschirm des Fernsehapparates, bis ich schließlich, in eine Decke auf dem Sofa eingekuschelt, einschlief.

Sonntag

Den halben Sonntag lernte ich für den Biologiekurs bei Mr Leeve, weil einige aus meiner Klasse behaupteten, wir würden morgen einen Test schreiben. Da wir einige Seiten im Buch zu lesen aufbekommen und wir einen viel zu langen Hefteintrag verfasst hatten, den ich mir niemals hätte merken können, zogen wir alle einen Test in Betracht, der wie immer viel zu schwer sein würde.

Am späten Nachmittag telefonierte ich eine Stunde lang mit meiner besten Freunden, Heaven, und am Ende unseres Gesprächs waren wir uns sich; wir müssten uns Zoey vorknöpfen. Nach unserem Telefonat wurde ich richtig aufgeregt und bemerkte, dass ich langsam richtig scharf auf das Ganze wurde. Da ich zu Beginn von dieser verrückten Geschichte, die uns Jason Summer erzählt hatte, überhaupt nicht beeindruckt war, wunderte mich das umso mehr.

Als ich am Abend gerade meine braune Tasche für die Schule gepackt hatte, rief meine Mum von unten: „Molly Noel, es gibt gleich Abendessen!“

„Ich komme gleich!“

Obwohl ich viel zu aufgeregt war, um etwas zu essen, hüpfte ich trotzdem die Treppe hinunter und setzte mich mit an den Holztisch, der in der Küche stand. Der Tisch war schon reichlich bedeckt und meine Mum saß bereits mit verschränkten Armen auf ihrem Standardplatz und wartete auf mich. Als ich mich setzte, schnappte sie sich eine Scheibe Brot aus der Weidenschale.

„Wie war es gestern eigentlich in der Stadt?“, fragte mich meine Mum.

Ich schluckte die Traube hinunter, die ich gerade zwischen meinen Zähnen zerplatzen lassen hatte. „Ziemlich voll. Aber ich habe ein paar Sachen gefunden.“

Sie nahm einen großen Bissen von ihrem Brot und murmelte: „Und zwar?“

Ich zuckte mit den Achseln. „Nichts Besonderes. Ein paar T-Shirts und Pullovers.“

Meine Mum lächelte. „In welcher Größe?“

Ich verdrehte die Augen, während ich auf einer weiteren Traube herum kaute. Ich hatte wirklich keinen Hunger. „Du kannst dir doch nicht immer meine Klamotten ausleihen.“

„Wieso nicht? Wir haben doch die gleiche Grö…“, meinte meine Mum, doch sie kam nicht weiter als plötzlich das Telefon klingelte.

Ich sprang sofort auf und nahm das Telefon von der Station.

„Molly Noel, hallo?“, fragte ich.

„Hey, Schatz. Wie geht es euch?“, meldete sich vom anderen Ende mein Dad, der noch auf Geschäftsreise war.

Während ich zurück in die Küche lief, stellte ich das Telefon laut damit auch meine Mum mithören konnte.

Sie sah mich fragend an und ich meinte: „Es ist Dad“, und fügte dann für ihn hinzu, „Uns geht es gut.“

Meine Mum streckte fordernd die Hand nach dem Hörer aus, obwohl er sie auch so hätte hören können. Ich gab ihr das Telefon und sie hielt es sich trotzdem an ihr Ohr. „Ich habe Neuigkeiten!“, rief sie laut, ohne ihn begrüßt zu haben.

Ich fragte mich natürlich sofort, was das wohl für Neuigkeiten sein sollten, schließlich war nichts Besonderes passiert, seit er weg war.

Mein Dad lachte am anderen Ende der Leitung. „Schieß los.“

Meine Mum grinste schelmisch, was nichts Gutes bedeuten konnte. „Also, ich habe dir doch schon von dem Neuen erzählt.“

„Jerry Lee?“, fragte mein Dad nach.

Ich zuckte innerlich zusammen und starrte meine Mum und das Telefon mit großen Augen an. „Jerry Lee?“, fragte jetzt auch ich. Meine Mum hatte doch tatsächlich etwas über Jerry Lee erzählt. Die Frage war nur was.

Meine Mum nickte. „Richtig. Und weißt du was? Sie verstehen sich jetzt richtig gut!“

„Das ist doch toll!“, meinte mein Dad.

„Mum! Dad!“, rief ich laut.

Mein Dad räusperte sich verwirrt. „Hört sie uns etwa?“

„Ja!“, rief ich. Ich wollte nicht hören, wie meine Eltern über mich und irgendeinen Typen redeten. Und ehrlich gesagt, wollte ich das überhaupt nicht wissen. Besser gesagt: Ich wollte nicht einmal, dass sie über mich und irgendeinen Typen redeten. Noch dazu über Jerry Lee!

Meine Mum verdrehte natürlich wieder ihre Augen. „Sie stellt sich nur etwas an. Aber ich habe noch etwas anderes zu erzählen. Molly, das könnte dich auch interessieren. Oma hat heute angerufen und gefragt, ob der Besuch jetzt klappt.“

Mein Dad lachte. „Natürlich klappt er! Wie oft sehen wir sie schon im Jahr. Schade, dass im Moment Schule ist, sonst hättest du auch mitkommen können, Molly Noel.“

Ich versuchte enttäuscht zu wirken. „Wann geht ihr denn?“

Natürlich war es schade, dass ich meine Oma nicht besuchen konnte, da ich sie nicht oft sah. Aber ich war auch froh, vor allem seit das Buch aufgetaucht und Jerry Lee verschwunden war.

„Mittwochabend.“

Montag

In der Nacht von Sonntag auf Montag waren die Temperaturen etwas gefallen und es hatte angefangen zu schneien. Jedoch blieb der Schnee nicht wie Puderzucker auf den Straßen und Dächern liegen, sondern schmolz durch die Sonne, die am Morgen wieder warm strahlte, zu einem matschigen Brei, der sich überall lagerte.

Als Heaven im Auto saß, drückte ich auf das Gaspedal und wir rauschten weiter zur Schule. Ich suchte einen Parkplatz, der möglichst nahe am Gebäude war, da ich keine Lust hatte, so weit zu laufen. Aber natürlich war heute einer der Tage, an dem anscheinend jeder mit seinem Auto oder Motorrad kam. Also parkte ich fast ganz hinten in der letzte Reihe, was mich sehr ärgerte. Und auch Heaven, die heute ihre hohen Winterstiefel trug. Für sie war es eine Qual in der Pampe, die man mal als Schnee bezeichnet hatte, eine solch lange Strecke zu laufen. Zum Glück schien die Sonne und es wurde wärmer, was bedeutete, dass wir in wenigen Tagen von der langen Schnee- und Matschstreckte erlöst wurden.

„Das ist wirklich der beschissenste Parkplatz, den wir je erwischt haben“, meckerte Heaven und trat sich einen schlammigen Schneeklumpen vom Absatz. „Wieso habe ich auch diese Schuhe angezogen. Und meine Mum hat noch gesagt, ich solle liebe meine Boots anziehen! So ein Mist aber auch!“ Sie fauchte wie eine Katze.

„Ich denke, du wirst es überleben. Allerdings frage ich mich eher, wie wir nun Zoey am besten nach Informationen ausfragen sollten. Ich meine, wir können doch nicht einfach hingehen und ihr das Tagebuch unter die Nase halten, oder?“

„Ich hoffe du merkst, dass ich gerade andere Probleme habe“, meinte meine Freundin und rutschte aus, kreischte und klammerte sich im letzten Moment an mir fest und zog uns fast beide in den Dreck. „Ah! Aber um ehrlich zu sein, würde ich es ganz genau so machen. Das hat dann noch ein bisschen diesen Schock-Effekt.“ Sie lachte, fing dann aber wieder an zu fluchen.

Nach einem langen Kampf zwischen Heaven und ihren Schuhen, traten wir dann doch endlich in die warme Aula der Schule. Durch den langen Weg zur Schule kamen wir gerade am Klassenzimmer an, als Mr Leeve die Tür schließen wollte.

„Sag mal, woher weißt du eigentlich, dass Zoey heute nochmal herkommt?“, fragte ich, als wir auf meinem Platz angekommen waren. Da Finn ja nicht da war, sondern… in der Psychiatrie war, hatten wir beide beschlossen, dass sich Heaven in der ersten Stunde zu mir setzen würde. Es fiel mir immer noch nicht leicht, zuzugeben, dass Finn in der Psychiatrie war.

„Wir haben uns Ewigkeiten nicht mehr gesehen, denkst du nicht, dass sie froh war, mich wieder zu treffen? Und ja, sie hat mir auch erzählt, dass sie wegen mir heute nach der Schule nochmal kommen würde.“

„Ruhe da drüben!“, rief Mr Leeve und sah uns bitterböse an. Er machte eine schwungvolle Bewegung mit den Armen, die sagen sollte, dass wir alle aufstehen mussten, um uns zu begrüßen. „So und bevor ihr euch gleich wieder auf eure faulen Ärsche fallen lasst, holt sich jeder ein Buch aus eurer Taschen und stellt es als Sichtschutz in die Mitte des Tisches. Ja, ganz recht. Wir schreiben einen Test! Und wenn einer auf die dumme Idee kommt, das Biologiebuch zu verwenden, werde ich ihm die Note 6 eintragen!“, sagte er und nickte einem Mädchen in der ersten Reihe zu, das ihn gleich gefragt hatte, ob wir etwas schreiben würden. 

Komischerweise kamen einmal keine genervten Geräusche oder Sprüche wie „Ich hab aber nicht gelernt! Können sie das nicht verschieben?“. Im Gegenteil! Einige freute sich sogar. Das verwunderte nicht nur mich, sondern auch Mr Leeve, von dem wir erst mal alle komisch gemustert wurden. Unser Biologielehrer hätte niemals einem Schüler eine schlechte Note mit Absicht reingedrückt, doch wenn wir diese durch unsere eigene Schuld bekamen, amüsierte er sich wie ein kleines Kind. Was ich ziemlich gemein fand.

Wegen des langen Lernens am Vortag waren die Fragen für mich aber eine Leichtigkeit. Und anscheinend erging es den meisten ebenfalls so. Wenn nicht sogar jedem. Am Schluss der Stunde hatte ich das Gefühl, dass Mr Leeve es etwas schade fand, dass wir alle gelernt hatten, da die Vermutung eines Testes sich wie ein Lauffeuer weitergesprochen hatte.

Als es klingelte machte sich Heaven auf den Weg zu ihrem eigenen Platz, doch nicht ohne mir vorher einzuschärfen, ich solle mit Jerry Lee so normal wie möglich umgehen und ihn ja keinen Verdacht schöpfen lassen – falls er denn kommen würde. Aber ich fragte mich natürlich, wie er das machen sollte, denn auf die Idee, dass wir das Tagebuch von ihm hatten, würde er mit Sicherheit nicht kommen.

Nachdem er freitags von diesen komischen Typen mitgeschleift wurde, hatte ich andauernd gehofft, dass ihm nichts passierte, schließlich war das eine sehr komische Situation gewesen, in der sich selbst die anderen Schüler absolut merkwürdig benommen hatten. Außerdem hoffte ich, dass Jerry Lee heute wieder zur Schule käme, um mich versichern zu können, dass sein Zustand gesundheitlich gut war.

Als Heaven auf ihrem eigenen Platz saß, versank ich in meine Gedanken. An was ich genau dachte, wusste ich zwar nicht mehr, aber immer wieder tauchte in meinem Kopf ein einziges Bild auf.

Eine Mauer. Ziemlich hoch, mit Efeu bewachsen, im Schein einer Laterne. Es war zwar trotzdessen noch dunkel, aber eines konnte ich noch erkennen. Eine Person, die mit einer Hand an der Mauer stand und an ihr herauf blickte. Plötzlich begann sich das Bild zu verändern, denn die Person saß nun auf der Mauer und stand nicht mehr nur davor. Und noch etwas war anders. Ich konnte eine weitere Person entdecken. Einen kleinen Jungen, der… ganz klar… mich ansah. Die Mimik des Jungen veränderte sich, als ob eine Reihe von Bildern schnell hintereinander abgespielt wurde. Und seine Gesichtszüge… sie kamen mir so vertraut vor. Diese perfekt geschwungenen Lippen, diese rabenschwarzen Augen, die mich so erschrocken musterten, obwohl ich ja gar nicht da war. Und dann bemerkte ich, dass er mich an irgendjemanden erinnerte. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber die Scene kam mir so bekannt vor. So, als ob ich tatsächlich an der Stelle gesessen hätte, an der sich gerade meine Gedanken befanden.

Und dann öffneten sich ganz langsam die Lippen des Jungens. Ich vernahm ein „Hallo!“. Allerdings war diese Stimme viel zu tief, um von dem Jungen gewesen zu sein, da dieser vielleicht vier oder fünf Jahre alt war.

Und dann spürte ich eine Berührung an meiner Schulter und wurde zurück in die Realität geholt.

Ich blickte zu meiner Linken und nahm eine Person wahr. Erst erschrak ich total, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass plötzlich jemand neben mir stand. Und um ehrlich zu sein, hatte ich nicht mit der Person gerechnet, die mir gegenüberstand. Am ehesten hatte ich Jerry Lee erwartet, aber es war Nils, der mich schräg musterte.

„Alles okay bei dir?“, wollte er wissen und setzte sich auf Finns… oder Jerrys Stuhl neben mich. „Du sahst gerade irgendwie… ich weiß auch nicht… verstört aus. So, als ob du nicht wirklich hier wärst. Verstehst du was ich meine?“

Schnell schüttelte ich alle Gedanken an diesen unheimlichen Ort ab. „Ich bin schon okay, danke der Nachfrage. Was gibt’s? Neues von Finn?“

„Nun, es geht tatsächlich um Finn, aber ich habe nichts Neues erfahren. Ich wollte nur checken, ob du das Wochenende einigermaßen überlebt hast.“ Er lächelte mich aufmunternd an.

„Ja, wie du sehen kannst lebe ich noch.“ Ich lachte schwach.

Nils begann vor sich herum zu stottern, bis ich ihm einen Stoß in die Rippen verpasste. Dann blickte er mir wieder in die Augen. „Naja, Mrs Appletree hat mich auch dazu beauftragt ein Auge auf dich zu werfen. Falls es dich total mitnehmen sollte oder so etwas.“

„Das ist zwar nett von dir, aber ich glaube nicht, dass ich deine Hilfe brauche. Das ist nicht böse gemeint, aber ich denke ich komme ganz gut klar.“ Nun nahm ich an, dass er verschwinden würde, aber das tat er nicht.

„Schon okay, das kann ich verstehen. Ich würde es genau so machen. Bei einem fast Freund würde ich nicht meine Sorgen ausschütten. Hast du es eigentlich jemanden erzählt?“

„Durfte ich das etwa nicht?  Das tut mir leid, aber ich erzähle Heaven fast alles.“ Mit dem „fast alles“ meinte ich natürlich die Sache mit Phil. Aber das hatte ich ihm ja auch versprochen.

„Nein, es ist kein Problem, dass du es Heaven erzählt hast. Aber vielleicht solltest du es nicht gerade Leuten wie… Leuten wie Calvin erzählten. Ach, hast du überhaupt was von ihm gehört? Ich meine, ihr seid doch befreundet, oder?“

Ich blickte zu Boden und versuchte die aufsteigende Röte zu verstecken, als ich an unseren gemeinsamen Ausflug dachte. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob die Röte vor Wut oder vor Scham kam.

„Ja, wir sind ein bisschen befreundet“, gab ich schließlich zu, „Aber ich habe nichts von ihm gehört, seit er von der Polizei mitgenommen wurde.“

„Hm, vielleicht sollte ich ihn heute mal anrufen… Ach richtig! Das hätte ich fast vergessen! Mrs Appletree hat zudem auch noch gefragt, ob ich mich diese Woche nicht zu dir setzten wolle. Ich hab natürlich eingewilligt, aber nur, wenn du damit auch einverstanden wärst.“ Er sah mich fragend an.

Natürlich sah ich sofort Jerry Lees Gesicht in meinem Kopf aufblitzen. Er war doch derjenige, der neben mir saß. Wieso sollte er sich umsetzen, damit Nils neben mir Platz hätte? Ich wusste zwar nicht wieso, aber irgendwie wurde ich gerade etwas wütend.

„Wieso das denn? Ich habe doch einen Banknachbarn, Jerry Lee!“

Er zuckte mit den Schultern. „Keine…“

Plötzlich legte sich ein Schatten über uns und zum zweiten Mal hatte ich mit Jerry gerechnet.

Wir sahen beide nach oben. Aber wir entdeckten nicht ihn, sondern Mrs Appletree. Irgendwie wunderte mich das gar nicht so sehr.

„Sehr gut, ihr zwei sitzt ja schon zusammen“, flötete sie und strich sich ihr langes Haar zurück.

Das war meine Chance von Nils wegzukommen. „Ja, deswegen, bin ich sehr verwirrt“, meinte ich.

„Ach, Nils, hast du sie nicht aufgeklärt?“ Sie sah ihn abwartend an.

„Doch! Natürlich hab ich das. Aber wegen der Sache, dass ich nun neben ihr sitzen sollte, wurde ich nicht aufgeklärt“, meinte er. Ich glaubte, er versuchte es mir irgendwie recht zu machen, denn anscheinend merkte er, dass ich nicht unbedingt meinen Banknachbar tauschen wollte.

Unsere Lehrerin lachte. „Ach, richtig! Nun, ich möchte nicht, dass du alleine bist, während du mit diesem Geschehnis fertig werden musst. Deshalb soll Nils neben dir sitzen.“

„Aber ich bin überhaupt nicht alleine! Jerry Lee sitzt doch neben mir.“

Mrs Appletree runzelt etwas mitfühlend die Stirn. „Ach, du wusstest etwa noch gar nicht, dass er krank ist? Nun ja, jetzt, da du es weißt, denke ich, sind alle Unklarheiten geklärt.“

Was? Krank? Damit sind die Unklarheiten überhaupt nicht geklärt! Wenn Jerry heute nicht kam, dann stimmte etwas nicht. Okay, eigentlich stimmte schon die ganze Zeit etwas nicht.

„Er ist krank?“, brachte ich dann heraus.

„Ja, er hat Grippe und wenn wir schon mal von ihm reden: Du hast sicher schon gemerkt, dass er nicht gerade viele Freunde gefunden hat. Naja, um genau zu sein, niemanden außer dich. Deshalb wollte ich dich fragen, ob du ihm vielleicht den Schulstoff geben könntest?“

Eigentlich wollte ich sagen, dass wir nicht wirklich Freunde waren… oder doch? Ich würde sagen, unsere Beziehung – wenn man das so nennen konnte - war irgendwie schwer zu erklären. Aber stattdessen sagte ich nur: „Ja, klar! Kann ich machen.“ Das war die Chance ihn zu sehen und um zu testen, ob er wirklich krank wäre.

„Das ist wirklich sehr nett von dir“, meinte unsere Lehrerin aufrichtig und lächelte mich an.

Da fiel mir etwas Weites ein. „Ich hab aber keine Ahnung, wo er überhaupt wohnt.“

Sie lachte wieder und warf sich ihre dunkelbraunen Haare nach hinten. „Ich denke, du kannst nach der Schule schnell im Sekretariat nachfragen. Sie werden dir schon sagen, wo er wohnt.“ Dann ging sie nach vorne und begann mit dem Unterricht.

 

Obwohl wir in ein anderes Klassenzimmer laufen mussten und dort auch nebeneinander saßen, konnte ich Heaven erst nach der 3. Stunde von den neusten Ereignissen erzählen. Sie hatte mir während den Stunden zwar immer wieder fragende Blicke zu geworfen, aber ich konnte ihr nie antworten, denn ich wusste genau, von was ihre Gedanken handelten. Es war die Frage, wo Jerry Lee war. Denn das letzte Mal, als wir ihn sahen, war der Tag vor dem Wochenende, als er in der Pause von irgendwelchen Leuten mitgenommen wurde. Doch die Frage, wo er war und was mit ihm war, interessierte mich nicht so sehr, wie die, wer diese Typen waren. Und was sie von Jerry Lee wollten, weshalb sie ihn mitgenommen hatten – und das brachte mir irgendwie ein schlechtes Gewissen ein.

Ich konnte einfach nicht glauben, dass er krank sein soll, nachdem er doch verschleppt wurde. Für mich lag es auf der Hand, dass diese Leute etwas mit seinem Fehlen zu tun hatten. Allerdings verstand ich nicht, weshalb keiner darüber redete, dass er am Freitag einfach entführt wurde. Über Calvin sprach schon die ganze Schule, der wegen irgendetwas in ein Polizeiauto gestiegen war. Aber nicht über jemanden, der vielleicht sogar entführt wurde! Aber mit größter Wahrscheinlichkeit, würde sich das alles später, wenn ich bei Jerry vorbeischauen würde, klären. Ob er überhaupt zu Hause wäre? Ob er wirklich verschleppt worden war, in einen Bunker, in dem er gefesselt und gequält wurde? Oder er war sogar zu Hause, aber mit seinen Entführern? Natürlich hatte ich noch keine Antworten auf all diese Fragen, weshalb die einzige Möglichkeit etwas herauszufinden war, zu ihm zu gehen und ihm als Vorwand die Hausaufgaben zu bringen.

Als ich Heaven endlich sah, fiel mir die Entscheidung sehr leicht, dass ich sie sofort mitnehmen würde, auch wenn ich sie damit vielleicht sogar in Gefahr bringen würde. Aber auch wenn ich gesagt hätte, ich wolle alleine gehen, was absolut gelogen wäre, hätte sie mir widersprochen und wäre mitgekommen.

„Meine Güte“, sagte Heaven ganz aufgebracht, als ich ihr erzählt hatte, was mit Jerry Lee los war, „Heute fehlen aber auch wirklich alle!“

Da hatte sie recht: Jerry Lee, Finn… Momentmal! „Was meinst du mit „alle“?“ Das hatte sie doch gesagt, oder hatte ich mich nur verhört?

Nein. Hatte ich nicht. „Ach ja, das habe ich dir ja gerade gar nicht erzählen können. Ich habe in der dritten Stunde eine SMS von Adam bekommen. Er hat geschrieben, dass er heute nicht kommen könne, da es ihm nicht besonders gut ginge. Somit ist auch die Frage geklärt, ob Zoey kommt, um ihn abzuholen.“

„Oh.“ Das war das Einzige was ich herausbrachte. Dass sie heute nicht kommen würde änderte unseren Plan rapide. Allerdings fiel mir sofort eine Änderung ein, sobald ich gehört hatte, dass Zoey nicht an die Schule kommen würde.

„Planänderung!“, rief ich etwas zu laut. „Wenn wir heute bei Jerry Lee sind und er da ist, alleine, das heißt ohne diese Typen, dann quetschen wir ihn aus. Wir zeigen ihm das Buch und erzählen ihm, was wir alles wissen.“

„Ach und was wissen wir alles?“, fragte sie mich und sah mich  mit einem Wow-wirklich-super-geplant-Blick an.

Sie hatte natürlich recht. Wir wussten gar nichts. Also zuckte ich nur mit  den Schultern. „Nicht viel, das stimmt. Aber es muss nur glaubwürdig rüberkommen. Dann schaffen wir das schon. Glaub ich.“

„Sag mal, ist dir eigentlich aufgefallen, dass wir uns immer irgendwelche Sachen denken, sie zu tun und was kommt am Schluss raus? Nichts. Eine weitere Sackgasse aus der wir versuchen herauszukommen und in die nächste tappen.“

Da hatte sie schon wieder recht. Und es ärgerte mich. Nicht, dass sie recht hatte, sondern dass wir einfach nicht weiterkamen.

„Nein! Ich verspreche dir hiermit, dass wir dieses Mal weiterkommen.“ Ich hob feierlich Zeige- und Mittelfinger.

„Ach komm schon, ich weiß genauso gut wie du, wenn nicht sogar besser, dass du dir aus Versprechen nicht viel machst.“

„Musst du die ganze Zeit recht haben?“, lachte ich, „Aber okay, ich werde es versuchen, weiter als sonst zu kommen. Nein, halt! Wir werden es versuchen. Ich hab nämlich keine Lust, das alles alleine zu machen. Und zudem steckst du auch in der ganzen Sache tief genug mit innen, um nicht einfach so ausaussteigen zu können. Du warst es, die die Idee hatte mit diesem blödem Programm.“

Heaven grinste munter. „Das stimmt, aber du musst sagen, dass die Idee verdammt gut war! Und das Programm ist nicht blöd.“ Sie streckte mir die Zunge raus.

Gerade, als ich an der Tür des Sekretariates klopfen wollte, wurde sie von der anderen Seite geöffnet und eine Frau trat heraus. Sie stieß mir die Klinke beinahe gegen die Rippen, doch als ich ihren Blick sah, verkniff ich mir eine zornige Bemerkung. Ihre Augen waren etwas gerötet, sowie ihre kleine Nase und ihre Schminke saß nicht mehr am richtigen Fleck, sondern war verschmiert. Allerdings nicht stark, nur so, dass man es aus geschätzten ein bis zwei Meter hätte bemerkten können. Sie hätte sich glücklich schätzen können, doch durch ihren leeren Blick, der blassen Haut und den tiefen Ringen unter ihren Augen, konnte ich sehen, dass sie ganz andere Probleme hatte, als ihre Schminke und ihr Aussehen.

Ich sah ihr kurz hinterher und als ich mich nun wieder umdrehte, wäre ich beinahe gegen einen Polizisten gerumpelt, der in dem Moment aus dem Büro des Chefs kam, um der aufgewühlten Frau hinterher zu eilen.

Natürlich fragte ich mich sofort, was da wohl los war. Ich kannte diese Frau zwar nicht, da ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, woraus ich auch schloss, dass sie keine Lehrerin hier war, aber irgendwie sah sie jemandem ähnlich, den ich nur zu gut kannte.

Heaven legte zaghaft eine Hand auf meine Schulter. „Molly Noel…“, begann sie geschockt, mit Blick in die Richtung, in die gerade die zwei Erwachsenen gegangen waren. „Das war Calvins Mutter!“

Am liebsten hätte ich gelacht, doch ich brachte keinen einzigen Ton heraus. So viele Zufälle konnten in acht Tagen doch gar nicht passieren? Erst Freitag wurde Calvin von Polizisten mitgeschleppt und schon am nächsten Schultag kommt seine Mutter, völlig verheult, mit einem Polizisten im Schlepptau aus dem Büro gestürmt. Wir lernen Jerry Lee kennen, Adam und Zoey kommen, welche drei sich wahrscheinlich von irgendwoher kannten. Durch ein Buch erfahren wir von irgendwelchen Superhelden, in dem auch noch die Namen von vier uns bekannten Personen vorkommen. Ich werde von Calvin geküsst, Phil steht auf Heaven, die zu seinem Bedauern aber mit Adam zusammen ist. Und was genau zwischen Jerry Lee, der von irgendwelchen Typen mitgenommen wurde, und mir ist, weiß ich nicht. Einerseits sind wir, meistens zumindest, freundlich zu einander, doch andererseits schnüffle ich ihm hinterer. Und die Tatsache, dass ich eingewilligt hatte Jerry Lee den Schulstoff zu bringen, machte es auch nicht gerade besser. Im Gegenteil. Es machte alles nur noch viel schlimmer und komplizierter.

Was zum Teufel war aus meinem normalen Leben geworden?

 

„Im Kreisverkehr, zweite Ausfahrt“, erklärte die elektronische und weibliche Stimme des Navigationssystems.

Nachdem ich die Straße, in der Jerry wohnte, in das kleine Gerät eingegeben hatte, wunderte nicht nur ich mich. Auch Heaven fragte sich, wieso Jerry Lee sich unsere Schule ausgesucht hatte, da sein Zuhause fast am anderen Ende der Stadt lag. Und zwischen unserer und seiner Wohnung gab es noch einige andere, die er hätte besuchen können. Noch dazu wohnte er in einem ziemlich teueren Teil der Stadt.

Am liebsten wäre ich nicht zu ihm gefahren, da sich meine Eltern eh schon bei mir beschwert hatten, weil ich so oft mit dem Auto unterwegs war und die Benzinpreise noch immer teuer genug waren. Doch Heaven hatte mich mehr oder weniger dazu gezwungen.

„Sie haben ihr Ziel erreicht.“

Ich war ganz schön aufgeregt, als mein Cabrio auf einem wunderbaren Parkplatz zum Stehen kam. Aber nicht nur ich, denn auch Heaven blickte sich ständig nach allen Seiten um, obwohl wir noch im Auto saßen.

Plötzlich zeigte sie ganz aufgeregt in eine Richtung. „Dort vorne! Schau, da ist es.“ Es stimmte. Dort war sein Apartment.

Wir stiegen aus und ich schwang mir meine braune Wildledertasche über die Schulter, in der sich alle Blätter befanden, die ich ihm zu geben hatte.

Obwohl die Straße gut gefüllt war und wir eindeutig nicht die einzigen waren, die hier entlangliefen, fühlte es sich dennoch komisch an. Irgendetwas nagte an mir und sagte, dass es möglicherweise keine gute Idee war, hier aufzukreuzen.

Wir standen bereits vor Jerrys Haus, als ich sagen wollte, dass wir umkehren sollten, doch Heaven hatte die schwere Tür bereits aufgedrückt.

Der typische Geruch für diese neumodernen Häuser schlug uns entgegen. Nur dieser roch auf irgendeine Weise besser als sonst.

Der Boden bestand aus schwarz, mit weiß besprenkeltem Marmor, der so glänzte, als würde eine Schicht Wasser darüber liegen. Die Wände waren weiß und kalt, wären kahl gewesen, wenn nicht ein paar große, farbenreiche und abstrakte Bilder an ihnen gehangen hätten, die meist vom Boden bis hin zur Decke gingen. Die einzige Lichtquelle war der große, altmodische, goldfarbene Kronleuchter, der komischerweise wie angegossen zu dem modernen Raum passte. An einer Seite des Empfangsraumes lehnten zwei Fahrräder, die zu meinem Erstaunen abgeschlossen waren. Doch als ich mich daran erinnerte, dass die Haustür einfach offen war und man nicht klingeln musste, wurde mir klar, wieso die Leute sie abgesperrt hatten. An der Wand gegenüber war eine Treppe aus Glasstufen, die in den ersten Stock führte. Sie kam mir ziemlich wacklig vor, da die Stufen nur an der Wand befestigt waren und zudem gab es auch kein Geländer.

„Wow“, sagte Heaven und sah sich erstaunt um. „Das ist ja wie aus einem dieser Modezeitschriften. Ich frage mich, wie viel so eine Wohnung wohl kostet? Und wenn sie so teuer ist, wie sie aussieht, dann müssten Jerry Lees Eltern ja Millionäre sein…“ Heavens Stimme hallte durch die Stockwerke und sofort musste ich einen Finger vor den Mund legen, um sie zum Schweigen zu bringen.

„Nicht so laut, er soll uns doch nicht gleich hören“, flüsterte ich, doch selbst diese leisen Töne hallten von den Wänden wieder.

Heaven verdrehte die Augen und zeigte auf die Wand, am Ende der Eingangshalle. Dort waren zwei Aufzüge, die mir bis jetzt nicht aufgefallen waren.

Also nickte ich kurz und wir durchquerten den Raum mit ein paar schnellen Schritten.

Ich war froh, dass wir nicht die Treppe nehmen mussten. Das lag einmal an ihr selbst und daran, dass Jerry Lee ganz oben wohnte und weder Heaven noch ich Lust hatten fünfzehn Stockwerke zu laufen.

Natürlich erklang sofort die typische Aufzugsmelodie, als sich die Türen leise öffneten, wir eintraten und sie sich hinter unseren Rücken wieder schlossen. Wir drücken auf den Knopf, der uns nach ganz oben bringen sollte, welcher gleich anfing neonorange zu leuchten.

Es dauerte kurz, aber mir kam es so vor, als wären wir zehn Minuten in dem engen Raum standen. Doch dann öffneten sich die Türen und vor uns erschien eine graue Stahltür.

Entschlossen trat Heaven aus dem Aufzug und drückte ein paar Sekunden auf die goldene Klingel, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ich dachte mir noch, jetzt einfach wieder in den Aufzug zu rennen und auf irgendeinen Knopf zu drücken, um zu verschwinden, doch als die Tür wütend aufgerissen wurde, war es dafür zu spät.

Ich erschrak, als ich den Typen sah, der vor uns stand. Er trug dieselbe zerlöcherte Jeans, dasselbe T-Shirt und die kurz rasierten Haare. Es war der zwei Meterschrank, der an der vordersten Front gelaufen war, als sie Jerry geschnappt hatten. Und das bedeutete, dass die anderen „Entführer“ auch noch hier waren.

Als er uns sah, war er erst überrascht, da er ganz offensichtlich mit jemand anderen gerechnet hatte. Doch dann wurde seine Miene so finster, dass ich schon dachte, der Himmel würde über uns zusammen brechen.

„Was?“, fragte er, was wirklich nicht freundlich klang. Er hatte eine tiefe Stimme, die sexy gewirkt hätte, wenn er nicht so schlecht gelaunt gewesen wäre.

Da ich keinen Ton herausbrachte, musste Heaven antworten. Zu meinem Erstaunen klang sie noch lässig, so, als würde irgendjemand vor uns stehen und kein Entführer. „Hi, ich bin…“

„Es ist mir scheißegal, wer ihr seid! Was wollt ihr?“, schnauzte er uns an, wobei seine Augen erst sie und dann mich böse anfunkelten.
Mein Herz raste und ich hatte das Gefühl, als würde ich mir gleich in die Hose machen. Am liebsten wäre ich einfach davon gerannt – ich hätte sogar die Glastreppe auf mich genommen.

„Da ist aber jemand schlecht gelaunt“, meinte Heaven und sie klang belustigt. Wollte sie ihn jetzt auch noch provozieren?

Ich stieß Heaven in die Seite, als ich merkte, dass der Typ vor uns immer wütender wurde. Er ballte seine Fäuste und es sah so aus, als wollte er uns am liebsten ungespitzt in den Boden rammen.

„Willst du mich hier verarschen? Ich hab dir eine Frage gestellt! Beantworte sie oder verschwinde!“ Das galt nur Heaven.

„Wir wollen zu Jerry Lee“, sagte ich schnell und klimperte mit den Wimpern. Ich versuchte so zu tun, als ob ich nicht nervös war, doch meine Stimme war nicht gerade die sicherste.

Er schnaubte. „Er ist nicht da. Und du brauchst gar nicht versuchen, dich bei mir einzuschleimen mit deinen perfekt geschwungenen Wimpern.“

Ich zuckte erschrocken zusammen – ein kleiner Teil in mir, dankte ihm aber für sein Kompliment.

Plötzlich hörten wir eine Stimme, die aus der Wohnung kam. „Wer ist da?“

Und dann war ich es, die wütend wurde. Ich sah wieder den Typen an und hob meine Augenbrauen. „Er ist also nicht da? Und wer war dann das gerade? Etwa sein Double?“

Er biss sich auf die Zähne, dann verschwand er in der Wohnung und schloss mit einem lauten Knall hinter sich die Tür.

Ich sah Heaven entgeistert an. „Was sollte das denn? Ist dir eigentlich bewusst, wer das gerade war? Das war einer seiner Entführer“, flüsterte ich. „Kannst du dich nicht mal ein bisschen zusammenreisen?“

„Sorry, aber der ist einfach zu niedlich“, gluckste sie, „Hast du seine braunen Teddybär-Augen gesehen? Und wie rot er geworden ist“, kicherte sie.

Dann wurde die Tür wieder geöffnet und der Typ von vorhin kam wieder in den Flur. „Also, was wollt ihr hier?“

Da ich nicht wollte, dass Heaven wieder eine doofe Antwort von sich gab, antwortete ich. „Wir sollen ihm die Hausaufgaben bringen.“

„Dann gib sie mir“, sagte er und schreckte seine Hand fordernd aus.

Am liebsten hätte ich irgendetwas Cooles gesagt, aber mir fehlten die Worte.

„Wir möchten ihn dann doch lieber selber sprechen“, meinte Heaven und sah ihn mit einer unergründlichen Miene an. Doch die des Mannes verfinsterte sich noch mehr.

„Einen Moment“, brummte er, verschwand und schloss wieder laut die Tür.

Kurze Zeit später tauchte Jerry Lees Kopf auf. Allerdings nur für vielleicht zwei Sekunden, denn darauf folgend wurde die Tür mit einem weiteren, lauten Knall geschlossen. Heaven und ich sahen uns fragend an, zuckten dann aber mit den Schultern. Und dann wurde schon wieder die Tür geöffnet und der Typ von vorhin und Jerry traten heraus.

„Also, los! Beeilt euch. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit“, maulte der Mann.

„Hey“, sagte Jerry zu uns, der aber nicht eingeschüchtert von dem Mann war.

Heaven nickte und ich sagte: „Hi.“ Dann kramte ich den Schulstoff aus der Tasche heraus und streckte es Jerry Lee entgegen. Der Mann wollte sie nehmen, weshalb ich meine Hand schnell zurück zog.

„Was soll das denn jetzt?“, fragte er mich aufgebracht.

„Die sind für ihn, nicht für Sie“, entgegnete ich ihm und nickte zu Jerry.

Jerry Lee nahm die Blätter und musste mich leicht angrinsen. Ich hätte gerne zurück gegrinst und ich musste mich auch wirklich anstrengen es nicht zu tun. Aber nein, ich tat es nicht. Ich zog unseren Schach-Matt-Zug aus meiner Tasche heraus.

Nicht nur Jerry sondern auch der Mann neben ihm, zog scharf die Luft ein, als sie sahen, was ich in der Hand hielt. Es war das Tagebuch von Jason Summer.

„Woher hast du das?“, fragte mich Jerry, der mich entgeistert anstarrte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, du wolltest es vielleicht wieder haben.“ Ich überreichte es ihm.

„Du hattest es also tatsächlich“, stieß der Schrank verächtlich aus.

Jerry ignorierte ihn. „Habt ihr es gelesen?“

Ich wollte verneinen, aber Heaven kam mir zuvor. „Klar, haben wir es gelesen. Und ich muss sagen, dass dort einige interessante Dinge stehen.“ Sie grinste frech.

„Die Geschichte ist erfunden“, meinte Jerry schnell. 

„Nun, nachdem wir einige bekannte Namen gefunden haben“, sie machte eine Pause, in der beide Jungs ungeduldiger wurden, „Wir glauben es.“

„Was für Namen?“

„Hm… überleg doch mal gut“, sagte ich. „Oder werf einen Blick auf die letzte Seite.

Er antwortete nicht, doch nach seinem Blick zu schätze, wusste er genau welche Namen wir gelesen hatten.

„Jerry Lee, hab ich recht? Es war sein Name“, sagte der Mann vor uns.

Heaven lachte: „Ja, ganz recht!“

Doch als der Mann Jerry Lee wieder in die Wohnung stieß, uns an den Armen packte und mit hineinzog, verging ihr das Lachen sofort.

Während wir durch den Raum geschleift wurden, sah ich mich um. Es war alles genauso modern wie in der Eingangshalle. Alles war in grauen Tönen gehalten und es war der gleiche schwarz, weiß gesprenkelte Marmorboden. Der ganze Raum war offen gestaltet und die einzige schwarze Tür war, wie ich schätzte, die zum Badezimmer führte. Rechts neben der Tür war eine große Einbuchtung, in der eine selbstangefertigte Küche basierte, die dunkle, glänzende Beschichtungen hatte und einen Kühlschrank, der nicht weniger technisch hoch entwickelt war, wie der Herd, dessen Platte perfekt in die Ablagen verschmolz. Vor den dunklen Theken der Küche stand eine Baar, weiße Lederhocker mit silbernen Beinen und eine Menge Flaschen mit bräunlichen, klaren, grünen, roten und sogar lilafarbenen Inhalten. Direkt gegenüber der Tür war eine Treppe, die genauso aufgebaut war, wie die, die in den ersten Stock geführt hatte. Und dort, wo sie hinführte, waren die Spitze des Daches und ein kleiner Hohlraum mit einem großen Bett, das den ganzen Raum  ausfüllte. Am Rand war eine niedrige Wand, die verhindern sollte, dass man von dort oben herunterfallen konnte. Gleich neben der Treppe stand ein überdimensionales Sofa, das nicht nur mit schwarzem Leder bezogen war und auf dem weiße Tierfelle lagen, sondern auch noch vollkommen in die Ecke passte. Davor lag ein großer, flauschiger Teppich, der dieselbe weiße Farbe hatte, wobei auf ihm noch ein Sofatisch stand, der eine Glasplatte als Abstellfläche hatte. Das Sofa stand in einem perfekten Winkel, sodass man auf allen Sitzflächen gut auf den großen Flachbildschirm sehen konnte, der gegenüber an der Wand hing. An der Wand über dem Sofa erstreckte sich ein langes, buntes Bild, das von einer Seite bis zur anderen ging. Vor dem Sofa und somit knapp neben der Treppe stand eine schöne Pflanze, dessen Blätter ein kräftiges Grün hatten und etwas Farbe in den ganzen Raum brachte. Auf dem Sofatisch lagen ein paar Zeitschriften und Zeitungen der letzten paar Tage. Auf einer Ablage der Küche platzierte eine große Schale mit roten und grünen Äpfeln, einem Bund Bananen und ein paar leuchtenden Orangen. Daneben stand ein Messerblock und eine kleine, zierliche Pflanze, die pink blühte. Direkt neben der Tür hing ein schwarzes Telefon an der Wand und darunter ruhte ein dunkelgrauer Beistelltisch, auf dem ein paar dicke Bücher lagerten.

Mehr konnte ich nicht erblicken, da ich unsanft auf das Sofa gestoßen wurde, wobei ich automatisch wahrnahm, dass es sehr weich war. Dann sah ich auf und wollte mich eigentlich beschweren, doch als ich die Personen in dem Raum sah, hielt ich kurz inne und mein Mund klappte ganz langsam auf.

Vor mir standen: Ein Mann, der neben dem Typen in die Schule gelaufen war, der uns gerade so unsanft behandelt hatte und ebenfalls im Zimmer stand, eine unbekannte Frau, welche aber so schön war, dass es weh tat – obwohl sie nicht mehr die Jüngste war- , ein Mädchen, das zu meinem Erstaunen eine schneeweise Katze auf  ihren Schultern trug und Jerry Lee, Adam und Zoey.

Sogar Heaven blieb die Luft weg, als sie die beiden entdeckte. Dann riss sie ihre grünen Augen auf und fragte: „Was macht ihr beide denn hier?“

Doch ihre Frage wurde völlig ignoriert, als die wunderschöne Frau fragte: „Ihr kennt die beiden? Wer sind sie?“

Jerry Lee antwortete und sah dabei dem Mädchen mit der Katze auf der Schulter hinterher, das sich gerade auf einen der Hocker setzte und uns grimmig musterte. „Das sind Heaven Barrymoore und Molly Noel McCarthy. Sie gehen in einige meiner Kurse.“ Dann sah er Adam an.

„Heaven ist meine Freundin“, sagte er nach langem Zögern.

„Und zudem meine beste Freundin“, sagte Zoey schließlich.

„Und das sind…“, begann Jerry Lee, doch er wurde unterbrochen.

„Du willst ihnen doch nicht ernsthaft sagen, wer wir sind?“, fragte die Frau.

Jerry überlegte kurz, doch dann war er sich sicher. „Doch, will ich.“

Die Frau verdrehte die großen, blauen Augen, warf ihr langes, blondes Haar hinter die Schulter und kam auf uns zu. Sie gab uns die Hand und sagte: „Wenn es unbedingt sein muss. Naja, zumindest bist du wieder bei deiner Familie. Hi, ich bin  Marie Pawlow.“

„Ihr seid nicht meine Familie“, murmelte Jerry so leise, dass ich es fast nicht verstanden hätte.

Marie… Marie Pawlow? Na klar, dass war die Frau aus der Geschichte! Die, die sich gegen den Zwang wehren konnte.

„Oh mein Gott“, flüsterte ich leise.

„Ihr habt geheiratet!“, rief Heaven.

Alle sahen sie verwirrt an.

„Was?“, fragte Marie schließlich.

„Du… Ich meinte, Sie und Dimitri!“ Sie war plötzlich ganz aufgeregt und errötete sogar leicht.

Das Mädchen an der Bar stand auf, die schneeweiße Katze sprang von ihren Schultern herab und sie kam zu uns herüber gestöckelt. Sie trug eine schwarze Hose, ein kariertes Flanellhemd mit tiefem Ausschnitt, darüber eine glänzende Lederjacke, eine Silberkette mit einem großen, glitzernden Tropfen und ihre glänzenden, wasserstoffblonden Haare umgaben sie wie gleißendes Licht. „Oh, da ist aber jemand ein ganz helles Köpfchen“, schnaubte sie. „Und wenn ich euch sage, dass ich ebenfalls mit Nachnamen Pawlow heiße, wer werde ich dann wohl sein?“ Wir schwiegen beide. Das Mädchen gab ein Grunzen von sich und sah uns weiterhin grimmig an. Dann schüttelte sie den Kopf und lief wieder an ihren Platz zurück.

„Sie ist meine Tochter“, sagte Marie. „Und bitte wundert euch nicht. Heute hat sie einen ihrer guten Tage erwischt. Vielleicht liegt das ja an Jerry Lee?“, meinte sie und sah ihn leicht schmunzelnd an.

Er wurde rot und steckte seine Hände nervös wie er war, in seine Hosentaschen. Was war denn plötzlich mit dem los? Um das Thema zu wechseln fragte er schnell: „Und was machen wir jetzt?“

Heaven schnaubte und wollte aufstehen, doch der Typ stieß sie einfach grob wieder auf das Sofa zurück. „Ihr könnt uns beiden ja mal erklären, weshalb ihr hier seid?“, forderte sie schließlich und sah Zoey und Adam herausfordernd an. „Es wundert mich zwar nicht allzu sehr, euch hier anzutreffen, da ich eure beiden Namen ebenfalls gelesen habe, aber ich würde trotzdem gerne wissen, was ihr hier macht? Ist das etwa ein „Superhelden-Treff“?“, fragte sie belustigt.

„Wie kommst du auf Superhelden?“, fragte der Mann inhuman.

„Das hat er doch gesagt. Dieser… wie hieß er noch gleich… ach ja, Mathias! Mathias Wotsford.“ Heaven wurde von allen mit offenem Mund angestarrt.

„Sagt mal, wie viel habt ihr davon gelesen?“, fragte Adam, der bis jetzt fast stumm dastand.

„Genug“, entgegnete ihm Heaven, die ihn darauf liebevoll angrinste, auch wenn das in dieser Situation total unpassend war.

„Ihr denkt also, wir seien Superhelden?“, fragte der unfreundliche Mann.

„Kellan“, warnte der andere Mann neben ihm.

„Schon okay, Riley. Ich hab alles unter Kontrolle“, meinte er grinsend.

Endlich bekamen die unbekannten Gesichter auch einen Namen. Der Typ, der uns so ruppig in die Wohnung gestoßen hatte, war Kellan und der andere hieß Riley. Er hatte rotblonde Haare, die ihm in die Stirn fielen und leuchtend grüne Augen. Natürlich ebenfalls muskulös – wie hätte es anders sein können?

Heaven nickte. „Ja, das seid ihr. Ihr seid schnell, schlau, stark. Täusche ich mich oder sind das nicht die Eigenschaften, die ein Superheld besitzt?“

„Wir sind keine Superhelden“, sagte Jerry Lee in einem komischen Tonfall.

Ich sah ihn mit offenem Mund an. „Das heißt, du kannst das alles auch?“

Das Mädchen auf dem weißen Hocker streichelte ihre schnurrende Katze und gluckste vor sich hin, als ob sie das alles sehr belustigend fände. „Natürlich gehört er mit dazu“, sagte sie, als sie sich wieder eingekriegt hatte. Dann fügte sie hinzu: „Und damit diese dämliche Frage, ob Adam und Zoey das auch so seien, geklärt wäre, beantworte ich sie sogar für euch. Ja, tun sie. Oder glaubt ihr etwa, sie sind nur zum Spaß hier?“ Alle starrten sie mit offenem Mund an. Dann stand sie auf und marschierte mit ihrer Katze auf den Schultern zur Eingangstür. „Ich hab Hunger. Können wir jetzt endlich gehen? Hier kommt sowieso nichts Interessantes mehr raus.“ Dann öffnete sie die Tür, drehte sich noch einmal kurz um und sagte kalt: „Ich bin übrigens Josephine.“ Und dann war sie schon verschwunden. Ich hörte sie allerdings noch leichtfüßig die Treppe herunterspringen, während sie vor sich her pfiff.

Marie, die steif vor mir und Heaven stand, sah ihrer Tochter ungläubig hinterher. Dann meinte sie: „Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, essen zu gehen. Ich kenne ein recht schönes Restaurant in der Nähe.“

Kellan zuckte mit den Schultern. „Von mir aus.“

Riley ging einfach, ohne auch nur ein Wort zu sagen, hinter Josephine her und verschwand ebenfalls im Flur, dichtgefolgt von Marie. Diese drehte sich aber noch kurz zu uns um und fragte: „Ich hoffe ihr kommt nach.“ Dann lächelte sie mir und Heaven zu, was mich sehr wunderte. Wir waren mehr oder weniger Eindringlinge und wurden fast wie alte Bekannte behandelt.

Jetzt waren wir fünf, Heaven, Jerry Lee, Adam, Zoey und ich alleine. Es war eine sehr angespannte Situation und selbst Zoey, die wie Heaven sagte, sonst immer eine große Klappe hatte, schwieg und sah sich nervös um. Doch dann verließ sie auch einfach so den Raum, wahrscheinlich, weil sie es hier nicht mehr aushielt, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben.

Ich sah zu Adam, der aussah, als würde er gerade überlegen, was er jetzt machen sollte. Ob er etwas sagen würde wusste ich nicht, doch als er einfach auf Heaven zu ging, ihre Hand nahm und mit nach draußen zog, wusste ich, dass er nichts sagen wollte.

Kaum waren sie verschwunden, ließ sich Jerry Lee auf den Platz neben mir niederfallen. Er wirkte ziemlich erschöpft. Er sah mich nicht an, sondern ließ seinen Kopf auf die Lehne fallen und raufte sich die Haare. Dann richtete er sich wieder auf und sah mich von der Seite finster an. Ich starrte vor mir auf den schwarzweißen Boden und versuchte seinen Blick zu ignorieren, was allerdings nicht funktionierte.

Also richtete ich mich auf und sah ihn an. „Was?“ Es sollte stark und selbstbewusst klingen, aber es klang wie eine Maus, die gerade vor einer Monsterkatze saß.

„Ist dir eigentlich klar, was du da getan hast?“, fragte er mich mit demselben Blick. Seine dunklen Augen durchbohrten mich regelrecht.

„Was soll das denn jetzt heißen? Als ob ich etwas dafür könnte, dass du dieses dämliche Buch verloren hast?“

„Du hättest es mir geben können. Dann wäre das alles gar nicht passiert. Wieso hast du es behalten?“ Jetzt war er aufgebracht.

„Weil… Wegen des Covers“, sagte ich schließlich.

Er sah mich fragend an. Und dann erinnerte er sich daran, was darauf war. Die Tätowierung von Zoey. „Und wieso? Weil du das Muster so schön fandest?“

„Nein, weil…“

„Weil?“, unterbrach er mich mitten im Satz.

„Das Muster war dasselbe, dass Zoey auf ihrem Schlüsselbein trägt.“

Seine Augen funkelten plötzlich. „Oh, du meinst ihre Tätowierung?“ Ich nickte. „Möchtest du meines sehen?“ Er beugte sich zu seinem Knöchel hinunter.

Ich sah ihn überrascht an. „Du hast das auch?“

„Na klar! Jeder, der zu dem Wotsford-Clan gehört hat so eines“, dann grinste er und fügte hinzu, „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du etwas über den Clan weißt. Vielleicht sollte ich dir die Tätowierung doch nicht einfach so preisgeben.“ Er ließ die hochgekrempelte Hose wieder fallen.

„Ich weiß doch etwas über den Clan!“, rief ich, auch wenn das überheblich war.

„Ach und was wäre das? Dass ihn Benjamin Wotsford gegründet hat?“, fragte er und war aufgesprungen.

„Und auch wenn das das Einzige wäre, was ich wüsste, würde das reichen, um zu wissen, dass ihr nicht alle Tassen im Schrank habt!“, brüllte ich ihn an. „Denkst du nicht, dass das alles was gerade um mich herum geschieht, etwas verrückt ist?“

„Etwas verrückt ist gar keine Ausdruck“, murmelte er, doch ich ignorierte ihn einfach.

„Erst kommst du an die Schule, bist dieser geheimnisvolle Typ, der mir von irgendwoher bekannt vorkommt. Dieses Bild, das sich in das Innere meiner Augenlieder fest gekrallt und einfach von mir Besitz ergriffen hat. Dann taucht Adam ohne jede Vorwarnung hier auf, ihr beide kennt euch und verprügelt euch beinahe zu Tode! Finn kommt in die Psychiatrie und Calvin wurde von Polizisten weggeschleppt! Und dann noch dieses bescheuerte Tagebuch!“, warf ich ihm an den Kopf und zeigte mit meiner flacher Hand auf das Buch, das einsam auf dem Sofatisch lag. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich aufgesprungen und auf Jerry Lee zugegangen war. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. „Und du glaubst also wirklich, dass ich an dem ganzen Mist schuld bin? Wieso wir hier stehen und uns anschreien? Und wenn das tatsächlich der Fall wäre, dann könntest du es mir jetzt erklären!“ Ich war ganz außer Atem, doch endlich einmal jemanden anzuschreien, war das Beste, was ich in den letzten paar Tagen getan hatte.

Jerry Lee zog den Kopf ein, was mich wunderte und mich gleichzeitig noch mächtiger und stärker fühlen ließ. „Es ist nicht deine Schuld“, brachte er heraus, doch seine Stimme war stärker, als ich gedacht hätte. Dann sah er mich mit festem Blick an. „Aber da steckt viel mehr dahinter.“

„Dann erkläre es mir doch einfach“, meinte ich.

„Das kann ich nicht… Nicht nachdem, was ich getan habe.“ Er verstummte und seine Lippen wurden zu einer einzigen Linie.

Ich schnaubte. „So schlimm wird es doch nicht gewesen sein. Oder hast du einen Menschen umgebracht?“

Jetzt war es Jerry der schnaubte und mich mit funkelnden Augen ansah. „Einen? Wohl eher eine halbe Stadt!“

Ich schluckte und sah ihn schweigend an. Das war gelogen, dachte ich, doch sein Blick sprach Bände. Trauer, Verlust und Schmerz. Großen Schmerz, der ihm ein großes Loch in sein Herz fraß.

„Ich könnte dich mit einer einzigen Bewegung lähmen.“ Er ging einen Schritt auf mich zu. Ein dunkler Schatten hatte sich über sein Gesicht gelegt. Eine solche Angst hatte ich noch nie verspürt. Denn ich wusste, was er für Talente hatte, auch wenn mir in dem Moment noch nicht bewusst war, was er tatsächlich alles konnte. Ich wich ihm aus. „Und mit einer weiteren, könnte ich dir das Genick brechen und du würdest wie ein Stein zu Boden fallen.“ Dann veränderte sich sein Gesicht ganz plötzlich und es wurde wieder weicher. „Aber das werde ich nicht tun. Ich habe mir geschworen, keinen Menschen mehr zu töten… Nein. Das stimmt nicht. Ich habe mir geschworen, niemanden mehr zu töten. Kein Lebewesen und nicht jemanden meines Gleichens.“

Ich sagte nichts. Und auch Jerry nicht. Er ging zu der Bar, schnappte sich eine Flasche und nahm einen großen Schluck, woraufhin er sein Gesicht verzog.

„Wir sollten gehen.“

„Wohin?“, fragte ich und beobachtete ihn, wie er einen weiteren Schluck nahm.

„In das Restaurant. Essen.“

Ich bewegte nur meine Lippen. „Ich hab keinen Hunger.“

Jerry lachte. Schmerzerfüllt. „Ich auch nicht.“ Dann wollte er einen weiteren Schluck nehmen.

„Lass das“, sagte ich scharf.

Er blickte auf. „Was?“, fragte er und wechselte das Getränk.

„Na das“, meinte ich und zeigte auf die Flasche. Dann ging ich zu ihm herüber und nahm sie ihm einfach aus der Hand. „Das schmeckt doch abscheulich“, hüstelte ich, als ich an der beißenden Flüssigkeit gerochen hatte.

„Ja, aber es hilft“, räumte er ein und fügte hinzu, „Gegen die Schmerzen und den ganzen Stress.“

„Und? Sind sie danach noch da?“, fragte ich. Jerry Lee sagte nichts. „Ja, sind sie. Und dadurch“, ich zeigte auf die Flaschen, „verschwinden sie nicht.“

Er blickte zu mir auf. Seine Augen trieften nur so vor Trauer. Und Hass. Hass, auf sich selbst. „Du bist schlau. Und ich bin es nicht. Ich sitze hier rum und versuche mich zu betrinken.“

Ich schüttelte den Kopf. „Du bist sehr schlau. Und stark. Und schnell. Wenn das stimmt, was Jason Summer erzählt.“

Er nickte. „Ja. Es stimmt.“ Dann sah er mich liebevoll an. Es war genau so ein Blick, den jedes Mädchen einmal sehen wollte. Der tief bis ins Herz ging und jedem zum Schmelzen bringen sollte.

Doch mich ließ er völlig kalt.

 

Es war alles die Wahrheit. Alles was Jason geschrieben hatte stimmte. Der Wotsford-Clan existierte und es gab Menschen, mit übernatürlichen Fähigkeiten. Jerry Lee war einer von ihnen. Nicht zu vergessen Adam und Zoey. Allerdings hatte ich überhaupt keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte.

Ich hatte den restlichen Tag in Jerry Lees Wohnung verbracht und wir hatten einfach nur zusammen auf dem Sofa gesessen. Es wurde kein einziges Wort mehr über die Geschehnisse gewechselt und es war einfach nur lustig. Ich hatte ihn sogar dazu überreden können, alle Inhalte der Flaschen in den Ausfluss zu schütten. Und natürlich würde ich auch überprüfen, ob er es tatsächlich gemacht hatte oder ob er nicht nur schlau, schnell und stark war, sondern auch ein verdammt guter Lügner. Bestimmt konnte er gut lügen. Aber würde er mich anlügen? Ich kannte ihn zwar nicht allzu gut, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mir noch weitere Lügen auftischen wollte, nachdem ich nun wusste, was er ist. Und wer er war. Sein wirkliches Ich. Und ich wollte ihn wiedersehen. Nicht, weil ich ihn vermisste, sondern weil ich noch mehr über ihn herausfinden wollte. Über sein Leben und natürlich, was die ganzen Aktionen in der Schule sein sollten. Einfach alles. Und ich hoffte, dass er morgen in die Schule kommen würde.

Das alles und viel mehr dachte ich, als ich am Abend im Bett lag. Erst als es außen etwas heller wurde, schlief ich ein und wachte eine Stunde später auf.

Dienstag

Als ich in den Badezimmerspiegel sah, bemerkte ich, dass der kurze Schlaf ordentliche Spuren unter meinen Augen hinterlassen hatte. Dunkle Ringe hatten sich darunter gegraben, meine Haut war blass und ich fühlte mich, als ob ich gleich zusammenbrechen würde, in einen Schlaf, der möglicherweise niemals enden würde. In dem Moment, als ich mich ansah dachte ich, dass ich diesen Tag unmöglich überleben konnte. Aber das musste ich. Und zudem hatte Jerry Lee gesagt, er würde mir und Heaven heute seine „Familie“ vorstellen.

Als mir das wieder einfiel, verschwand die Müdigkeit und ich beeilte mich rasch im Badzimmer. Durch kaltes Wasser, Make-up und anderen Utensilien bekam ich wieder eine einigermaßen normale Gesichtsfarbe und ich sah etwas frischer aus, also zuvor. Zwar nicht wie immer, aber besser als kreidebleich.

Als ich im Esszimmer ankam roch es nach Pfannkuchen und frisch gepresstem Orangensaft. Das war auch schon das Einzige, das einigermaßen gut schmeckte, was meine Mum zubereiten konnte. Ich verschlang ein paar, obwohl ich vor Aufregung überhaupt keinen Hunger hatte. Ich tat es nur, um meine Mum nicht zu enttäuschen, die sich wirklich Mühe gegeben hatte.

Natürlich frage sie mich wieder einige unangenehme Dinge  über Jerry Lee, über den ich ihr nichts sagen konnte – und auch wenn ich es getan hätte, hätte sie mich nur ausgelacht und mich zu Finn in die Psychiatrie gesteckt.

Nachdem ich sie abgewimmelt hatte, schlüpfte ich in Winterstiefel und warf mir meine rote Jacke über. Ich holte meinen Autoschlüssel aus der Tasche, während ich die Tür, mit meiner braunen Wildledertasche auf einer Schulter, öffnete. Doch als ich sah, was vor unserem Haus stand, hätte ich ihn fast fallen gelassen.

Vor unserem Haus stand ein riesiger, schwarz glänzender Jeep. Durch die getönten Scheiben konnte ich nichts erkennen und das machte mich sauer, weil ich unbedingt wissen wollte, wem dieser Wagen gehörte.

Plötzlich ertönte ein Summen und die Scheibe der Fahrerseite wurde herunter gerollt und es erschien niemand anderes als Kellan. Das erstaunte mich sehr, da das derjenige war, mit dem ich am allerwenigsten vom Wotsford-Clan gerechnet hatte. Als ich den Namen dachte, bekam ich ein leicht mulmiges Gefühl und ich fragte mich sofort, was er hier wohl wollte. Und was mich zudem auch noch wunderte war, wieso er mich so spitzbübisch angrinste und mit den Augenbrauen wackelte, als ich aus unserem Grundstück trat und auf den schwarzen Jeep zuging, denn als ich ihn kennengelernte hatte, war er nicht unbedingt die Freundlichkeit in Person gewesen.

„Na, Prinzessin“, rief er mir entgegen, „Steig ein!“ Sein Ton erstaunte mich. Gestern war er ein absolutes Monster gewesen und jetzt versuchte er mich mit einem Spitznamen aufzuziehen?

„Was machst du denn hier?“, fragte ich stattdessen und blieb vor dem geöffneten Fenster stehen. Im Hinterkopf hoffte ich, dass meine Mum nichts von dem Wagen mitbekam.

„Hey, es war nicht meine Idee hierher zu kommen, um dich abzuholen.“

Ich kniff die Augen zusammen. „Mich abzuholen? Und wohin soll die Reise gehen?“

„Nach Hause“, sagte er und fügte hinzu, „Zu uns… nach Hause.“

Ich sollte zu den Wotsford gehen? Einfach so? Sofort bekam ich ein noch viel schlimmeres Gefühl in der Magengrube. Und das fühlte sich nicht gerade gut an. „Aber, das geht nicht!“

„Und wieso nicht?“, fragte er, vielleicht sogar etwas genervt.

„Weil… ich muss zur Schule“, erinnerte ich ihn.

„Keine Sorge, darüber haben wir uns schon gekümmert“, konterte er und grinste wieder frech.

„Was habt ihr?“ Ich starrte ihn mit offenem Mund an.

„Wir haben in der Schule angerufen und dich krankschreiben lassen“, meinte er lässig.

„Das geht nicht! Ich kann doch nicht einfach die Schule schwänzen“, sagte ich entgeistert. Das tat ich nicht, weil ich liebend gerne in die Schule wollte, sondern weil ich einfach schiss davor hatte, alle Wotsfords kennenzulernen. Auch, wenn ich keine Ahnung hatte, wer das überhaupt alles war.

Ich machte langsam einen Schritt zurück. Ich wollte in mein Auto steigen und zur Schule fahren. Doch leider merkte Kellan es.

Er grinste. „Dir ist schon klar, dass ich dich in einer Sekunde eingeholt habe? Und in einer weiteren könntest du neben mir im Auto sitzen. Angeschnallt.“ Das letzte Wort betonte er besonders.

„Aber das würdest du nicht machen?“, fragte ich fast schon siegessicher.

„Du hast keine Ahnung, was ich alles machen würde.“ Er lachte. „Komm, steig einfach ein.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Würdest du es machen, wenn ich dir sage, wer mir befohlen hat, dich abzuholen?“, fragte er und wackelte verführerisch mit den Augenbrauen.

Ich überlegte kurz. Dann aber nickte ich. „Okay, okay, ich komm ja schon.“

„Ha“, er grinste und öffnete die Beifahrertür.

Und dann saß ich auch schon im Wageninneren. Es war warm und der Sitz war einigermaßen gemütlich. Doch als ich den Gurt sah, der an beiden Seiten meines Sitzes baumelte, sah ich Kellan verwirrt an.

„Was genau soll das darstellen?“ Ich zeigte auf die wirren Bänder.

Wieder lachte er - mich aus? „Komm, ich helf dir.“

Der Gurt saß sehr fest und ich konnte mich keinen Zentimeter mehr bewegen. „Wer hat sich denn so einen Mist einfallen lassen?“, fragte ich und stöhnte, „Ich bekomme ja fast keine Luft mehr.“

„Das ist der Nachteil an diesem Teil, aber glaub wir, sobald wir im Wald sind, wirst du darüber“, er zeigte mit seinem Kopf auf den Gurt, „froh sein.“

„Das bezweifle ich. Und was wollen wir bitte im Wald?“

„Ich hab dir doch schon gesagt, wo wir hinwollen.“

Ja, das hatte er. „Du willst mir jetzt nicht ernsthaft sagen, dass ihr im Wald wohnt?“

„Nein, aber man könnte sagen, dass dort unsere Katakomben sind. Das wirst du verstehen, wenn wir dort sind.“ Er grinste geheimnisvoll.

Das stimmte. Ich konnte es mir zwar versuchen vorzustellen, doch es wäre keineswegs an das herangekommen, was uns bevorstand. Ich malte mir eine leer stehende Fabrik aus, doch als ich mich daran erinnerte, dass wir in den Wald fahren wollten, verwarf ich diese Gedanken. Eine Fabrik würde niemals in einem Wald aufgebaut werden. Schließlich dachte ich an Bäume und einen mit Moos überwachsenen Boden. Bäume? Vielleicht war es ja auch ein Baumhaus. Ein gigantisches Baumhaus, das über mehrere Bäume reichte und sogar mehrere Ebenen hatte.

„Ist es ein Baumhaus?“, fragte ich nach langem Grübeln. Wir fuhren bereits auf derselben Straße, die zur Schule führe, nur eben in die entgegengesetzte Richtung. Und viel schneller, als es uns überhaupt erlaubt war.

Kellan musterte mich von der Seite. „Ist das dein Ernst? Du denkst unsere Katakomben sind Baumhäuser?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Das ist das, was mir am ehesten zu einem Wald mit Bäumen einfällt.“

„Ach so. Wegen des Waldes. Aber nein, es ist kein Baumhaus. Das wäre nicht gut versteckt, auch wenn bei uns keine Menschenseele vorbei schaut. Naja, aber wie auch. Es ist ja alles gut getarnt.“ Er lachte und sah wieder auf die Straße.

Ich sagte nichts mehr, sondern sah ebenfalls nach außen. Nach ein paar Minuten kamen Bäume in Sicht. Es wurden immer mehr, bis schließlich ein ganzer Wald an unserer linken Seite vorbei sauste. Laub- und Nadelbäume verschiedenster Arten. Auf der rechten Seite wucherten Unkraut und Wildpflanzen in allen möglichen Größen.

„Okay, jetzt solltest du dich vielleicht festhalten“, meinte er erfreut. „Jetzt kommt nämlich mein Lieblingsteil der Fahrt“, er lachte und plötzlich machte er einen Schlenker nach links.

Mitten in den Wald hinein.

Der Graben mit Wasser, der sich auf der linken Seite entlang der Straße geschlängelt hatte, machte an einer Stelle kurz Stopp und floss unter der Erde weiter. Und genau diese drei Meter Boden mussten wir mit einem heftigen Ruckeln überqueren. Doch dieses „heftige Ruckeln“ war im Gegensatz zu der restlichen Fahrt gar nichts.

Wir fuhren auf keinem Weg, sondern bretterten in einem wahnsinnigen Tempo auf weichem Boden, zwischen Bäumen und Büschen hindurch. Durch das kalte Wetter und dem Schnee, der in den letzten Tagen geschmolzen war, war der Boden ein einziges Schlammfeld, der weich war und ich das Gefühl hatte, im nächsten Moment einfach stecken zu blieben. Kein Wunder, dass wir mit einem Jeep unterwegs waren. Allerdings stellte ich mir die Frage, weshalb es ausgerechnet so ein moderner und glänzender Wagen sein musste. Hätten sie sich nicht einfach irgendeine Schrottkisten kaufen können, bei der es egal wäre, ob sie am Schluss des Weges mit Schlammspritzern bedenkt und der Lack von Ästen und Zweigen zerkratzt wäre?

Während der Fahrt hatte Kellan einen mordsmäßigen Spaß, im Gegensatz zu mir. Ich wäre am liebsten aus dem Wagen gesprungen und hätte mich hinter den nächsten Busch geworfen, um meinen Mageninhalt von Pfannkuchen und Orangensaft zu erbrechen. Doch leider war ich mit diesem komplizierten Gurt an den Sitz gefesselt. Doch auch wenn ich es geschafft hätte, mich abzuschnallen, wäre ich bei dem Sprung nach außen gegen irgendeinen Baum geknallt und hätte mir möglicherweise eine Gehirnerschütterung geholt – im besten Fall.

Ich krallte mich so sehr an dem Sitz fest, dass ich dachte, ich würde ihn gleich durchbohren. Aber Kellan hatte recht. Ich war froh über den Gurt, denn ich schaukelte nur ein bisschen hin und her. Hätte ich in einem ganz normalen Gurt gesteckt, wäre ich mit Sicherheit durch die Windschutzscheibe geflogen, als Kellan den Wagen plötzlich stoppte und den Motor ausschaltete. Der Riemen drückte in meinen Magen und ich hätte schwören können, wären wir noch länger gefahren, hätte Kellan den Wagen auch noch von innen putzen dürfen.

„Wir sind da“, sagte er schließlich. Dann sah er mich an und wurde nervös. „Vielleicht solltest du lieber schnell aussteigen bevor du… du bist ziemlich weiß im Gesicht – mit einem grünlichen Stich.“

Ich rührte mich nicht vom Fleck. Meine Beine fühlten sich an wie Pudding und meine Hände zitterten.

Kellan beugte sich über mich drüber, öffnete meinen Gurt und dann die Tür. Es kam eine kühle Brise herein, die durch mein kastanienbraunes Haar wuschelte und ich dankbar einatmete. Dann bewegte ich mich langsam und nahm zögernd Kellans Hand, die er mir entgegenstreckte. Ganz plötzlich war er vor mir aufgetaucht. Ich musste mich zusammen reisen, um nicht auf dem Waldboden zusammenzubrechen. Aber ich war kurz davor.

Kellan sah mich nachdenklich an. „Vielleicht hätten wir ja doch den normalen Weg fahren sollen.“

Hatte ich das gerade richtig verstanden? „Hä? Es gibt einen normalen Weg?“, fragte ich etwas aus der Puste.

Er zuckte mich den Schultern. „Ja, aber dann hätten wir noch ein ganzes Stück hierher laufen müssen. Und da du nicht so schnell bist wie ich, hatte ich darauf absolut keine Lust. Außerdem kann ich ja nicht ahnen, dass du so ein Weichei bist.“ Er grinste mich frech an.

Ich funkelte wütend mit den Augen. Naja, ich versuchte es zumindest. „Nenn mich noch einmal Weichei und du bekommst meinen Mageninhalt zu riechen. Auf deinen Schuhen.“

Kellan verzog angewidert das Gesicht. „Nein danke, darauf kann ich wirklich verzichten. Aber vielleicht solltest du etwas trinken, bevor wir weiter gehen“, meinte er, griff in die Seitentür des Wagens und zog eine Flasche Wasser heraus. Sie war ungeöffnet, doch Kellan schraubte sie auf und reichte sie mir. Ich nahm mit zitternden Händen einen großen Schluck.

Die frische Luft und das kalte Wasser beruhigten meinen Magen und nach geschätzten fünf Minuten ließen wir das Auto alleine im Wald stehen.

Wir liefen auf eine Gruppe Nadelbäume zu, die besonders eng aneinander standen.

„Siehst du, dort vorne ist es schon“, meinte er und zeigte auf die Baumgruppe.

„Was soll dort sein? Ein paar Nadelbäume?“

Er lachte. „Nein, ich meine das, was dazwischen ist.“

Dazwischen war ein Brunnen, wie ich erkannte, als wir uns zwischen den piekenden Nadeln hindurch geschlagen hatten. Um ihn herum waren lilafarbene Blumenranken, die sich an der Steinmauer entlang schlängelten. Zwischen den Ritzen der zusammengesetzten Steine, wucherten Efeu und Moos. Und zu meiner Verwunderung war der Brunnen bis zum Rand voll mit schmutzigem Wasser gefüllt.

„Da müssen wir jetzt aber nicht rein, oder?“, fragte ich aus reiner Neugier und Ekel.

„Doch“, antwortete Kellan mir und hob einen Stein auf. Doch als ich genauer hinsah, wurde mir bewusst, dass das überhaupt kein Stein war. Auf einer Seite war ein runder Knopf, der gerade von Kellans Fingern heruntergedrückt wurde. Plötzlich ertönte ein Summen. „Das ist eine Fernbedienung“, erklärte er, als er meine Verwunderung bemerkte.

Ich sah ihn einfach nur fragend an.

Er zeigte nur mit dem Kopf auf den Brunnen und ich folgte seinem Blick. Und was ich sah, machte mich fassungslos. Der Wasserspiegel sank. Und als das Wasser, das in den Boden oder sonst wohin geflossen war, hatte ich das Gefühl, dass das Summen lauter wurde. Und das stimmte auch. Ein paar Sekunden später wusste ich auch wieso. Der Boden des Brunnens kam uns entgegen.

„Ist das nicht genial?“, fragte mich Kellan, der den Stein wieder an seinen ursprünglichen Platz gelegt hatte. Automatisch merkte ich mir diese Stelle.

„Ja.“ Der Boden des Brunnens war nun ganz oben und hatte gestoppt.

Leichtfüßig sprang Kellan hinauf und reichte mir von oben die Hand. Ich nahm sie zögernd, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Doch als ich oben war, bückte sich Kellan zum Boden und klappte einen kleinen Teil des Bodens weg. Darunter befand sich eine klitzekleine Vertiefung mit zwei Knöpfen. Einer grün, der andere rot. Auf dem grünen Knopf war ein Pfeil nach unten, auf dem roten Knopf einer nach oben. Kellan drückte ohne zu zögern den grünen und klappte die Tür wieder zu. Der Boden unter uns ruckelte kurz und ich krallte mich automatisch an Kellans starkem Arm fest. Er lachte nur und dann fuhren wir zehn Meter in die Tiefe.

Je näher wir dem Boden kamen, desto langsamer wurden wir, bis wir schließlich ganz hielten. Hier unten war es ziemlich dunkel, weshalb ich Kellan auch nur als schwarzen Schatten sah, der gerade seinen Arm gegen die Wand lehnte und einen Stein in die Wand drückte. Kurz darauf wackelte die Brunnenwand an einer Seite und genau dieser Teil bewegte sich ein Stück in die Erde. Dann schwang die Tür zur Seite. Ja, es war eine Tür und dahinter war keine Erde, sondern ein runder Raum. Vor meinen Augen erstreckte sich eine lange Wendeltreppe, die in die Dunkelheit führte. Die Wände waren aus Beton, der an den meisten Stellen mit Dreck beschmutzt war.

Kellan ging auf die Treppe zu und hopste schon fast die ersten zwei Stufen herunter. Dann reichte er mir seine Hand. „Auf auf, Madam“, schmunzelte er mir zu. Seine Stimme hallte laut in dem dunklen Gang nach unten.

Ich schnappte mir dankbar seine Hand, als ich die Wendeltreppe genauer in Augenschein nahm. Die Stufen waren einfach nur Metallgitter, die mit der Wand verschmolzen. Und wie ich schon befürchtete, gab es kein Geländer.

Plötzlich drückte mich Kellan fest an sich, legte mir seinen Arm um die Taille, nahm Anlauf und sprang mit mir in die Dunkelheit.

Ich war viel zu erschrocken, um irgendetwas zu sagen… also zu schreien. Doch nach ungefähr fünfzig Metern landeten wir weich auf dem Boden und zu unserem Glück zerschmetterten wir nicht und unser Blut spritzte auch nicht bis zu den Wänden.

Ich streifte mir meine zerzausten Haare aus dem Gesicht. „Was war das denn für eine Aktion?“, fragte ich gereizt.

Kellan grinste und lachte: „Tut mir leid. Aber hätten wir die Treppe genommen, wären wir eine halbe Stunde unterwegs gewesen.“

„Ja und hättest du mich losgelassen, wäre ich jetzt tot!“

„Keine Angst“, meinte er beruhigend. „Du musst mir etwas vertrauen.“

Ich lachte etwas hysterisch. „Glaub mir, wenn ich dir nicht etwas vertrauen würde, wäre ich gar nicht erst in das Auto gestiegen.“

„Gut“, sagte er und ging weiter.

Erst jetzt nahm ich meine Umgebung richtig war. Der Raum hier war nicht viel größer, als der vorherige, nur dass dieser an einer Seite gerade war. Denn dort war eine schwere Eisentür. Je näher ich ihr kam, desto mehr spürte ich das Vibrieren des Bodens. Wie der Bass von Musik. Von lauter, sehr lauter Musik. Und als Kellan die Tür mit einem Quietschen aufdrückte, bemerkte ich, dass es genau das war.

Vor uns erstreckte sich eine lange, riesige Halle mit Neonlampen an der Decke. Aus großen Lautsprechern an den Wänden, die sich überall verteilten, dröhnte Musik und brachte den Boden zum Beben. Die Halle war mit dreckigen Lumpen in mehrere Räume unterteilt, doch die Musik war in jedem dieser.

Und kaum hatte ich den gesamten Raum wahrgenommen, entdeckte ich auch schon die Personen, die sich darin befanden. Allerdings kannte ich keinen von ihnen. Ich sah ein Mädchen, das wild auf einen Boxsack einprügelte und ihn heftig zum Schwingen brachte, neben ihr ein Mann, der auf sie einschrie, doch dessen Töne von der Musik verschluckt wurden. Doch als sie uns sah, stoppten ihre Bewegungen und auch der Mann brüllte nichts mehr. Auf der anderen Seite bemerkte ich einen Typen, der versuchte einen anderen mit einem langen Stock an den Füßen zu treffen. Doch der Jüngere wich geschickt und noch dazu elegant aus. Auch als die beiden  uns entdeckten, blieben sie wie angewurzelt stehen und starrte uns an. Allerdings taten das nicht nur die vier, sonder alle, die ich entdecken konnte. Ein Mädchen, das sich gerade einen Zopf machte; ein Junge, der seine Schuhe wechselte; einen weiteren, der gerade noch in einem Buch las; ein Mädchen, das große, pinke Kopfhörer trug und viele weitere. Und alle sahen mich an.

Selbstbewusst und ohne die anderen zu achten, schritt Kellan los. Sein schwarzer Mantel flatterte hinter ihm her und ich hörte in der plötzlichen Stille die entstanden war – trotz der Musik - wie seine dicken Schuhe auf den Boden auftrafen.

Ich musste mich zusammenreisen, um ihm zu folgen und nicht einfach umzudrehen und davon zu rennen. Die Personen, die sich mit uns in der Halle befanden hatten mich sehr eingeschüchtert. Aber wahrscheinlich lag dies daran, weil sie zu dem Wotsford-Clan gehörten und ich eine Fremde oder ein Eindringling für sie war. Doch ich machte ein paar schnelle Schritte – okay, ich rannte fast – doch dann lief ich wieder an seiner Seite.

Dann sah Kellan mich von der Seite an. „Keine Angst. Die sind nur neugierig. Sie haben mitbekommen, dass zwei Menschen zu uns gestoßen sind.“

Ich nickte und versuchte den gespannten Blicken der anderen auszuweichen. „Wer ist der Typ der mich herbestellt hat? Etwa Benjamin Wotsford?“

„Nein. Sein Name ist Thierry Wotsford.“

Kellan führte mich durch die ganze Halle, bis zur hintersten Wand. Dort war eine schwere Tür. Die einzige, die ich bis jetzt in der Halle gesehen hatte. Sie bestand aus einem dunklen, grauen Metall und ich konnte spüren, dass sie schwer zu öffnen war. Er öffnete sie jedoch mit Schwung und wir traten in den Raum ein, der sich dahinter befand.

Hier war es genauso schmutzig wie in der Halle, aber das Zimmer war nicht ganz so gigantisch. Ungefähr so groß wie unsere Turnhalle an der Schule, vielleicht etwas größer. Und überall standen Betten mit weißen Laken, dessen Farben überhaupt nicht zu dem Rest passten. An der Decke waren die gleichen Lampen angebracht, die leise summten. Es befanden sich ein paar Leute im Raum, die aber sofort aufsprangen und ihn verließen, als sie uns, beziehungsweise mich, sahen. Ein Mädchen hatte sogar den Mut mich anzulächeln.

In der hintersten Ecke befand sich eine Tür, der Kellan selbstbewusst entgegen schritt. Da ich keine andere Möglichkeit hatte, folgte ich ihm natürlich.

Hinter der Tür befand sich eine Wendeltreppe, die zehn Meter nach unten führte.

„Darf ich?“, fragte Kellan und streckte seinen Arm nach mir aus.

Ich nickte unfreiwillig, weil ich eigentlich keine Lust hatte wieder eine Runde durch die Luft zu fliegen. Aber es war natürlich der schnellste und einfachste Weg diese schwindelerregende Treppe hinter mich zu bringen.

Der Flug dauerte dieses Mal nicht so lange wie der andere. Um ehrlich zu sein, dauerte er vielleicht ein paar Sekunden. Und dann trafen wir wieder auf dem Boden auf.

„Was will dieser Thierry Wotsford eigentlich von mir?“, fragte ich ein wenig aus der Puste.

Kellan überlegte kurz. „Reden.“

„Reden? Das ist alles? Und dafür muss ich die Schule schwänzen?“

„Nun, eigentlich schwänzt du ja gar nicht die Schule. Aber glaub mir, es gibt eine Menge zu reden. Zum Beispiel über Adam. Ihr dachtet  ja, und das hat er euch ja auch erzählt, er sei wegen deiner kleinen Freundin Heaven hier. Nun, das stimmt nicht. Er wusste ja noch nicht mal, dass ihr hier seid… geschweige denn von Jerry Lee.“

Meine Überlegungen, dass Adam überrascht war Heaven anzutreffen, waren also richtig gewesen. „Und weshalb ist er dann hier?“

Kellan kicherte. „Du bist ziemlich neugierig. Aber alles zu seiner Zeit… Thierry ist noch nicht da“, meinte er nachdenklich.

„Woher weißt du das?“

Statt zu antworten, zog mich Kellan durch eine weitere Tür, die genauso aussah, wie die Vorherige, und wir traten in einen Raum ein, der ganz anders war als die zuvor. In der Mitte stand ein kleiner Holztisch, darum herum zwei braune Ledersofas, sowie vier dazu passende Sessel. An allen Wänden waren vom Boden bis hin zur Decke Regale, die mit Büchern vollgestopft waren. Über uns an der Decke prangte ein großer Kronleuchter und auf dem Boden lag ein großer, dunkler Perserteppich mit Blumen und verschlungenen Linien.

Auf dem linken Sofa saßen Heaven und Adam, die sich eng aneinander gekuschelt hatten und das Mädchen von gestern. Sie trug wieder ihre schneeweise Katze auf der Schulter, blickte mich grimmig an, als ich in den Raum trat. Sie hörte kurz auf mit ihren, mit großen Ringen besetzten, Fingern die Katze zu kraulen. Dann entdeckte sie auch Kellan und sie stand auf. Sie trug wieder Schuhe mit Absätzen, aber andere als am Vortag.

„Bin ich jetzt endlich erlöst vom Babysitten?“, schnauzte sie Kellan an.

Er ignorierte sie und schob mich weiter in den Raum. Ich sah sie kurz an und bemerkte etwas in ihren Augen aufblitzen, als sie mich musterte. Etwas, das ich bis jetzt noch nie bei ihr gesehen hatte. So eine Art Freundlichkeit, Interesse und vielleicht sogar etwas Bewunderung. Etwa für eine halbe Sekunde fehlten dieser grimmige Gesichtsausdruck und diese Desinteresse. Ich konnte sogar ihren Mundwinkel etwas nach oben zucken sehen. Doch sie sah sofort wieder weg und setzte ihre normale Miene auf.

„Kellan?“, säuselte sie schließlich.

Er drehte sich sofort zu ihr um. „Ja, herzallerliebste Josephine?“,  entgegnete er ihr im selben Ton. Doch dann wurde seine Stimme wieder normal. „Du brauchst gar nicht erst versuchen, so mit mir zu reden.“

„Gut“, lächelte sie, jetzt wieder diabolisch. „Dann gehe ich jetzt.“

Kellan zuckte mit den Schultern. „Mach doch! Du machst doch eh andauernd was du willst.“

Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum. Kellan ging zum Sofa und setzte sich geräuschvoll. „Josephine ist eine Nervensäge.“

Von der Wendeltreppe kam ein Schnauben. „Das hab ich gehört!“

Kellan kicherte und Adam murmelte: „Ich glaube das war auch Absicht.“

Jetzt lächelte Heaven auch. Ich aber konnte nicht verstehen, was daran so lustig war.

Kellan sah mich an. „Möchtest du auch einen Tee?“ Er zeigte auf Heaven, die eine Tasse in den Händen hielt. Meine Freundin lächelte mich an. Sie fühlte sich hier anscheinend schon richtig wohl. Allerdings war sie es auch, die in den Armen ihres Freundes lag.

Ich nickte. „Klar, gerne.“ Ich wollte nur höflich sein, denn eigentlich war ich viel zu aufgeregt, um irgendetwas herunterzubekommen.

Adam sah an Heaven vorbei und grinste mich an. „Wieso stehst du da noch so rum? Komm her, setz dich.“

Ich zögerte kurz, doch dann nahm ich gegenüber den beiden Platz. Kellan war bereits in einen Raum gegangen, der sich links neben diesem befand und ich konnte das Summen irgendeines Gerätes hören. Vielleicht der Wasserkocher?

Heaven strahlte mich an. „Ist das nicht super hier? Das ist das beste Versteck, das ich kenne. Noch besser, als das hinter der Turnhalle.“

„Ja, wirklich ganz super“, sagte ich und blickte auf meine Hände. Ich fand das alles ganz und gar nicht super. Dann sah ich zu Adam. „Über was genau wollen sie mit uns reden?“

„Nun, Jerry Lee hat da eine Sache erwähnt, die…“

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Marie kam herein. „Hab ich was verpasst?“, fragte sie ganz aufgeregt.

Adam kicherte in sich hinein. „Nein, hast du nicht. Thierry ist ja noch nicht mal hier.“

Marie stöhnte und setzte sich neben ihn auf das Sofa. „Hätte ich mir ja denken können. Und ich habe mich so beeilt! Und wie ich sehen kann, ist Desiree auch noch nicht aufgetaucht.“ Sie schüttelte den Kopf und ihre langen blonden Haare fielen elegant in ihr bezauberndes Gesicht. Dann sagte sie freundlich zu Heaven und mir: „Schön euch wieder zu sehen!“

„Ich wusste gar nicht, dass sie auch kommt“, meinte Kellan, der mit einer Tasse Tee wieder aufgetaucht war.

Marie zuckte mit den Schultern. „Das hat sie mir zumindest gesagt, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie nun wirklich kommt. Nun ja, wir werden sehen, aber es wundert mich keines Wegs, dass sie kommen möchte. Alle hier sind sehr neugierig auf euch zwei geworden.“ Sie lächelte und hob vielsagend eine Augenbraue.

Kellan reichte mir die Tasse mit dem heißen Tee. Dann setzte er sich in einen Sessel und starrte an die Decke.

Es vergingen ein paar Minuten und dann wurde die Tür wieder geöffnet. Es trat eine Frau herein. Sofort hellte sich die Miene von Marie auf.

„Ah, da bist du ja, Desiree!“

Desiree hatte langes schwarzes Haar, helle Haut und blaue, eiskalte Augen. Ihre blassen Lippen hatten sich zu einem herzerwärmenden Lächeln verzogen. Sofort fing sie meinen Blick auf und dann den von Heaven. „Ja, da bin ich endlich. Es ist wirklich sehr schön euch beide kennenzulernen.“ Sie lächelte uns freundlich an. „Aber wie ich sehen kann, ist Thierry noch gar nicht hier?“

„Nein, ist er nicht, aber ich denke er kommt jeden Augenblick“, sagte Adam.

Desiree nickte und setzte sich auf den Ledersessel neben Heaven.

Schon wieder wurde die Tür aufgerissen. Doch es war Jerry Lee. Als er mich auf dem Sofa sah, mit der Tasse in der Hand, fing er sofort an zu grinsen.

Marie meinte: „Heutzutage wird man also nicht mal mehr gegrüßt?“

Jerry Lee lachte und ließ sich auf den links Platz neben mich fallen, wobei ich aufpassen musste, dass ich nichts verschüttete. „Wir haben uns gerade eben noch gesehen.“

Maire wollte noch etwas antworten, aber die Tür wurde wieder geöffnet. Konnte das denn nie enden? Aber dieses Mal trat ein Gott herein!

Das musste er sein. Thierry. Von dem alle gesprochen hatten. Zu meiner Verwunderung trug er eine Schlafanzughose und darüber einen Bademantel, den er nicht mal zugebunden hatte. Man konnte all seine Muskeln sehen und die silberne Kette um seinen Hals. Seine braunen Haare waren verstrubbelt und er trug eine Gesichtsbehaarung am Kinn. Er hatte eine perfekte Nase, einen perfekten Mund und die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte. In seiner Hand hielt er ein Glas mit Whisky.

Alle Augen waren sprachlos auf ihn gerichtet. Er ging um das Sofa herum und sah Heaven an. Doch dann blieb er mitten in seiner Bewegung stehen. Er streckte seinen Zeigefinger vom Glas weg und zeigte mit langem Arm in meine Richtung. Dabei erhaschte ich einen Blick auf sein inneres Handgelenk, auf dem eine Tätowierung des Clans prangte.

„Wer ist das?“

„Das ist Heavens Freundin“, erklärte Marie.

Thierry fasste sich an die Stirn. „Ach ja, richtig! Wie heißt sie noch mal?“

„Molly“, sagte Jerry Lee.

Thierry sah ihn abwartend an. „Molly-Wer?“

„Sie heißt Molly Noel McCarthy“, antwortete Marie. „Wie viel hast du getrunken?“

Thierry grunzte. „Der Name ist ja genauso bescheuert wie deiner, Jerry Lee.“ Keiner sagte etwas. „Und kann sie nicht selber antworten oder wie sieht das bei ihr aus?“

„Doch kann ich“, meinte ich, nachdem ich mich geräuspert hatte und rot angelaufen war.

„Ah, sie kann reden!“, rief er und schnalzte mit der Zunge. Er grinste mich frech an. Dann kam er zu mir herüber und ließ sich neben mich fallen. Er roch himmlisch. Und schon wieder hätte ich fast den Tee verschüttet.

Nun saß ich also zwischen Jerry Lee und Thierry. Eine sehr unangenehme Situation. Noch dazu, weil Thierry halb nackt war.

„Gut“, begann Thierry, „Reden wir!“ Er rutschte noch etwas auf seinem Platz herum und dann fing er an. „Also, wie ich gehört habe kennt ihr ja die Geschichte, wie unser Clan entstanden ist. Das heißt ich kann schon mal eine ganze Menge auslassen. Als diese zwei Idioten zu uns kamen, fing das Ganze irgendwie an.“ Er zeigte mit einer schwungvollen Bewegung auf Adam und Jerry Lee, wobei er fast den Inhalt seines Glases ausschüttete. „Damals haben wir auch hier gewohnt. Adam und Jerry Lee wurden von Mathias trainiert und nahmen am Privatunterricht von Benjamin Wotsford teil. Irgendwann sind wir umgezogen und haben diese Katakomben verrotten lassen. Naja, teilweise zumindest, aber ihr habt ja selber schon gesehen, dass es hier wie im Schweinestall aussieht.“

„Du schweifst vom Thema ab“, meinte Jerry Lee ernst.

„Ruhe!“, befahl Thierry. „Du warst schließlich derjenige, der uns verlassen hat! Ja, ihr zwei habt richtig gehört. Ihm wurde das ganz zu albern oder sonst was und er ist mit fünfzehn Jahren einfach abgehauen und wieder hierher gereist. Allerdings hat er hier in seinem Apartment gewohnt und ist wie jeder andere Junge zur Schule gegangen. Bis zu dem Tag, an dem bei eurem Freund Finn eingebrochen wurde, war alles normal. Naja, wie das eben ist, wenn man so ist wie wir. In der Zeit, in der Jerry Lee weg war, haben wir Verbrecher und Straftäter gejagt und sie der Polizei ausgeliefert. Aber das, was bei Finn geschah, ist viel mehr, als nur ein Einbruch. Diese Tat wurde schon zwei Mal durchgeführt. Einmal bei Finn und zum zweiten bei eurem anderen Freund Calvin.“

„Bei Calvin?“, platzte es aus mir heraus.

Thierry räusperte sich sofort, was hieß, keiner dürfe ihn unterbrechen. „Durch die Tat bei Finn wurden wir aufmerksam auf dieses Verbrechen und wir sind sofort hierher gereist. Das ist übrigens auch die Erklärung, weshalb wir hier sind. Nicht wegen Adam und Heaven. Wir hatten keine Ahnung euch hier anzutreffen. Und vor allem hat keiner mit Jerry Lee gerechnet. Als Adam und Zoey ihn aber in der Schule gesehen haben, war klar, dass wir ihn wieder bei uns haben wollten. Tja, dem entsprechend haben wir ihn auch zu uns geholt. Davon habt ihr allerdings nichts mitbekommen.“

„Ähm, eigentlich…“, wollte ich anfangen, doch natürlich redete Thierry extra lauter weiter, um meine Stimme zu übertönen.

„Zur selben Zeit, als wir in der Schule waren, fand der Überfall bei Calvin statt. Dabei wurde sein Vater getötet. Uns war zwar bewusst, dass Jerry Lee die Kampftechniken völlig verlernt haben musste, aber da er schon früher ein absoluter Überflieger war, haben wir ihn einfach mitgenommen. Wir sind zu Calvins Haus gegangen, um uns das ganze etwas genauer anzusehen. Allerdings wurden wir dort schon erwartet. Ein paar Straßen weiter, in einer Gasse, lauerte eine Truppe aus geschätzten dreißig Kämpfern. Wir kannten keinen Einzigen. Aber das wunderte uns genauso sehr wie die Tatsache, dass es neben unserem Clan noch einen weiteren gibt, der so groß ist. Wir wissen zwar nicht, wie groß er nun wirklich ist, aber es waren mehr Leute in der Gasse da, als an unsere Seite gekämpft hatten. Weshalb wir auch gnadenlos abgeschlachtet wurden. Okay, das war übertrieben. Keiner wurde getötet. Aber wir wurden alle verletzt. Selbst unser Überflieger wurde stark verletzt.“

Ich sah Jerry Lee an. Konnte aber keine Verletzung erkennen.

„Sie wurden gleich alle in die Krankenstation befördert und sie bekamen ein Heilmittel von unserem Chemiker. Dieser wunderbare, fantastische Typ, der schon so viele tolle Mittel hergestellt hat, bin übrigens ich. Dank dieser nicht durchdachten Aktion kann ich jetzt wieder nächtelang in meinem Labor verbringen und eine Massenherstellung entwickeln.

Das ganze Wochenende haben wir damit verbracht die Verletzten zu versorgen, sodass wir noch keine Zeit hatten, uns um den Überfall zu kümmern. Gestern haben sich einige in Jerry Lees Wohnung verabredet, um in Ruhe reden zu können. Aber dann seid ihr aufgekreuzt und habt das Treffen kaputt gemacht. Ich selbst konnte zwar eh nicht kommen, weil ich mich noch um die letzten Verletzten kümmern musste, aber im Nachhinein, hat das Treffen nur Probleme mit sich gebracht. Und jetzt haben wir euch an der Backe.“

Heaven lachte. „Ihr hättet uns doch auch einfach vergessen lassen können. Mit Zwang. Oder seid ihr nicht mal in der Lage eure eigenen Fähigkeiten zu nutzen?“

Thierry sprang wütend auf und ging auf sie zu. Seine Augen funkelten wütend und ich hatte das mulmige Gefühl, er würde sich in jedem Augenblick auf sie stürzen, ihr die Kehle aufschlitzen und sie verbluten lassen. „Du bist ein dummes Mädchen! Denkst du nicht, dass wir das nicht sogar vorgehabt hatten? Aber die Sache ist die: Ihr seid Freunde von Calvin und Finn. Ihr kennt sie beide. Ihr seid diejenigen, durch die wir eine Verbindung zu den beiden aufnehmen könnten. Die beiden sind nicht in der Fassung mit Fremden zu reden und es ist auch bekannt, dass man lieber mit Freunden, als mit den Eltern reden möchte. Gut, Finn kann zwar im Moment gar nicht mit seinen Eltern reden, aber Calvin schon. Also, mit seiner Mutter. Aber vielleicht möchten die beiden auch einfach mal mit Freunden reden. Adam, unser berühmt berüchtigter Hacker, hat sich in die Daten der Psychiatrie geschmuggelt. Dort wurde notiert, dass Finn keinen einzigen Besucher hatte. Sein Verhalten ist weder negativ, noch positiv aufgefallen. Deshalb behalten sie ihn noch dort. Zudem wurde geschildert, was er den ganzen Tag tut. Aber bei diesem Punkt stand nicht viel. Nur, dass er herumsitzt und heult wie ein Schlosshund. Wir haben noch nicht herausgefunden, ob das wirklich ein guter Grund ist, ihn in der Psychiatrie gefangen zu halten, aber das könnten wir erfahren, wenn ihr bereit seid, euch mit ihm zu treffen.“

Alle Augenpaare lagen abwechselnd auf mir und Heaven. Fragend. Auch die von Heaven, die wissen wollte, was ich von dem ganzen hielt. Ob wir ihnen vertrauen könnten. Doch ich sah auch eine Entschlossenheit in ihren Augen aufblitzen, welche sagte, wir sollten es versuchen. Ob das wirklich eine gute Idee war?

„Wann habt ihr den letzten Stand von Finns Beobachtungen gecheckt?“, fragte ich schließlich neugierig.

Adam überlegte. „Vor vier Tagen.“

„In dieser Zeit hätte sich viel verändern können“, bemerkte Heaven. „Ich will die Daten sehen.“

Thierry schnaubte. „Das kommt gar nicht in Frage! Ihr sollt nur mit ihnen reden und uns die Ergebnisse mitteilen!“

„Dann mach ich nicht mit!“ Das war meine Stimme, wie ich bemerkte, als mich alle verwundert ansahen. Vor allem Jerry Lee. „Wir wollen die Daten sehen und erst dann reden wir mit ihm. Und mit Calvin.“ Ich wollte bestimmt die Arme vor der Brust verschränken, um dem Ganzen mehr Ausdruck zu verleihen, doch mir fiel ein, dass ich ja eine Tasse in der Hand hielt.

Thierry bauchte sich wie eine Gewitterwolke vor mir auf. „Und wieso wenn ich fragen darf?!“

„Ihr könntet uns anlügen. Und erzählen sein Zustand wäre normal und er würde uns nicht an den Hals fallen, sobald er uns sehen würde. Nur, damit wir mit ihm reden.“

Thierry fauchte: „Na gut! Aber unter einer Bedingung!“

„Schieß los“, forderte Heaven.

Er kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. „Ihr geht so oft zu ihnen, bis sie mit allem herausgerückt sind.“

Wir willigten ein, ohne zu wissen, was auf uns zukam. Ich selbst konnte mir nicht vorstellen, dass es so schwer sein würde Informationen aus Finn und Calvin herauszubekommen. Und auch Heaven dachte so. Aber im Grunde genommen hatten wir keine Ahnung, was in ihren Köpfen gerade vorging. Beide hatten einen Elternteil verloren und somit war es selbstverständlich, dass es ihnen nicht gut ginge. Ich kann mir gar nicht vorstellen wie es wohl sein müsste, wenn eines meiner nicht mehr hier wäre. Möglicherweise würde ich durchdrehen, alles um mich herum vergessen. Vielleicht würde ich auch in eine Psychiatrie kommen.

Aber im Ganzen konnte ich mir nichts vorstellen, was an ihren unendlichen Schmerz herankommen könnte.

 

Wir liefen bereits in einem weiteren Gang, der uns zu Adams Computerraum bringen sollte. Ich hatte ja keine Ahnung, was sich alles unter unserer Stadt befand. Das Kellergewölbe war viel größer, als ich mir hätte erträumen können. Wir waren schon fünf Minuten unterwegs und hatten unser Ziel noch lange nicht erreicht. Adam erzählte uns, dass die Tunnel durch einer geheimen Tür mit der U-Bahn verbunden wären. Allerdings wurde diese Tür schon lange nicht mehr genutzt, da die Katakomben sonst entdeckt werden könnten.

Nach zehn Minuten waren wir noch tiefer in der Erde und noch weiter vom Trainingsraum entfernt. Der Trainingsraum war die große Halle gewesen, die mit dreckigen Lumpen in Abschnitte unterteilt wurde, wie uns Adam erzählt hatte.

Und nach fünf weiteren Minuten waren wir endlich in Adams Zimmer. Es sah genauso aus, wie ich mir ein Zimmer eines Hackers vorgestellt hatte. Überall lagen Kabel oder Verbindungen auf dem Boden oder hingen von der Decke. Auf einem weißen Tisch stand ein riesengroßer Bildschirm, an dem zwei weitere befestigt waren, auch wenn ich keine Ahnung hatte, welchen Nutzen diese hatten. Daneben standen ein Laptop und ein weiterer Computer und davor ein gigantischer Bürostuhl, der höchstwahrscheinlich eine Eigenanfertigung war. Überall blinkten kleine Lämpchen in rot, grün und blau und ein leises Summen konnte ich auch wahrnehmen. Die Decke war weiß, der Boden und die Wände waren in der gleichen weißen Farbe gefliest worden.

Aus einer Ecke rollte Adam zwei Stühle, die aber noch lange nicht so bizarr waren wie seiner, zu den Bildschirmen. Durch das Drücken eines Knopfes fingen plötzlich alle Schirme das Leuchten an und das Summen wurde lauter. Wir setzten uns alle auf einen Stuhl, Adam stöhnend wie ein alter Mann, Heaven und ich zögernd. Sofort fing er an wie wild auf die Tasten einzuschlagen und es erschienen immer neue Programme, die den ganzen Bildschirm ausfüllten. Und dann hielt er inne und rückte vom Tisch ab. Auf dem Bildschirm war ein Foto. Darauf konnte ich Finn erkennen. Darunter war eine Tabelle aufgelistet mit Name, Alter, Geburtsdatum, Wohnort, Telefonnummer und weiteren Daten. Am Ende der Seite war eine Überschrift „Verhalten“ und darunter standen genau die Fakten, die uns schon geschildert wurden. Dass er nicht spricht, aber weint und nur in seinem Zimmer sitzt. Nicht mehr, nicht weniger. Das war ziemlich wenig für einen Patienten.

Meine Stirn legte sich in Falten. „Das ist alles?“, fragte ich verwirrt.

Adam nickte. „Allerdings. Ich weiß, dass das ziemlich wenig ist, aber ich konnte nicht mehr finden. Ich habe wirklich überall gesucht, weil ich nicht glauben konnte, dass das alles ist, was sie beobachtet hatten. Aber da war nicht mehr. Ich bin nur auf andere Leute gestoßen… bei denen eindeutig mehr geschildert war.“ Schließlich zuckte er unschuldig mit den Schultern.

„Und ist es nicht möglich, dass du an manche Daten gar nicht herankommst?“, wollte Heaven wissen.

Ihr Freund schüttelte sicher den Kopf und musste sich ein Grinsen verkneifen. „Nein, das denke ich nicht. Aber vielleicht liegt es auch daran, da sie ihn noch nicht so lange zur Beobachtung haben.“ Plötzlich wurde der Computer schwarz. Adam hatte ihn ausgeschalten. „Aber ich kann euch gerne sagen, wann sich sein Zustand ändert.“

„Das wäre wirklich nett“, seufzte Heaven, die ihren Freund träumerisch ansah.

Ich dachte mir nur, dass das das Mindeste wäre, was sie machen könnten, wenn wir uns mit ihnen treffen sollten.

„Ach, wann wäre unser erstes Treffen?“, erkundigte ich mich.

Adam fasste sich an den Kopf. „Ich weiß nicht recht. Vielleicht morgen? Vielleicht aber auch erst in einer Woche. Aber ihr werdet schon Bescheid gesagt bekommen.“

Ich nickte und dann verließen wir den Raum auch schon wieder. Wir liefen dieselben Tunnel und Wege zurück, die wir gekommen waren, auch wenn ich mich an keinen einzigen mehr erinnern konnte. Es waren einfach zu viele.

 

Wir waren bereits auf dem Rückweg nach Hause, als Jerry Lee von der Straße wegblickte und sich zu uns umdrehte. Ich saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und Heaven posierte auf der Rückbank. Es war der gleiche Jeep mit dem ich heute Morgen schon abgeholt worden war.

„Es kann noch eine Weil dauern bis ihr sie sehen könnt.“

„Finn und Calvin?“, fragte Heaven und lehnte sich mit einem Arm an meinen, mit dem anderen an Jerrys Sitzlehne.

Er nickte. „Ja, genau. Wir ziehen Samstag in Betracht. Frühestens Freitag, aber ich bezweifle, dass es dort sein wird.“

„Was?“, rief ich, „Wieso das denn? Adam meinte, es könnte schon morgen sein!“

Jerry Lee schnaubte. „Adam meinte, Adam meinte! Es fällt mir schwer, aber ich muss sagen, dass er von dem ganzen nicht so viel Ahnung hat.“

Heavens Hand donnerte gegen die Lehne von ihm. „Er soll keine Ahnung haben?“

„Ich sagte „nicht so viel“. Und hör auf den Wagen zu demolieren.“

„Ich glaube, du bist derjenige, der nicht so viel Ahnung hat!“, äffte sie ihn nach. „Er war es doch, der sich in das Netz der Psychiatrie gehackt hat!“ Sie blickte ihn siegessicher an.

Es herrschte für einen Moment Stille im Wagen und man konnte nur das Summen des Motors hören, welcher aber fast keinen Laut von sich gab.

Jerry Lee drückte auf das Gaspedal und Heaven wurde nach hinten an ihren Sitz geschleudert.

„Schnall dich an!“, knurrte er und sie tat es sogar.

Ich hob beschwichtigend meine Hand. „Hey Leute, ihr solltet euch jetzt erst mal beruhigen, okay? Ich hab keine Lust hier noch einen Unfall zu bauen.“ Ich wartete kurz. Dann blickte ich zu Heaven die auf ihrem Sitz schmollte und dann zu Jerry Lee. „Also, wieso denkst du er hätte keine Ahnung?“

Er biss sich auf die Zähne und zischte hervor. „Ich sagte „nicht so viel Ahnung“! Das ist ein Unterschied, wie Tag und Nacht!“

„Okay, okay!“, meinte ich und lehnte mich zurück.

„Nun, er weiß nun mal nicht, was alles auf euch zukommen könnte. Finn zeigt jetzt zwar noch keine Anzeichen von Aggressionen, aber das kann sich noch ändern. Vor allem, wenn er euch sieht. Das soll nicht heißen, dass er auf euch wütend ist, aber vielleicht wird er dann erst wieder in sein altes Leben zurückgeworfen. Er stellt sich das alles vielleicht noch wie in einem Albtraum vor, hofft einfach aufzuwachen und hat keine Ahnung, dass das die Wirklichkeit ist.“

„Du meinst, wenn er uns sieht, kommt er wieder auf den Boden zurück?“

„Ja, so ungefähr.“ Er nickte mir zu.

„Und, was sollen wir deiner Meinung nach machen, was Adam anders sieht?“, fragte Heaven, die sich wieder abgeschnallt hatte und zwischen unseren Köpfen steckte.

Jerry fuhr sich mit seiner Hand durch seine dunklen Haare. „Wir brauchen einen Plan und eine Vorgehensweise. Wir brauchen Fragen, die ihr ihm stellen könnt. Wenn ihr bei Finn, und in diesem Fall gilt das für Calvin auch, seid,  könnt ihr euch keine Fragen einfach so aus dem Hut zaubern. Man muss so etwas mit einer Strategie durchführen. Hier kann ich gleich erwähnen, dass ihr euch die Fragen merken müsst. Ihr dürft nämlich nichts bei euch haben, wenn ihr in der Psychiatrie seid. Und ihr müsst euch verteidigen können, falls er euch angreifen sollte. Und das können wir nicht alles an einem Tag machen, glaubt mir.“

Heaven und ich stutzten.

„Wir müssen uns verteidigen können?“, fragte Heaven ungläubig.

Er zuckte mit den Schultern. „Klar, aber wir werden erst morgen einen Plan machen.“

„Heißt das, wir müssen nicht in die Schule?“, fragte Heaven und der Wagen hielt vor ihrem Haus. „Das wäre wirklich fantastisch!“

Jerry Lee lachte. „Doch, das müsst ihr. Wir können eure Schulnoten nicht versauen. Am Ende würdet ihr noch als Obdachlose auf der Straße landen und nach Geld betteln.“

Heaven kicherte und ich wunderte mich, wie sie ihren Wutausbruch so schnell wieder unter Kontrolle gebracht hatte. „So schlimm wird es schon nicht werden.“ Dann stieg sie aus und ließ mich alleine mit Jerry Lee im Auto. Er wartete solange, bis er sicher sein konnte, dass sie heil ins Haus gekommen war und erst dann startete er den Motor und fuhr weiter.

Plötzlich schoss mir eine Frage in den Kopf. „In dem Tagebuch stand, dass ihr herausfinden wollt, was es mit dem Zwang auf sich hat.“

Er nickte überrascht. „Wie kommst du darauf?“

Auf seine Frage zuckte ich mit den Schultern. „Und… habt ihr es bereits getan?“

Jerry zögerte. „Ja, haben wir. Wahrscheinlich.“ Dann schwieg er.

Ich lachte. „Hey, du kannst es mir ruhig sagen. Ich bin schließlich diejenige, die Finn und Calvin ausquetschen soll. Ich gehörte praktisch mit zu eurer Familie!“

Er lächelte ein wenig, wurde aber schnell wieder ernst. „Ja, vielleicht. Aber es ist auch nichts Großes.“

„Na, dann kannst du es mir doch sagen, oder etwa nicht?“

Er schwieg kurz. „Ich glaube nicht. Vielleicht ein anderes Mal, aber heute reicht es mit Informationen. Du solltest eine Nacht darüber schlafen und alles nochmal durchdenken.“

Plötzlich hielt das Auto.

„Was wird das?“, fragte ich erschrocken und krallte mich am Sitz fest.

Er lachte nur und zeigte aus dem Fenster. „Wir sind da.“

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir bereits in meine Straße gefahren waren und nun vor unserem kleinen, weißen Haus standen, welches in der Dunkelheit eher grau wirkte.

Ich musste schlucken um diese Frage über die Lippen zu bekommen. „Okay, aber kannst du mir sagen, weshalb du wirklich weggegangen bist?“

Jerry blickte auf seine Finger. Dann wieder zu mir. „Das weißt du bereits.“

„Also stimmte das, was Thierry gesagt hatte?“, fragte ich.

„Ja, so ziemlich. Ich wollte nicht mehr dieses Leben. Ich wollte ein normales, so wie du es hattest, bevor ich aufgetaucht bin und es zerstört habe.“

„Du hast mein Leben nicht zerstört… es wurde dadurch nur etwas aufregender“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

Jerry Lee lachte. „Ja, das kann man wohl sagen.“ Er machte eine kurze Pause und sein Gesicht wurde ernst. „Tja, aber mein altes Leben hat mich wohl wieder eingeholt.“

Wir schwiegen eine Weile, in der ich mich fragte, ob ich aussteigen sollte oder nicht.

„Und deine Eltern?“, fragte ich.

Er zögerte. „Ich… ich habe keinen Kontakt zu ihnen. Nachdem ich zum Wotsford-Clan gegangen bin, sind sie gegangen. Sie wollten damit nichts zu tun haben. Eigentlich armselig.“ Seine Miene blieb ausdruckslos.

„Oh“, machte ich.

Wieder schwiegen wir.

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich schließlich, obwohl ich nicht wirklich wusste, wie ich darauf kam.

„Achtzehn.“

„Schon achtzehn? Was machst du dann noch in meiner Klasse? Du könntest längst deinen Abschluss machen!“

„Ich weiß, aber du musst wissen, dass ich nicht wirklich unterrichtet wurde. Ich musste also eine ganze Menge nachholen.“ Er fing an zu grinsen. „Und falls es dich interessiert, ich bin nur mit Zwang an eure Schule gekommen – und das, weil ich die Geschichte von Finn gehört hatte. Wobei wir wieder bei der ersten Frage wären, die ich dir heute aber nicht mehr beantworten werden.“

„Schon okay“, sagte ich und stieg aus dem schwarzen Jeep. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, fuhr die Scheibe mit einem leisen Summen herunter. Dahinter erschien sein Gesicht, auf dem viele Schatten lagen.

„Bis morgen“, sagte er leise.

Ich lächelte und sagte sanft: „Ja, bis morgen.“

 

Da das Küchenlicht brannte, drückte ich auf die Klingel, anstatt meinen Schlüssel aus der Tasche heraus zu kramen, um selbst die Tür aufzusperren. Ich musste nicht lange warten bis die Haustür von innen geöffnet wurde. Vor mir stand mein Dad. Er trug einen blauen Rollkragenpullover, eine Schlafanzughose und dicke Wollsocken.

Ich sprang ihm in die Arme. „Hey, Dad! Wann bist du wiedergekommen?“

Er lachte und schloss die Arme um mich. „Vor etwa zwei Stunden. War er das?“

Ich ließ ihn sofort los. „Wer war wer?“

Mein Dad grinste. „Na der Typ, der dich gerade hier abgeliefert hat.“

Ich sah ihn geschockt an. „Hast du uns beobachtet?“

Er schüttelte abwehrend den Kopf. „Natürlich nicht! Aber ein tolles Auto hat er. Sind seine Eltern reich?“ Mein Dad sah mich neugierig an.

Ich trat mir die Schuhe von den Füßen und hängte meine knallrote Jacke an den Kleiderhaken. „Das weiß ich doch nicht.“ Das war auch nicht gelogen.

Mein Dad kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Naja, aber er sieht nett aus.“

Ich schwieg und fragte mich, wie lange er uns wohl beobachtet hatte.

Plötzlich kam meine Mum aus der Küche und sagte: „Natürlich, das habe ich dir doch gesagt. Du musst aber auch wirklich alles erst selber sehen, bevor du jemandem glaubst.“ Sie trug über ihrer hellblauen Jeans und einem langen Jerseyshirt, eine gemusterte Schürze.

Er zwickte meine Mum in die Seite, als wären sie kleine Kinder. „Falsch. Ich weiß nur, dass du viel erzählst wenn der Tag lang ist.“ Da hatte er natürlich recht.

Meine Mum kreischte und rief: „Das heißt noch lange nicht, dass ich nicht die Wahrheit sage!“

Ich verdrehte die Augen, folgte ihnen in die Küche und setzte mich auf einen Stuhl am Esstisch.

Ich freute mich, dass die beiden nach so vielen Jahren immer noch ineinander verliebt waren. Das war nicht oft der Fall. Dennoch benahmen sie sich wie Teenager, die gerade ihre erste große Liebe getroffen hatten. Zugegeben waren sie ja auch ihre erste große Liebe. Die beiden hatten sich mit achtzehn Jahren kennengelernt, hatten zuvor nie eine Beziehung gehabt, wussten aber sofort, dass sie heiraten wollten. Und deshalb waren sie auf meinen ersten Freund auch so gespannt, – den ich noch nicht hatte – weil sie sich erhofften, meine erste Beziehung würde ebenfalls so perfekt verlaufen, wie ihre.

Meine Mum warf mir einen neugierigen Blick zu. „Tja, Molly Noel. Dann erzähl doch mal, was jetzt zwischen dir und Jerry Lee ist“, forderte sie mich auf.

Ich ließ mein Gesicht in die Hände sinken. „Da ist überhaupt nichts.“ Wieso mussten meine Eltern denn immer so neugierig sein? Sahen sie nicht, dass mir das unangenehm war? Von meinen Freunden kannte ich kein einziges Elternpaar, das so war aufdringlich war, wie meines.

Sie lachte und sagte: „Ja klar.“

„Schätzchen“, meinte mein Dad, „ich kenne ja deine Mum. Wenn du nicht mit ihr reden willst, kannst du gerne mit mir reden.“

Meine Mum boxte ihm, mit einem Grinsen im Gesicht, zärtlich gegen die Schulter.

Ich schnaubte. „Damit du es ihr erzählst? Und nebenbei: Es gibt nichts zu erzählen. Aber falls doch, werde ich nicht mit euch darüber reden, sondern mit Heaven.“ Genervt stand ich auf. Wenn ich nicht sofort von hier verschwinden würde, würden mich die beiden den ganzen Abend lang quälen. Das wäre nicht auszuhalten gewesen.

Meine Mum grinste. „Na dann sollte ich mal wieder mit Grace reden.“

Stöhnend sagte ich: „Oh mein Gott“, und ging aus der Küche, nach oben in mein Zimmer.

Mittwoch

Das Aufgehen der Sonne zog sich qualvoll in die Länge. Ich konnte nicht schlafen und als ich endlich schlief, hatte ich einen Albtraum von dem ich nach etwa einer Stunde wieder erwachte. Danach konnte ich eine ganze weitere Stunde nicht mehr schlafen, was ziemlich mies war, da ich an diesem Tag schon total übermüdet war – merkwürdigerweise konnte ich trotzdem nicht schlafen. Ich stand also auf und schlich mich in die Küche. Dort machte ich mir einen Tee, der entspannen sollte. Und das stimmte sogar, denn als ich mich in mein Bett setzte und am Tee nippte, ihn vorsichtig und irgendwann gierig austrank, überfiel mich die Müdigkeit und ich schlief bis mein Wecker klingelte, den ich am liebsten gegen die Wand geschmettert hätte.

Aber trotzdessen musste ich aufstehen. Und da ich das wusste, hätte ich mich noch lieber verkrochen und wäre am liebsten in einen hundertjährigen Schlaf gefallen.

 Schließlich zwang ich mich aufzustehen und meine Müdigkeit so gut es ging zu verdrängen. Durch kaltes Wasser und das Surren meiner Zahnbrüste wurde ich etwas wacher. Zur Abwechslung trank ich keinen Tee sondern Kaffee, der mich ganz unruhig werden ließ und außerdem für einen abscheulichen Mundgeschmack sorgte.

Als ich heute aus dem Haus trat, stand kein schwarz glänzender Jeep vor meiner Tür.

Stattdessen aber eine Limousine!

Erst stockte mir der Atem, doch dann ging ich ohne zu zögern auf sie zu, weil ich dachte Kellan oder Jerry Lee würden mich erwarten. Aber im Inneren saß nur eine Person.

Thierry Wotsford.

„Morgen, Schönste“, flötete er, als ich ihn im Wageninneren entdeckt hatte. „Steig ein!“

„Wo sind die anderen? Adam, Heaven und Jerry Lee?” Ich sah mich immer noch suchend um, obwohl ich längst gemerkt hatte, dass keiner der drei im Wagen saß.

„Also, wie du sicher weiß, wohnt Heaven näher an der Schule als du“, erklärte er, in einem Ton, als wäre ich völlig verblödet. „Es wäre also logischer, wenn wir erst dich und dann Heaven abholen würden. Und zu der Frage wo Adam und Jerry Lee stecken… nun, ich hab keine Ahnung. Ich habe sie heute nicht gesehen, also konnte ich sie nicht mitnehmen. Aber um ehrlich zu sein muss ich sagen, nachdem Jerry Lee euch nach Hause gefahren hatte, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Vielleicht ist Adam ja bei Heaven. Eigentlich habe ich auch gedacht, dass Jerry bei dir ist, aber da habe ich mich wohl geirrt.“

„Nein, hier ist er nicht.“ Hat er ernsthaft geglaubt er wäre hier? So ein Unsinn. Wie kam er überhaupt darauf?

„Naja, steigst du jetzt trotzdem ein?“, fragte er schließlich und sah mich abwartend an.

„Äh… Ja, klar!“ Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass ich immer noch vor der Limousine stand. Schnell duckte ich mich und ließ mich auf die weichen Sitze sinken.

Er beobachtete mich eine Weile, bis er fragte: „Wie lange kennt ihr beide euch eigentlich schon? Heaven und du.“

„Schon immer.“ Er sah mich fragend an. „Naja, wir sind sozusagen nebeneinander auf die Welt gekommen!“

Ich sah ihn leicht grinsen. „Das ist eine lustige Vorstellung.“

Ich musterte ihn von der Seite. „Das ist doch keine lustige Vorstellung! Das ich total widerlich! Als ob Schwangerschaften jemals lustig wären und dann noch zwei nebeneinander.“ Ich zögerte. „Jerry Lee hat mir und Heaven erzählt, wir müssten Verteidigungsschritte oder so etwas lernen und einen Plan machen?“

Er schnaubte. „Das ist ja mal wieder typisch für ihn, dass er es gleich erzählen musste. Aber ja, es stimmt. Und das könnte ziemlich lange dauern.“

„Er meinte bis Freitag oder Samstag. Das ist doch überhaupt nicht so lange?“

„Nun, am liebsten würden wir heute schon aufbrechen, aber das geht leider nicht. Und in diesem Fall ist es schon lange, verstehst du?“

Ich nickte. „Ja, das stimmt schon.“

Der Wagen hatte gehalten. Wir standen vor Heavens Haus. Aber sie konnte ich nirgendwo sehen. Okay, vielleicht lag das daran, weil es noch nicht ganz hell war.

„Keine Angst. Sie kommt gleich. Sie ist in etwa“, er machte ein nachdenkliches Gesicht, „sechs Sekunden hier.“

„Ach wirklich… woher… ach ja, richtig. Du kannst sie hören, hab ich recht?“

Thierry kicherte. „Ja, ganz recht. Und Adam ist bei ihr. Wie ich geraten habe.“ Es sah fast so aus, als würde er triumphieren. Innerlich schüttelte ich über diesen Gedanken den Kopf.

Die Tür wurde geöffnet und die beiden blickten zu uns hinein. Heaven fing sofort zu strahlen an, als sie mich sah und sogar Adam grinste vor sich her – auch wenn ein wenig dümmlich.

„Hallo“, sagte sie fröhlich und sah mich an. Dann zu Thierry. „Hi.“

„Da ist aber jemand sehr gut gelaunt“, bemerkte Thierry und sah Adam belustigt an. „Weißt du wo Jerry Lee ist?“ Sein Ton wurde wieder ernst und ein bisschen genervt.

Adam schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe keine Ahnung.“

„Nun ja, er war allerdings auch nicht der einzige, der gestern nicht nach Hause gekommen ist.“ Thierry starrte die beiden anspielend an.

Ich sah zu Adam, der Heaven anblickte. Sie wurde sofort rot wie eine Tomate.

Über die ganze Fahrt versuchte sie meinem Blick auszuweichen und konzentrierte sich auf ihre Finger, die sie auf komische Arten miteinander verknotete. Ich fragte mich, was die beiden gestern wohl gemacht hatten. Ob sie wohl… Nein, das konnte nicht sein. Vielleicht würde ich ja die Möglichkeit bekommen, sie mir in der Pause oder im Unterricht zu schnappen, um mit ihr darüber zu reden. Vielleicht.

 

Heaven entdeckte Jerry Lee vor Adam und mir. Er stand am Haupteingang und setzte sich sofort in Bewegung, als er merkte, dass die Limousine gehalten hatte. Als wir ausstiegen, wurden uns viele Blicke zu geworfen. Wer kam denn schon mit einem solchen Auto zur Schule? Vor allem zusammen mit Leuten, die sich verprügelt hatten. Aber in gewisser Weise war es mir sogar egal, was die anderen dachten – trotzdem fühlte ich mich ein bisschen wie ein Star.

„Da seid ihr ja endlich“, meckerte Jerry Lee, als er bei uns angekommen war. Was für eine freundliche Begrüßung.

„Hast du uns so sehr vermisst?“, fragte Adam und gab ihm einen Stoß gegen die Schulter.

Jerry schnaubte nur.

„Wehe, ihr fangt jetzt an euch zu verprügeln! Das hatten wir schon. Außerdem schauen schon alle zu uns.“ Ich blickte wieder über meine Schulter, um meine Vermutung abermals zu bestätigen.

Sie sahen sich um, als ob sie es erst jetzt bemerkt hätten. Natürlich sahen sofort alle weg und taten so, als ob sie uns nicht angesehen hatten und mit etwas völlig anderem beschäftig waren.

„Scheint so, als wären wir ziemlich interessant“, bemerkte Heaven freudig.

„Wahrscheinlich sind wir das auch“, stellte ich fest.

Jerry ordnete schnell seine Gedanken. „Okay, vergesst mal kurz die anderen und passt mal auf. Calvin ist nicht in der Schule.“

Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Aber war das denn noch nicht klar?“

Alle schwiegen.

Ich runzelte die Stirn. „Habt ihr ernsthaft gedacht, er würde wieder zur Schule kommen?“

„Ich habe vermutet, dass er alles ganz normal erscheinen lassen möchte, aber so wie es aussieht, habe ich mich da geirrt.“

„Also bitte! Sein Dad ist gestorben! Denkst du nicht, dass es etwas übertrieben wäre, in die Schule zu gehen und so zu tun, als ob nichts geschehen sei? Ich meine, alle würden über ihn herfallen, wie über die Muffins beim Pausenverkauf, und wissen wollen, was denn passiert war. Es ist logisch, dass er darauf keine Lust hat. Außerdem, kann ich mir auch vorstellen, dass die Polizei ihm nicht erlaubt in die Schule zu gehen.“

„Ach, Adam“, meinte Heaven, „Könntest du dich nicht in die Daten der Polizei einhacken und ein paar Informationen suchen? Dann hätten wir schon ein paar Grundlagen und wüssten, was bei dem Überfall nun wirklich alles geschehen war und wir könnten unseren Plan etwas genauer gestalten?“

„Das ist eine wirklich gute Idee“, sagte Adam und grinste seine Freundin stolz an. Dann zog er sein Handy aus der Hosentasche und tippte auf ihm herum. „Ins Datensystem der Polizei hacken“, murmelte er.

Ich lachte. „Das kannst du dir nicht merken? Ich dachte, ihr seid so schlau?“

„Sind wir auch! Aber man kann nie sicher genug sein.“

Wir traten in die Aula. Erst jetzt wurde mir wieder bewusst, dass ich mit Superhelden herumlief. Ein wirklich merkwürdiges Gefühl. Was andere wohl sagen würde, wenn sie davon wüssten? Bestimmt würden sie total durchdrehen oder so was Ähnliches. Aber so gelassen wie Heaven und ich würden sie bestimmt nicht bleiben. Aber vielleicht lag das auch daran, weil wir mit ihnen befreundet waren, bevor wir von dieser Gegebenheit erfuhren. Und eventuell, da wir es selbst herausgefunden hatten, sodass der Überraschungseffekt nicht ganz so groß war. Mit Hilfe des Tagebuches. Wenn ich das niemals aufgehoben oder ihm zurückgegeben hätte, wären wir niemals zu dem Brunnen gelangt und hätten niemals von ihrer Existenz erfahren. Ich hätte die ganzen Leute, also Marie, Kellan, Thierry, Desiree und die ganzen andern, niemals kennengelernt und wir würden jetzt niemals hier laufen. Irgendwie hatten sie es mir zu verdanken, dass sie unsere Hilfe jetzt hatten. Naja, obwohl… Jerry Lee war ja derjenige, der das Buch dabei hatte.

Adam räusperte sich. „Ich denke wir sehen uns in der Pause?“

Wir nickten und machten uns dann auf den Weg ins Klassenzimmer.

Mr White und auch ein paar andere Schüler waren schon im Zimmer. Heaven und ich setzten uns in die letzte Reihe und Jerry Lee zog sich einen Tisch neben meinen. Ich packte mein Mathematikbuch aus der Wildledertasche, die ich, genau wie Heaven, an meine Rückenlehne gehängt hatte. Und sogar Jerry Lee holte sein Buch heraus, das ebenfalls bis jetzt in einer schwarzen Umhängetasche geruht hatte. Seinen schwarzen Mantel hatte er bereits ausgezogen, welcher jetzt an seiner Lehne hing. Er trug einen hellblauen Pulli, eine dunkle Jeans und seine schwarzen Schnürstiefel. Und das alles stand ihm so gut…

„So Leute!“, rief Mr White und holte mich wieder zurück in die Wirklichkeit.

Jerry Lee hatte meine Blicke bemerkt und lächelte mich an. Ich sah schnell weg und blickte nach vorne an die Tafel, an der unser Lehrer basierte. Außerdem versuchte ich nicht rot zu werden.

„Vor einer Woche ist etwas ganz Absurdes passiert.“

Heaven sah mich fragend an. Jerry Lee beugte sich in meine Richtung und flüsterte mit erhobener Hand vor dem Mund: „Er meint die Sache, weil er in der Stunde vor ein paar Tagen nicht gekommen ist. Es wundert mich ja, dass er es erst jetzt anspricht, schließlich hatten wir ihn schon öfter, nach diesem Vorfall.“ Er kicherte.

„Oh“, murmelten Heaven und ich gleichzeitig. „Das könnte Ärger geben“, meinte nur ich.

„Es waren ja einige, um genau zu sein alle, in der Stunde nicht beim Unterricht!“ Er sah jeden einzelnen in der Klasse an, bevor er weitersprach. „Und nun frage ich, was euch eigentlich dabei eingefallen ist?!“ Während er sprach wurde seine Stimme immer lauter. Das letzte Wort schrie er sogar. Und das er sich so aufregte, war irgendwie überhaupt nicht lustig. „Nur weil ich ein paar Minuten zu spät komme, heißt es noch lange nicht, dass ihr einfach abhauen könnt! Und nun frage ich euch, was ihr davon haltet?“

Keiner sagte etwas.

„Aha, auf einmal habt ihr keine große Klappe mehr, ja? Ihr seid wirklich erbärmlich! Los, sagt schon was ihr davon haltet!“ Mr Whits Kopf färbte sich von rosa in rot.

In der Stille hörte ich nur das Geräusch. Es war Jerry Lees Arm der nach oben schoss.

Ich sah ihn verwirrt an. „Was soll das werden?“, fragte ich leise.

Er ignorierte mich einfach.

„Was gibt’s?“, fragte er laut und rief Jerry auf.

„Nun, sie wollten unsere eigene Meinung hören. Ich möchte gerne sagen, was ich von dem ganzen halte.“ Er machte eine Pause, um zu hören, ob Mr White noch etwas zu sagen hatte. Hatte er nicht. „Also ich habe mit Molly Noel“, er zeigte auf mich, „vor dem Klassenzimmer gewartet, während alle anderen schon weggegangen waren. Die ganze Klasse hat sehr lange auf sie gewartet, aber nachdem die Stunde schon fast um war, sind sie gegangen, weil sie dachten sie würden nicht mehr kommen. Ich war mir nicht sicher und auch Molly Noel nicht, also haben wir noch gewartet. Allerdings musste ich feststellen, dass sie nicht kamen und deshalb sind wir auch gegangen. Es ist also nicht unsere Schuld, dass wir nicht da waren.“

Mr White zögerte. „Und ob es das ist. Ihr hättet es im Sekretariat melden müssen.“

Plötzlich verfinsterte sich Jerry Lees Miene und seine Augen wurden noch dunkler. Das konnte allerdings nur ich erkennen, weil ich nah genug neben ihm saß. „Im Sekretariat war niemand und es ist nicht unsere Schuld. Sie werden es mit dieser Beschuldigung belassen müssen.“

Blitzartig änderte sich der Gesichtsausdruck unseres Lehrers und er fing an zu lächeln. „Nun denn, belassen wir es hierbei und vergessen das alles. Ihr habt keine Schuld. Fahren wir mit dem Unterrichtsstoff fort.“ Er klatschte in die Hände und verschränkte seine Finger miteinander.

Einige grinsten Jerry Lee dankbar an und er lächelte zurück. Heaven und ich starrten ihn aber mit offenem Mund an.

„Was ist?“, fragte er, als er uns bemerkte.

„War das…“, begann Heaven.

„Du hast gerade Zwang benutzt, nicht wahr?“, fügte ich völlig fasziniert hinzu.

Er zuckte lässig mit den Schultern. „Und wenn ja, was wäre dann?“

„Was soll dann sein? Das war doch total abgefahren!“ Heaven war aus dem Häuschen.

Ich kicherte leise. „Wie hast du das gemacht? Kann man das lernen?“

„Natürlich kann man das nicht lernen. Und auch wenn, würde ich es euch wahrscheinlich nicht beibringen.“

Heaven grinste. „Hm, Adam würde es tun!“

„Möglicherweise. Aber ich schätze, wenn Benjamin sagt, er darf es nicht, dann würde er es ebenfalls nicht tun. Und Benjamin würde es sagen. Und aus demselben Grund würde ich es auch nicht tun.“

„Das heißt, wenn Benjamin es nicht sagen würde, würdest du es machen?“

„Ja, würde ich. Aber es geht nicht, also ist das Thema für mich abgehakt.“

„Für mich auch“, sagte ich und Heaven zuckte nur mit der Schulter.

Dann versuchte ich einigermaßen dem Unterricht zu folgen. Aber ich fragte mich in meinem Hinterkopf die ganze Zeit über, was meine beste Freundin und Adam wohl in der Nacht gemacht hatten. Ich weiß, dass es mich vielleicht nichts angeht, allerdings war ich mir auch sicher, dass sie es mir sagen würde, wenn ich danach fragen würde. Also fragte ich mich, ob ich sie fragen sollte oder lieber nicht und es dabei belassen sollte. Aber ich konnte mich in der ersten Stunde nicht zu einer Entscheidung durchringen, also verschob ich die Überlegungen. Ich hatte ja Zeit.

 

Die dritte Stunde wurde lange überzogen und ich frage mich, ob wir überhaupt noch in die Pause durften. Doch nach zehn Minuten Überzug durften wir dann doch gehen. Das war allerdings irgendwie nicht erleichternd, sondern ärgerlich, denn so hatten wir nur noch eine zwanzig Minuten Pause. Und es gab zwei Personen, denen das ganz besonders auf die Nerven ging. Adam und Jerry Lee.

Sie standen ungeduldig vor unserem Klassenzimmer, als Heaven und ich als Erste aus dem Zimmer heraustraten.

„Da seid ihr ja endlich! Habt ihr uns extra so lange warten lassen?“, fragte Jerry Lee und sah uns sauer an.

Während Heaven von Adam in den Arm genommen wurde, konnte ich nur schnauben. „Ja, genau! Wir haben Mr Parker gezwungen, den Unterricht zu überziehen, weil wir Musik sooo sehr lieben! Für wie bescheuert haltet ihr uns eigentlich?“

„Für ziemlich!“, sagte er erheitert, fügte dann aber noch ernst hinzu, „Aber kommt mal mit nach außen.“

Wir gingen die Treppe nach unten, kämpften uns durch die Schülermassen und dann raus an die frische Luft. Ich entdeckte sofort die Limousine, die vor dem Feuerwehreingang der Schule stand. Aber keiner saß im Wagen, sondern stand davor. Keiner, waren Thierry und Desiree.

„Was machen die beiden hier?“, fragte Heaven.

„Sie haben was zu erzählen“, berichtete Adam.

Als wir näher kamen zwinkerte Thierry mir zu und ich fragte mich sofort, ob er wohl betrunken war. Ich riss mich aber zusammen und lächelte ihn an. Desiree strahlte wie immer vor sich her und war die Freundlichkeit in Person.

„Hallo ihr beiden“, sagte sie in einem angenehmen Ton.

„Da seid ihr ja endlich!“, maulte Thierry. Worauf er mich aus dem Augenwinkel ansah und schmunzelte. Langsam machte er mir Angst!

„Sei nicht so unhöflich“, flötete Desiree ihm bei und gab ihm einen leichten Stoß gegen die Schulter.

Thierry sah zu den beiden Jungs. „Das schadet hier keinem!“ Dann sah er wieder zu mir, immer noch mit diesem leicht dümmlichen Grinsen im Gesicht.

„Wir werden euch heute nach der Schule abholen und zu den Katakomben bringen. Dann machen wir den Plan, wie ihr vorgehen werdet“, erklärte Desiree und sah uns aufmunternd an. „Ich werde auch da sein und mithelfen. Es soll schließlich alles perfekt werden!“ Sie grinste.

„Ja, aber ihr müsst das auch alles umsetzen können“, murmelte Thierry und sah kurz zu Heaven. Dann wanderte sein Blick wieder auf seine Ausgangsposition. Zu mir. Ziemlich lästig.

„Ich bin sicher, dass sie das gut meistern werden“, konterte Desiree.

„Das hoffe ich“, kicherte Thierry, hob zweimal vielsagend seine Augenbrauen und grinste.

Ich konnte ein leises Knurren wahrnehmen, dass aus Jerry Lees Richtung kam. Ich sah zu ihm hinüber und bemerkte, dass er Thierry finster musterte. Und Thierry grinste mich an.

Wieder bekam er einen Stoß von Desiree gegen die Schulter. „Thierry, konzentriere dich endlich! Und hör auf so albern zu lächeln. Das geht mir auf die Nerven!“

Er hörte nicht auf, sondern sagte nur: „Sorry.“

„Also, heute machen wir den Plan. Morgen haben wir vor ein paar Grundschritte für die Verteidigung zu lernen.“ Plötzlich klingelte die Schulglocke.

„Das werde übrigens ich übernehmen!“, rief Thierry.

„Ruhe! Ich bin noch nicht fertig. Und du weiß genauso gut wie ich, dass wir noch nicht sicher sind, ob du das übernehmen wirst!“

Er hob nur kurz die Schultern.

„Am Freitag werden wir einen Block mit Fragen aufstellen. Ich kann gleich hier erwähnen, dass ihr morgen unbedingt Sportsachen mitnehmen müsst. Aber ich denke, dass werdet ihr nicht vergessen. Nun, in diesem Sinne sollten wir jetzt gehen und ihr wieder in den Unterricht.“

„Bis später!“, sagte Thierry und zwinkerte mir nochmals zu. Dann stieg er in die Limousine und ich wurde rot.

Desiree folgte ihm, schenkte uns aber noch ein wunderbares, warmes Lächeln und ihre schwarzen Haare schwangen wild durch die Luft, als sie sich in die Limousine setzte. Dann fuhren sie davon und wir beeilten uns noch pünktlich zum Unterricht zu kommen.

Jerry Lee verabschiedete sich gar nicht von uns, sondern stürmte einfach zu seinem Klassenzimmer. Adam hingegen gab Heaven einen Kuss. Okay, aus einem wurden zwei und aus zwei drei. Und wenn ich nicht geschrien hätte, wir sollten jetzt gehen, wären noch zehn daraus geworden.

 

Als wir dann endlich im Klassenzimmer waren und uns auf die üblichen Plätze gesetzt hatten, konnte ich einfach nicht mehr warten. Ich fragte sie… auch wenn ich über meine Entscheidung nicht wirklich nachgedacht hatte.

„Also, du und Adam?“ Ich hob meine Augenbrauen. „War er gestern die ganze Nacht bei dir?“

„Natürlich nicht!“ Sie lief rot an. „Er war nur bis halb elf bei mir. Dann ist er gegangen und heute Morgen wieder gekommen.“

„Und wo genau war er dann die ganze Nacht? Er ist ja nicht nach Hause gekommen?“

„Ach so! Deshalb dachtest du, dass wir… Nein, er hat mir gesagt, dass er mit Mathias eine weitere Trainingseinheit machen würde.“

Oh. Das erklärte einiges.

Der restliche Unterricht war ziemlich langweilig und zog sich natürlich wiedermal in die Länge. Die Mittagspause, die sonst ja immer das Beste an der Schule war, war unspektakulär und zu meinem Verwundern waren die beiden Jungs nicht mal da.

Also mussten wir uns an den Tisch von Kevin, Phil, Taylor, Lucy, Leon, Kathja und ein paar anderen setzten. Phil versuchte Heaven so gut es ging zu ignorieren, aber ich fand das war nicht richtig. Naja, Phil versuchte es eben, aber er warf ihr trotzdessen immer wieder Blicke zu. Und Heaven merkte das auch. Und so langsam verstand sie auch, weshalb er das machte. Irgendwann hielt er es aber nicht mehr aus und er verschwand einfach. Und kurzdarauf war Heaven auch weg.

„Und was genau hattest du?“, fragte mich gerade Lucy, die wissen wollte, weshalb ich gestern nicht in der Schule gewesen war, doch ich war so von Heaven und Phil abgelenkt, sodass ich nur mit einem halben Ohr zuhören konnte.

„Ähm, Erkältung“, murmelte ich mehr zu mir selbst.

Lucy sagte verblüfft: „Oh wirklich? Das hört man gar nicht.“

Ich stand auf und meinte knapp: „Tee… Ja, Tee.“ Dann lief ich den beiden hinterher.

Ich fand sie vor dem Jungenklo, wo sie miteinander sprachen.

„Es tut mir Leid“, sagte Heaven, triefend vor Bedauern.

„Schon okay.“ Seine Stimme war apathisch.

„Ich will aber nicht, dass unsere Freundschaft darunter leidet. Ich weiß, dass nichts mehr so sein wird wie vorher, aber du wirst die Richtige schon finden. Also… bleib nicht an mir hängen.“

„Und wenn es nicht so sein wird? Und wenn du den Falschen hast?“

Heaven schüttelte den Kopf und blickte auf den Boden. „Nein, ich hab nicht den Falschen. Aber ich bin nicht die Richtige für dich, okay? Ich meine, du bist echt nett und ein guter Freund, aber mehr empfinde ich einfach nicht für dich. Du sollst mich nicht vergessen oder so, aber du solltest mich nicht mehr mögen, als gute Freunde.“

Phil schnaubte. „Du weißt genauso gut wie ich, dass das was du da sagst, ziemlich gemein ist!“

„Es tut mir Leid“, sagte sie und ging.

Erst stand Phil einfach nur herum, mit herunter hängenden Schultern, doch dann hob er ruckartig den Kopf, als ob er irgendetwas gesehen hätte. Und das hatte er auch. Mich.

Eigentlich wollte ich mich feige aus dem Staub machen, aber das konnte ich jetzt schlecht machen, da er schon mit schnellen Schritten auf mich zukam. Ich sah mich um, kratzte mich verlegen am Hinterkopf und entdeckte dabei ein Leitungsrohr an der Decke hängen. Ich stellte mir sofort vor, wie ich Anlauf nahm, einen Sprung machte und mich an dem Rohr festhielt, schließlich eine Vorwärtsrolle in der Luft und mich dann an einem weiteren festhielt, mich wie ein Affe fortbewegte und einfach verschwand.  Da dies allerdings ziemlich unlogisch war, blieb ich also wie angewurzelt stehen und starrte ihn an. Keine Ahnung wie ich gerade aussah – sicherlich ziemlich dämlich –, aber er war ziemlich wütend.

„Hast du uns beobachtet?“, rief er, als er noch ein paar Meter von mir entfernt war. Das Gespräch konnte ja heikel werden.

„Ich… äh…“

„Also ja?“

„Ich… musste aufs Klo und dann habe ich euch gesehen und habe hier gewartet, bis ihr fertigt wart“, log ich und versuchte zu lächeln. Allerdings sah ich dabei wohl ziemlich gequält und verbissen aus.

„Du lügst! Wieso lügst du mich an? Ich habe langsam das Gefühl, dass ich von jedem nur verarscht werde! Du hast mir versprochen, es ihr nicht zu sagen! Und was hast du gemacht? Du hast es natürlich trotzdem getan!“

Was unterstellte er mir denn da? War ich nun nicht mehr seine Kumpel-Freundin?

Ich plusterte mich auf und dann brüllte ich ihn an. „Sag mal, hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank? Ich habe gesagt, ich verspreche es und das habe ich auch getan! Ich habe ihr nichts gesagt! Aber wer ist denn auch schon so dumm und verhält sich wie ein Kindergartenkind und ignoriert seine „Angebetete“? Das bist ja wohl du gewesen! Kein Wunder, dass sie gemerkt hat, was da läuft! Und dann willst du es auch noch mir in die Schuhe schieben? Als ob ich keine anderen Probleme hätte und mich nun auch noch um deine kümmern könnte! Und wenn du es genau wissen willst, zwischen euch hätte nie etwas laufen können, weil Adam viel toller ist und besser zu ihr passt, also du! Ihr seid viel zu lange miteinander befreundet! Außerdem wird es doch erst mit dreißig richtig ernst!“ Plötzlich hörte ich ein verächtliches Kichern hinter mir. Erst wollte ich es ignorieren und mit meiner Standpauke fortfahren, doch dann erkannte ich, wer das war. Olivia Dearing. So hieß sie. Calvins Freundin. Und das sie hinter mir stand und uns, oder nur mich, auslachte, brachte das Fass zum überlaufen.

Ich drehte mich um und maulte sie an: „Was stehst du denn da so rum und lachst? Versuch lieber mal deinen Freund nicht zu verlieren! Möglicherweise betrügt er dich ja sogar! Oder küsst andere Mädchen… wie zum Beispiel mich!“

Ihr nerviges Gekicher blieb ihr im Hals stecken und sie starrte mich mit offenem Mund an.

Ich lachte verächtlich und vergnügt. „Ja, du hast mich richtig verstanden! Es stimmt, dass er mich geküsst hat. Wenn du Lust hast, kannst du ihn ja mal fragen! Vielleicht sagt er dir ja sogar die Wahrheit! Oder er belügt dich weiterhin und verarscht dich!“

Olivia schnaubte und machte sich dann aus dem Staub.

Dann drehte ich mich zu Phil um, doch er war bereits auf dem Weg von mir weg. Er drehte sich noch ein Mal zu mir um und sagte mit herunterhängenden Schultern: „Tut mir leid. Ich hab einen Fehler gemacht.“

Das wunderte mich jetzt irgendwie. So wie es aussah hatte meine Standpauke sogar etwas in seinem Köpfchen bewirkt.

„Schon okay. Aber verhalte dich nicht mehr wie so ein Idiot und behandle Heaven wie mich. Wie einen Kumpel. Und glaub mir, du wirst über sie hinweg kommen und jemanden finden, der besser zu dir passt. Und es tut mir leid, dass ich dich gerade so angeschrien habe.“

„Danke. Aber du hattest ja recht.“

Dann machte er sich, genau wie Olivia, aus dem Staub.

 

Nach diesem Ereignis machte ich mich auf zu Heaven. Es dauerte eine Weil, bis ich sie fand. Sie war in der Bibliothek, im hintersten Eck. Sie weinte nicht, sondern war einfach nur wütend.

Ich war nicht darauf bedacht groß um den heißen Brei zu reden, also sagte ich einfach was ich wollte.

„Heaven, ich hab mit Phil geredet. Er hat sich entschuldigt und hat eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hat.“

„Du hast mich ihm geredet?“, rief sie sauer und sprang auf.

„Ich wusste schon die ganze Zeit über, was er fühlte. Und du brauchst mich nicht anschreien. Ich hab dich schließlich aus dem Schlamassel herausgebracht.“

„Du wusstest es? Wieso hast du es mir nicht…“

„Ich konnte es dir nicht sagen, weil ich es ihm versprochen hatte. Und falls es dich interessiert, ich habe Olivia gerade gesagt, dass Calvin mich doch geküsst hat.“

„Ach so ist das“, sagte sie plötzlich mit bedrückter Stimme, fügte dann aber ganz aufgeregt hinzu, „Und das hast du wirklich gemacht? Ich bin stolz auf dich!“

„Ja, das bin ich auch“, lachte ich. „Aber wir sollten uns jetzt auf den Weg zum Unterricht machen.“

 

Wir kamen noch rechtzeitig, allerdings waren wir dafür die Letzten, die in die Limousine stiegen, als die Schule endlich aus war.

Heaven stieg als Erste ein und ich hörte Desiree sagen: „Da seid ihr ja schon!“

Ich hörte Thierry verächtlich lachen. „Von wegen schon, das hat ja eine halbe Ewigkeit gedauert!“ Doch er lächelte sofort, als er mich entdeckte.

Es war schon ziemlich verrückt in einer Limousine zu fahren. Ich musste sofort an Lucys Worte denken, als sie gesehen hatte, was da vor der Schule stand.

„Habt ihr die Limo schon gesehen?“

„Ja, haben wir.“

„Ich frage mich, welchem reichen Schnösel die gehört.“

„Um ehrlich zu sein, ist sie hier, um uns abzuholen.“

„Ist das euer Ernst?“, hatte sie uns völlig entgeistert gefragt.

Daraufhin hatten wir nichts mehr gesagt. Aber sie hat auch ganz schön gestaunt, als sie gesehen hatte, dass wir tatsächlich eingestiegen waren.

Und nun waren wir schon wieder auf dem Weg zu dem Geheimversteck.

Als wir an der Stelle ankamen, an der Kellan in den Wald gefahren ist, dachte ich schon wir würden sterben, doch dann entdeckte ich den Jeep von gestern, der am Straßenrand stand. Die Limousine hielt mitten auf der Straße.

„Alles aussteigen!“, rief Thierry und sprang aus dem Wagen, wobei er sich fast den Kopf gestoßen hätte.

Ich saß neben ihm und musste als Zweites aussteigen. Er grinste mich an und reichte mir seine Hand. Ich nahm sie, auch wenn ich alleine aus dem Wagen gekommen wäre. Dabei fiel mir auf, wie warm und weich seine Hand war. Ohne auf die anderen zu warten, legte er mir einen muskulösen Arm um die Schulter und zog mich zu dem schwarzen Jeep. Er öffnete mir die hintere Tür, schob, beziehungsweise hob, mich in den Wagen und rückte dann nach.

„Ich habe gehört, dass du das mit dem Anschnallen noch nicht so ganz hinbekommst“, grinste er. „Darf ich?“

Ich hob meine Hände. „Wenn es sein muss!“ Ich musste zwar zugeben, dass die vielen Gurte immer noch ein absolutes Chaos für mich waren, doch trotzdem fühlte ich mich wie ein kleines Kind.

Kellan  drehte sich von seinem Fahrersitz um. „Und ich dachte, du hättest etwas aus der Fahrt von gestern gelernt?“

„Hab ich auch, aber ich wusste nicht, dass ich hier wie ein Baby behandelt werde“, konterte ich und grinste beide frech an, während Thierry sich über mich beugte und die Gurte fest an meinen Körper schnallte. Wieder kam dieser bezaubernde Geruch zu mir.

Sie sagten nichts, sondern lachten nur. Und dann wurde die Tür auf der anderen Seite geöffnet und Jerry Lee kam herein. Er sprang über den Sitz in den Kofferraum, gefolgt von Adam. Ich übersah nicht, dass Jerry Thierry einen bösen Blick zuwarf.

„Ihr habt aber nicht vor, dahinten während der Fahrt zu sein, oder?“

„Schätzchen“, begann Thierry, der wegen irgendetwas belustigt grinste, „Wir sind sieben Leute, und hier gibt es nur fünf Sitze. Irgendjemand muss nach dahinten. Und keine Angst. Wenn du mal an den Rücken der Lehnen schaust, würdest du sehen, dass dort Gurte hängen. Auch wenn ich die beiden Mal gerne ohne diese sehen würde.“ Er lachte fies.

Dafür bekam er von mir einen Schubs gegen die Schulter.

„Nicht so frech, Mädel“, mahnte er, grinste aber.

Dann kam Heaven zögernd neben mir in den Wagen und auf dem Beifahrersitz nahm Desiree Platz.

„Ich hoffe für dich, dass du nicht so unbeherrscht fährst wie Adam, Kellan“, meinte Heaven.

Kellan lachte und ich sagte: „Du solltest lieber beten, dass wir heil ankommen. Er fährt wie ein Besoffener!“

„Gut, dann fahren wir mal los!“, warnte Kellan und drückte das Gaspedal durch.

Wir wurden sofort in den Sitz gedrückt und ich klammerte mich unwillkürlich an Thierrys Unterarm und Heavens Hand fest. Thierry lachte, Heaven sagte etwas, das klang wie „Oh mein Gott, wir werden alle sterben!“ und dann durchbrachen wir die Wand der wuchernden Zweige und fuhren in den Wald.

Zum Glück hatte ich schon Zeit gehabt, mich mit dieser Fahrweise anzufreunden, weshalb ich diese Fahrt auch nicht mehr so schlimm fand. Aber „Freunde“ waren wir nicht geworden.

Es war noch immer schrecklich! Allerdings ging es mir, als wir ausstiegen, nicht so schlecht wie gestern. Ich konnte mich normal bewegen und musste auch keine Pause machen, um meinen Magen wieder zu beruhigen. Heaven war allerdings etwas blass im Gesicht.

Thierry schnallte mich schnell ab und half mir aus dem Wagen. Er führte mich, wieder ohne auf die anderen zu achten, zu dem Brunnen in mitten der Baumgruppe.

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte er, als wir zusammen unter den Bäumen standen.

Ich frage mich was das werden sollte. „Siebzehn. Und du?“

Er nickte und sah sich suchend um. „Oh, ein gutes Alter!“

„Ein gutes Alter wofür?“

Er stöhnte genervt. „Hey, Leute! Wo ist der verdammte Stein?“ Dann sah er wieder zu mir und fragte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Hm?“ So, als ob er meine letzte Frage überhaupt nicht mitbekommen hätte.

„Ein gutes…“ Ich kam nicht weiter, da jetzt die anderen zu uns trafen.

Kellan hob die Fernbedienung lässig vom Boden auf. „Hier ist sie doch. Dort, wo sie immer ist.“

„Ach, gib schon her“, befahl Thierry und schnappte sich den Stein. Dann drückte er den Knopf und das Wasser wurde weniger. Als es dann endlich verschwunden und die Plattform ganz oben angelangt war, rief er: „Wir gehen zuerst!“ Er sprang nach oben, gab mir seine Hand und zog mich mit auf die Plattform. Er drückte den grünen Knopf am Boden und sofort bewegten wir uns dem Erdkern entgegen. Als wir unten angekommen waren, drückte er den roten Knopf, damit die Platte wieder nach oben fuhr. Schnell öffnete er die Tür und wir sprangen gerade noch aus dem Brunnen, bevor der Boden unter unseren Füßen wieder nach oben fuhr.

Sofort legte er seinen Arm um mich und hob mich hoch. Darüber war ich irgendwie nicht verwundert, da vor uns die Wendeltreppe ohne Geländer war. Natürlich nahm er diese nicht. Er sprang einfach zwischen den Treppenstufen hinunter.

Als wir unten ankamen, behielt er mich für einen winzig kleinen Moment zu lange in seinen Armen, doch dann ließ er mich auf den Boden. Während des Fluges hatte mein Herzschlag einen Gang zugelegt, aber irgendwie verlangsamte er sich nicht.

Kaum hatte Thierry die Tür zur Trainingshalle geöffnet, legte er mir wieder einen Arm um die Schultern. So, als ob wir uns schon immer kannten und die besten Freunde waren.

Er beugte sich zu meinem Ohr hinunter und flüsterte: „Du musst aufpassen, was du hier sagst. Sie können alles hören.“

Ich wurde rot, versuchte es aber zu überspielen, indem ich mich etwas von ihm wegbeugte, versuchte ihm in die Augen zu sehen und hob einen Finger. „Okay, ich werde es mir merken.“

Er lächelte und als ob wir es abgesprochen hätten, gingen wir gleichzeitig los.

Natürlich wurden mir wieder viele Blicke zu geworfen und ich fragte mich, ob die Halle wohl immer besetzt war. Allerdings wusste ich auch, dass ich das irgendwann herausfinden würde, da ich hier ja nun öfter herkam. Und irgendwann würde ich auch an einem dieser Trainingsplätze stehen und ein paar Verteidigungsschritten lernen. Natürlich mit der Ausnahme, dass ich nicht so elegant und sportlich aussehen würde wie die Persönlichkeiten, die gerade auf den weichen Matten standen und wirklich unheimlich geniale Sachen machten.

Wir durchquerten den Raum schneller, als damals mit Kellan, aber dieses Mal gingen wir nicht durch die Tür, die zu der zweiten Wendeltreppe führte, sondern nahmen eine andere, die aber genauso aussah. Sie war hinter einem dreckigen Lumpen versteckt und ich hätte sie nicht gesehen, wenn Thierry ihn nicht weggehalten hätte. Er öffnete sie und vor uns erstreckte sich ein langes Zimmer. Nirgendwo war eine Tür zu sehen. Es war überhaupt nichts zu sehen. Hinter der Tür verbarg sich ein leerer Raum.

„Was wollen wir hier?“, fragte ich, trat aber ein.

Thierry lachte. „Ja, du wirst es mit nicht glauben, aber das hier ist ein Aufzug.“

Er ging zu einer Wand und klappte eine kleine Tür weg. Dahinter waren, wie bei dem Brunnen, zwei Knöpfe. Einer für „nach unten“, der andere für „nach oben“. Natürlich drückte Thierry den Knopf für „nach unten“. Die Tür schloss sich ganz von alleine hinter mir und sofort bewegte sich der Aufzug nach unten.

Wir standen eine halbe Ewigkeit im Aufzug und ich musste mich wirklich fragen, wie tief wir nun unter dem Erdboden waren. Doch die Türen öffneten sich schließlich und wir traten in einen Flur, von dem hunderte Gänge abgingen. Nun  musste ich mich doch fragen, wie so etwas entstehen konnte.

Wir liefen lange gerade aus und erst dann nahmen wir einen Gang zu unserer Rechten. Der ging wieder einige Meter gerade aus, nahm aber eine merkwürdige Biegung und schließlich war vor uns eine Treppe nach unten. Natürlich wieder eine Wendeltreppe, die wir durch einen Sprung in die Mitte ausließen.

Als wir unten waren musste ich es einfach fragen: „Wie sind die Katakomben eigentlich entstanden?“

Thierry zuckte mit den Schultern. „Ich hab keine Ahnung! Sie wurden von uns bei einer Trainingseinheit entdeckt. Wer genau sie gefunden hat, weiß ich aber nicht mehr. Aber ich kann dir sagen, dass hier ist alles richtig gigantisch. Ich meine, wir hatten ja noch nicht mal Zeit alles zu erkunden, um uns einen Plan von dem gesamten Gelände zu machen.“

„Und wo gehen wir jetzt hin?“

„Weiter weg von den anderen.“

„Wieso das denn?“

„Damit uns keiner belauschen kann. Sie werden den Plan vielleicht erfahren, aber fürs erste bleibt er unter uns.“

„Und wieso darf ihn Desiree erfahren? Oder du? Habt ihr irgendeine besondere Stellung in eurem Clan?“

Er blieb abrupt stehen und sah mich irgendwie enttäuscht an. „Ich dachte du hättest mitbekommen, dass ich ein Wotsford bin. Und Desiree ist eine ziemlich gute Kämpferin und hat sehr viel Ahnung von Plänen. Deshalb darf sie mitbestimmen und alles mit ausarbeiten.“

„Wie alt ist sie denn?“, fragte ich.

„Zwanzig. So wie ich. Wir wurden im selben Jahr geboren und wurden auch vom selben Lehrer unterrichtet. Allerdings war sie immer besser als ich und hat somit Einzelstunden bekommen“, erzählte er im Flüsterton, während er weiter lief. „Ich war immer eifersüchtig auf sie gewesen und so hatte ich versucht sie immer zu übertreffen. In allem. Aber irgendwie hat das nie wirklich hingehauen. Eine Zeit lang waren wir so was wie Feinde. Dann hat sie versucht wieder mit mir auf „Beste Freunde fürs Leben“ zu machen, weil wir das ja auch mal waren. Aber es ist nicht mehr so wie früher. Ich versuche sie zwar so zu akzeptieren wie sie ist, aber irgendwie kann ich sie nicht mehr leiden. Mit ihrem Lächeln schleimt sie sich bei jedem ein. Bei ihr habe ich ein schlechtes Gefühl.“

„Sieht so aus, als ob du sie wirklich nicht leiden kannst. Aber ich muss sagen, dass sie auf mich nicht so wirkt.“

Er lächelte und legte wieder seinen Arm um meine Schultern, welchen er von mir weg genommen hatte, als wir stehen geblieben waren. „Ja, ich weiß. Aber vielleicht wirst du ja irgendwann merken, dass sie nicht ganz richtig im Kopf ist.“

Ich sah ihn fragend an. „Soll das heißen, dass sie irgendwie behindert ist?“

Thierry lachte laut. „Nein! Sie ist nicht behindert!“

Dann standen wir vor einer Tür, die er öffnete und wir in den Raum dahinter eintraten. Aber dahinter sah es überhaupt nicht aus wie in einem Besprechungszimmer. Eher wie auf einer Krankenstation. Das Zimmer war überall gefliest, bis auf die Decke, die weiß gestrichen war. Überall standen Krankenbetten mit silbernen Rollen an den Beinen und weißen Bettlaken. Neben jedem stand ein Tisch mit einer Lampe und einer Blume, die wahrscheinlich unecht war. An den Wänden konnte ich Vorhänge sehen, welche man in den Raum ziehen konnte, um die einzelnen Betten voneinander zu trennen. Allerdings war kein einziger hervorgezogen, da auch niemand im Raum war, außer Thierry und ich. Gegenüber von uns war eine weitere Tür, an der eine Glasscheibe angebracht war, durch die man aber nicht viel erkennen konnte. An der Wand daneben war allerdings ein großer Spiegel und als wir in den Raum hinter der Tür traten, konnte ich erkennen, dass er nur von der Außenseite verspiegelt war. Von der anderen war es einfach nur ein Fenster.

Der Raum hinter der Tür war groß und überall standen auf weißen Tischen Gefäße mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten. An einer Seite war eine Tafel, an der mit Kreide Formeln und abstrakte Zeichnungen porträtiert wurden.

„Wir sind hier aber nicht richtig, oder?“, fragte ich.

Thierry war zu einem Tisch geschritten und kramte zwischen hohen Stapeln von Blättern. „Hier sollte dringend mal aufgeräumt werden“, beschwerte er sich und fügte dann hinzu, „Nein, wir sind hier nicht richtig. Das hier ist mein Labor. Hier verbringe ich die meiste Zeit meines Lebens. Du kannst mich ja mal besuchen kommen, wenn du Lust hast… Und den Raum wiederfindest. Aber ich suche nur schnell meinen Laptop. Okay, vielleicht könnte das auch etwas länger dauern, ich hab nämlich keine Ahnung wo er ist.“

Er hatte recht, hier sollte wirklich dringend der Besen geschwungen werden!

„Wenn du findest, hier sollte sauber gemacht werden, warum tust du es dann nicht?“, fragte ich und sah mich gleichzeitig nach seinem Rechner um.

Er grinste frech. „Ein Genie beherrscht das Chaos!“

„Naja, so wie es aussieht, ja nicht, sonst hättest du deinen Laptop schon gefunden. Und du hättest ihn erst gar nicht verloren“, konterte ich und entdeckte etwas Silbernes unter ein paar Blättern. Ich schritt durch den Raum und nahm es in Augenschein. Es war der Laptop. „Ach, hier ist er ja!“ Dann sah ich mir die Zeichnungen auf den Blättern genauer an und nahm eines in die Hand. Darauf stand „Leben retten“.

„Du solltest hier lieber nichts anfassen!“, rief Thierry und kam zu mir herüber geeilt.

„Was ist das?“, fragte ich und in dem Moment wurde mir das Papier aus der Hand gerissen.

„Das hier? Ach, ich arbeite gerade daran, wie ich das Leben von Leuten retten kann, die eigentlich schon so gut wie tot sind. Welche, die also im Sterben liegen.“

Das ist unmöglich, dachte ich sofort. „Oh. Und? Wie sieht es aus?“

Thierry zuckte mit den Schultern. „Ach, ich bin noch nicht so weit. Aber ich bezweifle auch, dass ich es schaffen werde.“

Darauf sagte ich nichts mehr, sondern klopfte mir in Gedanken auf die Schulter. Sag ich doch.

Thierry schnappte sich seinen Computer und meinte: „Wir sollten jetzt aber gehen. Sonst kommen wir noch zu spät.“

 

Als wir den kleinen Raum betraten, merkte ich, dass es derselbe von gestern war. Mit der Bücherwand, dem braunen Ledersofa, den Ledersesseln und dem großen Perserteppich.

Es waren schon alle da. Allerdings nicht so viele wie gestern, was mich sehr verwunderte. Ich sah Heaven in Adams Armen auf dem linken Ledersofa liegen, Jerry Lee stand unschlüssig im Raum herum, Kellan und Desiree saßen nebeneinander in zwei Sesseln, die beide mit dem Rücken zur Tür standen. Als wir hereinkamen, drehten sich ihre Köpfte sofort zu uns um. Dazu kam der kleine, sehr alte Mann, der in einem der Sessel saß. Er lächelte mich sofort freundlich an, als er uns entdeckte.

„Ah, da seid ihr ja! Los, setzt euch zu uns“, forderte er uns mit einer rauen Stimme auf und deutete auf das leere Sofa.

Ohne zu zögern sagte Thierry: „Entschuldigung für die Verspätung, aber wir waren noch kurz im Labor.“

„Schon in Ordnung. Jetzt seid ihr ja hier.“ Der alte Mann winkte ab und die Lachfalten wurden noch tiefer. Als er seine Hand hob, entdeckte ich auf dem Hautübergang zwischen Daumen und Zeigefinger die Tätowierung des Wotsford-Clans.

Wir setzten uns auf das Sofa und Thierry legte unmerklich seinen Arm hinter mich auf die Rückenlehne. Jerry Lee kam kopfschüttelnd zu uns und setzte sich neben mich auf die andere Seite. Als ob er gewartet hätte, auf welchen Platz ich mich setzen würde. Heaven sah Thierry, dann mich und dann Jerry Lee ungläubig an. Ich versuchte ihren Blick zu ignorieren, weil ich schon wusste, was er deuten sollte. Darüber wollte ich zugegeben nicht nachdenken. Ich fragte mich in dem Moment eher, wer der kleine Opa in dem großen Sessel war.

Desiree stand auf und sah mich und Heaven an. Dann deutete sie mit der flachen Hand auf ihn. „Darf ich euch vorstellen? Das ist Benjamin Wotsford, der Gründer dieses Clans.“

Mir klappte die Kinnlade herunter.

Ihn persönlich anzutreffen war etwas, was ich mir nie zu träumen gewagt hätte. Ich hatte ihn mir zudem auch ganz anders vorgestellt. Eher groß, stark und… nicht so alt. Aber er war klein, zerbrechlich und alt. Naja, er sah zumindest zerbrechlich aus, aber so ganz war ich mir da nicht sicher, da er wahrscheinlich auch diese Superheldenkräfte besaß.

„Freut mich sie kennenzulernen“, sagte ich höflich und lächelte ihn vorsichtig an, als ich meine Sprache wiedergefunden hatte.

„Coole Sache“, meinte Heaven und nickte Benjamin zu. Darüber musste Adam grinsen.

„Ganz meinerseits“, entgegnete er uns mit einem kratzigen Lachen. Doch dann begannen wir zu planen. „Nun, wir haben uns heute hier versammelt, um einen Plan zu machen. Einen brillanten Plan, der einfach perfekt werden und selbstverständlich auch funktionieren muss. Ich möchte von Anfang an beginnen. Natürlich stellt sich uns die erste Frage, wie ihr zu der Psychiatrie kommen sollt. Sie ist von hier etwa zwei Stunden entfernt.“

Desiree unterbrach ihn. „Deshalb stellt sich uns die nächste Frage: Sollt ihr zur Schule gehen oder lieber nicht, damit ihr lange genug Zeit habt, euch mit ihm zu unterhalten.“

Kellan grinste. „Ja, allerdings gibt es da ein Problem. Es ist etwas auffällig, wenn immer wieder dieselben Schüler und noch dazu am selben Tag fehlen. Ich finde, sie sollten am Nachmittag gehen.“

Ich dachte kurz darüber nach. „Momentmal! Hieß es nicht, dass wir frühestens am Freitag zu ihm könnten? Wenn wir also erst am Samstag gehen würden, würde dieses Problem überhaupt nicht auftreten. Und zudem hätten wir noch Zeit uns mit unserem Plan zu beschäftigen.“

„Ja, da ist was dran“, meinte Thierry nachdenklich.

„Wir können doch nicht noch länger warten“, maulte Kellan.

„Es ist aber der sicherste Weg“, konterte Jerry Lee. „Außerdem sind sie noch nicht in dem Zustand ihn jetzt schon zu treffen. Du weißt, sie hatten noch keine einzige Trainingsstunde.“

„Das ist mir auch klar!“, nörgelte er. „Aber gut. Wahrscheinlich ist es tatsächlich besser, wenn wir es am Samstag durchziehen werden.“

Benjamin klatschte in seine faltigen Hände. „Sehr gut, dann haben wir schon einmal einen Termin!“

„Kellan“, meinte Desiree, „Ich denke, es wäre das Beste, wenn du die beiden am Morgen abholen würdest. Dann hätten wir noch ein, zwei Stunden Zeit nochmal den Plan durchzugehen und ihn noch ein Mal zu besprechen.“

„Alles klar! Ich darf mal wieder den Chauffeur spielen!“, grinste er. Es gefiel ihm anscheinet, mit dem Auto durch die Gegend zu brettern. „Aber wenn ich sie abhole, will ich sie auch zur Psychiatrie fahren!“

Desiree meinte: „Ja, das war damit schon eingeschlossen.“

Kellan grinste zufrieden. „Sehr gut!“

„Wunderbar, wenn wir da sind, müssen wir allerdings erst mal herausfinden, ob ihr überhaupt zu ihm dürft“, meinte Adam.

„Was?“, fragte Heaven entsetzt, „Ihr wisst noch nicht mal, ob wir überhaupt zu ihm können? Das ist ja alles sehr gut durchdacht!“

Er zuckte mit den Schultern. „Wenn nicht, habt ihr ja immer noch Kellan mit dabei, der euch mit ein bisschen Überredung einschleusen kann.“

„Mit Zwang?“, fragte ich.

„Vielleicht“, gab Adam zu.

„Das kann ja was werden!“, stöhnend ließ ich meinen Kopf nach hinten fallen, wobei ich gegen Thierrys Arm stieß. Sofort richtete ich mich wieder auf.

„Keine Sorge. Ihr werdet das schon überleben“, meinte er und grinste mich belustigt an.

„Das hoffe ich für euch“, konterte ich, woraufhin er laut lachte. Das ganze Sofa wackelte.

Jerry Lee sprang auf. „Könntet ihr vielleicht mal beim Thema bleiben?“, tadelte er.

Thierry hob unschuldig die Hände. „Sie hat mich abgelenkt.“

„Bitte?“, fragte ich, lachte aber. Dann sah ich die anderen im Raum an. Keiner zeigte das Anzeichen eines Lächelns. Und darüber hätte ich beinahe noch mehr lachen können. Und auch Thierry ging es ähnlich.

„‘tschuldigung.“

„Okay, nehmen wir an, ihr seid beide schon in der Psychiatrie und wir hätten es geschafft, ein Treffen mit Finn zu vereinbaren. Dann werdet ihr ihm die Fragen stellen, die ihr so wie es jetzt aussieht am Freitag ausarbeiten werdet. Wenn ihr fertig damit seid, werdet ihr erst wieder hierher gebracht. Dann werden wir uns kurz über alles aussprechen und erst danach werdet ihr nach Hause gebracht. Das kann von mir aus jemand anderes übernehmen. Kellan sollte nicht den ganzen Tag Auto fahren.“

„Damit hätte ich zwar kein Problem, Desiree, aber wenn du es sagst, wird das natürlich so gemacht“, grinste er sie frech an.

Sie lachte. „Ja, das ist die richtige Einstellung.“

Plötzlich ertönte von irgendwoher gedämpfte Musik. Erst kurze Zeit später merkte ich, dass es mein Handy war. Ich wollte mir meine Tasche greifen, doch Thierry hielt sie mir schon entgegen. Keine Ahnung, wie er die so schnell hervorziehen konnte.

„Danke“, sagte ich und nahm sie entgegen. Dann suchte ich nach meinem Handy und fand es ein paar Sekunden später.

„Hallo?“, fragte ich. Komisch, dass es ihr sogar Handyempfang gab.

„Wo bist du denn schon wieder?“, fragte meine Mum.

„Oh, hey. Ich… bin bei Freunden.“ Ich sah mich um und merkte, dass jeder, außer Heaven, das Gespräch verfolgte und sogar meine Mum verstehen konnte.

„Ja, das habe ich mir schon gedacht. Aber eigentlich wollte ich wissen, wann du gedenkst nach Hause zu kommen? Du weißt, dass wir heute in der Nacht abreisen und ich habe keine Lust, dass du dich währenddessen bei irgendwelchen Leuten herumtreibst.“

„Ja, das habe ich nicht vergessen. Und ich bin so gut wie unterwegs“, erklärte ich, packte meine Tasche und hängte sie mir über die Schulter.

Ohne mich zu verabschieden legte ich auf.

Alle außer Heaven sahen mich entsetzt an.

„Was?“, fragte ich. „Habe ich irgendetwas Falsches gesagt?"

„Ihr fahrt heute Nacht weg?“, fragte mich Adam.

Plötzlich fing Heaven an zu lachen, weil sie schon ahnte, was alle dachten.

„Das kannst du jetzt echt nicht bringen! Wir brauchen dich hier! Wann kommt ihr denn wieder zurück?“ Thierry sah mich besorgt an.

„Ähm, Leute!“, sagte ich, „Meine Eltern fahren zu meiner Oma nach Australien. Nur meine Eltern!“

Kurz herrschte absolute Stille, bis auf Heavens Lachen.

„Das heißt, du gehst nicht mit?“, fragte mich Jerry Lee.

„Nein, habe ich doch gerade gesagt“, sagte ich.

„Du hast uns gerade echt einen Schrecken eingejagt“, mahnte Kellan.

Ich sah sie stirnrunzelnd an. „Ja, ist ja noch alles gut gegangen.“

„Ich denke, ich sollte jetzt auch gehen“, meinte Heaven. Allerdings eher, weil sie hier nicht ohne mich sein wollte. Was ich übrigens genauso gesehen hätte.

„Sehr gut“, sagte Adam, „Dann kann ich dir mal mein Motorrad zeigen!“

Heaven kicherte. „Wenn es unbedingt sein muss.“

„Ja, muss es“, meinte er.

Ich dachte schon, keiner würde sich erbarmen mich nach Hause zu fahren – und ich wollte sogar sagen: „Okay, ich lauf nach Hause.“ – als Thierry sagte: „Ich würde dich liebend gerne nach Hause fahren, und ich denke das weißt du auch, aber leider muss ich noch in meinem Labor arbeiten… sehr bedauerlich.“ Er sah tatsächlich ein bisschen verärgert aus.

Jerry Lee stand auf. „Schon okay, ich kann sie nach Hause fahren.“

Dann sahen sie mich beide abwartend an. Jerry Lee so, als ob ich ihm in die Arme laufen sollte und Thierry so, als würde ich Schutz vor Jerry in seine Arme suchen. Aber ich tat keines von beidem. Natürlich nicht. Das wäre wirklich zu albern gewesen.

Also nickte ich nur und sagte: „Alles klar!“

Das erstaunte irgendwie beide, doch sie rissen sich schnell wieder zusammen und begannen sich fertig zum Gehen zu machen. Jerry Lee zog sich seinen schwarzen Mantel über und kam auf mich zu. Doch Thierry, der seinen Laptop schnell unter den Arm geklemmt hatte, war vor ihm da. Er nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sich. Das erstaunte mich total, da ich mit so etwas nicht im Geringsten gerechnet hätte. Aber natürlich tat ich so, als würde mich das nicht überraschen und legte eine Hand auf seinen starken Oberarm. Meine Umarmung, falls man hierbei von einer sprechen konnte, sollte und konnte nicht so wirken, als ob wir uns schon seit Ewigkeiten kannten. Immerhin kannte ich ihn doch eigentlich gar nicht. Weshalb ich mich natürlich gleich fragen musste, wes der Grund für diese stürmische Umarmung war. Weil ich jetzt zu ihnen gehörte oder weil er mich vielleicht sogar mochte? Naja, ob er mich mochte, stand wahrscheinlich schon außer Frage, sonst würde er mich nicht immer wie ein totaler Idiot anlächeln und mir auch nicht immer und überall seinen Arm um die Schultern legen. Gut, das war also die Tatsache, dass er mich wirklich mochte, aber eine Umarmung war für meine Verhältnisse etwas zu früh.

Ich hörte wie sich Jerry Lee ein paar Meter von uns entfernt räusperte. Er war schon ein paar Schritte die Wendeltreppe hinaufgestiegen, doch war schließlich stehengeblieben, als er bemerkte, dass ich ihm noch überhaupt nicht folgte.

Ich wollte also auf ihn zu gehen, als von oben plötzlich laute Geräusche kamen. Eine Art Poltern, das die Wendeltreppe zum Beben brachte. Doch als ich erkannte, wer die Treppe herunter rannte – oder hüpfte – musste ich mich fragen, weshalb sie mit ihren hohen, dünnen Absätzen nicht schon längst im Gitter stecken geblieben war.

Es war niemand anderes als Josephine.

Ich hörte Thierry stöhnen, als er sie entdeckte. „Was willst du denn jetzt hier? Wir sind schon längst fertig.“

Josephine blieb mitten auf der Treppe stehen und sah ihn genervt an. „Mit dir rede ich nicht!“ Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf mich. „Ich soll dich nach Hause fahren.“

„Jerry Lee wollte mich fahren?“, entgegnete ich ihr fragend.

Sie nickte, würdigte ihn aber keines Blickes. „Ja, ich weiß, das sollte er. Ich habe gerade allerdings eine Nachricht erhalten, dass Benjamin noch etwas mit ihm zu besprechen hätte“, dann fügte sie hinzu, „Wobei das noch einige andere ebenfalls betrifft.“ Sie warf Thierry einen Blick verächtlichen zu.

„Heißt das, ich bin mit eingeschlossen?“, fragte dieser.

„Was möchte er denn besprechen?“, fragte Jerry Lee, den Josephine im Gegensatz zu Thierry beachtete.

Sie schnaubte. „Woher soll ich das denn wissen? Mir wurde ausschließlich mitgeteilt, dass ich Molly Noel nach Hause bringen soll“, motzte sie.

„Na gut“, meinte Jerry Lee etwas bestürzt.

„Fräulein“, meinte Thierry und sah Josephine an, „Du wirst mich nicht ewig nicht beachten können. Das würdest du nicht aushalten.“ Er zwinkerte mir noch kurz zu und dann verschwand er in dem Gang, aus dem wir gekommen waren. Jerry Lee zuckte mit den Schultern und sah mich nicht einmal an, als er in den Raum zurück ging.

Josephine stieg bereits die Treppen wieder nach oben und ich folgte ihr zögernd. Ich fragte mich, weshalb wir nicht flogen. Ob ich ihr wohl zu schwer war oder ob sie mich einfach quälen wollte, in dem sie die Treppe nach oben ging?

Doch dann stöhnte sie und drehte sich zu mir um. „Tut mir leid, aber du bist mir einfach zu langsam. Könnten wir nicht einfach…“ Sie zögerte.

„Nein, mit Fliegen habe ich kein Problem“, meinte ich schnell, um sie nicht noch länger überlegen lassen zu müssen, was sie sagen sollte.

Josephine kicherte. „Um ehrlich zu sein, fliegen wir überhaupt nicht. Wir können nur verdammt gut springen. Wie Grashüpfer… nur cooler“, sagte sie und nahm mich in den Arm.

 

Kurze Zeit später standen wir auch schon zwischen den Tannen und neben dem Steinbrunnen. Den Trainingsraum hatten wir ohne große Beachtung der anderen durchschritten. Das war das, was mich am meisten gewundert hatte. Keiner hat uns allzu lange angesehen. Interessiert ja, aber das waren nur kleine Wimpernschläge. Sogar das Mädchen, welches mir am ersten Tag zugelächelt hatte, hatte mir nur einen kurzen Blick, fast unmerklich, zugeworfen.

Ich wusste nicht wie, aber Josephine war an die Schlüssen von Kellans Jeep herangekommen. Sie schwenkte ihn pfeifen, leicht amüsiert in der Luft.

„Wusstest du schon, dass Kellan ziemlich unordentlich ist?“, fragte sie und grinste mich an, als sie meinen Blick zu den Schlüsseln streifen sah. „Ja, das sind seine. Und der Jeep gehört eigentlich auch ihm. Aber wenn man schon so mit seinen Sachen umgeht, darf man sich nicht wundern, wenn sie ab und zu mal verschwinden.“

Ich kicherte. „Du hast sie ihm geklaut?“, fragte ich ungläubig.

Josephine sah mich entsetzt an. „Geklaut? Ich? Nein! Sie sind ihm aus der Hosentasche gefallen, als er die Treppe heruntergesprungen ist. Dafür kann ich nichts.“ Sie machte eine Pause. „Ich wollte sie ihm ja eigentlich zurückgeben, aber dazu bin ich leider nicht gekommen“, behauptete sie und grinste frech.

Ich schüttelte unglaubwürdig den Kopf. Dann fiel mir auf, dass etwas nicht stimmte. „Wo ist deine Katze?“, fragte ich.

„Du meinst Skye? Dort vorne ist sie doch“, meinte sie und zeigte in die Richtung des Wagens. Und tatsächlich saß ein schneeweiser Wollknäuel auf der Motorhaube des Jeeps und hinterließ staubige Pfötchenabdrücke. Kaum hatte sie unsere Stimmen gehört, schreckte ihr Kopf nach oben und sie schaute uns an. Dann sprang sie auf und rannte auf Josephine zu. Diese fing an zu lachen und ließ Skye bereitwillig auf ihren Schultern Platz nehmen.

„Sie ist sehr süß“, meinte ich und wollte sie streicheln, doch Josephine schüttelte den Kopf und wich vor meiner Hand aus.

„Lieber nicht. Sie mag keine Fremden. Ach, was sag ich denn da! Sie mag niemanden außer mich.“

Ich zog sofort meine Hand zurück und öffnete mit ihr die Tür des schwarzen Jeeps. „Das ist schade.“

Josephine zuckte mit den Schultern und ließ sich auf den Fahrersitz gleiten. Gleichzeitig sprang Skye auf die hinteren Sitze und machte es sich dort gemütlich. Sofort musste ich mich frage, ob es nicht etwas gefährlich werden könnte, wenn man die Fahrweise von Kellan betrachtete. Er fuhr schließlich nicht rücksichtsvoll und achtete erst recht nicht darauf, ob den Mitfahrern bei der Fahrt der Magen umgedreht wurde.

Josephine bemerkte meinen Blick und konnte ihn auch recht gut deuten. „Keine Angst, sie ist schon tausendmal bei mir mitgefahren“, meinte sie, während sie sich anschnallte und ich versuchte, es ihr nachzumachen. Diese verdammten Gurte waren aber auch kompliziert!

Ich sah sie zweifelnd an. „Wenn ich so über die heutige Fahrt von Kellan nachdenke, wird mir jetzt schon schlecht, auch wenn sie nicht so schlimm war wie die gestrige!“

Josephine blickte mich entsetzt an. „Denkst du denn tatsächlich, dass ich so fahren würde wie dieser Chaot? Mir ist mein Leben immer noch heilig, also versuche ich nicht, mich bei so einer dämlichen Fahrt durch ein kleines Stückchen Wald umbringen zu lassen. Das soll jetzt allerdings nicht heißen, dass es Kellan egal wäre, ob er nun sterben würde oder nicht.“

„Gut, das hoffe ich. Sonst müsstet ihr euch einen neuen Fahrer suchen, der uns zu der Psychiatrie oder uns überhaupt irgendwohin fährt! Denn wenn ich wüsste, dass Kellan so fährt, weil er nichts dagegen hätte zu sterben, würde ich mit Sicherheit nicht einmal in das Auto steigen, wenn er auch nur auf dem Beifahrersitz oder auf den hinteren Bänken posiert, wo wir wieder bei Skye ankommen.“

Josephine lachte. „Du bist komisch. Aber zu deiner Versicherung, kann ich dir hiermit nochmals bestätigen, dass Kellans Fahrweise normal für ihn ist. Und da kann ich hinzufügen, dass ich ganz bestimmt nicht so fahre wie er und Skye genauso sicher ist, wie wir.“ Sie sah mich von der Seite an, runzelte die Stirn und wirkte irgendwie ärgerlich. „Ich bin eine tolle Fahrerin und jetzt gib endlich deinen Gurt her, da werde ich noch ganz wahnsinnig, wenn ich dich weiterhin mit ihm kämpfen sehen!“

Ich hob unschuldig meine Hände. „Ich habe niemals bezweifelt, dass du eine tolle Fahrerin seist. Aber zu meiner Verteidigung: Mir hat niemand beigebracht, wie man sich hier anschnallt und um ehrlich zu sein, in meinem Auto gibt es solche Gurte nicht. Und ich glaube langsam, dass das das einzige Auto mit einem solchen ist“, verteidigte ich mich, jedoch mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

„Freut mich, dass du mich nicht als ein Weichei, sowie die anderen, beim Autofahren betrachtest“, sagte sie und zeigte mir langsam, wie ich mich nun sicherte.

„Wer sind jetzt genau „die anderen“?“, fragte ich.

„Oh, es wundert mich, dass dir das noch nicht aufgefallen ist, wer mich hier ganz besonders mag“, lachte sie sarkastisch. „Einer von ihnen ist der ach-so-liebe Jerry Lee, nicht zu vergessen, sein lieber Freund Adam. Falls sie noch Freunde oder wieder welche sind… so ganz komme ich da nämlich nicht mit. Ist aber auch egal, da beide ziemliche Idioten sind und ich einfach nicht herausfinde, was Heaven an Adam so toll findet. Andererseits kann sie auch froh sein, denn dann werde ich es schon mal nicht sein, die ihn ihr ausspannen muss. Aber wie du sicherlich schon bemerkt hast, komme ich gerade vom Thema ab, was ziemlich oft passiert, wenn ich mich mit einer angenehmen Person unterhalte. Was nicht oft der Fall ist, wie du vielleicht schon gemerkt hast. Aber gut… zwischen den beiden und dem ersten Platz liegen noch ein paar andere, die du bis jetzt noch nicht kennengelernt hast, aber du kannst mir glauben: An erster Stelle stehen mit Abstand Kellan und Thierry!“

„Okay, dass es Thierry ist, wundert mich wirklich überhaupt nicht. Aber was ist an Kellan so schlimm?“, frage ich nach kurzer Pause, in der wir geschwiegen hatten.

„Ich glaube er versucht recht nett zu dir zu sein, weil er denkt, dass wir euch eh nicht lange an der Backe haben werden. Ich bin da zwar ganz anderer Meinung, aber wen interessiert denn schon meine Meinung?“

Ich nickte langsam. Dann stoppte ich mitten in meiner Bewegung und sah sie mit erhobenen Augenbrauen an. „Moment! Was soll „nicht lange an der Backe haben werden“ bedeuten?“

Sie sah mir kurz in die Augen. Dann klopfte sie auf meinen Bauch, sodass es weh tat und beugte sich wieder zurück in ihren Sitz. „Das hätten wir“, sagte sie schnell und startete den Wagen.

 

Der schwarz glänzende Jeep hielt vor unserem hell erleuchteten Haus. Es war schon dunkel, weshalb man eine gute Sicht in die Zimmer unseres Hauses hatte. Zum Beispiel konnte ich meine Mum in der Küche erkennen, wie sie kochend am Herd stand und den gedeckten Holztisch, auf dem neben jedem Teller sogar eine Servierte zu sehen war. In der Mitte des Tisches stand ein großer Strauß mit leuchtenden Blumen und ich konnte im Fernseher einen Spielfilm erkennen, den allerdings niemand großartig beachtete.

Ich wollte die Wagentür öffnen, als ich Josephines Stimme hörte.

„Vergess deine Sportsachen nicht“, meinte sie, ohne jegliche Emotionen. Genauso wie ich sie kennengelernt hatte und das nette Mädchen, dass vor ein paar Minuten noch neben mir gesessen hatte, war wie weggeblasen.

„Mach ich nicht“, sagte ich und stieg aus.

Es war wirklich bedauerlich, dass sie jetzt wieder so war wie zuvor. Ich empfand Josephine als einen recht netten Menschen, als sie sich angeregt mit mir unterhalten hatte. Und sogar als jemanden, mit dem man Spaß haben könnte.

„Hey, warte!“, rief sie dann, kurzbevor ich die Tür zuknallte. Ich drehte mich wieder zu ihr um. „Ich wollte dich nur noch schnell fragen, ob die Sache mit dem Autoschlüssel auch bei dir sicher ist? Ich glaube nämlich, Kellan würde durchdrehen, wenn er mitbekäme, dass ich sie ihm geklaut habe.“ Sie sah mich fragend an, doch sonst war ihr Gesicht völlig ausdruckslos und leblos.

„Ja, klar. Das Geheimnis ist bei mir sicher.“

Josephine nickte. „Gut.“ Dann fuhr sie davon und ich konnte gerade noch die Wagentür schließen.

 

Mein Dad hievte gerade einen riesigen Koffer den ersten Stock hinunter, als ich die Haustür öffnete und gleichzeitig meine schwere Tasche an eine Wand des Flures legte.

Mit schmerzerfülltem Gesicht sah er mich an. „Los, komm schnell her und helf mir!“

Ich zögerte nicht, da er wirklich ziemlich leidend aussah und ich diesen Blick einfach nicht ertragen konnte. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass sein roter Kopf jeden Augenblick platzen könnte.

„Das ist aber eine wirklich wundervolle Begrüßung“, bemerkte ich.

„Tut mir leid, aber wir sind gerade etwas im Stress. Zudem wollte deine Mum noch das Haus saugen, aber daraus wird jetzt wohl nichts mehr“, stöhnte er.

Natürlich erwartete mein Dad, dass ich mich jetzt anbot, ihnen zu helfen, doch das tat ich nicht. Der Grund war nicht, weil ich zu müde von dem ganzen Tag war, auch wenn das die Wahrheit war, sonder weil ich einfach keine Lust hatte. Außerdem musste ich unbedingt nachdenken. Über all das, was heute geschehen war und was noch passieren würde. Und dafür verzog ich mich in mein kleines, rosa Zimmer, kurz nachdem der riesige Koffer im Auto verstaut war.

Auf meinem Bett liegend, mit Blick auf die Wand gerichtet, fragte ich mich, wie es nur zu dem jetzigen Zustand gekommen war. Ob es wohl ein Fehler gewesen war, dass wir uns das Tagebuch von Benjamin Wotsford ohne Erlaubnis gekrallt hatten? Oder ob damit alles einfacher geworden war? Oder schwerer? Ob uns diese Situation in Schwierigkeiten bringen mochte, war eine leichte Frage. Die Antwort war ja. Ganz klar und egal, wie man das Blatt drehen und wenden mochte. Es würde uns in Schwierigkeiten bringen. Mit einem Menschen zu reden, der nicht mehr klar bei Verstand war, der einen Elternteil und sein halbes Leben verloren hatte, war ohne jeden Zweifel eine riesige Herausforderung.

Und auf Heaven und meinen Schultern lastete eine große Verantwortung. Das war das, wovor ich am meisten Angst hatte. Dass wir es nicht schaffen würden, mit den beiden Jungs zu reden. Oder dass ich einfach nicht den Mut finden würde, den Plan durchzuziehen. Bei Heaven war ich mir ziemlich sicher, dass sie es schaffen würde, auch wenn ich keine Ahnung hatte weshalb. Das war eben mein Bauchgefühl. Doch ich konnte einfach nicht herausfinde, ob ich es schaffen würde, da eine Art Schranke oder Mauer vor meinen Gefühlen errichtet worden war, die ich nicht überwinden konnte.

 

Es war weit nach Mitternacht, als sich plötzlich meine Zimmertür mit einem Knarren öffnete und zwei schwarze Gestalten meinen dunklen Raum betraten. Erschrocken und mit pochendem Herzen riss ich die Augen auf, beruhigte mich aber sofort, als ich die kleine Frau und den großen Mann erkannte.

Es waren meine Eltern.

„Schläfst du schon?“, flüsterte meine Mum. Jedoch trampelte sie so laut in den Raum, dass ich spätestens jetzt wach gewesen wäre.

„Nicht mehr“, meinte ich und drehte mich in ihre Richtung.

Mein Dad sagte: „Wir wollten uns nur kurz von dir verabschieden.“

„Schon okay.“

Meine Mum gab mir einen Kuss auf die Wange, während mein Dad mir seine Faust hinhielt. Mit meiner Faust berührte ich seine und ich musste mich wirklich überwinden, meine kalten Finger unter der warmen, kuschligen Decke hervorzuholen. Jetzt bedauerte ich es, dass mein Dad schon wieder wegging. Er war schließlich Dienstag erst von seiner Geschäftsreise zurückgekommen.

„Wir kommen Mittwoch in zwei Wochen wieder nach Hause“, erklärte mein Dad.

Ich lächelte. „Das wird bestimmt schön. Viel Spaß.“ Schnell zog ich meine Hand wieder unter die Decke und zog mir den weichen Stoff bis ans Kinn.

Ich konnte erkennen, wie meine Mum grinste, als sie sagte: „Und halte uns auf dem Laufenden.“ Dann fügte sie hinzu: „Jerry Lee und dich, meine ich.“

Mit einem genervten Stöhnen verkroch ich mich unter die warme Bettdecke und versteckte mich vor den beiden. Meine Mum konnte mich wohl nicht mal mitten in der Nacht mit diesem Thema in Ruhe lassen. Das war so typisch für sie.

„Wir melden uns bei dir“, meinte mein Dad und zog meine Mum zum Glück aus dem Zimmer, bevor sie noch Weiteres sagen konnte, dass Jerry Lee und mich betraf.

Donnerstag

 

Der darauffolgende Schultag verging wie im Fluge. Zum einen lag dies daran, da wir die ersten drei Stunden frei hatten und noch dazu der Nachmittagsunterricht ausfiel. In der Pause trafen Heaven und ich uns mit den beiden Jungs, Jerry Lee und Adam. Die beiden fragten natürlich sofort, ob wir auch unsere Sportkleidung und gemütliche Schuhe dabei hätten. Hatten wir. Und auch Jerry Lee, der sein Eigentum noch immer in seinem modernen Apartment hatte, trug eine große Umhängetasche über der Schulter, in der er seine Kleidung mitbrachte. Nur Adam schulterte einen kleinen Schulranzen, in dem sich vielleicht ein paar wenige Bücher und ein, zwei Hefte befanden.

Doch eine sehr erfreuliche Tatsache war, dass Phil sich loyal gegenüber Heaven und auch mir verhielt. Zwar warf er Heaven, wenn sie es nicht bemerkte, sehnsüchtige Blicke zu, doch als plötzlich Olivia auftauchte, hatte er nur noch Augen für sie. Und auch sie fühlte sich ganz offensichtlich zu ihm hingezogen. Das war auch der Grund, weshalb ich mich bestätigen konnte, dass zwischen ihr und Calvin Schluss war. Eigentlich hätte es mir gleichgültig sein können, doch irgendwie freute ich mich für die beiden, von ihren andauernden Lügen erlöst worden zu sein.

 

Das Gefühl die Blicke der anderen Schüler auf unseren Rücken und Gesichtern zu spüren, als wir in die Limousine einstiegen, war genauso cool wie das erste Mal. Man fühlte sich fast schon wie ein Star, der auf dem roten Teppich vor dem Blitzlichtgewitter der Paparazzi in das Auto flüchtete. Naja, aber eben nur fast.

Ich konnte mir schon sehr gut vorstellen, wie alle von uns redeten, weil wir seit neustem von einer Limousine abgeholt wurden. Und noch dazu von einer solchen großen. Man konnte sich schon richtig cool fühlen, wenn man so ein Gesprächsthema der Schule war.

Allerdings fand ich es, obwohl es ziemlich aufregend war von einer Limo abgeholt zu werden, etwas übertrieben. Es hätte auch der Jeep gereicht, in den wir ohnehin gestiegen waren, als wir an der Grenze zum Wald ankamen.

Im Jeep saß wieder Kellan, der uns freudig begrüßte. Und sofort musste ich mich fragen, wer wohl der Fahrer der Limousine war. Und wo er mit ihr hinfuhr, nachdem er uns hier abgesetzt hatte. Der Clan musste ziemlich viel Geld besitzen, damit er sich eine Limousine leisten konnte, die jeden Tag hier in der Stadt herumkurvte. Wieso sie nur so unvorsichtig waren und eine so große Nummer daraus machen mussten, wie wir von der Schule heimkamen, konnte ich einfach nicht verstehen. Allerdings gab es nicht viel daran zu meckern und wenn man schon mal die Chance hatte, in einem solchen Geschoss zu fahren, sollte man es dann nicht auch ausnutzen?

 

Heaven und ich wurden von Desiree in einen kleinen Raum geführt. Nun, um ehrlich zu sein war es nicht wirklich ein Raum. Es war einfach nur ein durch Lumpen erstellter Abschnitt in der riesigen Trainingshalle. Man konnte durch die großen Leinentücher zwar nicht hindurchsehen, doch die Silhouetten der Personen, die sich in dem Abschnitt befanden, konnte man wunderbar erkennen. Und das nur mit normalen, menschlichen Augen. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie der Clan die Dichte des Stoffes betrachtete. Wie eine durchsichtige Plastikfolie, eine Art Duschvorhang?

In dem Abschnitt standen zu meiner Verblüffung ein Schrank mit mehreren Schlössern, wie in einem Schwimmbad und eine einfache Bank. Und als ich das sah, konnte ich mir schon denken, was wir hier machten. Wir sollten uns umziehen.

Ich stellte zögernd meine Tasche auf die Bank und setzte mich. Desiree sah mich fordernd an, während Heaven sich die Schuhe von den Füßen trat.

„Was ist los mit dir? Hast du nichts zum Umziehen dabei?“, fragte sie mich mit freundlicher Stimme.

Ich schüttelte den Kopf und wurde rot. „Nein, das ist es nicht. Ich… nun, ich habe mich gefragt, wie durchsichtig der Vorhang für euer Auge ist“, erklärte ich ihr zögernd.

Sie fing an zu lachen. „Mach dir deswegen keine Sorgen.“

Das erklärte zwar nicht meine Frage, doch weitere konnte ich ihr nicht stellen, da sie schon aus der Umkleide verschwunden war.

„Stell dich nicht so an“, meinte Heaven kichernd, während sie sich die Hose herunter zog. „Uns kann schon keiner sehen.“

„Ja, aber hören. In diesem Sinne ein kräftiges „Hallöchen“ an all die, die unser Gespräch verfolgen“, scherzte ich.

Unerwartete hörte ich ein paar fremde Lachen.

„Oh mein Gott“, flüsterte ich, in dem Hoffen, dies würde niemand hören.

Dann wurde der Vorhang zur Seite gerissen und ich war froh, dass ich mir nur langsam meine Schuhe ausgezogen hatte.

„Hey, Leute“, maulte Josephine uns an. Mir warf sie einen kurzen Blick zu, lächelte allerdings nicht. Aber darüber hätte ich sogar recht froh sein können, da sie Heaven überhaupt nicht beachtete.

Eine Sekunde später wurde die Ecke des Vorhanges kurz gehoben und Sky schlüpfte zu uns. Das Fell der Katze glänzte wunderschön und sie trug ein schwarzes Halsband mit kleinen silbernen Nieten.

„Hallo, Josephine“, meinte ich.

„Hi“, sagte Heaven.

Wir versuchten beide freundlich zu klingen, was uns auch recht gut gelang. Doch eine Antwort bekamen wir trotzdessen nicht. Also beschloss ich mit dem Gespräch zu beginnen, während ich mich langsam aus meinen Kleidern schälte.

„Hast du vor mit zu trainieren?“, fragte ich sie.

„Ja.“ Das war das Einzige, was sie in ihrer gleichgültigen Stimme von sich gab.

„Wieso das denn?“, fragte ich und versuchte, das Gespräch auf dem Laufenden zu halten, was allerdings wirklich schwer war.

„Um genau zu sein“, sagte sie genervt, „Soll ich der Partner von dir sein“, meinte sie und nickte Heaven zu.

„Oh, freut mich!“ Heaven versuchte zumindest erfreut zu klingen.

Josephine sah sie finster an, sagte aber nichts. Sie packte einfach nur ihre Sportsachen aus einer großen Tasche, die sie auf die Bank geknallt hatte, dass sie nur so wackelte.

Gerade stand ich nur in meiner Spitzenunterwäsche in dem Abschnitt und suchte nach meiner Hose, als ich fragte: „Und wer ist mein Partner?“

Und in dem Moment flatterte der Vorhang beiseite und Jerry Lee trat in den Raum.

„Das bin ich!“, rief er und zeigte mit beiden Daumen auf sich und fügte dann hinzu, „Oh, Gott! Ihr seid ja nackt!“ Schnell schlug er sich eine Hand vor die Augen und ich griff mir schützend mein T-Shirt, welches ich in dem Moment aus der Tasche gefischt hatte, als er in die Kabine platzte.

Die zwei anderen Mädchen blieben ganz gelassen, was allerdings daran lag, da sie noch, oder schon etwas anhatten.

„Nun, das hat eben so eine Umkleidekabine an sich“, stellte Josephine sogar etwas belustigt fest.

Ich schlüpfte schnell in mein Oberteil und konnte beobachten, wie Jerry Lee durch seine Fingerschlitze überprüfte, ob ich nun wieder etwas trug. Aber dann drehte er sich schnell um, blieb jedoch im Raum.

„Tut mir echt leid, aber ich konnte ja nicht ahnen, dass ihr… also du, nichts tragen würdest.“

Über diese Aussage war ich irgendwie erleichtert. Denn das bedeutete, dass die Vorhänge nicht durchsichtig waren.

„Schon okay, du kannst dich wieder umdrehen, sie hat wieder etwas an“, grunzte Josephine.

Ich verbarg mein rotes Gesicht hinter meinen Haaren, indem ich meine Schuhe zuband.

„Huch, du bist ja ganz rot im Gesicht“, bemerkte Heaven, sah jedoch nicht mich, sondern Jerry Lee an.

Ich sah zu ihm auf. Jetzt musste ich lachen und die Röte in meinem Gesicht verblasste sofort.

Auch Josephine fand das ziemlich lustig. „Och, das muss dir doch jetzt nicht peinlich sein.“

Jerry Lee sah uns mit zusammengezogenen Augenbrauen und in faltengelegte Stirn an. „Leute, ernsthaft! Ich wollte nur sagen, dass ihr euch beeilen sollt. Thierry ist schon stinksauer, weil ihr erst jetzt gekommen seid.“

Josephine sah ihn ernst an. „Schon klar.“ Sie wackelte vielsagend mit den Augenbrauen.

„Okay, ich geh!“, maulte er sie an und verschwand aus der Kabine.

 

Josephine führte uns in ein weiteres Abteil, das zu meiner Erleichterung so von den anderen abgetrennt war, dass man uns nicht beobachten konnte, während wir uns beim Training blamierten. So waren es also nur noch Josephine, Thierry und Jerry Lee. Aber selbst das reichte mir aus.

Dieser Raum war auch größer als die Umkleidekabine und der Boden war nicht der schmutzige Steinboden, sondern war mit einer dünnen und weichen Matte ausgelegt. Sie war zwar nicht so gemütlich, dass man darauf hätte schlafen wollen, aber trotzdem könnte sie die Schmerzen eines heftigen Sturzes mildern. Und irgendetwas sagte mir, dass ich an diesem Tag sehr oft zu Boden gehen würde.

In der Mitte stand selbstbewusst, mit den Armen auf vor der Brust verschränkt, Thierry Wotsford. Ich hatte gedacht, er wurde bei meinem Anblick anfangen zu lächeln, so wie er es den gestrigen Tag andauernd getan hatte. Aber heute stand er einfach nur da und musterte uns grimmig, was mir irgendwie ein unangenehmes Gefühl einbrachte.

„Da seid ihr ja endlich“, tadelte er und begann auf und ab zu laufen. „Ich dachte ich hätte dir eindeutig gesagt, du solltest die drei an den Haaren herbei schleifen, wenn sie immer noch nicht fertig wären, Jerry Lee.“ Er blieb stehen und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauchen an, die aber trotzdem immer noch ernst und ein bisschen böse wirkten.

„Sie waren…“, begann er.

„Das war eine rhetorische Frage. Ich erwarte nur eine einfach Entschuldigung.“

Neben mir flüsterte Josephine: „Kinder.“ Und ich war mir sicher, dass jeder in diesem Raum ihren Kommentar mitbekommen hatte.

Er ging auf Jerry Lee zu und baute sich vor ihm auf. Genau wie ein Lehrer, vor dem sich jeder Schüler fürchtete. Mit einer Ausnahme.

„Sie waren nackt.“

Für einen winzigen Augenblick ließ Thierry seine ernste Fassade fallen und ich erkannte, dass er etwas belustigt war. Doch dann zog er seine Augenbrauchen zusammen. Er ging ein paar Schritte zurück und stand schließlich wieder auf seiner Ausgangsposition.

Und dann begannen wir mit der Selbstverteidigung.

 

Als ich am Abend in meinem weichen Bett lag, bemerkte ich, wie still es doch im leeren Haus ohne meine Eltern war. Ich fühlte mich sogar ein bisschen einsam und irgendwie hatte ich auch etwas Angst.

Ich weiß, dass das ziemlich abgedreht war, aber man hat trotzdem ein mulmiges Gefühl, wenn man ganz alleine in einem dunklen Zimmer, in einem dunklen Haus war. Die Geräusche, die das Asyl von sich gibt, kommen einem so viel lauter vor als sonst. Und hinter jedem Schatten bildet man sich ein, eine Silhouette einer Person erkennen zu können. Hinter jedem kleinen Knacken des Holzes denkt man, man Fußschritte zu hören.

Man beginnt zu schwitzen und traut sich nicht mehr zu atmen, sich zu bewegen und irgendwann möchte man sich einfach nur noch unter der Bettdecke verkriechen. Aber jedes Mal, wenn man den Mut aufbrachte, um das Licht einzuschalten, erkannte man eine Hose, die wie Beine aussahen, eine Tasche, wie eine zusammengekauerte Person und in dem Moment verschwanden die unheimlichen Schatten einfach, als wären sie nie da gewesen.

Genau so ging es mir gerade. Und ich konnte, obwohl ich hundemüde war, einfach nicht die Augen schließen. Sogar dann nicht, als sie anfingen zu brennen.

Der heutige Tag hatte mich total fertig gemacht. Wie oft ich doch von Jerry Lee auf den Boden geworfen wurde, wenn ich nur einen winzigen Schritt falsch gemacht hatte. Und so oft hatte ich vergessen meine Bauchmuskeln, von denen ich so gut wie keine hatte, anzuspannen. Aber irgendwann hatte ich aufgehört die vielen Stürze mitzuzählen, für welche sich Jerry Lee immer wieder entschuldigte. Noch dazu kam, dass Jerry eindeutig im Vorteil lag, da er ja schon trainiert war und sich mit dem ganzen Zeugs auskannte, im Gegensatz zu mir.

Josephine und er machten aus einem einzigen Grund mit: Sie sollten besser werden. Und das übten sie an Heaven und mir. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die beiden ihre ganze Kraft genutzt hätten, um uns fertig zum machen. Doch am Schluss hatten wir beide sogar ein klitzekleines Lob von den drei Erfahreneren bekommen und Thierry hat gesagt, wir wären nun in der Lage, uns gegen Finn zu verteidigen, auch wenn wir nur ein paar wenige Grundschritte gelernt hatten.

Irgendwann, kurz nach Mitternacht, schnappte ich mir ein paar Kopfhörer und drehte meine Musik auf, um die Geräusche um mich herum zu vergessen. Das funktionierte recht gut, doch kurz bevor ich mich der Traumwelt hingab, stellte ich die Musik ab und konnte wunderbar schlafen.

Freitag

Als ich am nächsten Morgen aufwachte kibbelte mein Bauch vor Aufregung. Ich hielt es schon gar nicht mehr in meinem Bett aus, weshalb ich einfach aufsprang und aus meinem Zimmer rennen wollte. Doch dann hielt ich inne und drehte mich langsam um, mit dem Blick auf mein Fenster gerichtet. Ich machte ein paar Schritte auf es zu und blickte dann nach unten auf die Straße. Ich lächelte sofort, als ich den schwarzen Jeep vor meiner Haustür stehen sah.

In Windeseile rannte ich aus meinem Zimmer ins Badezimmer und putzte mir so schnell ich konnte die Zähne und das Gesicht. Ich kämmte mir meine kastanienbraunen Haare nach hinten und steckte sie zu einem wirren Knoten zusammen. Mein Gesicht schminkte ich schnell und benutzte nur das Wichtigste. Dann sauste ich wieder zurück in mein Zimmer, streifte mir schnell ein Oberteil über den Kopf und schlüpfte in eine unüberlegte Hose. Ich schnappte mir meine braune Wildledertasche und rannte in die Küche. Dort schüttete ich Milch in eine Tasse, wobei die Hälfte danebenging, doch das war mir in dem Moment völlig egal, denn ich wollte so schnell wie möglich in dieses Auto steigen.

Kurz bevor ich die Haustür öffnete, schossen mir hundert Gedanken in den Kopf. Ich konnte alle ausblenden, doch eine brannte sich regelrecht in meinen Kopf: Wird es für immer so bleiben?

 

Ich umschloss den kalten Griff der Autotür und es fühlte sich fast schon so an, als ob ich das schon jeden Tag meines Lebens gemacht hätte. Als ob es ganz normal in meinem Alltag sei, die Tür dieses eigentlich fremden Autos zu öffnen. Aber mal ganz davon abgesehen, dass es überhaupt nicht zu meinem Alltag gehörte, hatte ich es bis jetzt nur ein paarmal gemacht. Und deshalb war ich auch so sehr verwundert, dass es sich jetzt schon so vertraut anfühlte.

„Einen wunderschönen guten Morgen, Kleines“, hörte ich, aus dem Inneren des Jeeps. Es war ganz klar die Stimme von Thierry gewesen und das freute mich. Irgendwie wäre ich sogar etwas traurig und enttäuscht gewesen, wenn es die von Jerry Lee, Adam oder Kellan gewesen wäre.

„Hey“, begrüßte ich ihn und ließ mich auf den schwarzen Sitz nieder. Thierry wollte sich sofort über mich beugen und mich anschnallen, doch ich sagte: „Im Übrigen weiß ich jetzt, wie das funktioniert.“ Ich zeigte auf das Chaos von Gurten, die neben meinem Sitz baumelten und als ich sie sah, war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich es wirklich wusste.

Thierry grinste, immer noch halb über mich gebeugt. „Das freut mich!“

Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass er sich nun wieder zurück in seinen Sitz fallen lassen und von mir ablassen würde, aber das tat er nicht. Stattdessen schnappte er sich die Gurte und legte sie in einem unmenschlichen Tempo an, welches mich etwas erschrecken ließ. Aber es faszinierte mich mehr, als dass es mich ängstigte.

Zum Glück konnte ich sagen, dass die Gurte nicht so eng lagen, wie die anderen Male, als ich mit diesem Monster gefahren war. Mir wurde klar, dass ich dieses Auto immer mit schlechten Erinnerungen sehen würde. Und dann fragte ich mich, ob Thierry sich den Autoschlüssel von Kellan wohl auch geklaut hatte oder ob Josephine ihn ihm gegeben hatte, um unserem sonstigen Fahrer eins auszuwischen. Bei dem Gedanken an sie musste ich irgendwie lächeln.

„Heute ist ein sehr schöner Tag, findest du nicht auch?“, fragte er neugierig und startete den Motor.

Ich blickte aus dem Fenster. Dann sah ich ihn fragend an. „Es sieht aus wie immer“, stellte ich nach kurzem Überlegen fest.

Thierry sah mich mit erhobenen Augenbrauen an. „Was? Nein! Sieh doch, am Himmel scheint die Sonne und der ganze Schnee ist so gut wie weg. Ich will nicht sagen, dass ich keinen Schnee mag, doch wenn ich ehrlich bin kann man schon besser Autofahren, wenn er nicht da ist.“

Ich lachte. „Ja, das ist wohl wahr. Aber sag mal, wie lange hast du bitte vor meinem Haus gewartet? Ich meine, ich bin aufgestanden und du warst schon da.“

„Nicht lange“, meinte er und sah mich mit einem schiefen Lächeln an.

Ich schnalzte mit der Zunge. „Das heißt also, dass du hast ziemlich lange gewartet hast?“, kombinierte ich.

„Das heißt, du darfst es so interpretieren, wie es dir am liebsten wäre“, meinte er und fuhr scharf um eine Rechtskurve. „Hm, du riechst heute äußerst appetitlich. Fast schon zum anbeißen… ach, was rede ich denn da? Es ist zum anbeißen!“, bemerkte er, als ich in seine Richtung gedrückt wurde. 

„Vielen Dank“, sagte ich spielerisch, wurde aber rot und zog mich sofort in meinen eigenen Sitz zurück.

Dann kam sein Blick von der Straße ab und seine Augen versanken in meine. Eine braune Haarsträhne war ihm zwischen seine Augen gefallen. Verdammt waren die schön! Sie waren braun, aber irgendwie auch grün und ein bisschen blau und hatten einen dunklen Ring um die Iris, der nach innen zu verlaufen schien.

Plötzlich hupte ein Auto und unsere Blicke lösten sich ruckartig voneinander.

Ich räusperte mich und sah verlegen aus dem Fenster. „Vielleicht solltest du deinen Blick lieber auf der Straße lassen.“

Er nickte. „Ja und du solltest mich mit deinem Duft verdammt nochmal nicht ablenken“, konterte er und grinste ein bisschen verlegen.

Ich sah ihn stirnrunzelnd an. „Du übertreibst maßlos!“

Thierry schüttelte den Kopf. „Nein, tue ich nicht, wirklich! Aber mal ganz davon abgesehen, kann ich dich bis hierhin riechen. Aber sei unbesorgt, das liegt nämlich an mir, nicht an dir. Naja, ein bisschen liegt es natürlich an dir, aber du weißt ja, dass unsere Sinne etwas ausgeprägter sind, als die von normalen Menschen.“

„Das ist so verdammt cool!“, bemerkte ich.

Thierry lachte laut. „Ja, das ist es. Zu Beginn dachte ich, du würdest uns als Behinderte oder Freaks bezeichnen. Aber du siehst die Sache irgendwie total gelassen.“

„Was? Du denkst, ich hätte euch als Behinderte bezeichnet?“ Ich sah ihn total verstört an. Und im nächsten Moment musste ich mich fragen, was er dachte, was für ein Mensch ich sei.

„Natürlich habe ich das gedacht. Wir hatten, solange ich zumindest bei dem Clan dabei bin, noch nie normale Menschen bei uns. Und um ehrlich zu sein, ich hatte sogar Angst, ihr würdet Selbstmord fabrizieren oder zu totalen Psychos mutieren.“

„Meine Güte! Auf solche Gedanken wäre ich niemals gekommen! Ich wäre eher zu einem Hypnotiseur gegangen und hätte mir eine ordentliche Gehirnwäsche unterzogen, als mich umzubringen“, lachte ich, aber dann fügte ich ernst hinzu, „Aber um ehrlich zu sein, ich bin überhaupt nicht so gelassen, wie ich es von außen scheint. Im Gegenteil! Ich bin immer total aufgeregt, wenn ich sogar nur den Namen eures Clans höre oder euch sehe. Ich meine, sowas Verrücktes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht geseh…“, plötzlich blieben mir die Worte aus irgendeinem Grund im Hals stecken, als ob die Worte irgendwie nicht richtig waren. Ich musste erst schlucken und wich Thierrys besorgtem Blick aus, damit ich weitersprechen konnte. „Doch am meisten habe ich davor Angst, dass ich es nicht schaffen werde mit Finn zu reden. Oder dass ich irgendetwas falsch mache, das unseren ganzen Plan versauen würde.“

Thierry schüttelte neben mir den Kopf. „Nein nein, du kannst unbesorgt sein. Du wirst das ohne Probleme meistern… naja, solange du den Plan einhältst, wird alles gutgehen. Und du musst deine Fragen in- und auswendig wissen. Dann wird das alles wie am Schnürchen laufen.“ Er blickte mir aufmunternd in die Augen.

Ich sah ihn mit einem ist-das-dein-Ernst-Blick an und musste zugeben: „Weißt du, dass mich das überhaupt nicht beruhigt? Zudem haben wir die Fragen noch überhaupt nicht zusammengestellt und so hab ich keine Ahnung, was da auf mich zukommen wird. Am Ende müsste ich hunderte Fragen auswendig lernen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich das schaffe.“

Er nickte mitfühlend. „Ja, ich kann dich verstehen.“

Doch dann erinnerte ich mich daran, dass sich über die Zeit nicht nur seine Sinne, sondern auch seine Intelligenz verbessert hatte. „Nein“, unterbrach ich ihn, „du kannst das überhaupt nicht verstehen. Du musst hier nicht leugnen, dass dir sowas wie Auswendiglernen total leicht fällt.“

Thierry musste ein Grinsen unterdrücken. „Ja, du hast recht. Ich habe nur wage Erinnerungen daran, wie es früher war, als meine Aufnahme- und Abruffähigkeit noch nicht vollständig entwickelt war“, gestand er. „Und ich muss zugeben, dass ich mir einen Block mit hundert Fragen mit nur einem Wimpernschlag merken kann. Ich, beziehungsweise wir, haben eine Art photographisches Gedächtnis. Nur noch besser. Alles was wir in unserem Leben erlebt haben, ist hier drinnen“, er tippte auf seinen Kopf, „für immer gespeichert. Und das von unserer Geburt an. Wobei die Erinnerungen als Säuglinge etwas verschwommen sind, da unsere Gedächtnisse dort noch nicht so ausgeprägt sind, wie die von Kindern oder Jugendlichen.“

Ich sah ihn mit großen Augen an. „Das heißt, alles was du bisher erlebt hast, ist in deinem Kopf gespeichert?“

„Genaugenommen ist das bei jedem Menschen der Fall, jedoch können normale Menschen die meisten Erinnerungen nicht mehr abrufen, da diese ins Unbewusste verschwunden sind. Mit unseren Fähigkeiten können wir das allerdings.“ Er sah mich gelangweilt an und erklärte: „Psychologie.“

Verwirrt sah ich ihn an. „Was meinst du damit, sie abrufen zu können?“

Thierry räusperte sich und sah mich konzentriert an. „Du musst dir mein Gedächtnis wie einen unendlich großen Speicherplatz vorstellen, indem all meine Erlebnisse vorhanden sind – genau wie bei allen anderen Menschen auch. Doch der Unterschied zwischen unseren und euren Gedächtnissen ist, dass ihr viele Erinnerungen verdrängt und sie somit in euer Unbewusstes verschiebt – wie ich gerade schon sagte. Das können wir nicht. Keine von diesen Daten, also unsere Erinnerungen, sind löschbar, das heißt auch die schrecklichsten Dinge kann ich nicht vergessen. Das ist ziemlich nervig.

Aber auf jeden Fall sind all diese Daten nach Datum und Zeit geordnet. Wenn ich mich also auf einen bestimmten Tag konzentriere, sehe ich vor meinem inneren Auge eine Art Digitaluhr, bei der ich eine bestimmte Zeit einstellen kann. Diese „Digitaluhr“ entsteht jedoch nur in meiner Vorstellungskraft und hilft mir dabei, mich auf einen Tag und eine Uhrzeit konzentrieren zu können – sie gibt es also nicht wirklich.“ Plötzlich verschwamm sein Blick leicht. „Wie zum Beispiel jetzt, sehen ich diese Uhr vor mir. Ich stelle mir nun einfach eine Zeit vor und sofort verändern sich die Ziffern der Anzeige. Wenn ich dann sozusagen den „OK-Knopf“ drücke – den es ebenfalls nur in meiner Vorstellung gibt –, sehe ich, was zu dieser Zeit passiert ist, allerdings nicht aus meinen Augen.“

Meine braunen Augen wurden immer größer, genau wie die Öffnung meines Mundes. „Und… und was siehst du jetzt?“

Er schloss die Augen und sah mich dann wieder mit unverkennbarem Blick an. „Ich habe gerade gesehen, wie ich, genau vor einem Jahr, in einem wunderschönen Restaurant sitze, einen Kaffee schlürfe und gedankenverloren aus dem Fenster blicke.“

Ich begann wie ein kleines Kind zu strahlen. „Das ist genial!“

Thierry verzog den Mund. „Nur teilweise. Ich meine, wenn ich an eine bestimmte Szene denke, sehe ich sie genau vor Augen. Und wie du sicher weißt, würde man schreckliche Erinnerungen lieber vergessen. Doch so funktioniert unser Gedächtnis natürlich nicht. Genau diese Erinnerungen bleiben erstrecht bestehen und quälen uns ein Leben lang.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und sah grübelnd aus dem Fenster.

„Hey, was genau meintest du damit, dass du alles aus anderen Augen sehen würdest?“, fragte ich jetzt neugierig.

Er sah stirnrunzelnd aus dem Autofenster.

„Was ist?“, fragte ich ihn.

Thierry sah mich an. „Nichts. Ich überlege gerade nur, wie ich es am besten beschreiben kann… Also, ich sehe es nicht aus meine Sicht, sondern… ich weiß nicht, wie eine Kamera, die uns filmte oder wie ein Schaulustiger, der damals in meiner Nähe war.“

Jetzt ging bei mir ein Licht auf. „Ach so! Wie eine Art Film von dir?“

Er grinste. „Ja, ganz genau so!“ Dann sah er wieder auf die Straße, allerdings hatte er jetzt einen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der ihn einfach nur glücklich aussehen ließ.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich angefangen hatte ihn zu beobachten. Er allerdings schon.

„Wieso starrst du mich so an?“, fragte mich Thierry.

Ich sah sofort von ihm weg und auf die Straße. „Tut mir leid. Ich finde es nur wahnsinnig toll von dir, dass du mir das alles erzählst.“

„Ja, es tut gut darüber zu reden. Ich habe ja sonst niemanden, dem ich so etwas erzählen kann, weil alle die ich sonst kenne, genauso sind wie ich. Und dafür musst du dich nicht entschuldigen.“ Dann fing er an zu grinsen. „Ich meine, ich kann es dir kaum verübeln, dass dich meine Schönheit so fasziniert“, meinte er und fuhr sich gespielt durch seine Haare.

Ich gab ihm einen Stoß gegen die Schulter und grinste.

„Wie bitte?“, fragte er, „Wolltest du mich gerade schlagen? Das hat sich eher angefühlt wie eine zarte Streicheleinheit.“ Gerade fuhren wir auf das Gelände der Schule. „Aber wenn du möchtest, können wir nach der Schule damit weitermachen… aber dieses Mal auf meine Art.“ Er wackelte schelmisch mit den Augenbrauen.

Ich konnte einfach nicht anders als zu grinsen. Mit der flachen Hand tätschelte  ich ihm seine Wange und sagte: „Träum weiter, Süßer.“ Dann öffnete ich die Autotür, um auszusteigen. „Und vergiss nicht: Ich kann Selbstverteidigung!“ Mit den Händen machte ich eine Bewegung, die nach einer chinesischen Kampfsportart aussehen sollte und anschließend zeigte ich mit Mittel- und Zeigefinger auf meine Augen und dann in Thierrys Richtung. Er fing an zu lachen, ich schlug die Tür zu und er fuhr davon.

 

Zu meiner Überraschung entdeckte ich Heaven und Adam vor dem Haupteingang stehen, wie sie miteinander redeten und sich suchend umsahen. Sie bemerkten mich erst, als ich kurz vor ihnen stand.

Heaven meinte gerade: „Ich kann sie nicht… Ah, da ist sie ja!“, und rannte auf mich zu. Adam folgte ihr in einem lässigen Gang. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug wie üblich seine Schnürstiefel.

„Hallo!“, begrüßte ich die beiden und wurde in Heavens Arme geschlossen.

Zu meiner Verwunderung tat es Adam ihr gleich. „Hey, wo hast du denn Jerry Lee gelassen?“, lachte er.

Ich sah ihn verwirrt an – mal ganz davon abgesehen, dass ich durch seine Umarmung eh schon verwirrt war. „Ich hab ihn heute noch überhaupt nicht gesehen“, erzählte ich ihnen.

„Und wie bist du dann zur Schule gekommen? Er hat gesagt, er würde dich abholen.“

Da musste ich grinsen, versuchte es aber nicht zu zeigen, indem ich meine Lippen aufeinander presste.

Durch Adams Aussage erklärte sich nämlich plötzlich, weshalb Thierry so früh vor meinem Haus stand. Er wollte nicht, dass Jerry mich fuhr.

Ich räusperte mich und sagte zögernd: „Ähm… Thierry hat mich gefahren.“

Adam fasste sich an die Stirn. „Okay, das hätte ich mir echt denken können.“ Er schüttelte den Kopf und erzählte dann: „Thierry hätte Jerry gestern beim Essen fast an den Haaren über den Tisch gezogen und hätte ihn verprügelt, als er meinte, dass er dich zur Schule fahren würde. Das würde auch erklären, weshalb ich Thierry heute noch nicht gesehen habe und um vier Uhr morgens Flüche aus dem Badezimmer kamen.“

Irgendwie fand ich es verdammt süß von Thierry, dass er extra wegen mir so früh aufgestanden war, nur um mich in die Schule zu fahren. Naja oder um Jerry Lee eins reinzuwürgen.

Gerade hatten wir beschlossen ins Klassenzimmer zu gehen, als wir Rufe hörten.

„Hey Leute, wartet auf mich!“ Es war Jerry Lee und er sah verdammt wütend aus.

Ich dachte schon, er würde auf uns zu rennen, um uns in winzige Stücke zu zerreißen. Vor allem mich, auch wenn ich überhaupt nichts dafür konnte, dass Thierry mich abgeholt hatte. Okay, es hätte mich wundern sollen, dass er so früh vor meiner Haustür stand, aber so weit hatte ich nun auch nicht gedacht. Eigentlich hatte ich überhaupt nichts gedacht, außer, dass ich so schnell wie möglich aus dem Haus wollte. Vielleicht weil es sich so verdammt einsam anfühlte, ganz alleine zu sein.

Ich war gerade dabei die schwere Glastür zu öffnen, um in unsere moderne Schule einzutreten, als Jerry Lee mit einem Danke an mir vorbeibrauste. Das „Danke“ war allerdings dafür, dass ich ihm die Tür aufhielt. Okay, vielleicht war er ja doch nicht so schlecht gelaunt. Allerdings drehte er sich nach ein paar Metern wieder zu uns um. Also, besser gesagt, zu mir.

„Darf ich fragen, wie du zur Schule gekommen bist?“ Jerry sah mich abwartend mit erhobenen Augenbrauen an.

„Ich wurde gefahren“, sagte ich, vielleicht um Thierry zu schützen.

„Von Thierry, richtig? Ich werd diesen Kerl umbringen!“

Adam klopfte ihm von hinten auf die Schulter. „Hey, nehm es mir nicht übel, aber Thierry könnte dich mit einer Hand zerquetschen!“

Heaven und ich lachten laut.

Jerry Lee schüttelte den Kopf. „Ich bin nur so verdammt sauer, weil ich einen Umweg fahren musste.“

„Schon klar“, murmelte Adam und bekam dafür die Faust von Jerry Lee zu spüren. Allerdings nur auf den Oberarm. Und Adam lachte auch nur, es endete also nicht wie vor ein paar Tagen in der Aula.

„Sagt mal, seit wann versteht ihr euch denn wieder so gut?“, fragte in dem Moment meine beste Freundin und sah die beiden Jungs neugierig an. Das war eine wirklich interessante Frage. Bis jetzt hatten sich die beiden mies verstanden und es hatte den Anschein, als würden sie sich jeden Augenblick aufeinander stürzen.

Die beiden lachten und die Wut von Jerry Lee war wie weggeblasen.

„Naja, der Direktor hat bei uns zu Hause angerufen…“

„… und wir haben von unseren Trainern einen auf den Deckel bekommen“, vollendete Adam seinen Satz.

„Und deshalb seid ihr jetzt wie beste Freunde?“, fragte ich.

Jerry Lee drehte sich im Laufen vor mir um, sodass er mich ansehen konnte. „Uns wurde gesagt, wenn wir uns nicht endlich vertragen würden, würden wir so lange in einen leeren Raum eingesperrt werden, bis wir zur Vernunft kämen.“

„Ist das dein Ernst?“ Heaven sah ihn misstrauisch an.

Jerry Lee lachte, gab dann aber zu: „Nein. Aber wir sollen uns einfach zusammenreißen und nicht auf „Kindergarten“ machen. Unsere Trainer meinten, wir seien keine Kleinkinder mehr und sollten uns nicht so anstellen, weil wir ja Kerle sind.“

Heaven lachte. „Was? Ihr wollt Kerle sein? Ihr seid die totalen Memmen!“, rief sie. Daraufhin wurde sie von Adam durch die ganze Aula gejagt, während Jerry Lee und ich lachend zu unseren eigenen Klassenzimmern gingen.

 

Nach den ersten drei Stunden hatten wir vier uns in der Pause verabredet. Jerry und Adam wurden früher aus ihren Unterrichten gelassen, weshalb sie vor unserem Klassenzimmer warteten. Ich konnte es kaum erwarten den Erdkundesaal zu verlassen, weshalb ich die allererste, gefolgt von Heaven, war, die den Raum regelrecht heraus stürmte.

Jerry Lee und Adam lehnten beide an der Wand direkt gegenüber der Tür, doch als sie uns sahen, kamen sie gleich auf uns zu.

„Hey, Leute“, sagte ich und lächelte sie beide an. Ich musste während des Unterrichts feststellen, dass mir die heutige Fahrt den Tag absolut versüßt hatte, da ich ununterbrochen den Stimmen der Lehrer folgte.

„Da seid ihr ja endlich. Wir warten hier schon eine halbe Ewigkeit!“

Heaven stöhnte. „Tut uns wirklich wahnsinnig leid, Jerry Lee, dass wir den Unterricht nutzen, um etwas zu lernen“, sagte sie.

„Nun gut, kommt schon! Wir haben eine Bank mit unseren Taschen und Jacken besetzt. Allerdings kann man sich auf diese Schüler hier nicht verlassen und ich hoffe für, dass die Bank immer noch frei ist“, bemerkte Adam und zwinkerte uns zu.

Der Platz war noch frei, doch Heaven schickte Jerry Lee gleich los mit dem Satz, er solle ihr einen Kaffee bringen, da sie vor Müdigkeit fast einschliefe. Er hatte zwar etwas herum gemault und protestiert, sie solle selber gehen und warum sie nicht ihren Freund schicke, war dann aber doch so gnädig und stand schließlich auf.

Kaum war er gegangen, kam ein Mädchen mit dunkelbraunen Haaren auf uns zu und fragte: „Hey, ist der Platz hier noch frei?“

Erst nickten wir nur, doch dann sah ich sie mir genauer an. Ich hatte sie noch nie zuvor an unserer Schule gesehen und das musste schon etwas heißen, denn ich kannte hier eigentlich jedes Gesicht. Sie war eindeutig neu, was auch der Grund war, weshalb sie ganz alleine war.

Ich beugte mich ein Stück über Heaven und fragte das Mädchen: „Bist du neu hier?“ Ich weiß, dass das vielleicht etwas aufdringlich war, aber ich war eben neugierig. Außerdem konnte sie so gleich neue Freundschaften schließen.

„Ja, wieso fragst du?“, entgegnete sie mir mit einer Gegenfrage.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber ich hab dich hier noch nie gesehen.“

Sie nickte und dann sagte sie: „Das ist mein erster Schultag.“ Sie lächelte etwas schüchtern.

„Oh, cool! Ich bin Molly Noel, aber du kannst auch nur Molly sagen. Das sind meine Freunde Heaven und Adam.“ Ich zeigte auf die beiden, die unser Gespräch aufmerksam verfolgt hatten.

„Hey“, sagten Heaven und Adam wie aus einem Munde und nickten dem Mädchen zu.

„Hi, ich bin Bethany Pommeroy“, sie lächelte freundlich, „freut mich euch kennenzulernen.“

„Und wie ist so dein erster Eindruck?“, fragte jetzt Heaven, die ebenfalls neugierig geworden war.

Bethany zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Scheinen ganz nette Leute hier zu sein.“ Sie grinste uns an und damit konnten wir verstehen, dass sie eindeutig uns meinte. „Und die Lehrer sind auch ganz in Ordnung. Im Großen und Ganzen gefällt es mir.“

„Das ist schön zu hören. Wo kommst du denn her?“, fragte ich.

Sie lachte und ihre dunklen Augen glänzten. „Oh, von überall.“

Heaven und ich sahen sie stutzig an. War diese Bethany jetzt verrückt geworden?

„Wie meinst du das?“, fragte Adam.

„Naja, meine Eltern, meine vier Geschwister und ich sind bis jetzt um die ganze Welt gereist. Jetzt wollen wir eine Pause einlegen und sind hier gelandet. Also dachten sie sich, dass sie uns an einer Schule anmelden. Ich war zuvor noch nie an einer Schule, weil ich immer nur von meinen Eltern unterrichtet wurde und die Zeit, die wir an Land verbracht haben, war zu kurz, um mich an einer Schule anzumelden. Genau wie meine Geschwister, aber die sind nicht an dieser, weil sie erst in die erste und zweite Klasse gehen.“

„Du warst noch nie an einer Schule?“, frage ich mit großen Augen.

Sie schüttelte lachend den Kopf. „Nein, noch nie. Aber wie gesagt, bis jetzt ist es hier recht schön.“

Heaven schüttelte den Kopf. „Bleib ein, zwei Wochen hier, dann wird sich deine Meinung ganz schnell wieder ändern, glaub mir.“

Bethany lachte und begann mit ihren dunkelbraunen Haaren zu spielen.

„Und du hast tatsächlich vier Geschwister?“, fragte Adam neugierig.

„Ja, das hast du schon richtig verstanden. Es sind zwei Mal Zwillinge! Ich fühle mich als Einzelnes manchmal etwas ausgeschlossen, aber es ist meistens immer was los“, sie lächelte, „Vor allem wenn man tagelang auf einem Schiff um die halbe Welt segelt.“

„Wow, das ist echt beeindruckend!“, bemerkte Heaven und in dem Moment kam Jerry Lee auf uns zu.

Sobald er Bethany entdeckt hatte, wäre er fast gestolpert und hätte den Inhalt der Becher in seinen Händen auf uns gekippt. Die neue Schülerin kicherte und wurde rot, da sie ganz genau wusste, dass es ihretwegen war.

„Hey, Jerry Lee, das ist Bethany. Bethany, das ist Jerry Lee“, stellte ich die beiden vor.

„Hallo“, brachte er gerade so zustande.

„Hey, Jerry Lee“, sagte sie immer noch kichernd.

Er gab uns jeden einen Becher, was mich wunderte, da er uns auch welche mitgebracht hatte. Dann sah er Bethany an. „Tut mir leid, ich hätte dir auch einen mitgebracht, wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist.“

Bethany lächelte und wurde fast dunkelrot. Ihr Gesicht musste glühen. Sie hatte einen dunkleren Teint und dass man ihre Röte sehen konnte, war echt erstaunlich.

„Schon okay, ich brauche nichts.“

Jerry Lee sagte nichts, sondern sah sie einfach nur an. Heaven und ich stupsten uns unauffällig an und wackelten mit den Augenbrauen. Den hatte es echt erwischt!

Und sogar Adam bemerkte es, allerdings musterte er Jerry nicht so begeistert, wie meine Freundin und ich ihn.

„Bethany ist neu an der Schule… Ich weiß, dass du noch nicht so lange hier bist, aber vielleicht möchtest du ihr ja das Gebäude zeigen?“, fragte ich ihn.

Erst verstand er gar nicht, dass ich ihn meinte und ein paar Sekunden später sah er mich an. „Äh, ja, klar! Auf jeden Fall!“ Er stand auf und es sah so aus, als wollte er ihre Hand nehmen, konnte sich aber gerade noch beherrschen.

„Oh, ja. Das wäre toll! Die Schule ist echt verdammt groß.“

„Nein, wenn man sich erst mal eingelebt hat, ist sie wie deine Westentasche. Und zugleich die Hölle“, meinte Heaven.

Bethany strahlte uns, immer noch mit einem hochroten Kopf und glänzenden Augen, an. „Das ist schön zu hören. Also… vielleicht bis später?“, fragte sie.

„Auf jeden Fall!“, meinten Heaven und ich wie aus einem Munde.

Adam sagte nichts.

Als die beiden verschwunden waren fragte Heaven ihren Freund, die sofort gemerkt hatte, dass etwas mit ihm nicht stimmte: „Hey, was ist los mit dir?“

Adam sah sie erschrocken an, als ob sie ihn aus einem Tagtraum geweckt hatte. „Was? Ach, nichts.“ Er stand auf und fügte dann hinzu: „Wir sehen uns später.“

„Was zum Teufel war das denn?“, fragte ich verwirrt, als er außer Hörweite war – zumindest dachte ich, dass er nun weit genug entfernt war.

Heaven schüttelte nachdenklich den Kopf und sah ihrem Freund nach. „Ich hab keine Ahnung.“ Dann sah sie mich wieder aufgeregt an. „Aber eine viel wichtigere Frage ist ja wohl: Was war mit Jerry Lee!“

Ich kicherte und Adam war vergessen. „Es sah so aus, als würde sie ihn mit einem Bann an sich fesseln.“

„Das Gleiche hab ich auch gedacht. Hast du gesehen, dass er fast gestolpert wäre? Obwohl er sonst doch total geschickt ist!“

Ich nickte und musste an die Situation denken, als wir uns vor Mr White im Schrank versteckt hatten. „Sowas von! Und Bethany ist total rot geworden, als sie ihn nur gesehen hatte.“

Heaven kicherte. „Okay, das muss ich jetzt einfach sagen. Ich hab von Anfang an gedacht, dass aus euch beiden etwas werden könnte. Schon deshalb, weil er eifersüchtig auf Thierry war, weil er dich zur Schule gefahren hat. Aber jetzt, als er sie kennengelernt hat, hat sich das eindeutig geändert.“

Plötzlich stockte mir der Atem und ich spürte einen Stich in einem Herzen. Sie hatte recht. Er hatte sich die ganze Zeit über für mich interessiert und ich hab das völlig ignoriert. Er hatte sich die meiste Zeit zwar ziemlich bescheuert benommen, mir und Thierry gegenüber, aber in gewisser Weise konnte er dafür überhaupt nichts. Es war meine Schuld gewesen. Weil ich mich noch viel mehr daneben benommen und nicht erkannt hatte, was er für mich empfand.

Ich schluckte schwer.

Aber damit war es jetzt vorbei. Denn er hatte jetzt Bethany kennengelernt und seit der ersten Sekunde an nur noch Augen für sie gehabt. Er hatte mich überhaupt nicht beachtet. Und jetzt, wo ich darüber nachdachte, hatte er das sonst immer. Er hatte darauf geachtet, wo ich mich hinsetzte, um sich neben mich zu setzten. Und er hat jede Gelegenheit ergriffen, um mit mir Zeit zu verbringen, denn er hat mir immer angeboten, mich nach Hause zu fahren. Und jetzt erklärte sich auch, weshalb er sich mit mir getroffen hatte, um mit mir das Gedicht zu lernen. Er war von der ersten Minute an, seit wir uns kannten an mir interessiert, auch wenn er versucht hatte, das zu verleugnen. Wahrscheinlich wegen des Geheimnisses, um es zu schützen. Denn wäre er mir näher gekommen, hätte ich es irgendwann erfahren. Aber so wie es aussah, war es ihm irgendwann egal geworden und er hat sich mit mir getroffen. Hätte ich nur mehr auf ihn geachtet, dann wäre mir das aufgefallen.

So ein Mist!

Plötzlich brannten meine Augen und ich konnte die aufsteigenden Tränen schon kommen sehen.

Ich stand schnell auf und sagte zu Heaven: „Ich geh schnell auf die Toilette.“ Den Kaffeebecher ließ ich fast unberührt auf der Bank stehen.

Heaven wollte aufstehen und mitkommen, doch ich war schon weg. Ich rannte den Weg zum Klo. Ich wollte auf keinen Fall von irgendjemand heulend gesehen werden. Das wäre zu peinlich gewesen.

Ich schaffte es rechtzeitig in eine Kabine und schloss mich ein. Dann brach der Damm und die Tränen flossen mir nur so die Wangen herunter. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, woher diese Gefühle plötzlich kamen. In meiner Brust spürte ich nur ein Stechen und in meinem Magen lagen ein Zentner Steine.

Als ich nicht mehr die Kraft zum Stehen hatte, klappte ich den dreckigen Klodeckel hinunter, setzte mich darauf, schnappte mir das billige Klopapier und schnäuzte mir die Nase, die wie nochmal was lief. Ich hoffte inständig, dass mich keiner hörte, obwohl ich noch nicht einmal wusste, weshalb ich so weinte.

Doch dann dachte ich genauer darüber nach und mir fiel die Antwort ganz klar ein: Ich wollte Jerry Lee zurück!

 

Als ich nach dem ersten Gong die Toilette verließ, war ich unendlich froh, dass ich mich heute Morgen so gut wie nicht geschminkt hatte. Ansonsten wäre mir die Schminke die Wangen regelrecht hinunter geströmt. Man hätte nur an meinen etwas geröteten Augen erkennen können, dass ich geweint hatte. Aber nachdem ich mich mit etwas Puder zurechtgemacht hatte, sah man nichts mehr davon. Trotzdem versuchte ich die Blicke der anderen Schüler zu meiden, denn ich konnte mir vorstellen, dass sie merkten, wie durch den Wind ich war.

Vor dem Klassenzimmer warteten Heaven und Jerry Lee auf mich. Und zu meiner Verwunderung entdeckte ich Bethany neben den beiden stehen. Sie lächelte mich an, als sie mich kommen sah.

Ich hatte dieses Mädchen jetzt schon satt!

„Hey Molly, ist es nicht fantastisch, dass Bethany in unseren Deutschkurs geht?“, fragte mich Jerry Lee total munter. So hatte ich ihn noch nie gesehen.

„Ja, wirklich ganz toll“, sagte ich, ohne jegliche Emotionen. Selbst eine Fahrt mit Thierry hätte meine schlechte Laune nicht heben können. Ich war am Boden zerstört und es fühlte sich einfach mies an, ihn neben diesem Mädchen stehen zu sehen. Ich wollte noch nicht mal ihren Namen denken, geschweige denn ihn aussprechen.

Bethany. Bethany!

Je öfter ich ihn dachte, desto wütender wurde ich. Und als ich dann auch noch Jerry Lee in die Augen sah, wurde ich tottraurig. Und keiner von ihnen merkte, wie ich anfing Bethany zu hassen.

Nicht mal Heaven. 

Ich war so froh im Unterricht alleine neben Jerry Lee zu sitzen.

Ich lehnte mich ein Stück zu ihm herüber. „Hey, ich fand es übrigens verdammt nett von dir, dass du uns heute in der Pause einen Kaffee gebracht hast.“ Ich lächelte ihn an und klimperte mit den Wimpern.

Er sah mich nur kurz an und zuckte er mit den Schultern. „Kein Problem.“ Dann richtete er wieder seine Augen nach vorne, wo Bethany vor der ganzen Klasse stand.

Mrs Appletree sagte in dem Moment: „Jerry Lee ist übrigens ebenfalls erst seit ein paar Tagen an unserer Schule.“ Sie deutete in seine Richtung und als sich seine mit Bethanys Augen vereinten, lächelte er sie an.

„Ja, ich weiß, wir haben uns schon etwas kennengelernt“, erzählte sie und grinste dümmlich. Zumindest fand ich, dass es so aussah.

Unsere Lehrerin klatschte in die Hände. „Das ist ja wunderbar!“, rief sie. Ich selbst konnte mir nichts Schrecklicheres vorstellen. „Dann ist es doch eine grandiose Idee, wenn du dich neben ihn setzen wirst. Ich hoffe dass ihr nichts dagegen habt?“, fragte sie die beiden.

Naja, nichts Schrecklicheres, außer mehrere Stunden in der Woche mit ihr im Unterricht verbringen zu müssen.

Hallo, und was ist mit mir?, dachte ich. Werde ich denn gar nicht mehr nach meiner Meinung gefragt?

Aber beide waren mit dieser Idee einverstanden.

„Das ist großartig“, meinte Mrs Appletree. „Dann schnapp dir diesen Einzeltisch, den ich dir extra besorgt habe, und schieb ihn dir neben seinen.“

„Vielen Dank“, sagte sie und wollte den Tisch neben Jerry Lees schieben. Doch dieser sprang auf und half ihr dabei.

Am liebsten wäre ich ebenfalls aufgesprungen und hätte dieser eingebildeten Bethany das Hirn weggepustet. Was dachte sie wär sie sei, den Platz neben Jerry Lee zu beanspruchen. Im hintersten Eck meines Kopfes sagte mir eine Stimme, dass sie nichts dafür konnte, dass ihr der Platz angeboten wurde, doch diesen Gedanken schob ich so schnell ich konnte bei Seite.

„Das ist lieb von dir“, sagte Bethany gerade zu Jerry Lee. Dann lächelte sie mir zu. „Hi Molly!“

Von vorne sagte unsere Lehrerin: „Oh, ihr habt euch auch kennengelernt!“ Sie war total aus dem Häuschen.

Ich unterdrückte mir die Bemerkung „Ja, leider!“, nickte und versuchte ein nicht ganz verrutschtes Lächeln aufzubringen.

Kaum begann Mrs Appletree mit dem Unterricht, stützte Jerry Lee seinen rechten Arm auf den Tisch und drehte sich zu Bethany um, um mit ihr zu reden. Es war so, als ob er eine Art Grenze zwischen mir und ihm errichtet hatte, indem er mir einfach den Rücken zuwandte.

Die beiden lachten und redeten zehn Minuten lang, dann wurde mir das Ganze zu blöd. Ich klopfte Jerry Lee unsanft auf den Rücken. Erst drehte er sich gar nicht zu mir um und ignorierte mit völlig. Dann schlug ich ihn schon fast.

„Was soll das?“, fragte er und drehte sich langsam zu mir um.

„Könntet ihr bitte die Klappe halten, ich möchte gerne dem Unterricht folgen können, ohne von euch gestört zu werden“, maulte ich die beiden schnippisch an.

Das war zwar durch und durch gelogen, weshalb ich auch einen stirnrunzelten Blick von Jerry Lee einfing, aber ich hielt es einfach nicht aus, die beiden reden zu hören. So wie sie miteinander sprachen, hatten Jerry und ich es noch nie getan. So… vertraut. Aber das Schlimmste an der jetzigen Situation war: Wir hatten eine Doppelstunde und das bedeutete, dass ich sie ganze neunzig Minuten ertragen musste.

Am liebsten hätte ich meine Sachen zusammengepackt und wäre aus dem Fenster gesprungen.

Naja, die Klassenzimmertür hätte auch gereicht.

 

Als wir zu fünft das große Schulgebäude verließen, konnte ich die glänzende Limousine schon von Weitem entdecken. Natürlich warfen einige Schüler immer noch beeindruckte und auch neidische Blicke auf uns, aber es waren eindeutig  weniger geworden. Und ja, wir waren zu fünft, weil Bethany Jerry unbedingt begleiten wollte. Und als sie die Limo sah, reagierte sie auch nicht anders, als die ganzen Schüler.

„Heilige…!“, sagte sie, „Seht euch mal die Limo an!“

Alle lachten. Außer ich.

„Wieso lacht ihr? Wem gehört die?“, fragte sie uns.

Jerry Lee erklärte: „Nun, sie gehört nicht wirklich uns, aber wir werden von ihr abgeholt.“ Dann fügte er nach einer kurzen Pause, in der Bethany ihn mit großen, braunen Augen anstarrte, hinzu: „Wenn du möchtest können wir dich nach Hause fahren?“

Ich starrte ihn, ebenso wie Bethany, mit offenem Mund an. Wie kam er darauf, sie so etwas zu fragen? Er kannte sie doch überhaupt nicht!

„Ist das dein Ernst?“, fragte die Neue. Sie sprach mir aus der Seele. Vielleicht war sie ja doch nicht so bescheuert.

Ach Quatsch, rief ich mir ins Gedächtnis, sie ist bescheuert!

„Klar, wenn du möchtest“, meinte er.

Sie lachte. „Soll das ein Witz sein? Ich bin noch nie in einer Limousine gefahren. Natürlich möchte ich mitfahren… Allerdings“, meinte sie und erklärte, „ich kann leider nicht. Meine Mum wollte mich abholen und mit der ganzen Familie essen gehen.“

Jerry Lee machte ein trauriges Gesicht. „Das ist sehr schade.“

Ich blies erleichtert die angehaltene Luft aus und wollte schon Freudenspringe veranstalten. Weitere Minuten hätte ich es mit ihr wirklich nicht ausgehalten. Zumindest mit ihr und Jerry Lee zusammen. Vielleicht hätte ich dann wirklich Selbstmord begangen, so wie es Thierry gesagt hatte. Am liebsten hätte ich mir in den Hintern gebissen, dass ich es war, die sie angesprochen hatte. Hätte ich gesagt, der Platz wäre besetzt, wäre sie weitergegangen und Jerry hätte sie nicht zu Gesicht bekommen… Zumindest bis zur Deutschstunde.

„Ja, aber vielleicht ein anderes Mal“, meinte sie im Gehen und winkte uns allen zu.

Hoffentlich nicht, dachte ich.

Als wir ins Auto stiegen, grinste Jerry Lee total dämlich vor sich hin, weshalb ich seinen Kopf am liebsten gegen die Fensterscheibe geschlagen hätte. Aber dann hätten alle gefragt, was das sollte und ich hätte mir eine Ausrede einfallen lassen müssen, weil ich auf keinen Fall wollte, dass Adam das herausbekam. Heaven hätte es erfahren können, aber ihr Freund auf keinen Fall. Wobei die Wahrscheinlichkeit, wenn Heaven es wüsste, ziemlich gering war, dass sie es Adam verschweigen würde – oder könnte. Also erzählte ich es lieber keinem und ließ den Versuch, Jerry Lee zu verprügeln, lieber bleiben. Das war es einfach nicht wert.

Da ich Jerry Lee allerdings zurück haben wollte, war ich natürlich als Letzte eingestiegen und habe mich direkt neben ihn gesetzt. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wie ich am besten ein Gespräch mit ihm hätte aufbauen können, weshalb ich ihn immer nur anlächelte, wenn er mich ansah. Beziehungsweise, wenn er mich ansah, weil er gemerkte, dass ich ihn beobachtet hatte. Sonst sah er stur aus den getönten Fensterscheiben und musterte mich keines Blickes.

Als wir das Auto wechselten und zu Kellan in den Jeep stiegen, saß ich nicht mehr neben ihm, sondern neben Heaven. Ich war ziemlich traurig, nicht in seiner Nähe zu sein, denn im Jeep auf den hinteren Plätzen war es so eng, dass es unvermeidlich war, sich zu berühren – und somit seinen Geruch zu inhalieren.

„Wie war der Schultag“, fragt Kellan so, als ob es ihn wirklich interessierte.

„Wie immer“, meinten Heaven und ich aus einem Munde.

Adam brummte nur: „Hm.“ Worauf sich keiner denken konnte, was das nun bedeutete.

Und Jerry Lee sagte freudig: „Schön!“

Daraufhin sah ihn Kellan stirnrunzelnd an. „Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte er ihn.

„Ja“, meinte er und fügte hinzu, „Wieso denn nicht?“

Kellan zuckte mit den Schultern und meinte: „Seit wann ist Schule schön?“

Heaven kicherte. „Seit er ein Mädchen kennengelernt hat.“

Plötzlich wurde Kellan ernst. „Tatsächlich?“

Jerry Lee sah gedankenverloren aus dem Fenster. „Mach dir keine Sorgen. Ich muss zuvor eh noch mit Benjamin reden.“

Kellan nickte. „Eine gute Idee.“

Wieso sollte er mit Benjamin reden? Musste er sich die Erlaubnis holen, um mit Bethany – was für ein bescheuerter Name war das eigentlich? – befreundet sein zu dürfen? Oder wollte er mehr als nur Freundschaft? Das durfte ich auf keinen Fall zulassen! Aber jetzt mit ihm zu reden und zu flirten war keine gute Idee, da alle anderen zuhören konnten. Ich musste mit ihm alleine sein. Die Frage war nur wann.

 

Zu meiner Überraschung stand jemand neben dem Steinbrunnen, wie ich erkannte, als wir aus dem Jeep stiegen. Doch erst als wir uns den Tannen näherten bemerkte ich, dass es Thierry war. Er lächelte keinen von uns an, sah aber auch nicht böse aus.

„Hey, Leute“, meinte er und nickte uns zu. Dann streiften seine Augen zu mir. Sie fingen an zu glänzen, aber sonst sagte er nicht.

„Was machst du hier außen“, fragte ihn Kellan neugierig, während er sich mit Jerry Lee auf den Boden des Brunnen stellte, der ganz langsam herunter fuhr.

Thierry zögerte die Antwort etwas heraus, dann sagte er aber: „Ist das verboten?“

Von unten kam allerdings keine Antwort mehr, da die beiden schon durch die Tür verschwunden waren. Natürlich konnten sie sich trotzdem noch hören.

Als der Boden wieder oben war, half Adam Heaven nach oben und die beiden waren kurz darauf verschwunden.

Das bisherige Schweigen war kaum auszuhalten, weshalb ich irgendetwas sagen wollte. „Wie geht…“, wollte ich sagen, doch Thierry hielt sich den Zeigefinger vor den Mund und ich verstummte sofort. Dann zeigte auf den Boden und anschließend auf sein Ohr. Das gab mir zu verstehen, dass die Leute unter der Erde uns hören konnten und er es ganz offensichtlich nicht wollte. Sollte das heißen, dass er nicht wollte, mit mir redend erwischt zu werden? Okay, was heißt erwischt? Das klang schon so, als wäre es verboten. War das nicht total hirnverbrannt?

Aber statt etwas zu sagen, hob er mich auf den Brunnen und sprang schließlich selbst hinauf. Ohne ein weiteres Wort, verschluckte uns der Erdboden.

Doch als wir die Trainingshalle betraten erzählte er mir: „Man unterscheidet zwischen lokal wirksamen und systematisch wirksamen Nasensprays. Es gibt abschwellende Nasensprays, antihistaminikumhaltige Nasensprays, cromoglicinsäurehaltige Nasensprays und noch ein paar weitere. Da du allerdings nur zu Risiken von abschwellenden Nasensprays etwas wissen wolltest, kannst du die anderen vergessen. Also, wenn du ein Nasenspray eine Woche oder länger benutzt, kann dies der Nasenschleimhaut schädigen.“

Ich sah ihn total verwirrt an – vielleicht auch etwas angewidert. Was faselte er denn da schon wieder? Irgendetwas über Nasensprays. Was zum Teufel wollte er mir damit sagen? War das irgendeine Geheimsprache für unseren Plan, die ich nicht mitbekommen hatte? Oder war er einfach nur betrunken?

Er schnappte sich meine Hand und führte mich in eine ganz andere Richtung, in die wir eigentlich mussten. „Tja, wenn dies geschieht, kann es zu einer Daueranwendung führen. Und irgendwann schwillt die Haut ohne das Spray überhaupt nicht mehr ab. Dies hat dann natürlich weitere Folgen und… jetzt hört uns ganz bestimmt keiner mehr zu.“ Er lächelte triumphierend.

„Was?“, fragte ich ihn total entgeistert. War er vielleicht gar nicht betrunken, sondern bekifft? Mittlerweile traute ich ihm alles zu.

Er lachte immer noch. „Falls du es immer noch nicht mitbekommen haben solltest, gibt es hier ziemlich viele neugierige Leute, die es wahnsinnig interessiert, was hier so geplaudert wird. Da ich allerdings keine Lust auf Stalker habe, erzähle ich dem Öfteren etwas über Medikamente und andere langweilige Dinge. Eine wirklich gute Methode, denn das interessiert hier wirklich überhaupt keinen.“

„Okay“, sagte ich etwas verwirrt.

„Hey, du darfst mich ruhig loben, es war gar nicht so leicht herauszufinden, was niemanden interessiert und einschlafen lässt.“

„Ja, das hast du wirklich ganz toll gemacht. Allerdings hätten wir auch einfach schweigen können.“

Er sah mich mit seinen wahnsinnig tollen Augen an. „Möglicherweise wollte ich nicht mehr schweigen.“

Ich überlegte verzweifelt was ich sagen sollte. „Nun… dann haben wir dieses Problem ja gelöst.“

Er lächelte zufrieden. „Ja, das haben ich.“

„Und wo gehen wir gerade hin?“, fragte ich dann, als ich mich wieder daran erinnerte, dass wir einen ganz anderen Weg eingeschlagen hatten, als die anderen.

„Zu meinem Labor“, meinte er knapp. „Ich muss mir meinen Laptop holen, damit ich mir wieder Notizen machen kann.“

„Ach so… Momentmal!“, sagte ich und blieb stehen. „Ich dachte du hast ein so gutes Gehirn. Wozu brauchst du dann immer einen Laptop. Und soweit ich mich erinnern kann, hast du ihn das letzte Mal überhaupt nicht verwendet.“

Thierry lachte. „Du bist gut! Du könntest Kriminalistin oder etwas Ähnliches werden. Du hättest mit Sicherheit Erfolg.“

Mehr sagte er nicht und ich konnte nicht anders und gab ihm einen leichten Stoß gegen die Schulter. „Das war keine Antwort auf meine Frage“, meckerte ich.

„Ach wirklich?“, fragte er mich und grinste schief.

Ich nickte. „Ja und wenn wir gerade schon dabei sind, dich zu verhören, möchte ich gerne wissen, wieso du nicht willst, dass wir beim Reden gehört werden? Ist dir peinlich, dass andere Leute wissen, dass du dich mit einem normalen Menschen unterhältst?“

Wir waren inzwischen weitergegangen und standen wieder in einem aufzuggroßen Zimmer, dieses Mal war es allerdings ein anderer, der uns noch tiefer in die Erde brachte, als wir eh schon waren.

„Du denkst also wirklich, dass du ein normaler Mensch bist?“, zog er mich auf.

Ich funkelte ihn nur an und wartete auf eine frühzeitige Antwort.

„Okay, okay!“, meinte er dann, grinste mich aber immer noch an, als ob es ihm gefallen würde, dass er es geschafft hatte, mich aufzuziehen. „Du hast recht. Ich brauche wirklich keinen Laptop. Aber es ist eine gute Ausrede, dich zu entführen“, meinte er und wackelte mit den Augenbrauen.

Ich sah ihn schmunzelnd an. „Mich zu entführen? Du meinst wohl eher, um deine Unterhaltungen mit mir geheim halten zu können, hab ich recht?“, fragte ich.

Er schüttelte angewidert den Kopf. „Natürlich nicht“, meinte er und fügte dann hinzu, „Ich will nur niemanden eifersüchtig machen.“

„Du denkst, du kannst jemanden mit mir eifersüchtig machen?“, fragte ich, als wäre er total geistesgestört.

„Natürlich!“, beteuerte er lautstark.

Ich lachte. „Du bist total verrückt!“ Nach einer kurzen Pause fragte ich ihn, nachdem ich überlegt hatte, ob ich ihn diese Frage wirklich stellen sollte: „Aber, wen genau meinst du mit „niemanden“?“

Er schüttelte wieder lachend den Kopf und sah mich eindringlich an. „Drei Mal darfst du raten.“

Ich brauchte nicht einen Versuch, denn ich wusste ganz genau wen er meinte.

Meines Blickes nach zu urteilen, wusste er, dass ich herausgefunden hatte wen er meinte, denn er nickte zufrieden. „Ja, ich meine Jerry Lee.“

„Wie kommst du darauf, dass er eifersüchtig werden würde?“

Er sah mich mit einem Ach-Komm-Schon-Blick an. „Das war nicht schwer herauszufinden!“

„Nun, dann solltest du aber wissen, dass er ein Mädchen kennengelernt hat.“ Ich wusste nicht recht, ob ich ihm diese Information hätte offenbaren sollen.

Er sah mich erstaunt an. „Wirklich? Er hat ein Mädchen kennengelernt?“

„Ja, hat er. Und das bedeutet, dass er ganz bestimmt nicht mehr eifersüchtig auf dich werden wird, wenn du mit mir redest.“ Schade eigentlich, dachte ich. Und dann wusste ich auch, weshalb er bei unserer ersten Kampfstunde so drauf war und mich kein einziges Mal angelächelt hatte. Er wollte Jerry Lee nicht wütend machen.

„Das heißt, wir könnten vor seiner Nase rummachen und es würde ihn überhaupt nicht interessieren?“, fragte er mich mit glänzenden Augen.

„Ja, könnten wir“, meinte ich gelassen. Dann merkte ich, dass er mich mit so einem komischen Blick beobachtete. „Was?“, fragte ich ihn.

Auf seinem Gesicht breitete sich ein Strahlen aus und seine Augen wurden noch größer.

Plötzlich wusste ich, was dieser Blick zu bedeuten hatte. „Nein! Nein, nein, nein, nein, nein und nochmals nein!“

„Wieso denn nicht?“, fragte er mich traurig.

„Weil…weil“, stammelte ich. Ja, wieso eigentlich nicht? Dann sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel: „Das können wir nicht machen!“

Er stöhnte. „Ach komm schon! Ich meine, denk doch mal nach! Er hat ein Mädchen kennengelernt und will es unbedingt haben. Vielleicht kann er es nicht haben, aber das spielt jetzt keine Rolle. Solange er sie will, wird er auf jedes andere Pärchen total neidisch sein“, meinte er und wackelte wieder mit den Augenbrauen.

„Du willst ihn schon wieder ärgern“, stellte ich fest und er nickte eifrig. „Nein!“, wiederholte ich.

Aber dann überlegte ich, wie ich ihn am besten auf mich aufmerksam machen konnte. Etwa, indem ich einfach nur neben ihm saß und ihn anglotzte? Oder etwa, indem ich mich einem anderen Kerl an den Hals warf und ihn so eifersüchtig machte, um Jerry dazu zu bringen, zu mir zurückzukommen. Da würde auch für Thierry etwas bei rausspringen: Er wollte Jerry Lee ärgern. Und ich wollte ihn zurückhaben.

Das war der perfekte Plan!

Ich blieb direkt vor Thierrys Labor stehen. Er drehte sich zu mir um und musterte mich.

„Wieso bleibst du stehen?“, fragte er mich verwirrt.

Ich grinste ihn mit flammenden Augen an. „Ziehen wir es durch!“

 

Erst starrte er mich perplex an. Eigentlich eine ziemlich lange Zeit und andauernd herrschte Schweigen. Aber dann, nachdem er möglicherweise einen Beweis aus meinen Augen herauslesen konnte, dass ich es ernst meinte, fing er an zu grinsen. „Wieso auf ein Mal dieser Sinneswandel?“, fragte er mich.

Ich konnte nur mit den Schultern zucken, weil ich ihm den wirklichen Grund nicht sagen konnte – oder wollte. War doch eigentlich auch egal, wieso. Hauptsache ich war bei der Sache dabei und er hatte was er wollte. Er wollte Jerry Lee ärgern. Ich tat natürlich so, als wäre das auch meine Absicht.

Er zögerte mit seiner Frage, die ihm auf der Zunge brannte.

„Schieß einfach raus damit“, forderte ich ihn auf und er musste lächeln, weil ich bemerkt hatte, dass er etwas sagen wollte. Vielleicht gefiel es ihm sogar, dass ich es erkannt hatte.

„Hm… was verstehst du unter „rummachen“?“

Schnell schüttelte ich energisch den Kopf. „Nein. Richtig rummachen, mit Küssen und so, machen wir nicht. Wir sind ja nicht wirklich zusammen.“

Er sah enttäuscht aus. „Wieso denn nicht? Das könnte Spaß machen.“

Ich stöhnte. „Hab ich doch gerade gesagt.“ Dann musste ich aber lachen und ihn fragen: „Aber wäre es denn so schlimm, wenn wir das ausließen?“

Er nickte heftig. „Ja, auf jeden Fall“, sagte er sarkastisch. Zumindest nahm ich es so auf. Ob er es wirklich ernst gemeint hatte oder nicht, wusste ich nicht.

„Gut, dann hätten wir das ja geklärt“, stellte ich fest.

„Und was ist mit Händchenhalten?“ Er grinste frech, begann dann aber weiter seinen Laptop zu suchen. Es sah so aus, als wollte er das Treffen mit den anderen hinauszögern. Was ich allerdings nicht schlecht fand, denn um ehrlich zu sein, war sich irgendwelche bescheuerten Fragen auszudenken, das, auf das ich jetzt überhaupt keine Lust hatte. Im Gegenteil. Ich wollte hier bleiben und mit Thierry reden und Pläne schmieden, wie wir Jerry Lee ärgern könnten – Geheimwort für: ihn wieder für mich zu gewinnen.

„Von mir aus. Aber ich sag dir eines: Wir machen das alles nur, wenn er in der Nähe ist, verstanden?“ Ich begann mich auf dem Schreibtischstuhl zu drehen.

Darauf sagte er nichts. Er zog seinen Laptop unter einem Haufen Blätter hervor und sah sich mit einem So-Ein-Mist-Blick nach mir um, ob ich bemerkt hätte, dass er ihn gefunden hatte. Als ob er den Laptop einfach wieder verstecken wollte, um so zu tun, als wüsste er nicht, wo er sei.

„Ah, da ist er ja“, sagte ich und konnte genau sehen, wie er dachte: „Verdammt!“

Dann meinte er aber: „Können wir nicht einfach hier bleiben und nicht zu diesem öden Treffen gehen?“

„Nein, können wir nicht.“ Ich schüttelte stur den Kopf und stand auf. Mir war etwas schwindelig und ich wäre fast umgekippt, wäre Thierry nicht plötzlich neben mir aufgetaucht und hätte mich am Arm festgehalten.

„Alles okay?“, fragte er besorgt.

„Ziemlich“, meinte ich und musterte ihn, als er mich immer noch mit diesem Blick ansah. „Also bitte, ich hab mich nur ein bisschen im Kreis gedreht!“

Er lachte. „Und das ziemlich schnell, wenn ich das sagen darf.“

Ich verdrehte die Augen und erblickte wieder die Blätter mit seinem neuen Projekt, die alle ordentlich in einer Mappe geordnet waren.

„Wie läuft es mit deinen Experimenten?“, fragte ich ihn neugierig, um das Thema zu wechseln. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass er es sogar schaffen könnte, mich zu überreden, nicht zu dem Treffen zu gehen.

„Ich weiß, dass du versuchst mich abzulenken“, begann er, „und genau aus diesem Grund, werde ich nicht auf deine Frage antworten. Natürlich auch aus dem, dass es nichts ist, über das ich jetzt reden möchte.“

„Aha“, machte ich. „Und über was möchtest du reden?“, fragte ich, als wir aus der Krankenstation gingen.

„Ich möchte dich dazu überreden, dass Treffen zu schwänzen“, er sah mich bittend an.

Ich schüttelte kalt den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Das Treffen konnte ich nicht ausfallen lassen, dafür war es schließlich viel zu wichtig und außerdem zählten alle auf mich. Aber viel wichtiger war wohl die Frage, wieso Thierry wollte, dass ich nicht hinginge. Mal ganz davon abgesehen, dass dort Jerry Lee war, wollte ich unbedingt hingehen.

„Ach komm schon!“, bettelte er und sprang schnell vor mich, um sich auf die Knie fallen zu lassen.

Ich fing an zu lachen. „Wenn das Treffen nicht so wichtig wäre, dann kannst du dir sicher sein, dass ich nach dieser Aktion auf jeden Fall weggeblieben wäre. Aber ich kann es nicht“, meinte ich und ging an ihm vorbei.

Thierry stöhnte, sprang dann aber auf, um mir hinterher zu hechten. „Wenn du meist“, sagte er nur und schlang einen Arm um meine Schulter. Dann schlenderten wir gelassen zu unserem Treffen und was wir dort erfuhren, erleichterte mich ungemein.

 

In dem altmodisch eingerichteten Zimmer saßen schon alle, die nur noch auf Thierry und mich warteten. Uns wurden neugierige und genervte Blicke zu geworfen, als wir den Raum betraten.

„Da seid ihr ja schon“, meinte Heaven sarkastisch und warf mir einen durchdringenden Blick zu.

Ich ignorierte ihn und musste kurz darauf feststellen, dass ziemlich wenige Leute hier waren, die es sich auf den Sofas gemütlich gemacht hatten. Um ehrlich zu sein, waren es erschreckend wenige. Auf einer Couch saßen Kellan, neben ihm saß Desiree und auf der anderen Couch saßen Heaven und Adam. Und dann bemerkte ich auch, dass Jerry Lee fehlte. Das machte mich verdammt traurig. Ich hätte nicht kommen und auf Thierry hören sollen. Dann hätten wir jetzt in seinem Labor sitzen können, um uns dort in Ruhe zu unterhalten.

„Wo sind die anderen?“, fragte Thierry in diesem Moment.

Adam meinte: „Nun, mit Benjamin hätten wir eh nicht rechnen können. Er hätte eigentlich eine Theoriestunde für die Anfängerklasse halten sollen. Aber dann hat ihn Jerry Lee unterbrochen. Zu meiner Verwunderung ist Benjamin sofort aus dem Klassenzimmer gestürmt und hat sich mit Jerry Lee in einen Raum verschanzt.“

Kellan nickte zustimmend. „Ja, das stimmt. Ich hatte vor ihnen zu folgen, um herauszubekommen, was los mit ihnen ist. Doch leider sind sie in eines dieser Räume gegangen, dessen Wände du mit dieser stinkenden Brühe besprüht hast“, meinte er und rümpfte die Nase. Als er meinen verwunderten Blick sah, fügte er hinzu: „Diese „stinkende Brühe“ ist ein Mittel, das einen Raum schalldicht macht. Und selbst wir können diesen Stoff nicht durchdringen.“

Thierry meinte entrüstet: „Dieses Zeugs ist verdammt gut!“

Adam schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn man dabei ist, jemanden hinterher zu spionieren. Allerdings können wir froh sein, dass die Wände dieses Zimmers auch damit eingesprüht sind. Sonst wären wir den anderen wirklich ausgeliefert.“

Kellan nickte. „Oh ja! Dann wüsste jeder, was hier vor sich geht. Aber den Lehrlingen in den Anfangsklassen geht das überhaupt nichts an. Den höheren Stufen ja, da sie uns auch helfen könnten, wenn es nötig wäre. Zum Glück war es das bis jetzt noch nicht.“

Thierry nickte. „Ja, bis jetzt läuft alles ziemlich gut… bis auf eine Sache…“

Ich blickte ihn neugierig an. „Was für eine Sache?“

Thierry druckste herum, doch dann sprach Kellan für ihn weiter. „Es gibt da ein kleines Problem, dass etwas mit der Fahrt in die Psychiatrie zu tun hat.“

„Und weiter?“, forderte Heaven dringlich.

„Immer mit der Ruhe!“, meinte Thierry. Dann sagte er aber: „Wir sind uns nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, schon morgen dort hinzufahren.“

Plötzlich fiel eine riesige Last von meinen Schultern und ich hatte das Gefühl, wieder frei atmen zu können.

„Um ehrlich zu sein, vertrauen euch ein paar Leute nicht“, meinte Adam und sah seine Freundin an. Dieser Blick sollte heißen, dass er an sie glaubte. Was mich betraf wusste ich nicht. Aber das war mir egal.

„Ich hoffe, ihr seid nicht sehr darüber enttäuscht“, meinte Kellan.

Ich konnte einfach nicht anders: Ich musste lachen. „Nein, das ist wunderbar! Dann haben wir ja noch mehr Zeit, uns die Fragen auszudenken und noch länger Zeit, um sie auswendig zu lernen.“

Es herrschte kurzes Schweigen.

„Okay, was ist los, das wir noch wissen müssen?“, fragte Heaven, die sofort gemerkt hatte, dass das nicht die einzige Nachricht war.

Thierry sagte nur: „Nur weil wir nicht in die Psychiatrie gehen, heißt dies noch lange nicht, dass wir nicht doch noch wo anders hingehen.“

Am liebsten hätte ich wütend mit dem Fuß aufgestampft – auch wenn das eine ziemlich alberne Bewegung wäre. „Jetzt rückt einfach mit der Sprache heraus!“

„Okay, okay!“, sagte Kellan und hob beschwichtigend die Arme. „Wir werden zu Calvin gehen.“

Keiner sagte etwas. Aber nicht aus Schock, sondern aus Erleichterung. Die Nummer mit Finn wäre Heaven und mir für das erste Mal einfach zu groß gewesen. Dagegen wäre Calvin eine Art Übung. Auch wenn wir trotzdessen nichts falsch machen durften.

„Gut“, meinte ich und Heaven zuckte gelassen mit den Schultern.

Kellan sah uns beide verwirrt an. „Ich dachte, ihr würdet euch total darüber freuen, endlich mal in eine Psychiatrie zu kommen?“

Ich lachte. „Das hörte sich so an, als würden wir dort eingeliefert werden. Aber nein, ich war viel zu aufgeregt, um diese Aufgabe ordentlich zu erledigen.“

Heaven nickte zustimmend. „Ich glaube nicht, dass ich das geschafft hätte. Ich meine, so etwas habe ich noch nicht gemacht – was allerdings verständlich sein sollte, da ich in meinem Leben nichts mit Verbrechen und Einbrüchen am Hut hatte. Zum Glück. Aber wie dem auch sei, bin ich froh, dass wir nicht zu Finn gehen. Zumindest jetzt noch nicht.“

„Das heißt, ihr habt kein Problem damit, erst Calvin zu besuchen?“, fragte Thierry.

„Nein“, gab ich zurück und Heaven schüttelte den Kopf.

„Das ist gut. Dann können wir ja jetzt beginnen“, stellte Desiree ungeduldig fest, die zu meinem Erstaunen noch überhaupt nichts gesagt hatte und ich sie so fast schon vergessen hatte.

Ich war so froh, dass wir noch mehr Zeit hatten, uns auf die Situation in der Psychiatrie vorzubereiten. Allerdings musste ich dann daran denken, dass wir zu Calvin gehen würden. Zu Calvin. Calvin! Der Typ, der mich geküsst hatte und von einem Tag auf den nächsten eine Freundin hatte. Der von der Polizei mitgenommen wurde und mir den letzten Blick zu geworfen hatte, als er in ein Polizeiauto gestiegen war.

Plötzlich bekam ich es doch mit der Angst.

 

Ich schrieb gerade das letzte Wort zu Ende, da blies Thierry scharf die Luft aus und rief: „Fertig!“

Wir hatten zehn Seiten mit Fragen aufgestellt, was allerdings bedeutete, dass auf jeder dieser Seiten mindestens zehn Fragen standen. Je nachdem wie lange diese waren, passten noch weitere oder eben keine mehr dazu. Die erste Frage war ziemlich simpel: Wie geht es dir? Allerdings hätten wir diese auch einfach weglassen können, da wir ahnen konnten, wie mies es ihnen ging. Aber es sollte nicht wie ein Interview oder ein Verhör klingen, sondern eher wie Freunde, die sich dafür interessierten, was mit ihrem Freund passiert war.

Auch wenn wir nicht wirklich Freunde waren. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass wir nicht weit davon entfernt waren. Und somit brach ich auch meinen Satz, als ich sagte, dass ich niemals etwas mit Calvin zu tun haben wollte.

Doch es gab noch ein Problem, was die vielen Fragen betraf. Im Grunde hatten beide, Finn und Calvin, ja keine Ahnung was zu Hause wirklich geschehen war. Calvin war in der Schule und Finn war auf einer Party gewesen. Naja, auf jeden Fall bezweifelten wir alle, dass sie überhaupt etwas wussten. Deshalb fand ich es auch sehr erstaunlich, dass wir überhaupt so viele Fragen fanden. Auch wenn einige daraus bestanden, sich nach ihren Lernständen oder momentanen Aktivitäten zu erkundigen.

Aber wir wussten, nachdem wir Calvins Mutter in der Schule angetroffen hatten, dass diese in einem zurechnungsfähigen Zustand war und so vielleicht mit Calvin gesprochen hatte. Also hofften wir auf Antworten von Calvins Mutter über ihren Sohn.

„Ich werde euch morgen früh um zehn Uhr abholen“, meinte Kellan und er sah sehr erfreut darüber aus, wieder mit seinem Jeep durch den Wald brettern zu können. Schon bei diesem Gedanken wurde mir schlecht.

Thierry stand auf, streckte sich und schüttelte den Kopf. „Nein, nein, Kellan“, begann er, „Wir haben schon ausgemacht, dass ich Molly abholen werde.“

Hatten wir nicht, aber ich unterdrückte mir einen Kommentar, als Thierry mir zuzwinkerte.

Heaven sagte kleinlaut: „Adam wollte mich mitnehmen.“

„Natürlich“, meinte Kellan und verschwand, vielleicht sogar ein bisschen beleidigt.

Kurz nachdem er die Tür geschlossen hatte, ging sie schon wieder auf und Jerry Lee stürzte, ziemlich gut gelaunt, in den Raum.

„Hab ich etwas verpasst?“, war das Erste was er fragte und sah sich danach suchend im Raum um.

„Wir sind schon fertig.“ Die Antwort kam von mir und klang ziemlich bissig. Dies beachtete aber keiner.

„Wir sehen uns morgen“, meinte Thierry, nahm mich in den Arm und gab mir einen Kuss auf die Haare. Er hatte also nicht vergessen, dass wir Jerry Lee eifersüchtig machen wollte. Also ich wollte ihn eifersüchtig machen. Allerdings hatte ich ihm auch klar und deutlich gesagt, dass Küsse verboten waren.

Ich blickte ihn also, vor Jerry Lees und Desirees Augen versteckt, funkelnd an, worauf er mich schelmisch angrinste und dann den Raum verließ.

„Oh, das tut mir leid“, behauptete Jerry Lee, der uns völlig ignoriert hatte, während sich Adam und Heaven aus dem Staub machten. Schließlich waren wir, nachdem auch Desiree mit einem freundlichen Lächeln und einer überschwänglichen Verabschiedung das Zimmer verlassen hatte, alleine.

„Schon okay“, winkte ich ab. „Wir haben ja nur die Fragen aufgestellt. Und wir sind es, die sie auswendig lernen müssen, nicht du.“ Doch schon bei der Frage, ob diese ganzen Seiten überhaupt in meinen Kopf passen würden, drehte sich mir der Magen um und ich musste passen. Aber dann kam mir ein Gedanke.

Auswendiglernen!

„Soll ich dich nach Hause fahren?“, fragte er und fügte nach kurzem Zögern hinzu, „Ich meine, die anderen sind schon weg und Adam und Heaven sind schon losgefahren. Also, bin ich mehr oder weniger deine einzige Chance nach Hause zu kommen. Wie sieht’s aus?“

Ich schüttelte ohne zu zögern den Kopf. „Nein, ich habe eine viel bessere Idee.“

„Ach und die wäre?“, fragte er gespannt. Als ob es ihn wirklich interessieren würde. Vielleicht tat ihn das ja sogar.

„Die Brücke“, meinte ich. „Ich muss doch alles auswendig lernen. Vielleicht kannst du mir ja helfen. Wie bei dem Gedicht?“

Er zögerte nur kurz. „Okay, ich hol mir nur schnell eine Jacke. Ich bin gleich wieder da.“

Ich nickte und wartete, bis er wieder kam. Zugegeben war die Zeit die ich wartete, wirklich, wirklich, wirklich sehr kurz. Aber das lag nur an seinen Superkräften, denn er war in ein paar Sekunden zu seiner Jacke gedüst und gleich wieder zurück.

Aber viel wichtiger war: Ich hatte es geschafft. Ich war endlich mit ihm alleine. Und noch dazu gingen wir an einen so schönen Ort wie diesen.

Während der Autofahrt redeten wir über Calvin und über das, worauf wir alles achten mussten. Den Weg zur Brücke durch den Wald, legten wir in einem ordentlich, zügigem Tempo zurück.

 

„Bist du aufgeregt?“, fragte er mich, als wir fertig mit den Fragen waren.

„Soll das etwa ein Scherz sein? Ich meine, natürlich bin ich aufgeregt!“

Er schwieg und sah gedankenverloren auf das plätschernde Wasser am Ende unserer Füße.

„Was ist los?“, fragte ich ihn.

Er fing an vor sicher herum zu drucksen. Dann meinte er: „Du hast mich doch gefragt, was es mit dem Zwang auf sich hat.“

Ich sah ihn verwundert an. „Daran kannst du dich noch erinnern?“ Die Frage war völliger Schwachsinn, den natürlich konnte er sich daran erinnern.

„Sicher!“, bestätigte er mit einem cholerischen Kopfnicken.

„Und?“, fragte ich. „Was ist damit?“

„Ich wollte dir sagen, was es damit auf sich hat. Falls es dich noch interessiert.“

„Okay, und wieso erst jetzt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Nun, um ehrlich zu sein, konnte ich es nicht erklären.“

„Und jetzt kannst du es?“

Er nickte, schwieg aber und sah dann weiter auf das Wasser.

„Und weiter?“, drängte ich.

„Früher habe ich nicht geglaubt, dass es wirklich stimmt.“

„Das was wirklich stimmt?“

„Dass einige von euch für uns bestimmt sind.“

Was?, schrien meine Gedanken, doch ich verstand trotzdessen nicht, was er damit meinte. „Was soll das heißen?“

Er räusperte sich. „Du weißt doch, dass es Menschen gibt, die sich gegen den Zwang wehren können, richtig?“

Ich nickte kurz und kräftig.

Er lachte und schüttelte etwas verächtlich den Kopf. „Es hat etwas mit Liebe zu tun.“

Ich musste grinsen. „Okay, das hätte ich mir denken können. Alles hat irgendetwas mit Liebe zu tun“, meinte ich. „Und was hat es mit dem Zwang auf sich?“

„Naja, wir können auch lieben. Aber der oder die Geliebte soll nicht unter Zwang stehen.“

„Das heißt, man soll seinen Partner nicht zu irgendetwas zwingen können?“

Er nickte. „Ja, so ungefähr.“

„Und die Menschen, die sich gegen den Zwang wehren können, sind für eine oder einen von euch bestimmt?“, fragte ich nach.

Wieder nickte Jerry Lee.

„Das heißt, man kann sich gar nicht aussuchen, wen man als Partner haben möchte? Man wird ihm einfach zugeteilt?“

Jetzt schüttelte er den Kopf. „Nein, so ist das nicht. Wenn einer von uns seine oder seinen Bestimmten sieht, weiß er, dass sie oder er der Richtige ist. Man würde alles für sie oder ihn tun. Man wird regelrecht von ihr angezogen.“

„Ach so. Und wie ist das mit dem Menschen?“, fragte ich weiter.

Er zögerte. „Manchen von ihnen geht es genauso wie uns. Andere aber verlieben sich erst in Tagen, Wochen, Monaten, ja sogar Jahren in den Richtigen.“

Ich schwieg. Er ist nicht für mich bestimmt, raste es mir durch den Kopf.

„Als ich dich das erste Mal sah, dachte ich, du wärst die Richtige.“

Aber?, dachte ich, doch ich brachte es nicht über die Lippen.

Oh!

Meine Frage erklärte sich ganz von alleine.

Sie!

„Lass mich raten“, begann ich, „du hast sie schon gefunden, richtig?“

Erst sagte Jerry nichts, doch dann nickte er langsam mit dem Kopf. „Ja, irgendwie schon.“

Aus Reflex schloss ich die Augen, da ich dachte, ich würde gleich in Tränen ausbrechen, doch es kamen keine. Und sie drohten auch nicht zu kommen. Es fühlte sich nur so an, als würde in meinem Herzen etwas zerbrechen.

„Bethany, hab ich recht? Sie war es schon die ganze Zeit“, stellte ich kühl fest.

Wieder nickte er. Und wieder zerbrach mein Herz in Stücke.

„Das heißt, du hast mit Benjamin über sie geredet?“

„Richtig. Ich wollte fragen, was ich jetzt tun sollte, da ich sie jetzt gefunden habe. Einfach so.“ Er lächelte leicht.

Bei dem Gedanken an Bethany fingen seine Augen an zu glitzern und ich konnte regelrecht spüren, wie es in seinem Herzen wärmer wurde. Sie war die Richtige für ihn und nicht ich.

Eigentlich durfte ich sie doch überhaupt nicht hassen, aber egal was ich versuchte mir einzureden, ich tat es trotzdem. Und würde es auch immer machen. Es war zwar traurig für mich, aber ich war nicht die Richtige für ihn und er nicht der Richtige für mich. Denn es gibt einen anderen. Einen besseren. Den Richtigen. Auch wenn ich niemals einen solchen Bund mit einem anderem Menschen eingehen würde. Ich kann den Zwang schließlich nicht abwehren.

Plötzlich kam es mir total dämlich vor, was ich mit Thierry geplant hatte. Sobald ich ihn wiedersehe, dachte ich, muss ich ihm sagen, dass ich das Ganze abblasen werde. Denn es war zu spät ihn zurückzugewinnen.

Und eigentlich hatte es dafür nie eine Chance gegeben.

„Das bedeutet doch auch, dass sie sich gegen den Zwang wehren kann, oder?“

Und plötzlich, von jetzt auf gleich, sah ich alles glasklar vor meinen Augen. Ich bekam nicht mit, dass Jerry Lee meine Frage mit einem Ja beantwortete und auch nicht die weiteren Worte, die aus seinem Mund kamen. Mein Blick und meine Gedanken waren auf eine einzige Szene gerichtet, weit zurück in meiner Vergangenheit.

Eine Mauer, ein Mann und ein Kind. Ein Junge mit dunklen Augen, dunklen Haaren und einer zarten, weichen Haut. Genau das Bild, das ich schon öfter gesehen hatte. Und in dem Moment, als ich in die Augen des Jungen sah, verschmolzen diese mit denen von Jerry Lee.

Mir stockte der Atem und ich musste blinzeln um zu erkennen, dass der kleine Junge aus dem Bild meiner Gedanken, tatsächlich vor mir saß.

„Was ist los mit dir? Du bist auf einmal so blass geworden“, sagte dieser.

„Das glaub ich einfach nicht“, hauchte ich. „Du… du bist… der Junge“, stotterte ich. Ich schüttelte den Kopf um meine Gedanken zu ordnen. „Seit… seit einiger Zeit habe ich so ein Bild in meinem Kopf. Okay, nein, kein Bild. Eher ein kleiner Film, der sich, seit dem ich dich in der Schule getroffen habe, in mein Gedächtnis verankert hat.“

„Soso, ein Film?“, lächelte er. Irgendwie sah er sogar ein bisschen erleichtert aus. „Und um was geht es in diesem Film.“

Ich war verwirrt von seinem Lächeln, weshalb ich auch etwas länger brauchte, um zu antworten. „Naja, da ist so eine Steinmauer und ein Mann, der diese hochspringt. Und dann kommt ein kleiner Junge…“ Du!, dachte ich. „Und sagt etwas und dann sind sie weg. Der kleine Junge. Der warst du“, sagte ich mit festentschlossener Stimmte.

Sein Grinsten wurde breiter. „Und ich dachte schon, du würdest nie darauf kommen.“

Ich sah ihn mit großen Augen und offenem Mund an. „Was? Sag bloß, du wusstest die ganze Zeit über, dass…“

„Dass du uns damals beim Training beobachtet hast?“ Er nickte mit einem Grinsen. „Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass du das warst.“

Ich musste daran denken, wie er die Augen zusammengekniffen hatte, als er mich im Klassenzimmer angestarrte.

„Wieso hast du mir das nicht gesagt?“, fragte ich total entgeistert.

Sein Lächeln verschwand. „Weil… ich dachte, du würdest…“

„Würdest dich nicht mehr daran erinnern?“

Er sagte nichts. Seine Augenbrauen waren eng beieinander.

„Aber das habe immer noch ich erlebt. Man erinnert sich an vieles aus seiner Kindheit nicht, aber das heißt nicht, dass man alles vergisst. Und so wie es aussieht, kann ich mich daran erinnern.“

„Ja, aber wir haben…“ Er unterbrach sich.

Ich war mit meinen Gedanken ganz wo anders, als er dies sagte und verstand so gar nicht, was er überhaupt meinte.

Doch plötzlich stand er auf und sagte: „Wir müssen nach Hause.“

Ich protestierte. „Nein, ich will weiter darüber reden!“

Doch plötzlich packte er mich am Arm und er rannte los. So schnell er konnte, sausten wir über die Wasseroberfläche und in binnen ein paar Sekunden waren wir am Auto. In der hintersten Ecke meines Kopfes fragte ich mich, wieso wir so nicht auch schon hochgelaufen… oder hochgeflogen waren. Aber das war mir zum größten Teil egal. Es gab Wichtigeres zu bereden und nachzudenken.

Jerry Lee schubste mich unsanft auf den Beifahrersitz. Ich bewegte mich kein Stück, um mich anzuschnallen. Also tat er es. Erst war ich drauf und dran seine Hände von mir wegzuschieben, ließ es dann aber doch bleiben. Es war zu albern. Mal ganz davon abgesehen, hätte ich eh nicht gewinnen können.

Also fragte ich, anstatt mich gegen ihn zu wehren: „Wo fahren wir jetzt hin?“

Vor meiner Nase schlug er die Tür zu und fast im selben Moment öffnete sich die andere. Er sprang auf den Sitz und schnallte sich an und startete den Motor. Er drückte das Pedal durch. „Wir?“, fragte er mich und sah mich total entgeistert an. „Ich werde dich jetzt nach Hause fahren.“

Ich schluckte. Das hätte ich mir denken können. „Und wo fährst du hin? Und wieso hast du es auf einmal so eilig?“

„Ich fahr zu den Katakomben. Und was ich da mache, geht dich nichts an. Zumindest noch nicht.“

„Was soll das denn heißen? Noch nicht?“

Er presste die Lippen aufeinander, sagte dann aber: „Gar nichts.“

Ich musste mich auf meine Hände setzten, um ihm nicht an die Kehle zu springen. Aber ich war kurz davor.

„Gar nichts? Ist das dein Ernst?“

Dann schrie er mich schon fast an. „Hör auf mir alles nachzuplappern! Ich brauche keinen Papagei!“

Ich zuckte in meinem Stuhl zusammen.

 

Schneller als erwartet hielt der Wagen vor meinem Haus. Es war stockdunkel. Doch das Licht vor der Haustür sprang sofort flackernd an, als wir stoppten.

Ungeschickt versuchte ich mich abzuschnallen und Jerry Lee fing an, mit seinen Fingern auf dem Lenkrad herum zu klopfen, bis er schließlich, mit einer einigen Bewegung – und mit einer einzigen Hand – den Gurt löste.

„Danke“, sagte ich. Doch mehr brachte ich nicht heraus, da meine Stimme zitterte, als hätte ich gerade einen Geist oder etwas ähnlich Schauriges gesehen.

„Hey“, sagte er, während ich ungeschickt versuchte das Auto zu verlassen. „Ich erzähle es dir vielleicht wann anders.“

Ich atmete zweimal tief ein und aus, damit ich wieder meine Stimme zurückbekam. Wer auch immer derjenige war, der sie mir genommen hatte. „Ja, vielleicht.“ Dann schlug ich die Tür zu und war plötzlich stinksauer.

Um ehrlich zu sein, hatte ich erwartet, dass er aus dem Auto kommen würde, um mir zu sagen, dass es ihm leid täte. Aber natürlich machte er das nicht. Dafür war er zu stolz. Leider. Stattdessen gab er Gas und das Auto fauchte wütend, bis es sich in Bewegung setzte.

Ich selbst blieb stehen und sah ihm nach. Erst als die Scheinwerfer verschwunden waren merkte ich, dass mir kalt war. Aus meiner Tasche kramte ich den Haustürschlüssel heraus, den ich zur Abwechslung mal dabei hatte. Aber was hätte ich auch für eine Wahl gehabt? Ich war schließlich die Einzige, die im Moment in diesem Haus wohnte. Wie also, sollte ich ohne Schlüssel in es hinein kommen? Richtig! Gar nicht.

Gar nichts, hatte er gesagt. Aber er wusste genauso gut wie ich, dass das nicht stimmte. Es war sehr wohl etwas passiert… schon wieder. Und dieses Mal hatte es wirklich etwas mit mir zu tun. Denn ich kannte Jerry Lee – fast schon mein Leben lang. Die Vorstellung, dass ich es in meinem Unterbewusstsein schon die ganze Zeit gewusst hatte, fand ich unheimlich. Wieso erinnerte ich mich erst jetzt an so etwas Wichtiges? Oder war es überhaupt wichtig?

Ich schloss die Tür auf und ließ sie hinter mir laut ins Schloss fallen. Ich lehnte mich an die Tür und raufte mir die Haare. Wie ich gerade aussah, war mich total unwichtig. Ich sank an der Tür hinunter, bis ich schließlich auf meinen Fußballen saß. Für einen Moment schloss ich die Augen. Dann stand ich wieder auf und streifte mir die Schuhe von den Füßen. Ohne groß über mein nächstes Vorhaben nachzudenken, stapfte ich in die Küche und warf einen Blick auf die leise tickende Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Wäre morgen Schule gewesen, hätte ich jetzt geflucht und wäre schnurstracks in mein Bett verschwunden. Auf dem Weg in die Küche entdeckte ich ein blinkendes Licht an der Telefonstation. Sehr wahrscheinlich kam der entgangene Anruf von meinen Eltern, die wissen wollten, wie es mir ohne sie ginge. Jedoch war es bereits zu spät, um zurückzurufen, also ignorierte ich das Lämpchen.

Ich ging zum Brotkorb und schnappte mir ein Leib.

Tja, aber morgen war keine Schule. Morgen war der Tag, an dem wir zu Calvin gehen würden. Mein Magen drehte sich wie wild im Kreis und ich schmiss das Stück Brot wieder in den Korb zurück. Ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben, machte ich mich auf in mein Zimmer.

Plötzlich überkam mich die Müdigkeit.

Ich schaffte es gerade noch den Wecker zu stellen, meinen Körper aus dem Oberteil und der Hose zu schälen, doch nicht mehr, mir einen Schlafanzug überzustreifen. Also fiel ich vor Müdigkeit auf meine weiche Matratze und schlief in Unterwäsche ein.

Das einzig Positive war, dass ich die Fragen auswendig konnte.

Samstag

Am nächsten Morgen stand ich früher auf als nötig. Ich schnappte mir aus meinem Schrank frische Unterwäsche und stapfte ins Badezimmer.

Im Haus war es so still, dass ich das Radio in meinem Zimmer so laut stellte, dass ich es auch im Bad hören konnte – wobei ich die Tür offen ließ, wer konnte mich schon sehen? Ich war schließlich alleine im Haus.

Ich streifte meine wenige Kleidung ab und stieg unter die Dusche. Das warme Wasser rann über meinen nackten Körper. Ich setzte mich auf den Boden der Dusche und schloss meine verschlafenen Augen für eine halbe Ewigkeit.

Sofort schoss mir wieder der Gedanke in den Kopf, dass Jerry Lee seine Bestimmte getroffen hatte. Bethany. Und dass er gestern sagte, er hätte gedacht, dass ich für ihn die Richtige sei. Wieso musste sie hier nur auftauchen? Hätte nicht alles so bleiben können wie zuvor? Nur weil sich ihre bescheuerten Eltern dachten, ausgerechnet hier und jetzt eine Weile an Land zu verbringen. Sie sollten sich wieder dahin verziehen, wo sie hergekommen waren.

Als ich aus der Dusche trat, mich in mein Handtuch wickelte und mit einem anderen einen Turban auf meinem Kopf errichtete, war eine Stunde vergangen.

Ich putzte mir die Zähne, kämmte mir die Haare und trocknete meinen Körper ab. Schließlich schlüpfte ich in die duftende Kleidung und föhnte warm mein Haar, bis es mir in sanften Wellen über den Rücken fiel. Das Schminken ließ ich heute ganz aus.

Als ich unten in der Küche ankam, stopfte ich mich mit zwei Schüsseln Müsli voll, um anschließend erkennen zu müssen, dass ich noch lange Zeit hatte, bis ich abgeholt werden würde.

Also schnappte ich mir meine braune Tasche und füllte sie mit einem Block, ein paar Stifte und einem grünen Apfel. Dann griff ich nach den Blättern mit den Fragen und ging sie abermals durch. Ich konnte sie noch immer. Dies ließ mich etwas lächeln. Tja, Jerry Lee hatte wieder große Arbeit geleistet.

Oh, Jerry Lee.

Doch bevor ich trübsinnig werden konnte, hupte plötzlich ein Auto vor dem Haus. Ich hüpfte schnell zum Fenster und sah hinaus. Es war der schwarz glänzende Jeep.

Ich rannte so schnell ich konnte in den Flur und schnappte mir meine Schuhe, in die ich hinein schlüpfte. Eine Jacke hätte ich fast vergessen, doch diese warf ich mir schnell über die Schultern. Die Tasche angelte ich schnell vom Küchentisch und rannte wieder zur Haustür. Fast wäre ich aus dem Haus gestürmt, konnte mich aber gerade noch zusammenreisen. Ich öffnete langsam die Tür und ging im selben Tempo aus dem Garten, auf die Straße und machte total gelassen die Autotür auf.

Wie ich erwartet hatte, saß im Inneren Thierry, der mich schon anlächelte. „Na, alles klar bei dir?“, begrüßte er mich. „Aufgeregt?“, fügte er noch hinzu.

Ich ließ mich auf den Sitz nieder und zuckte gelassen die Schultern. „Es geht.“ Das war gelogen. In meinem Inneren sprang alles auf und ab. Ungefähr wie ein Gummiball in einem kleinen Raum – nur viel schneller!

Thierry zog die Augenbrauen hoch, verzog den Mund zu einem abschätzigen Grinsen und sah mich schräg an. „Deine Hände zittern“, bemerkte er.

Okay, meine Tarnung war also jetzt schon aufgeflogen. Ich setzte mich schnell auf meine zitternden Flossen und stöhnte. „Ja, okay, ich bin total aufgeregt“, gab ich zu. „Ist das so verwunderlich?“

„Nein, ich wollte nur nicht, dass du so gelassen tust. Außerdem wusste ich schon, dass du total aus dem Häuschen bist.“ Er grinste. „Ich hab Ohren und habe gehört, dass du im Haus ziemlich schnell durch die Gegend gebraust bist. Zudem ging dein Atem verdammt schnell.“

Ich ersparte mir einen Kommentar und starrte aus dem Fenster. Dann erinnerte ich mich wieder daran, was ich vorhatte, Thierry zu sagen.

„Wir blasen das ganze ab“, erklärte ich sehr lückenhaft.

Er grinste und fuhr noch schneller. „Was genau meinst du?“

„Das mit Jerry Lee. Wir werden ihn nicht ärgern.“

Thierry tat unwissend. „Ich hab keine Ahnung was du meinst.“ Wahrscheinlich um zu vermeiden, auf was ich hinaus wollte.

Ich stampfte auf. „Du weißt genau was ich meine! Wir wollten ihn ärgern. Und das werden wir lassen. Hast du mich verstanden?“

Er antwortete nicht.

„Es ist mir egal, ob du jetzt schweigst oder nicht. Denn zu diesem Plan braucht man zwei. Und der eine der beiden ist soeben vom Zug abgesprungen. Also wirst du diesen Plan nicht durchziehen können.“ Ich krallte mich am Sitz fest, als er nach links in den Wald einbog. Ich hatte das Gefühl, dass er die Kurve extra scharf fuhr. Allerdings versuchte ich nicht aufzukreischen – was ich glücklicherweise auch schaffte.

Dann schaffte Thierry sich aber zusammenzureißen. „Damit brichst du mir das Herz“, sagte er und griff sich mit einem schmerzerfüllten Gesichtsausdruck an die Brust. Er grinste und packte das Lenkrad wieder mit beiden Händen, um den Jeep unter der rutschigen Erde besser unter Kontrolle halten zu können.

„Ich hab mir schon gedacht, du würdest durchdrehen“, meinte ich leise.

Thierry lachte laut. „Sollte ich das etwa?“

Ich schüttelte mit einem Grinsen im Gesicht den Kopf. „Nein, lieber nicht.“

„Gut. Ich habe mir schon gedacht, dass du das eh nicht durchziehen wirst. Und außerdem hat mir ein Vögelchen gezwitschert, dass es ein Treffen zwischen Benjamin, Jerry Lee und – rate mal wer noch? Richtig! – Bethany gibt. Das heißt, es würde überhaupt keinen Sinn ergeben, wenn wir versuchen würden, ihn zu ärgern. So wie es aussieht, sind sie ja schon so gut wie zusammen.“

Mein Herz machte einen schmerzerfüllten Schlag. „Was? Wo hast du das denn bitte gehört?“

„Hab ich doch schon gesagt“, meinte er. „Es hat mir ein Vögelchen gezwitschert.“

Ich verdrehte genervt die Augen. „Und du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht geht. Also, wer hat dir das verraten?“ Seine Geheimniskrämerei ging mir allmählich auf die Nerven.

Thierry zögerte. „Okay, okay. Ich habe sie belauscht.“

Ich lachte kurz auf. „Das hätte ich mir denken können… Aber ich dachte einige dieser Wände seien undurchdringbar?“

„Sind sie ja auch.“

„Und wie hast du es dann angestellt, dass Gespräch zu beobachten?“, fragte ich.

„Du weißt doch hoffentlich noch, wer dieses Mittel erfunden hat, nicht wahr?“

Ich nickte und zeigte mit dem Zeigefinger auf ihn selbst. „Ja, du!“

„Ganz recht. Und da ich es erfunden habe, weiß ich jawohl auch, was das Gegenmittel ist“, meinte er und grinste frech.

Der Wagen hielt ruckartig im Wald und ich wurde gegen den Gurt gedrückt. Der zurückgelegte Weg war an uns vorbeigerauscht und ich hatte überhaupt nicht bemerkt, wie schnell wir tatsächlich unterwegs waren. Was auch gut war, sonst hätte ich mich wahrscheinlich wirklich übergeben müssen.

Ich hakte nach, während wir ausstiegen. „Und um was ging es genau? Wann überhaupt wurde beschlossen, dass es ein Treffen geben wird?“

Wir gingen auf die dichte Baumgruppe zu. „Lass mich überlegen… es war heute früh. Ungefähr um fünf. Und sie haben darüber geredet, was sie gestern schon besprochen hatten. Die Sache mit Bethany.“

„Du meinst die Sache mit dem Zwang“, erkannte ich.

„Ja… wow, halt mal!“, sagte er und blieb kurz stehen. „Woher weißt du davon? Von dem Zwang.“

„Er hat es mir erzählt. Jerry Lee“, erzählte ich ihm offen, ohne darüber nachzudenken, ob das irgendwelche Folgen für ihn haben könnte. Dann setzten wir uns wieder in Bewegung.

„Er hat es dir einfach so erklärt?“

Ich zögerte. „Naja, ich habe ihn schon mal danach gefragt, aber zu diesem Zeitpunkt konnte er es mir nicht richtig erklären… Keine Ahnung wieso. Auf jeden Fall hat er es mir gestern erzählt. Ist das schlimm?“ Die Frage rutschte einfach so aus mir heraus, ohne, dass sie wirklich beabsichtigt war.

Thierry schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke nicht. Ich meine, ihr werdet eh nicht mehr lange – egal.“

Ich sah ihn weiterhin fragend an.

„Ich habe gesagt, es ist egal, okay?“ Thierry war etwas aufgebracht.

„Meinetwegen“, sagte ich und tat so, als würde mir seine Reaktion überhaupt nichts ausmachen.

Thierry sprang auf den Steinbrunnen und reichte mir von dort oben die Hand. „Hätten Sie etwas einzuwenden, mich bei einen Ausflug in den Untergrund zu begleiten?“, fragte er mich charmant.

Ich schüttelte lächelnd und höflich den Kopf, genau wie es ein Fräulein im 18. Jahrhundert getan hätte. „Nein, es wäre mir eine Freude.“

 

Wir trafen Benjamin Wotsford, Desiree, Adam und Heaven vor dem schweren Tor der Trainingshalle. So wie es aussah, hatten sie dort auf uns gewartet. Kaum waren wir zu ihnen gestoßen, setze sich die kleine Gruppe auch schon in Bewegung.

Benjamin erzählte, der meines Erachtens nach viel zu schnell für einen solch alten Mann lief: „Wir werden uns ein Auto holen und damit zu Calvin fahren. Ich hoffe ihr beide könnt euren Text. Und wenn nicht, haben wir noch im Auto zwanzig Minuten Zeit. Mehr nicht. Und wenn ihr den Text nicht könnt, dann sollten wir diesen Plan sofort abbrechen. Möglicherweise könnte sonst noch etwas schiefgehen. Aber ich finde ihr seht recht zuversichtlich aus. Ich hoffe ich liege damit richtig?“

Ich nickte mit großem Respekt vor dem Gründer. „Ja, ich denke ich kann meinen Text.“

Benjamin sah Heaven fragend an.

„Klar, kann ich ihn. Es hat zwar ziemlich lange gedauert ihn auswendig zu lernen, aber ich bin mir sicher, dass ich, also wir, dass schaffen werden.“

„Das freut mich zu hören“, meinte Benjamin lächelnd. „Ich vertraue euch voll und ganz.“

Dass er das sagte, gab mir noch mehr Mut. Jetzt wollte ich zu Calvin und ihn fragen, was nun wirklich geschehen war. Ich wollte endlich losfahren und unseren Plan in die Tat umsetzen.

Wir liefen ziemlich weit, bis wir schließlich über uns brummende Geräusche hören konnten.

„Wo sind wir?“, fragte Heaven.

Adam lachte. „Oh, wir sind direkt unter einer Straße. Allerdings fährt hier nicht so oft ein Auto vorbei. Wir müssen nur etwas weiterlaufen…“ Dann schwieg er, denn vor uns öffnete sich ein Tor und wir konnten einen Blick auf mehrere Reihen von tausenden Autos werfen. Alle möglichen Autos. Ich fragte mich auch, welche Marke hier nicht dabei sei. Der Raum in dem die Wagen standen war, mindestens hundert Meter lang und es gab nur eine kleine Lücke zwischen jedem Auto. In der Raummitte war eine Metallplatte im Boden eingebaut.

Plötzlich begannen die Lichter eines Autos, das ziemlich am Ende des Raumes stand, zu brenne und es fuhr auf uns zu. Es war ein ganz normales, kaum auffallendes Auto. Wahrscheinlich auch besser so. Wäre schließlich ganz schön seltsam, wenn in einer Straße ein Monsterjeep oder ein weißer Porsche stehen würde.

Durch die Scheiben konnte ich einen Blick auf Kellans Gesicht erhaschen. Das erklärte auch, wer den Wagen fuhr. Das Auto blieb ruckartig auf der Plattform vor uns stehen.

„Alles einsteigen“, ertönte Desirees freundliche Stimme, die in dem großen Raum laut zurückhallte.

Doch dann meinte Benjamin: „Wir sollten nicht alle mitgehen.“ Er sah uns alle nach der Reihe an und sprach erst danach. „Adam… ich weiß, dass Heaven deine Freundin ist, aber ich halte es für ungeschickt, wenn du mitkommst. Du könntest sie vielleicht ablenken.“

Heaven protestierte: „Nein, nein! Das tut er nicht. Für mich ist es okay, wenn er mitkommt. Ich denke, er würde mich sogar etwas unterstützen.“

Benjamin Wotsford lächelte, schüttelte aber trotzdessen den Kopf. „Ich weiß, ich weiß. Aber wir sind trotzdessen zu viele.“

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Es wäre zwar traurig, aber nicht allzu schlimm, wenn ich hier bleiben müsse“, behauptete Adam. Ich konnte aber genau erkennen, dass es ihm schwerer fiel, Heaven gehen zu lassen, als er zugab. Was ich allerdings vollkommen verstehen konnte, denn ich war selbst auch traurig, dass Jerry Lee nicht hier war, um uns zu unterstützen. Nicht einmal, um uns viel Glück zu wünschen.

Bei dem Gedanken an ihn, schmerzte mein Herz unglaublich. Wie konnte ich nur so dumm sein? Und wie konnte er nur so dumm sein, sich in Bethany zu verlieben. Auch wenn er nicht viel dafür konnte.

Benjamin räusperte sich und riss mich aus meinen Gedanken. „Thierry. Du solltest ebenfalls hier bleiben.“

Er nickte wissend. „Okay.“

Mehr hatte er nicht zu sagen. Aber ich wollte selbst nicht nachfragen, weshalb er nicht mit durfte. Ob es wohl auch daran lag, dass er jemanden ablenken konnte? Vielleicht sogar mich? Wobei ich es wohl eher wäre, die ihn ablenken würde. Doch eigentlich gab es ja nichts, wovon ich ihn ablenken hätte können.

„Ich selbst werde im Übrigen auch hier bleiben“, erzählte Benjamin und ich fragte mich unwillkürlich, weshalb er überhaupt hierher kommen war. „Ich hoffe ihr werdet ohne meine Hilfe zurechtkommen. Wenn nicht, könnt ihr mich ja anrufen. Marie Pawlow hat euch extra Handys besorgt und sie von unserem Techniker ein wenig bearbeiten lasse.“ Bei dem Wort „Techniker“ zeigte er auf Desiree. Sie sah allerdings alles andere aus, wie ein Techniker und das war nicht das Einzige was mich wunderte. Ich dachte immer, dass Adam hier der einzige Techniker war. Oder war er nur der Hacker?

„Soll heißen?“, fragte Thierry, der immer noch neben mir stand.

„Keiner kann eure Gespräche verfolgen und auch nicht orten, außer unserem eigenen System. Die Anruferliste der Handys beruht nur auf Gegenseitigkeit. Ihr könnt also keine andere Nummer erreichen. Und ihr selbst könnt nur von diesem einem Handy angerufen werden“, erklärte Benjamin und hielt ein Handy in die Höhe.

„Wenn Sie von Handys sprechen… wie viele sind das?“, fragte Heaven.

Er lächelte. „Für jeden eines. Und ihr könnt ruhig Benjamin zu mir sagen.“

Mit diesen Worten wurden die Türen des Wagens von alleine geöffnet. So wie es aussah, war es alles andere als ein normales Auto. Nur getarnt in einer alten Klapperschachtel. Desiree setzte sich elegant auf den Beifahrersitz, während Heaven und ich die hinteren Plätze einnahmen.

„Das kommende Auto ist sieben Kilometer von hier entfernt“, meinte Adam, der sich mit dem Kopf in das geöffnete Fenster des Fahrers gebeugt hatte. Ich verstand zwar kein Wort, aber als die Decke über uns zu summen begann und sich schließlich ganz öffnete, erklärte sich so einiges. Der Boden, die Straße, öffnete sich wie das Dach eines Cabrios. So wie meines.

Wow, war das Einzige was ich denken konnte.

Adam trat von dem Auto weg und drückte auf den Knopf einer Fernbedienung. Nun begann auch der Boden zu ruckeln und wir bewegten uns dem Himmel entgegen.

 

Wir fuhren nicht lange. Vielleicht eine halbe Stunde, aber auch nicht viel mehr. Die Fahrt kam mir allerdings sehr viel länger vor, noch dazu konnte ich einfach nicht ruhig sitzen bleiben. Nein, ich rutschte die ganze Zeit über auf meinem Sitz hin und her, wippte mit den Füßen und erntete von Desiree beruhigende Blicke. Allerdings war das nur ein Versuch mich zu sänftigen. Ich wurde nur noch zappeliger, bis ich irgendwann nicht mehr meine Augen und meine Gedanken auf dem Blätterstapel, der auf meinem Schoß lag, halten konnte. Doch ab diesem Zeitpunkt dauerte es nur noch wenige Minuten, bis wir endlich da waren. Und ja, wie jede Fahrt hatte auch diese bald ein Ende.

Noch nie war ich so aufgeregt wie heute gewesen. Als das Auto hielt, zitterten meine Beine ungemein. Es hatte schon etwas Unheimliches. Ich hatte sogar den Verdacht, dass ich sie nicht bewegen, geschweige denn laufen konnte. Aber ich konnte mich geradeso zusammenreisen und stieg aus dem Wagen.

Kellan hatte den Wagen zwei Straßen weiter geparkt, sodass wir eine kleine Strecke laufen mussten. Was allerdings nicht schlecht war, denn so konnte ich meine Gedanken sortieren und noch ein bisschen frische Luft schnappen, um besser denken zu können. Im Auto war nach einiger Zeit eine wirklich erdrückende Luft entstanden.

„Euch beiden muss bewusst sein, dass wir keine Kontrolle über das Geschehen in diesem Haus haben. Das heißt, falls etwas passiert, können wir nichts machen. Ihr solltet in diesem Falle schleunigst bei uns anrufen, damit wir kommen können. Und keine Sorge, wir würden schon einen Weg nach innen finden.“

Heaven und ich nickte konzentriert. Wobei ich das überhaupt nicht war. Ich fragte mich eher, wieso sie uns nicht unterstützten und mit Worten wie „Ihr schafft das schon“ beruhigten. So bauten sie doch nur noch mehr Stress auf, oder?

Desiree und Kellan waren bis in die Straße vor Calvins Haus mitgelaufen. Dort würden sie sich in ein Café setzen, um nicht im Wagen sitzen zu müssen.

„Wir sehen uns später“, meinte Kellen und sie bogen in eine kleine Gasse ab. Jetzt waren wir also alleine. Und jetzt ging es richtig los.

Da mir bewusst war, dass sie uns höchstwahrscheinlich immer noch hören konnten, flüsterte ich Heaven zu: „Denkst du wir schaffen das?“

Heaven schluckte. Ich wusste, dass ihr die Antwort nicht leicht fiel, also sagte sie: „Wir sollten uns nicht so viele Gedanken machen.“

Dann gingen wir weiter.

Das Einzige auf das mein Blick gerichtet war, als wir die Straße entlang liefen, war Calvins Haus. Es war ziemlich klein, mit weißem Holz verkleidet, an jedem Fenster Blumenkästen. Beim Näherkommen erkannte ich einen Fußweg aus Steinchen, der sich durch den kleinen Vorgarten schlängelte und schließlich zu drei Treppenstufen führte. Vor der Tür lag eine Fußmatte mit der Aufschrift „Herzlich Willkommen“. Und das hoffte ich auch.

Ich atmete zwei Mal tief ein und aus. Einmal hätte mit Sicherheit nicht gereicht.

Neben einem weißen Briefkasten, der mit Ornamenten aus einem Blumenmuster verziert war, hing eine Klingel. Je näher ich dieser kam, desto mehr schien es, als würde alles in Zeitlupe an mir vorbeirauschen. Immer langsamer. Immer verschwommener. Mein Herz sprang mir regelrecht aus der Brust. In meinen Ohren rauschte das Blut, meine Knie zitterten – vielleicht sogar noch stärker als zuvor. Unmöglich? Ja. Aber irgendwie auch nicht.

Im selben Moment, als Heaven auf die Klingel drückte, begann es in meinem Kopf zu rauschen. Und als sich die Tür öffnete, waren alle Gefühle weg.

Vor uns stand Calvin, der uns etwas verdutzt anguckte.

„Was… was macht ihr denn hier?“, fragte er uns entgeistert.

„Hey“, brachte ich heraus. Ihn zu sehen, hatte mich etwas aus der Fassung gebracht. Er sah eigentlich wie immer aus, nur… ganz anders.

„Wir wollten uns erkundigen, wie es dir geht?“

Seine Augen wurden für einen kurzen Moment riesengroß, so als ob er eine Erkenntnis hätte. Dann meinte er: „Gut.“ Er wollte die Tür zu machen, doch schneller als erwartet stand mein Fuß zwischen ihr und dem Rahmen. Die plötzliche Bewegung überraschte nicht nur mich, sondern auch Calvin, der mich nun ansah.

„Willst du uns nicht hereinbitten?“, fragte ich ihn eindringlich. Okay, das lief in die falsche Richtung. Eigentlich sollten wir doch freundlich sein! Also fügte ich schnell hinzu: „Ich meine, ich würde es natürlich verstehen, wenn du das nicht möchtest, aber vielleicht würde es dir gut tun, mal über alles zu reden?“

Der Druck den er auf die Tür ausübte wurde weniger. Ein wirklich gutes Gefühl für meinen Fuß.

„Da gibt es nicht viel zu sagen“, meinte er knapp und sah uns abwartend an, als ob er darauf wartete, dass wir uns endlich aus dem Staub machen würden.

„Das macht doch nichts“, meinte Heaven. „Du kannst uns ja das erzählen, über was du reden möchtest. Wie läuft es in der Schule?“, fragte sie zur Ablenkung. Dabei drückte sie die Tür auf und trat ein.

Als ich es ihr gleich tat, stieß mir der Duft, so wie Calvin immer roch, in die Nase – es erinnerte mich ein bisschen an unseren Kuss.

Calvin sah Heaven auf ihre Frage stirnrunzelnd an. „Ähm, ich gehe im Moment nicht in die Schule… falls dir das noch nicht aufgefallen ist.“

Der Flur war schmal, hatte aber trotzdem Platz für ein Schuhregal und einen Jackenhalter. An einer braunen Wand platzierte ein Spiegel, in den ich lieber keinen Blick werfen mochte. Rechts von uns war eine Tür, sowie am Ende des Flures und auf der linken Seite befand sich eine Wendeltreppe, die wohl in den ersten Stock führte.

„Oh doch, das ist uns aufgefallen. Aber das meinte ich auch nicht“, meinte Heaven und streifte ihre Schuhe ab. So, als ob sie das immer tun oder hier selbst wohnen würde. Aber uns wurde gesagt, dass wir es uns gemütlich machen sollten, damit keine angespannte Stimmung entstehen konnte. Auch wenn ich mir das überhaupt nicht vorstellen konnte. Aber jetzt musste ich zugeben, dass es einigermaßen in Ordnung war, in seiner Wohnung zu stehen und mit ihm zu reden. Was war auch schon groß dabei? Naja, mal davon abgesehen, dass sein Leben gerade ziemlich den Bach herunterlief und wir mehr oder weniger hier waren, um ihn über die merkwürdigen Geschehnisse auszuquetschen.

„Ich wollte eigentlich fragen, ob du Schulstoff und alles bekommst“, erklärte Heaven ihm schließlich.

Calvin schüttelte den Kopf. „Nein, bekomme ich nicht. Aber um ehrlich zu sein, seid ihr die Allerersten, die mich hier besuchen… mal von der Polizei abgesehen.“

Ich lächelte ihn an. „Na, dann musst du dich ja richtig freuen, dass du mal jemand anderen zu Gesicht bekommst.“

Er runzelte die Stirn. „Ja, wirklich ganz toll.“ Okay, er klang nicht sonderlich begeistert.

Wir gingen einfach weiter und betraten durch die hintere Tür das Wohnzimmer. Darin standen eine große Couch, ein Sessel, ein Flachbildschirm, ein kleiner Tisch und eine Schrankreihe mit Büchern. Heaven und ich ließen uns auf das Sofa nieder und Calvin nahm im Sessel Platz.

„Wie geht es deiner Familie?“, fragte Heaven, was ein Fehler war.

Calvins Blick wurde traurig. Okay, das war eine abgrundtiefe Untertreibung von dem, wie er jetzt aussah.

„Okay, Themawechsel“, plauderte ich weiter.

„Mein Vater ist tot.“

Heaven und mit klappte der Mund auf.

„Das ist ein Witz, oder?“, fragte meine Freundin schließlich.

„Denkst du, ich würde über so etwas Witze machen?“, fauchte er sie aufgebracht an.

„Das… das tut mir leid“, murmelte ich verlegen und total aus dem Konzept gebracht.

Er sah mich etwas verächtlich an. „Wieso entschuldigst du dich dafür? Es ist schließlich nicht deine Schuld.“

„Stimmt… aber wer war das überhaupt?“, fragte ich weiter.

Er zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das denn bitte wissen?“

„War deine Mum zu Hause“, fragte Heaven.

„Ja.“

Ich zögerte. „Und hat sie etwas gesehen?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Wie geht es ihr jetzt?“, fragte Heaven. Langsam wurde es wirklich zu einem Verhör.

„Wie es jemanden eben geht, der gerade als Witwe abgestempelt wurde.“

„Mies?“, stellte ich mit einem Fragezeichen fest.

Calvin nickte.

„Hast du schon mit ihr geredet. Ich meine, über das alles hier?“

„Natürlich.“

„Und was hat sie gesagt?“

Er sah weg und schwieg.

„Weißt du es nicht mehr oder willst du es uns nicht sagen?“, fragte Heaven.

„Natürlich weiß ich es noch, aber…“ Er schwieg und sah auf seine Hände, die er zu zitternden Fäusten geballt hatte.

„Aber?“, hakte ich nach.

„Nichts.“ Er schloss kurz die Augen, dann sah er uns wieder an.

„Du willst es uns nicht sagen?“

„Ja“, behauptete er, aber jeder Blinde hätte sehen können, dass er log.

Wir schwiegen. Wahrscheinlich weil wir hofften, er würde sich anders entscheiden und uns doch noch die Wahrheit offenbaren.

Dann sagte er völlig unerwartet. „Ich habe Angst.“

Heaven und ich sahen ihn nur an, damit er weitersprach.

Erst wollte er nicht, aber dann meinte er: „Ich meine, was wenn es nochmal passieren wird? Was wenn diese Frau kommen wird und… ähm… ist ja auch egal“, sagte er schnell.

Ich verstand erst nach ein paar Sekunden was er gesagt hatte. Eine Frau?

Heaven reagierte schneller. „Wow, halt stopp. Was für eine Frau?“

Er sah sich nervös im Raum um. „Niemand.“

„Oh doch, du hast etwas von einer Frau gefaselt.“

Er schüttelte den Kopf. „Hab ich nicht.“ Er presste die Lippen aufeinander.

„Du kannst es uns erzählen. Du kannst uns vertrauen“, meinte ich besänftigend.

„Ihr solltet jetzt gehen“, meinte er und rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her.

„Aber wir sind doch gerade erst gekommen?“

Er zuckte mit den Schultern und stand auf. „Ja, das hat schon gereicht.“

„Nein“, meinte Heaven.

„Ich möchte aber, dass ihr geht!“, rief er, klang dabei wütend und verzweifelt.

Um ehrlich zu sein, wunderte es mich überhaupt nicht, dass er uns rausschmiss. Ich würde auch nicht unbedingt über Tatsachen, von meinem vor Kurzen verstorbenen Dad, reden wollen. Das wäre wirklich zu viel. Und auch noch die Sache, dass wir in praktisch ausquetschten über den Tod seines Dads. So wie es aussah, hatten wir unsere Aktion nicht besonders gut erledigt. Und ich mochte mir gar nicht vorstellen, was das für die nächsten Stunden bedeuten mochte. Was die anderen sagen würden? Ob sie sauer wären?

„Okay, okay! Wir sind schon weg“, meinte Heaven und zog mich mit sich.

Ich warf Calvin noch einen letzten Blick zu, während wir aus dem Wohnzimmer gingen. In seinem Blick lagen Angst, Wut, Verzweiflung und Trauer.

 

Wir liefen die zweite Straße zurück, auf der Suche nach dem Café, in das sich Kellan und Desiree zurückgezogen hatten. Heaven und ich malten uns schon aus, was sie wohl sagen würden. Zu Beginn hatten wir beide geschwiegen, aber irgendwann funktionierte das nicht mehr.

„Was denkst du werden sie machen?“, fragte mich meine beste Freundin. Es war genau der Gedanke, der mir schon seit ein paar Minuten im Kopf herumschwirrte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber sehr begeistert werden sie mit Sicherheit nicht sein.“

Heaven lachte auf.  Es war kein freudiges Lachen. „Natürlich werden sie das nicht. Aber ich frage mich, was das nun bedeuten würde. Denkst du es hat irgendwelche Folgen?“

„Wäre möglich. Aber sicher bin ich mir nicht.“ Das war das Einzige, was mir einfiel. Ich wollte sie nicht anlügen, aber es sollte auch nicht aussichtslos klingen, so, als ob wir keine Wahl hätten, alles wieder gut zu machen. Falls wir etwas gut zu machen konnten.

„Aber ist es denn unsere Schuld, was passiert ist?“, fragte sie mich.

Ich sah sie an und winkte ab. „Nein, natürlich nicht. Wir können doch nichts dafür, was mit seinen Eltern, also seinem Dad, passiert ist.“

„Nein, nein. Das meine ich doch gar nicht. Ich meine, hätten wir gerade vorsichtiger sein können? Damit er uns mehr verraten hätte.“

Ich schwieg erst, doch dann meinte ich: „Man kann alles immer etwas besser machen.“

„Halt, halt, halt! Komm mir jetzt bloß nicht, mit diesem psychologischen Mist.“

Heaven hatte recht. Ich fand dieses Gerede nämlich selbst zum Ausflippen, immer wenn meine Mum anfing so mit mir zu reden. Aber mir fiel nun mal nichts Besseres ein.

„Okay, okay. Ich glaube, wir sind knapp an unserem Plan vorbeigeschrappt. Aber wir haben ja wenigstens etwas von einer Frau herausgefunden.“

„Ja, eine Frau. Wir wissen gar nichts von ihr. Nicht wie sie aussieht, was sie will und geschweige denn den Namen. Ich finde nicht, dass das ein Punkt ist, an dem wir uns mit dem momentanen Stand festhalten sollten oder könnten.“

Ich schwieg. Wieso musste Heaven auch immer so verflucht recht haben?

„Vielleicht sollten wir nochmal zu ihm gehen und ihn mehr fragen. Aber nicht zu viel. Sonst schmeißt er uns wieder raus. Hätte er sich nicht einfach über Besuch freuen können?“

„Aber ich finde nicht, dass wir uns so daneben benommen haben. Eigentlich waren wir doch recht gute Freunde für ihn. Wenn man mal in Betracht zieht, dass wir sonst so gut wie nie mit Calvin geredet haben.“

Heaven schmunzelte. „Nein. Ich habe so gut wie nie mit ihm geredet. Du allerdings schon.“

Ich schwieg und schüttelte grinsend den Kopf.

„Okay, jetzt aber mal im Ernst. Haben wir es sehr verhauen?“

„Nein, es… es war okay.“ Ich wusste nicht, ob ich damit die Wahrheit sagte, aber was auch immer… wir würden es bald herausfinden, denn in der Zwischenzeit standen wir vor dem Café.

 

Kaum hatten wir die Tür geöffnet, fiel unser Blick auf einen Tisch, der sich versteckt in einer Ecke des Cafés befand. Dort saßen Kellan und Desiree. Sie hielt eine Zeitschrift in den Händen und blätterte gelangweilt, aber auch irgendwie angespannt, die Seiten um. Kellan war ganz gelassen und nippte an einer heißen Schokolade mit Marshmallows. Als sie uns bemerkten, und das war eine Sekunde nachdem wir den Laden betreten hatten, wurden ihre Gesichter ernst.

Wir schlenderten zwischen den Tischen hindurch, darauf bedacht, niemanden zu stören oder auf uns aufmerksam zu machen. Dann setzten wir uns zu ihnen. Desiree sah uns neutral an, obwohl ihre Augen funkelten. Ich wusste nicht, ob vor Freude oder Wut, wobei ich mir das bei Desiree nicht vorstellen konnte. Aber Kellan war verwirrt und gespannt auf das, was wir zu erzählen hatten. Was zu unserem Verhängnis nicht besonders viel war.

„Was macht ihr denn schon hier?“, fragte Desiree. Sie klang merkwürdig, aber trotzdem auf irgendeine Weise freundlich.

„Wir… ähm…“, begann ich.

„Wir wurden rausgeschmissen“, platzte Heaven heraus.

Ich stöhnte auf und sah sie mit einem Was-zum-Teufel-war-das-denn-jetzt-bitte-Blick an. Sie zuckte nur mit den Schultern.

Kellan fasste sich an die Stirn. „Ist das euer Ernst.“

„Ja… leider“, meinte ich.

„Das ist nicht so schlimm“, meinte Desiree.

Kellan sprang fast auf. „Was? Nicht so schlimm? Das ist….“

„Beruhig dich doch wieder“, sagte Desiree ernst, sah die anderen Gäste an, um zu überprüfen, ob uns jemand beobachtete und fügte hinzu, „Es ist nicht gut, aber auch keine Katastrophe. Erzählt uns, was genau passiert ist.“

Ich begann zu erzählen: „Nicht viel. Naja, wir sind ganz gut angekommen, aber schon als er uns sah, war er nicht sehr begeistert. Er hat gesagt, wir wären die Ersten, die ihn besucht hätten. Aber er wollte uns schnell wieder loshaben.“

„Aber ihr seid in das Haus gekommen?“

„Ja“, meinte Heaven und erzählte weiter, „allerdings nicht für lange Zeit. Aber das hat gereicht um zu erfahren, dass er mit der Schule im Moment nicht viel am Hut hat. Er hat gesagt, dass sein Dad tot sei und dass die Polizei ab und zu aufgetauchte. Seine Mum war zu Hause, sie hat auch etwas gesehen, aber darüber wollte er nicht reden. Oder er konnte nicht. Ich weiß nicht genau. Er hat auf jeden Fall Angst, dass es nochmals passieren könnte. Das ist natürlich verständlich. Aber das wird es doch nicht, oder?“, erkundigte sie sich.

„Wir tun unser Bestes“, meinte Kellan, der sich wieder im Griff hatte. „Es ist aber auch klar, dass wir für nichts garantieren können.“

„Das schaffen wir schon“, meinte Desiree, aber ich war mir nicht sicher, was genau sie nun meinte.

Dann fiel mir noch etwas ein. „Und er hat etwas von einer Frau gefaselt“, platzte es aus mir heraus.

Desirees Augen wurden groß. „Von… von einer Frau?“

„Ja, aber er….“

Desiree unterbrach Heaven hastig. „Naja, so schlecht war die Ausbeute ja gar nicht. Wir sollten jetzt gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Okay…“, sagte ich und fand diese Reaktion etwas merkwürdig.

„Ach, wenn wir schon von morgen reden, was haben wir vor?“, fragte Heaven, der anscheinend nicht aufgefallen war, dass Desiree ziemlich schnell das Thema gewechselt hatte.

Sie lächelte freundlich und war wieder wie immer. „Nun, wir dachte es wäre besser, wenn wir noch eine Trainingseinheit ablegen würden. Und zuvor eine kleine Besprechung.“

Ich nickte. „Das hört sich gut an. Ich weiß, dass es zu früh ist, aber ich wollte wissen, wann wir zu Finn gehen?“

Desiree nickte verständnisvoll. „Ja, ich kann verstehen, dass du das wissen möchtest, aber ich kann nichts Genaues sagen. Auch wenn es heute meiner Meinung nach in Ordnung gelaufen ist, bin ich mir nicht sicher, was die anderen dazu sagen werden. Vielleicht sehen sie das Geschehnis als totales Missgeschick und wollen, dass ihr noch mehr darauf vorbereitet werdet, mit Finn zu reden. Ich werde mich aber dafür einsetzte, damit ihr früher zu Finn gehen könnt.“

„Hört sich gut an“, behauptete ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob es das wirklich war. Waren wir in der Lage mit einem Jungen zu reden, der in einer Psychiatrie war, wenn wir schon mit einem normalen Jungen kaum zurechtkamen? Aber Heaven und ich hatten beide das Gefühl, als wären wir die Einzigen, die an uns zweifelten. Alle anderen waren festentschlossen, dass wir das im Handumdrehen lösen könnten.

 

Wir blieben nicht lange im Café. Kellan bestellte Heaven und mir einen Kaffee, obwohl ich eigentlich überhaupt keinen Durst hatte. Er aber gemeinte, es würde ihm immer beim Nachdenken helfen und vielleicht wäre es bei uns ebenso der Fall. Also willigten wir ein und eine Stunde später waren wir auf dem Weg zu den Katakomben.

Zehn Minuten bevor wir an der Stelle, bei der es mehr oder weniger in den Boden ging, ankamen, wählte Desiree eine lange Handynummer. Sie faselte etwas, dass wir gleich da wären und sie sich bereit machen müssten, das Tor zu öffnen. Mir war klar, dass sie darauf achten mussten, dass kein anderes Auto in der Nähe war. Allerdings wunderte ich mich, dass es noch niemanden aufgefallen war, was unter der Erde vor sich ging. Doch kaum dachte ich darüber nach, viel mit der Grund dafür ein. Es war der Zwang.

Und als ich jetzt an den Zwang dachte, musste ich unwillkürlich an Jerry Lee und seine Bethany denken. Wieso war sie es und nicht ich? War sie so viel besser, weil sie schon um die halbe Welt gereist war? Oder war sie gar nicht besser, sondern konnte sich einfach nur gegen den Zwang wehren und war so für Jerry bestimmt? Ja, sie war für Jerry bestimmt, aber trotzdem gab es keinen Grund, wieso. Wieso sie und nicht ich?

 

Zum Glück gab es keinerlei Komplikationen und wir konnten ungestört in das Versteck fahren. Als wir ungefähr fünf Meter von der Klappe entfernt waren, schoss diese in die Höhe und wir hielten ruckartig auf dem Metallpodest. Der Boden fuhr herunter und die Klappe schloss sich fast lautlos. Es erklang nur ein kleiner Laut, der sich anhörte wie das Brummen einer Hummel.

Kellan blieb unten angekommen aber nicht stehen, sondern brauste an Josephine vorbei. Sie stand – wahrscheinlich wartete sie auf uns – mit gelangweiltem Gesichtsausdruck in der Garage und starrte auf das Auto. Als sich unsere Blicke für einen winzigen Wimpernschlag trafen, sah es so aus, als würde sie lächeln.

Der Wagen hielt auf dem gewohnten Parkplatz. Kellan schaltete den Motor aus und wir öffneten die Türen.

Josephine war dem Auto in ihren hohen Hacken etwas hinterher getippelt, blieb aber nach ein paar Metern stehen, wahrscheinlich weil ihr auf dem halben Weg plötzlich die Lust vergangen war.

„Da seid ihr ja endlich!“, rief sie, hob die Arme und ließ sie mit einem lauten Knall seitlich auf ihre Oberschenkel fallen. Hinter ihr tauchte Adam auf, der eine Fernbedienung in der Hand hielt.

„Unsere Abwesenheit hätte man doch gar nicht merken können, so kurz waren wir weg“, meinte Desiree freundlich.

Josephine machte ein abschätziges Geräusch und sagte: „Das hat mir schon gereicht.“ Sie sah zu Adam. „Er und Benjamin hatten mich beauftragt, hier auf euch zu warten. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte.“ Ihre Miene war am Tiefpunkt angelangt.

Adam lachte. „Ach ja? Und das wäre? Etwa deiner Katze die Krallen lackieren?“

Josephine knurrte etwas. „Nein und das habe ich noch nie gemacht.“ Okay, anscheinend lag ihr Tiefpunkt doch etwas weiter unten, als ich dachte – Wo? Keine Ahnung!

Dann sagte ich, weil ich genau sehen konnte, wie Adam ihr auf den Geist ging: „Lass sie in Ruhe!“

Josephines Gesicht hellte sich ein bisschen auf. Sie deutete mit der flachen Hand auf mich. „Ganz genau! Hört auf Molly!“ Es klang ein wenig sarkastisch und ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie freudig in die Hände geklatscht hätte.

„Ja, klar“, sagte Kellan und marschierte mit Desiree im Schlepptau an uns vorbei.

Desiree lächelte uns an, während wir den beiden folgten, und meinte: „Wenn ihr noch etwas vorhabt, kann ich Benjamin von eurem Gespräch alleine erzählen.“

Ich wollt etwas sagen, doch Josephine sagte: „Ja, das wäre perfekt! Ich will Molly noch mein Zimmer zeigen.“

Diese Aussage traf mich genauso überrascht, wie die Tatsache, dass Calvins Dad tot war.

Heaven sah mich fragend an, aber ich konnte nur mit den Achseln zucken.

„Heaven und ich haben auch etwas vor“, meinte Adam, wahrscheinlich um Heaven davor zu schützen, alleine zu Benjamin gehen zu müssen. Sie lächelte ihn dankbar an.

„Okay, aber jetzt erzählt doch mal, wie es war?“, drängte Josephine.

Keiner sagte etwas.

Josephine verdrehte die Augen. „Na gut, meinetwegen. Molly wird es mir trotzdessen erzählen, hab ich recht?“ Sie sah mich eindringlich an.

„Nein, wird sie nicht“, meinte Kellan. „Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie in die Höhle des Löwen gehen wird… hab ich recht?“ Er lachte vor sich her, während wir die Garage verließen und uns auf den Rückweg machten.

Josephine ignorierte ihn und sah mich weiterhin an.

Ich wusste nicht recht was ich sagen sollte, also zuckte ich mit den Schultern. Es lag nicht nur daran, weil ich nun mal wirklich nicht wusste, ob ich es ihr einfach so erzählen konnte oder ob es daran lag, wie sie gerade redete. Sie war zwar immer noch sie selber, aber irgendwie war sie nett zu mir. Nur zu mir. Zu den anderen war sie wie immer. Kalt und desinteressiert. Amüsiert musste ich feststellen, dass mir diese Art gefiel.

Wir liefen ein paar Gänge schweigend, während ich mir Gedanken machte, ob ich Josephine nun von unserer Mission erzählen sollte oder nicht. Und als Adam anfing zu sprechen, war ich mir immer noch nicht sicher.

„Hey Leute, wir werden hier abbiegen“, meinte er und schnappte sich Heavens Hand. „Wir sind heute Abend wieder daheim.“

Eigentlich wollte ich mich noch von Heaven verabschieden, doch die beiden waren plötzlich weg. Sie hinterließen nur einen leichten Luftzug, der mir auf dem Nacken eine Gänsehaut verursachte. Meine Freundin würde sich hundertprozentig über ihre Haare beschweren, wenn sie wieder zum Stehen kamen.

Als ob Josephine meine Gedanken hätte lesen können, schnappte sie sich auch meine Hand und sagte: „Es tut mir leid für deine Haare, aber ich halte es bei diesen Pappnasen“, sie nickte in Kellans Richtung, „nicht mehr aus.“

Die Umgebung um uns verschwamm immer stärker, in meinen Ohren begann es zu rauschen und meine braunen Augen füllten sich mit Tränen vom Fahrtwind. Und dann war alles ganz plötzlich vorbei, sowie es gekommen war.

Ich schnappte nach Luft. „Hättest du mich denn nicht wenigstens vorwarnen können?“ Mit meinen Finger wischte ich mir die Tränen aus den Augen und von den Wangen.

Josephine kicherte. „Tut mir leid. Auf einer so langen Strecke ist es manchmal ratsam die Luft anzuhalten.“

„Oh, gut dass du mir das jetzt sagst“, meinte ich und musste etwas lachen. „Aber danke für den Adrenalinkick.“ Jetzt merkte ich, dass wir vor einer schwarzen Tür standen, auf der mit goldenen Buchstaben „Josephine“ stand. Neben dieser Tür waren weitere, auf denen überall Namen standen. „Sind das alles Zimmer von euch?“, fragte ich und beäugte den Flur, der unendlich erschien.

Josephine nickte. „Ja, das stimmt. Das hier ist meines.“ Sie zeigte nach vorne. „Zum Glück durften wir es uns selbst einrichten, sonst wäre ich wahrscheinlich gestorben“, meinte sie lachend.

Ich war immer noch ganz fasziniert von den vielen Zimmern, sodass ich nur halb mitbekam, wie Josephine einen rubinroten Schlüssel aus ihrer Hosentasche zog und die Tür aufsperrte. „Wie viele sind das? Ich meine, wie viele Leute wohnen denn hier?“

Josephine zuckte mit den Schultern. „Ich hab keine Ahnung. Es sind viele, das geb ich ja zu, aber die genaue Anzahl weiß ich nicht.“

„Das ist verdammt beeindruckend“, meinte ich und starrte immer noch den Flur entlang.

Josephine lachte. „Du solltest mal die obere Etage sehen! Aber falls du dich wunderst, wo alle sind. Die meisten trainieren schon oder sind in der Küche. Besser gesagt: Küchen.“

„Habt ihr denn so was wie Köche?“, fragte ich.

„Nein, wir kochen selber. Und jetzt komm endlich“, sagte sie ungeduldig und zog mich in ihr Zimmer.

Was ich sah warf mich regelrecht um. Der Boden war eher ein flauschiger Teppich in einem dunklen Rotton und die Wände waren ganz pechschwarz. Allerdings wirkte das Zimmer alles andere als dunkel, da eine Wand mit Bilderrahmen in allen möglichen Größen bedeckt war. Die Form des Zimmers war ein einfaches Quadrat. Unter den Bildern an der gegenüberliegenden Seite zur Tür stand ein Bett. Am Fuß- und Kopfende hatte es Gitterstäbe, die mit Lichterketten verziert waren. Die Ketten leuchteten in allen möglichen Farben des Regenbogens, allerdings nicht in seiner Reihenfolge. Rechts neben der Tür war ein großer Schrank und im rechten Winkel daneben ein Regal mit Schuhen. Verflucht vielen Schuhen! An der Wand links von der Tür waren ein Spiegel und ein kleiner Beistelltisch, auf dem ein großer Schmuckständer in Form eines Baumes stand. Das Zimmer war einfach vollkommen.

„Mein Güte und ich war schon von dem Flur geblendet. Dein Zimmer ist… perfekt.“

Josephine lächelte. „Ja, ich weiß.“ Sie ließ sich auf einen schneeweißen Sessel nieder, der am Ende des Bettes stand. „Setz dich“, sagte sie und zeigte auf einen weiteren, der sich neben ihrem befand. Ich tat es.

„Okay, aber eines muss ich doch fragen“, meinte ich.

„Nur raus damit“, sagte sie gespannt, zog ihre Knie an und schlang ihre Arme um ihre Beine.

„Woher habt ihr das Geld, um das zu kaufen? Arbeitet ihr etwas?“

„Naja, Benjamin gehörte früher eine große Geschäftsreihe. Alleine als er dort gearbeitet hatte, hatte er jedes Jahr mehrere Millionen verdient. Aber dann hat er sie an einen dieser reichen Schnösel verkauft. Keine Ahnung wie viel Geld er dafür bekommen hat, aber wie du siehst, reicht das für uns alle.“

Ich sah sie mit offenem Mund an. „Ist das dein Ernst? Ihr braucht nicht zu arbeiten?“

Josephine schüttelte den Kopf. „Nein, aber einige tun es trotzdem. Kellan zum Beispiel hatte in einer Autowerkstatt gearbeitet, weshalb er auch so ein Autofreak ist. Und Desiree in einer Bibliothek.“ Sie machte eine kurze Pause und in dem Moment schlüpfte ein weißer Wollknäuel ins Zimmer. „Ach da bist du ja“, meinte Josephine liebenswert und ließ ihre Katze auf ihren Schoß springen. „Okay“, meinte sie und fügte hinzu, „Du willst sicherlich wissen, wieso ich dich wirklich hierher geschleppt habe.“

„Also wolltest du mir nicht dein Zimmer zeigen?“, fragte ich sie, wobei ich nicht wirklich überrascht war.

Sie zuckte mit den Schultern. „Doch doch, irgendwie schon. Aber der schwerwiegendere Grund sitzt gerade auf meinem Schoß.“ Sie lächelte, zeigte auf Skye und streichelte ihr zwischen den Ohren und die Katze begann zu schnurren.

„Soll heißen?“

Sie lachte. „Ich glaube, sie hat dich vermisst.“

Ich wollte sie fragen, wie sie auf den Gedanken kam, dass mich Skye vermissen würde und woher sie das wissen konnte, aber in dem Moment, als Josephine zu Ende geredet hatte, sprang die kleine Katze wie zur Bestätigung tatsächlich auf meinen Schoß.

Josephine lachte noch lauter. „Was hab ich gesagt!“

Ich erschrak mich ziemlich, als sie in Binnen einer Sekunde auf meinen Oberschenkeln saß. Dann fing ich aber an sie zu streicheln und sie rollte sich in einer Kugel, die überhaupt nicht nach Katze aussah, zusammen und schnurrte wohlwollend. „Okay, aber wieso hat sie mich vermisst? Wir beide kennen uns doch überhaupt nicht.“ Als ich das ausgesprochen hatte, merkte ich, dass ich schon fast wie von einem Menschen sprach.

Josephines Mundwinkel zuckte etwas nach oben. „Weißt du, Skye ist wie ich. Wir sind nicht besonders kontaktfreudig, aber wenn wir jemanden kennenlernen, möchten wir oft in der Nähe dieser Person sein. Skye hat, um ehrlich zu sein, noch nie jemand anderen gemocht, als mich. Kannst du dich noch an unsere Autofahrt erinnern?“, fragte mich Josephine und ich nickte. „Das war der Moment, als ich merkte, dass sie dich mag. Und ich glaube, sie wollte auch nicht, dass du gehst.“

„Ach ja?“, fragte ich.

Das Mädchen lachte. „Als du aus dem Auto verschwunden warst, hat sie ganz schön gejammert und war ziemlich zickig.“

„Du redest, als sei sie ein richtiger Mensch“, bemerkte ich und musste lachen.

Josephine zuckte mit den Schultern. „Das ist eine blöde Angewohnheit. Genauso wie die Tatsache, dass ich sie viel zu sehr verwöhne.“

Ich lachte. „Und wie habt ihr zueinander gefunden?“, fragte ich.

„Oh, das ist eine ziemlich lustige Geschichte… naja, teilweise. Also hierbei muss ich erwähnen, dass mich Dimitrie trainiert hatte. Ja, er hatte, weil ich nun um ehrlich zu sein einfach keine Lust mehr auf das ganze Zeugs habe – in dieser Hinsicht kann ich Jerry Lee verstehen, weshalb er abgehauen ist. Ich habe keine Lust gegen irgendwelche Leute zu kämpfen oder Verteidigungsstellungen zu erlernen.

Naja, auf jeden Fall war ich eines Tages zu einer Trainingseinheit im Außenparcours nicht erschienen. Als mich Dimitrie in den Katakomben fand, verdonnerte er mich dazu, ein paar Runden um den Block zu laufen. Ein paar Runden heißen im Übrigen nicht unter hundert. Aber das liegt daran, weil wir so schnell sind.

Also rannte ich los und das musste ich, weil Dimitrie eine Aufsichtsperson nach oben bestellt hatte, die meine Runden zählen sollte. Als ich dann in der letzten Runde angekommen war, hörte ich auf halbem Weg ein Schluchzen. Ich wusste, dass das Geräusch mehrere hundert Meter entfernt hätte sein können, aber ich konnte das Tier auch riechen, also konnte es nicht allzu weit entfernt sein, sodass ich es auch hätte finden können. Ja, ich roch, dass es ein Tier war. Und ich konnte auch etwas Metallisches riechen. Ich blieb also stehen und folgte meiner Nase und meinen Ohren. Und dann fand ich meine kleine Skye.

Ihr Fell war alles andere als weiß. Es war… blutrot. Sie hatte überall Verletzungen und alles war voller Blut. Ich konnte nicht anders und musste sie mitnehmen. Dass sie einen Besitzer hatte, der sie liebte, konnte ich ausschließen. Wer würde sein Haustier denn schon so verunstalten und dann noch im Wald aussetzen?

Im Grunde genommen, bin ich Dimitrie verdammt dankbar, dass er mich die Runden hatte laufen lassen. Sonst hätte ich nie meinen kleinen Wollknäul kennen und lieben gelernt.

Damals lag übrigens auch Schnee und deshalb hatte ich eine Jacke an, die ich auszog und Skye darin einwickelte. Dann nahm ich sie mit und obwohl meine Aufsichtsperson ziemlich dagegen war, die Katze mit in die Katakomben zu nehmen, tat ich es trotzdem. Ich brachte sie sofort zu Thierry und befahl ihm, Skye zu helfen. Er tat es sogar, was mich sehr verwunderte. Naja und so haben wir uns kennengelernt.“

Das Bild, das ich mir vorstellte, wie Skye blutverschmiert in einer roten Schicht aus Schnee lag, drehte mir ein bisschen den Magen um. „Das hört sie scheußlich an“, brachte ich heraus.

„Oh, du kannst froh sein, dass du nicht dabei warst!“

„Glaub mir, das bin ich“, meinte ich und fügte hinzu, „Und wie hast du die anderen dazu gebracht, Skye doch noch behalten zu dürfen?“

„Hab ich nicht. Also, sie sind immer noch dagegen. Sie haben mir Skye sogar schon mal weggenommen und sie ausgesetzt, aber sie ist wieder zu mir gekommen. Auch wenn wir keine Ahnung haben, wie sie das geschafft hat. Du weißt ja, dass die Wege die nach hier unten führen, ziemlich versteckt sind. Aber mittlerweile haben sie es aufgegeben uns zu trennen. Außerdem sind sie jetzt daran gewöhnt, dass Skye hier ist. Das soll nicht heißen, dass sie es gut finden, aber sie haben sich damit abgefunden und haben eingesehen, dass wir unzertrennlich sind.“

Auch wenn Josephine es sagte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Leute hier so dagegen waren, dass Skye hier war. Was ist an einer einzigen Katze denn schon so schlimm? Aber plötzlich fiel mir ein Satz, den Josephine vorhin gesagt hatte, wieder ein.

„Du hast gesagt, dass ihr nicht besonders kontaktfreudig seid… aber was ist mit mir?“

Das Mädchen sah mich fragend an, während Skye sich noch tiefer in meinen Schoß kuschelte. „Was soll mit dir sein?“

„Ich wollte fragen, wieso ich hier bin?“

„Ah“, machte sie und sagte, „Das liegt daran, weil du anders bist. Du bist nicht einer von uns, das macht dich irgendwie interessanter. Das soll nicht heißen, dass du nur hier bist, weil du anders bist, als die ganzen anderen hier und du nicht nett bist. Nein, im Gegenteil. Du verstehst wenigstens, wie sehr mir Thierry, Adam, Kellan und noch einige andere auf die Nerven gehen. Deshalb bist du hier. Weil ich… weil wir dich mögen.“ Sie zeigte auf die schneeweiße Katze und schmunzelte mich und Skye an.

 

Da ich am Tag zuvor den Anruf meiner Eltern verpasst hatte, schnappte ich mir sofort das Telefon von der Station, nachdem ich die Haustür aufgeschlossen, mir die Schuhe von den Füßen getreten und meine Jacke zu den anderen gehängt hatte. Ich verkroch mich in mein rosa Zimmer unter die kuschlige Decke meines Bettes, als ich mir einen warmen Schlafanzug übergestreift hatte. Dann wählte ich die Handynummer meiner Oma.

Es dauerte nicht lange, bis sich Dads warme Stimme am anderen Ende der Leitung meldete. „Hallo, Molly Noel! Wie geht es dir?“

Ich lächelte unter meiner Decke. „Hey, Dad. Hier läuft alles wunderbar. Wie geht es euch?“

„Das ist schön zu hören. Gut gut.“

„Was macht ihr?“

Mein Dad stöhnte. „Die Damen gucken sich gerade eine Kochsendung an. Zum Sterben langweilig. Sei froh, dass du nicht da bist.“

Ich kicherte und dachte, dass selbst die besten Kochsendungen meiner Mum nicht das Kochen beibringen konnten.

„Wir haben gestern bei dir angerufen, aber du warst wohl nicht zu Hause.“ Er wirkte traurig.

Ich nickte. „Ja, ich… war noch etwas länger mit Freunden unterwegs. Aber jetzt habe ich ja Zeit.“

„Was habt ihr denn gemacht?“, fragte mein Dad. Wieso musste er denn so neugierig sein?

„Wir… waren im Kino und danach haben wir noch etwas gegessen“, log ich.

„Hört sich gut an. Welcher Fil…“

Ich unterbrach ihn schnell und sagte: „Und was habt ihr die Tage gemacht?“

„Wir waren in einem Kunstmuseum. Und jeden Abend läuft hier eine Kochsendung. Das ist kaum auszuhalten.“ Ich konnte sehen, wie mein Dad die Augen verdrehte. „Dafür gib es aber jeden Tag Kuchen.“

Ich grinste. Mein Dad war ebenfalls kein guter Koch, aber dafür liebte er Kuchen und andere Gebäcke umso mehr.

Im Hintergrund hörte ich Geräusche.

„Ja, sie ist es – ihr geht es gut – was? – oh man – klar. Wir hören uns bald.“ Dann war mein Dad weg.

Eine laute, besorgte Stimme dröhnte durch den Hörer. Ich hielt das Telefon ein paar Zentimeter von meinem Ohr weg, konnte die Stimme meiner Mum jedoch immer noch verstehen.

„Schatz! Wie geht es dir?“, fragte sie aufgebracht, obwohl sie das schon meinen Dad gefragt und er ihr auch eine Antwort gegeben hatte.

„Mir geht es gut. Aber wenn du mir weiterhin so in das Ohr schreist, nicht mehr lange.“

Meine Mum schnaubte nur. „Stell dich nicht so an. Wie läuft es in der Schule?“

„Klasse“, behauptete ich und bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich weder meine Hausaufgaben der letzten paar Tage gemacht, noch für die nächsten Stunden gelernt hatte.

„Und Heaven?“, fragte meine Mum.

„Ihr geht es auch gut.“ Nur weil meiner Eltern mal ein paar Tage nicht zu Hause waren, würde doch nicht gleich die halbe Welt untergehen. Sie machten sich viel zu viele Sorgen. Zum Glück wussten sie nicht, was zu Hause wirklich alles vor sich ging.

„Und Jerry Lee?“

In Gedanken versunken sagte ich: „Ihm geht es auch… Mum!“

„Ach Molly Noel, ich muss doch wissen, wie es dem Freund meiner Tochter geht“, meinte sie bestimmt.

Ich stöhnte. „Er ist nicht mein Freund!“ Sofort musste ich wieder an Bethany denken und wurde wütend. „Themawechsel“, forderte ich.

„Na gut“, murmelte Mum. „Willst du noch mit Oma quatschen?“

Ich bekam wieder gute Laune. „Natürlich!“

Sonntag

Als ich an diesem Tag aus dem Fenster sah, waren sogar die dreckigen Schneeklumpen an den Straßenrändern verschwunden. Die Bäume, Wiesen, Felder und Dächer waren von der dicken Schicht Schnee befreit und das Einzige, was jetzt noch an den Schnee erinnerte, war der feuchte Boden, der kleine Rinnsal der die Straßen herabfloss und das Tropfen der Regenrinnen. In der Luft lag der Duft von Regen und geschmolzenem Schnee. Meiner Meinung nach, ein sehr guter Duft, der nach Frische roch und alle Gedankenstaudämme lösen könnte.

 

Wir hatten uns wieder in den Katakomben getroffen, in demselben Zimmer wie immer. Doch dieses Mal war das Treffen auf eine sehr kleine Runde reduziert worden. Es waren nur Heaven und Adam – die mehr oder weniger schon als eine Person zählten – Desiree, Josephine und ich. Josephine saß neben mir und ich hatte das Gefühl, dass wir auf gutem Wege waren, Freundinnen zu werden.

Natürlich fragte ich mich, wo zum Teufel Jerry Lee schon wieder war, auch wenn ich die Antwort irgendwie wusste. Er war natürlich bei Bethany und eigentlich wollte ich gar nicht mehr darüber nachdenken, da ich davon nur einen furchteinflößenden Schmerz in der Magengrube spüren würde. Und dieser Schmerz würde zu einem Tränenausbruch führen, selbst wenn ich mich wie verrückt dagegen wehren würde und somit würde dieser immer schlimmer werden.

Ich fragte mich auch, wo Thierry war. Denn er war es nicht gewesen, der mich am Morgen abgeholt hatte. Es war Josephine, die vor meiner Haustür auf mich gewartet hatte. Aber ich konnte mir während der Autofahrt nicht verkneifen, sie zu fragen, wo er denn war. Sie erzählte mir, dass Thierry den ganzen gestrigen Tag in seinem Labor verbracht hätte und ganz aufgeregt gewesen war, als er am Abend zum Essen gekommen war. Er aber wollte nicht verraten, was los war und wäre anschließend gleich wieder verschwunden.

Während der Autofahrt zum Versteck, war mir aber noch etwas der letzten Tage eingefallen. Dieses Ereignis war zwar schon etwas länger her, weshalb es mir wahrscheinlich erst jetzt wieder einfiel. Es war der Tag, an dem Jerry Lee von seinen Leuten aus der Schule gezerrt worden war. Es war die Tatsache, dass die Stimmung in der Schule anders gewesen war, als sonst. Dass sich die Schüler anders verhalten hatten.

„Was war an diesem Tag los?“, fragte ich Josephine, nachdem ich ihr beschrieben hatte, welchen Tag ich damit meinte.

Sie brauchte nicht lange, um zu verstehen, obwohl sie überhaupt nicht dabei gewesen war. „Weißt du, wir wusste, dass Jerry Lee nicht freiwillig mitgekommen wäre, also mussten wir die Situation so gestalten, dass die Schüler möglichst wenig von dem Geschehen mitbekamen. Möglicherweise hätte es noch eine andere Option gegeben, aber wir haben die des Zwangs genommen. Wir haben die ganze Schule mit einem hypnotischen Feld belegt und jeder, der dieses betrat, sah zwar das, was auch wirklich geschah, aber verstand es nicht richtig. Deswegen haben die Schüler auch nicht mitbekommen, wie wir Jerry Lee mitgenommen haben.“ Plötzlich hatte sie aufgehört zu reden und hatte mich mit einem merkwürdigen Blick angesehen, dann den Kopf geschüttelt und war wieder normal, erzählte aber nicht mehr viel und als wir angekommen waren, sprang sie aus dem Wagen und brachte sich selbst und mich auf schnellstem Wege zum Treffpunkt.

Und nun saßen wir beide nebeneinander auf einem Sofa, Adam und Heaven hatten das gegenüber beschlagnahmt und Desiree stand ruhig vor uns – genauso freundlich wie immer.

„Wie ihr schon wisst, werdet ihr gleich eine Trainingseinheit ablegen, die höchstwahrscheinlich eure letzte sein wird. Thierry hat gemeint, ihr seid gut genug vorbereitet, dass weitere nicht mehr in Anspruch genommen werden müssen“, erzählte uns Desiree, wobei ich fasziniert auf ihre rotglänzenden Lippen starrte, die sich im Einklang miteinander bewegten.

Natürlich erstaunte es mich auch, dass wir keine Trainingsstunden mehr brauchten, da ich dachte, wir hätten uns in der ersten – und bisher einzigen – Stunde vollkommen blamiert. Aber anscheinend sah das Thierry anders, worüber ich sehr froh war. Oder aber, er wollte uns nicht weiter quälen und dachte, dass Verteidigungsschritte nicht von Nöten wären.

Heaven sah erfreut und mit funkelnden Augen auf. „Aber das müsste doch dann bedeuten, dass wir in den nächsten Tagen zu Finn gehen würden, oder?“

Desiree sah sie an und zögerte mit der Antwort. Vielleicht, weil Benjamin nicht sehr zufrieden mit den Ereignissen von gestern war und deshalb das Treffen mit Finn lieber um ein paar Tage – oder Wochen – verschoben hatte und sie es uns so schonender beitragen wollte.

„Gehen wir morgen?“, fragte Heaven aufgeregt, als ob sie es gar nicht abwarten konnte, zu Finn zu gehen. Und ich glaubte, genau so war es auch. Es sah sogar so aus, als ob sie leicht auf ihrem Platz herum hüpfte.

Aber Desiree schüttelte kurz den Kopf. „Nein, wir gehen nicht morgen zu Finn. Um nicht um den heißen Brei zu reden: Wir werden morgen überhaupt nichts machen.“

Heaven starrte sie verwundert an und blieb sofort enttäuscht ruhig sitzen. „Was? Wir werden morgen überhaupt nichts machen?“

„Keine Trainingseinheiten, keine Besprechungen?“, fragte ich, um Heaven zu unterstützen. Und das tat ich nicht nur, weil sie meine beste Freundin war, sondern auch, weil ich genauso betreten war.

Die wunderschöne Frau vor uns schüttelte den Kopf mit den langen, schwarzen Haaren.

„Gar nichts?“, kam jetzt wieder von Heaven, als ob sie noch mehr Bestätigung brauchte.

Desiree lachte, wahrscheinlich, weil wir es so unglaublich fanden, einen Tag lang einfach nichts zu machen. „Ihr habt einen ganzen Tag Zeit, euch mental auf den Besuch in der Psychiatrie vorzubereiten. Außerdem habt ihr noch Schule, das solltet ihr nicht vergessen.“

„Lernen und Hausaufgaben… Aber wenn wir einen Tag Zeit haben“, begann Heaven, „bedeutet das, dass wir-“

Desiree nickte, obwohl Heaven überhaupt nicht zu Ende gesprochen hatte. „Ja, wir gehen übermorgen.“

Dienstag, dachte ich, das wird der Tag sein, an dem wir zu Finn gehen werden. Die ganze Zeit über schien mir dieser Tag so weit entfernt zu sein, aber jetzt war er direkt vor uns. Es war zwar nur ein Tag, aber er klang trotzdem wie eine Bedrohung. Irgendwie.

Auch Heaven blies hörbar die Luft aus. Aber sie sah nicht besonders angespannt aus, eher erleichtet. Oder erfreut darüber, dass nun endlich ein Termin feststand.

 

Nach dem Training gingen Heaven, Josephine und ich in die Umkleidekabine, um so schnell wie möglich, aus unseren verschwitzten Kleidungsstücken zu kommen.

„Heute war es viel anstrengender, als das letzte Mal“, stöhnte Heaven, schälte sich aus ihrem T-Shirt und stopfte es schnell in ihre große Tasche.

Ich nickte zustimmend, wobei ich versuchte, meine Schnürsenkel aufzubekommen. Ich hatte sie mal wieder viel zu fest zugezogen – ein Wunder, dass sie nicht rissen – und wenn ich dies nicht bald schaffte, würde ich mit Sicherheit einen Wutanfall bekommen. „Morgen werde ich so Muskelkater haben, dass ich kaum laufen kann. Und sicherlich wird mein Rücken voller Prellungen sein.“

„Jerry Lee hat dich eindeutig zu oft auf den Boden gedonnert“, bemerkte Josephine, die schon fertig war mit Umziehen. Kein Wunder, wenn man das in so einem Tempo machte, dass ein menschliches Auge den Bewegungen nicht folgen konnte. „Ich muss gehen“, meinte sie und winkte uns zum Abschied.

Jerry Lee hatte mich tatsächlich wieder und wieder zu Boden fallen lassen, aber ich bereute keines seiner Aktionen. Denn jedes Mal, wenn er mich berührte, lief ein Schauer durch meinen Körper und meine Haut prickelte an den Stellen, an denen er mich berührt hatte. Der Schmerz, als ich wieder und wieder auf den Boden prallte, hätte zwar nicht unbedingt sein müssen, doch das hatte bedeutet, ich würde seine Hand entgegengestreckt bekommen und ein Kribbeln würde mir den ganzen Arm entlanglaufen. Doch den Schmerz auf meinem Rücken spürte ich nicht so sehr, denn es gab einen anderen, der viel stärker war. Es war der Schmerz in meiner Brust und mein Magen, der sich zusammenzog, jedes Mal, wenn ich in seine Augen blickte. Denn sie waren nicht mehr schwarz und glänzend, sondern einfach nur dunkel und matt.

Heaven sah mich nachdenklich an. „Josephine hat recht. Jerry Lee hätte vorsichtiger sein können.“

Ich schüttelte langsam den Kopf. „Nein, nein. Das ist schon okay.“

Meine beste Freundin schulterte ihre Tasche, ohne den Blick von mir abzuwenden. „Nehm es dir nicht zu Herzen, dass er heute nicht gerade sanft mir dir umgegangen ist.“

„Mach ich nicht“, sagte ich schnell und musste schlucken, weil ich plötzlich einen Kloß im Hals hatte.

„Okay. Hast du was dagegen, wenn ich schon gehe? Adam wartet auf mich, er will mich nach Hause fahren.“

„Schon okay“, meinte ich und versuchte nicht ganz so unglücklich zu klingen.

Heaven strich mir über meine haselnussfarbenen Haare und sagte dann: „Wir sehen uns morgen!“

„Alles klar, bis morgen.“ Ich lächelte ihr traurig hinterher und sah zu, wie sie sich aus der Umkleidekabine machte.

Als sie weg war, blickte ich wieder auf meine Schuhe, die immer noch verschlossen waren. Jetzt hatte ich aber nicht mehr die Kraft zu versuchen die Schnürsenkel von einander zu lösen, also blieb ich einfach nur sitzen und atmete ruhig ein und aus. Dann schloss ich die Augen und irgendwann hörte ich schließlich die Stimmte von Jerry Lee in meinem Kopf.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, hörte ich ihn sagen und mein Herz machte mehrere Sprünge.

Doch als sich plötzlich Thierrys Stimme mit einmischte, wusste ich, dass sich das Ganze nicht nur in meinem Kopf abspielte. Es war real! „Und ich weiß, dass das eine blöde Idee ist!“

„Was haben wir schon für eine andere Wahl? Sollen sie ihr Leben lang daran erinnert werden? Sie brauchen ein normales Leben“, sagte plötzlich Desirees Stimme.

„Adam und ich sind dagegen“, sagte plötzlich Zoey und ich hörte, wie Adam ihr zustimmte.

„Ich bin dafür“, sagte Marie.

„Ich ebenfalls“, hörte ich nun Benjamins Stimme. „Es wird besser für sie sein.“

Was zum Teufel war dort los? Es war eindeutig ein Gespräch zwischen Jerry Lee, Thierry, Benjamin, Desiree, Zoey, Adam und Marie.

„Ich denke, ich bin doch dafür“, meinte plötzlich Jerry Lee.

Desiree sagte nun: „Es steht vier zu drei.“

Es blieb für einen Moment mucksmäuschenstill und ich fragte mich, ob sie mich hören konnten. Aber allem Anschein nach, bekamen sie nicht mit, dass ich direkt in dem Zimmer neben ihnen saß.

„Das könnt ihr nicht machen!“, schrie Adam verzweifelt und seine Stimme zitterte.

„Ihr könnt das den beiden doch nicht antun!“, rief jetzt auch Thierry außer sich vor Panik.

„Die Entscheidung steht fest“, sagte Benjamin mit entschlossener Stimme. „Wir werden Molly Noel und Heaven vergessen lassen, sobald wir die Antworten auf unsere Fragen haben.“

Meine Augen wurden noch größer, als mein Verstand die Worte aufnahm und registrierte. Ich musste mir die Hände vor den Mund halten.

Sie wollten uns vergessen lassen, dass wir sie jemals kennengelernt hatten. Sie wollten, dass wir uns an nichts von ihnen erinnern konnten.

Nachdem das Gespräch zwischen ihnen geendet hatte, konnte ich wahrnehmen, wie sie sich aus dem Abteil machten und dann waren sie alle weg.

Ich wurde wütend und zugleich brannten meine braunen Augen wie Feuer. Meine Knie und Hände zitterten, als ich versuchte meine Sportkleidung in meine Tasche zu stopfen und meine Schuhe schließlich mit den Füßen abtrat. Ich schlüpfte in meine Stiefel und beim Herunterbeugen schossen mir Wuttränen in die Augen. Schnell blinzelte ich sie weg und wischte mir mit dem weichen Stoff meines Armel über die laufende Nase.

Wie konnten sie uns so etwas antun? Einfach unseren Verstand löschen und uns so ausnutzen? Das war es, was Kellan einmal gesagt hatte: Dass sie uns nicht mehr lange an der Backe haben würden. Und auch Josephine hatte es gesagt. Sie wussten von Anfang an Bescheid, dass diese Möglichkeit bestehen würde. Und nun war die Entscheidung gefallen. Bis sie eine Antwort auf ihre Fragen hatten, so lange hatten wir Zeit.

Ich schnappte mir meine Tasche, warf sie mir über die Schulter und lief aus der Umkleidekabine. Als ich die schwere Eingangstür erreichte, fragte ich mich, was ich jetzt wohl machen sollte. Sollte ich nach Hause laufen, obwohl der Weg viel zu weit war? Ich drehte mich zurück, auf der Suche nach der Antwort, doch was ich fand, war das Gleiche wie immer. Ein paar Personen, die trainierten. Allerdings war mir aufgefallen, dass jetzt ziemlich wenige Leute hier waren.

Ich drehte mich wieder nach vorne, um aus der Trainingshalle zu treten, als plötzlich Jerry Lee vor mit stand.

„Hey“, sagte er und sah mich aus seinen dunklen Augen an, die umrahmt von perfekt geschwungenen Wimpern waren. „Soll ich dich nach Hause fahren?“

„Du hast mich erstreckt“, gestand ich ihm, nickte aber.

Normalerweise hätte er jetzt gelächelt, doch das tat er nicht. „Tut mir leid. Komm!“, befahl er und streckte seinen Arm nach mir aus, um zwischen den wackligen Stufen hinaufzuspringen.

„Schon okay“, meinte ich, als wir oben waren und dachte schließlich daran, für was er sich entschieden hatte. Er hatte, bei der Frage, ob wir unser Gedächtnis behalten durften oder nicht, für Nein abgestimmt. Ich sah ihn neutral an, doch in mir loderte alles. Wieso hatte er das getan? Und das obwohl wir uns doch schon so lange kannten. Oder war es genau deswegen?

„Ist bei dir alles heil geblieben?“, fragte er mich jetzt.

Ich versuchte nicht wütend zu klingen, also sagte ich nur: „Ja, einigermaßen. Und bei dir?“ Natürlich schaffte ich es nicht in einem normalen Tonfall zu reden, aber falls Jerry irgendetwas auffiel, ließ er sich nichts anmerken.

Er machte sich erst gar nicht die Mühe zu antworten. Obwohl ich so gerne seine Stimme gehört hätte.

Während wir zum Jeep liefen, schwiegen wir und auch die restliche Fahrt bis zu meinem Haus. Ich konnte mich nicht dazu reißen etwas zu sagen und um ehrlich zu sein, wusste ich auch nicht, was ich hätte sagen können. Vielleicht ging es Jerry Lee genauso, aber eigentlich wusste ich, dass er nicht mit dem Gedanken kämpfte, etwas zu sagen. Er sah total abwesend aus, als wäre er gerade in seiner eigenen Traumwelt und ich konnte mir schon denken, an was er dachte.

Also sagte ich das Einzige was mit einfiel: „Wo ist Bethany?“

Er sah mich erschrocken an, weil ich ihn aus seinem Gedankentraum geweckt hatte. „Was?“

„Bethany?“, wiederholte ich eine Spur zu scharf, „Ihr seid doch jetzt zusammen oder etwa nicht?“ Es wunderte mich selbst, dass ich so einfach ihren Namen aussprechen, geschweige denn noch mehr über sie sagen konnte.

Jerry Lee lächelte dümmlich. „Ja, sind wir“, meinte und fügte dann hinzu, „Sie war am Morgen hier, als ihr die Besprechung hattet. Benjamin und ich waren nicht da, weil wir mit Bethany geredet haben.“

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. „Was? Sie war hier?“ Logischerweise hätte ich mir das denken können, aber trotzdem fand ich es schrecklich, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sie nun auch in den Katakomben war.

Er sah mich verwirrt an, als ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. „Natürlich. Sie ist für mich die Eine.“

Ich musste mir ein Schnauben unterdrücken. „Und über was habt ihr geredet?“, fragte ich schließlich, weil mich doch interessierte, was sie mit ihr zu besprechen hatten.

„Wir haben getestet, ob sie sich gegen den Zwang wehren kann.“

„Und?“, erkundigte ich mich, „Kann sie es?“

„Natürlich. Aber das war mir schon von Anfang an klar gewesen.“

„Dann ist ja gut“, gab ich von mir, ohne meine Stimmlage in irgendeiner Hinsicht zu verändern. Nachdem er nichts mehr sagte, fragte ich ihn: „Und was habt ihr dann gemacht?“

„Wir haben ihr alles von uns erzählt“, meinte er und fing wieder an dumm zu lächeln.

Das überraschte mich. „Ihr habt ihr einfach so alles erzählt?“

„Ja, sie gehört jetzt schließlich zu uns“, erklärte er mir und am liebsten hätte ich Bethany dafür töten können. Es tat so weh Jerry Lee in den Fingern einer anderen zu sehen.

„Habt ihr auch gesagt, weshalb wir hier sind?“, ermittelte ich, als wir vor meinem Haus hielten.

Er nickte. „Ja, haben wir.“

„Okay und wieso bist du jetzt nicht bei ihr?“, fragte ich schließlich und es wunderte mich ein bisschen, weshalb Benjamin es zugelassen hatte, dass sie alles erfahren durfte, wenn nicht mal alle aus dem Clan über unsere Taten Bescheid wussten.

Er erzählte mir: „Wir haben ausgemacht, dass sie das ganze erst mal verdauen müsse und ich sie morgen früh abholen würde. Für die Schule, meine ich.“

Ich nickte langsam. „Ja, ich hab schon verstanden.“ Ich überlegte, wie ich wohl selbst zur Schule kommen würde. Dann entschloss ich mich dazu, einfach selbst zu fahren. „Kannst du Thierry, Adam und Kellan sagen, dass mich keiner von ihnen abholen bräuchte. Und Heaven auch nicht.“

Jerry Lee nickte. „Okay, wenn du meinst.“ Er machte ein kurze Pause und fragte dann: „Ich versuche morgen wieder mit zu der Besprechung zu kommen, wenn du möchtest.“ Seine Stimme wurde ein kleines bisschen wärmer. Minimal. Es wäre mir also fast nicht aufgefallen und ich beschloss nicht auf ihn zuzugehen.

Ich sah ihn kalt an. „Wir haben morgen keine Besprechung.“

„Nicht? Okay, was macht ihr dann?“, fragte er nach.

„Wir werden morgen überhaupt nichts machen“, erklärte ich ihm und fügte hinzu, „denn wir gehen übermorgen zu Finn, falls es dich tatsächlich noch interessiert.“

Jerry nickte, als wäre das selbstverständlich. „Ja, natürlich tut es das. Und bist du dafür bereit?“, erkundigte er sich und sah mich eindringlich an. Normalerweise hätte ich jetzt ein warmes Gefühl bekommen, aber mir wurde beim Anblick seiner Augen eher kalt, also sah ich schnell weg.

„Ich bin mir nicht sicher“, gab ich zu.

„Wenn du willst, kann ich mit reinkommen?“, fragte er und nickte auf mein Haus. Seine dunklen, glänzenden Augen ruhten eindringlich auf meinen.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, schon okay.“

Er ließ sich in seinen Sitz zurückfallen. „Na gut, aber wenn du dich anders entscheidest, kannst du ja das Fenster aufmachen.“ Er wackelte mit den Augenbrauen und grinste schief, als würde es Bethany überhaupt nicht geben. Sofort fragte ich mich, was plötzlich mit ihm los war. Erst war er unfreundlich und kaum redeten wir nicht mehr über seine Freundin, war er die Besorgnis und Interesse in einer Person.

Ich sah ihn lange an. Dann sagte ich: „Sicher.“ Ich öffnete die Wagentür und stieg aus.

„Wir sehen uns morgen!“, rief er mir nach.

Ich nickte nur und hob kurz die Hand.

Als ich in meinem Zimmer war, schloss ich das gekippte Fenster.

Montag

Aus einer Schublade holte ich Messer und Gabel und aus einer weiteren einen weißen Porzellanteller, den ich mit meinem fertigen Rührei bestückte. Aus dem kleinen Radio auf der Theke kamen Nachrichten, gefolgt von Musik. Ich setzte mich auf einen Stuhl und rückte ihn mir zurecht. Mit Pfeffer und Salz würzte ich das Ei und nahm schließlich eine dampfende Gabel in den Mund. Doch ich hätte mich fast verschluckt, als es plötzlich an der Tür klingelte.

Erst war ich mir nicht sicher, ob ich öffnen sollte, schließlich hatte ich dafür gesorgt, dass mich keiner abholen sollte. Doch natürlich siegte meine Neugier, ich stand genervt und gespannt auf und trottete zur Haustür.

Ich musste erst aufsperren, da ich über Nacht die Tür verschlossen hatte, doch als sie nun offen stand, bekam ich für einen Moment keinen Ton heraus.

„Hey, kann ich reinkommen?“ Vor mir stand Calvin.

Völlig verwirrt nickte ich und meinte: „Ja, klar. Komm… komm rein.“ Ich trat einen Schritt zur Seite, damit er Platz hatte an mir vorbei ins Haus zu kommen.

Er sah sich um und trat in die Küche ein, in der immer noch meine dampfenden Eier standen.

„Schönes Haus“, meinte er und ließ sich auf einen Stuhl nieder, mit Blick auf das Essen.

„Danke“, sagte ich, immer noch total verwirrt über seine Anwesenheit. „Wieso bist du hier?“

Calvin nickte auf meinen Teller. „Deines?“

„Ja. Willst du es haben?“, bot ich ihm an, da ich nun eh keinen Hunger mehr hatte.

„Ja, gerne!“ Er schnappte sich den Teller und schob sich eine gehäufte Gabel in den Mund.

Ich wartete auf seine Antwort, doch wie es schien hatte er meine Frage längst vergessen. „Wieso bist du hier?“, fragte ich erneut.

Er grinste. „Ich dachte, wir könnten zusammen zur Schule fahren.“

„Wieso sollten wir in die Schule fahren?“

Calvin meinte: „Weil heute Montag ist und wir normalerweise Schule haben… Hab ich was verpasst?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein… Ich meine ja, wir haben Schule, aber wieso gehst du in die Schule?“

Er lächelte immer noch. „Ich brauche mal einen Tapetenwechsel. Übrigens habe ich über euren Besuch nachgedacht. Ich finde es mittlerweile wirklich lieb von euch, dass ihr mich besucht habt.“

Jetzt musste ich lächeln. „Kein Problem.“

„Aber ich sag dir eins: Ich will jetzt nicht über das Vergangene mit dir reden.“

Ich hob endschuldig die Hände. „Hatte ich nicht vor!“

„Gut“, meinte er und kratzte den Rest auf dem Teller zusammen. „Hast du ein Problem damit, mich mit zur Schule zu nehmen? Ich meine, ich bin mit dem Bus hierher gefahren und von der Station gelaufen.“

„Klar, kann ich machen.“ Ich sah auf die Uhr. Es war zwanzig vor acht.

„Vielleicht solltest du dir Schuhe und eine Jacke anziehen, wir sollten langsam mal losfahren“, meinte er und stand auf. In dem Moment klingelte es erneut.

„Wer ist das denn schon wieder?“, fragte ich mich laut.

Calvin lachte. „Ich geh schon, mach du dich fertig. Und: Hörte sich das gerade so an, als ob du von meinem Besuch genervt bist?“

Ich grinste ebenfalls und schüttelte den Kopf. „Nein, jetzt wo ich weiß, dass du es bist, nicht mehr.“

Er lachte lauter und dann öffnete er die Tür und sein Lachen verschwand.

„Hey, ich wollte zu…“ Das war ganz klar die Stimme von Josephine gewesen und ich fragte mich, was sie wohl hier wollte. Doch als ich mich erinnerte, dass ich sie nicht erwähnt hatte, sie solle mich nicht abholen, wusste ich, wieso sie hier war.

Ich lief in den Flur und bemerkte, wie still es plötzlich war.

„Hi, Josephine was…“, begann ich, doch ich stoppte mitten im Satz, als ich sah, wie sich Calvin und sie anstarrten.

Sie standen da wie Statuen und starrten sich einfach in die Augen. Diese Szene kam mir irgendwie bekannt vor. Sie erinnerte mich an… Oh mein Gott. Sie erinnerte mich an Jerry Lee und Bethany, nur irgendwie vertrauter und intensiver. Das konnte doch nicht sein. War es möglich, dass sie… - ich wollte es gar nicht denken – … für einander bestimmt waren? Dass Calvin den Zwang abwehren konnte?

Die beiden kamen wieder zu sich und ich wandte schnell meinen Blick ab, um nach meinen Schuhen zu suchen.

„Hi, ich bin Calvin“, meinte er und gab ihr die Hand.

„Josephine.“ Sie versuchte ihre desinteressierte Maske aufzusetzen, aber es funktionierte einfach nicht. Stattdessen schnappte sie sich seine Hand und schüttelte sie. Dann lächelte sie und dieses Lächeln sah so unglaublich glücklich und herzerwärmend aus, dass ich ebenfalls grinsen musste. Ich sah, wie Calvins Augen anfingen zu funkeln und wie ein Lächeln seine Lippen umspielte.

Dann bekam Josephine sich einigermaßen in den Griff und sagte: „Hey, Molly Noel. Ich wollte dich abholen kommen.“

Ich nickte schnell. „Ja, ich bin so gut wie fertig.“ Ich schnappte mir schnell meine Tasche und meine rote Jacke, die ich mir aber über den Arm warf.

Dann gingen wir aus der Tür und als Calvin die Limousine sah, war er erstaunt. Aber noch lange nicht so außer sich, wie bei dem Anblick von Josephine. Ich fragte mich, ob es gut war, ihn mit diesem Auto mitzunehmen. Aber dann dachte ich daran, dass sie vielleicht füreinander bestimmt waren – Hilfe! – und dann wäre es sowieso egal, ob er mitfahren würde oder nicht. Denn er würde alles erfahren – früher oder später.

Calvin starrte uns mit offenem Mund an und zeigte auf das Auto. „Ist das euer Ernst?“ Dann sah er wieder zu Josephine, seine Gesichtszüge wurden weich und er lächelte.

Sie lief rot an und nickte. „Ja, willst du mitfahren?“

Ich musste mir ein Lächeln unterdrücken, nicht weil er von dem Wagen begeistert war, sondern weil der Anblick der beiden so bezaubernd war.

Natürlich sagte Calvin nicht nein. Wie hätte er auch?

 

Bevor wir bei der Schule ankamen, hielten wir bei Heaven. Sie war erst völlig erstaunt, dass Calvin dabei war, aber nach kurzem Beobachten, ebenfalls völlig entzückt.

Als wir aus dem Wagen stiegen, fiel mir wieder ein, was ich mit meiner besten Freundin eigentlich besprechen wollte. Also zog ich sie von den anderen zwei weg, was ihnen sicherlich nichts ausmachte.

„Was wird das denn jetzt?“, fragte mich Heaven.

Ich sah sie ernst an. „Ich muss unbedingt mit dir reden.“

Sie lächelte. „Über Josephine und Calvin?“, scherzte sie.

Ich verdrehte genervt die Augen. „Nein.“

„Sondern?“ Sie sah mich ungeduldig an.

„Gestern, nach dem Training, habe ich ein Gespräch zwischen Jerry Lee, Adam, Thierry, Desiree, Marie und Benjamin belauscht.“

Sie sah mich gespielt erschrocken an. „Du weißt doch, dass man nicht lauschen soll!“

Ich gab ihr einen Stoß gegen die Schulter. „Hey, das ist ernst, okay?“

Heaven sah mich verwirrt an. „Okay, um was geht es?“

„Sie haben über uns geredet“, erklärte ich ihr.

Heaven schüttelte ungerührt den Kopf. „Na und? Das tun sie andauernd“, meinte sie hastig.

Jetzt packte ich sie an beiden Oberarmen, als wollte ich sie heftig schütteln. „Heaven! Sie wollen unser Gedächtnis löschen!“

„Was?“ Sie sah mich entgeistert an und hörte auf mit ihren dunkelblonden Haaren zu spielen.

Ich nickte. „Ja, du hast schon richtig gehört.“

„Du nimmst mich doch grad auf den Arm, hab ich recht?“

Ich stöhnte und wippte ein wenig auf und ab. „Natürlich nicht.“

„Das würden sie aber niemals mit uns machen!“

„Doch. Desiree hat gesagt, wir bräuchten ein normales Leben. Ich meine es ernst, Heaven!“

Sie schluckte. „Dann verlier ich Adam.“ Ich konnte sehen, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten, doch sie versuchte sie wegzublinzeln.

Ach du Liebegüte. Daran hatte ich noch überhaupt nicht gedacht. Sie würde ihn ein zweites Mal verlieren und dieses Mal für immer.

„Wann?“, fragte Heaven. „Wann wollen sie es machen?“

Ich zuckte mit den Schultern. Doch dann erinnerte ich mich an einen Satz. „Sie sagten, bis sie die Antworten haben.“

„Natürlich“, meinte Heaven ausdruckslos. „Wir sind diejenigen, die die Antworten holen.“ Dann machte sie eine kurze Pause, bis sie sagte: „Sie dürfen die Antworten auf keinen Fall bekommen.“

„Natürlich. Und wie sollen wir das anstellen?“

Sie sah mich verwirrt an. „Ähm, wir werden ihnen einfach nichts sagen?“

Ich schüttelte den Kopf. „In ihren Katakomben ist eine ganze Armee! Die könnten uns vollkommen fertig machen! Und noch dazu kommt, dass sie Superkräfte haben und nicht zu vergessen, können sie uns auch noch dazu zwingen, ihnen alles zu sagen!“

Sie sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an und die Tränen in ihren Augen waren wie weggeblasen. „Stimmt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie uns dazu zwingen würden.“

„Sie würden uns auch alles vergessen lassen. Natürlich würden sie uns auch dazu zwingen!“

Sie zuckte mit den Schultern. „Okay, aber wenn nicht, dann werden wir einfach nichts sagen.“

Ich nickte. „Okay, aber das ist ein ziemlich mieser Plan.“

„Und der Einzige… Aber jetzt sag mal, was ist mit Calvin und Josephine los?“, lachte sie und hob vielsagend eine Augenbraue, aber im Hinterkopf behielt sie immer noch die Gefahr, die auf uns zukommen zu drohte.

 

Der Tag verging sehr schnell. Alle Schüler waren erstaunt, dass Calvin wieder da war und jeder stellte ihm Fragen, was geschehen war. Doch er dachte nur an Josephine, die nach unserem Ankommen in der Schule gleich wieder verschwunden war.

Natürlich fragte er uns genauso viel über sie, wie die Schüler über ihn. Er meinte, Josephine hätte ihn heute eingeladen, mit ihr nach Hause zu kommen und er hätte zugesagt. Ich konnte mir schon denken, über was sie wohl reden würden. Bei dem Gedanken musste ich grinsen und stellte mir sein Gesicht vor, wenn sie ihm von den Katakomben und dem Drumherum erzählen würde. Allerdings glaubte ich nicht, dass er geschockt sein würde. Er würde eher total durchdrehen und sich freuen, was für ein Glück er hätte, so etwas Verrücktes miterleben zu können.

Und weil ich so neugierig darauf war, kramte ich am Ende des Tages, als ich im Bett lag, einen kleinen Zettel aus meinem Nachtkästchen heraus, auf dem ein paar Ziffern standen.

„Hi?“, fragte am anderen Ende eine tiefe Stimme.

„Hey, Calvin. Hier ist Molly“, begrüßte ich ihn. Und schon wieder hatte ich einen Satz gebrochen, den ich einmal von mir gegeben hatte. Ich hatte behauptet, ich würde Calvin nicht anrufen. Aber jetzt war ich ziemlich glücklich darüber, dass er mir seine Nummer gegeben hatte, auch wenn es unter einem anderen Vorwand gewesen war.

„Oh… hey! Was gibt’s?“ Seine Stimme klang aufgeregt und erfreut mich zu hören.

„Ich wollte fragen, wie es dir so geht?“, meinte ich und wartete auf seine Antwort.

Er zögerte. „Och… ganz gut.“ Er machte eine kurze Pause und sagte dann: „Sag mal, woher kennst du Josephine?“

Ich lächelte. „Von ein paar Freunden.“ Waren sie das überhaupt noch? Nachdem wir nun wussten, was sie mit uns vorhatten.

„Okay und wusstest du, dass…“ Er hörte auf zu reden, sicherlich, weil er sich nicht sicher war, ob er mir erzählen konnte, was er heute erfahren hatte. „Ach, ist ja auch egal“, sagte er schnell.

Ich lachte. „Wenn du mir gerade sagen wolltest, was sie für Superkräfte haben, kommst du damit etwas zu spät.“

Schweigen.

„Du weißt davon?“, platzte es aus ihm heraus, „Seit wann?“

Ich überlegte. „Och… schon eine ganze Weile. Über was habt ihr denn alles geredet?“

Calvin erzählte: „Sie hat mich wieder in die Limousine geschleppt. Dann haben wir das Auto gewechselt, als wir an einem Waldrand angekommen waren.“

„In den Jeep, hab ich recht?“

„Ja, richtig! Woher…“

„Ich hoffe für dich, dass Kellan nicht gefahren ist“, kicherte ich.

„Doch…“, sagte er verwundert darüber, dass ich über all die Namen Bescheid wusste.

„Mein Beileid. Aber was genau habt ihr denn jetzt gemacht?“, fragte ich neugierig.

„Josephine hat mich zu einem Brunnen…“

„Jaja, den Weg kenne ich bereits. Durch den Tunnel und zwischen den Stufen durch.“

Ich konnte spüren, wie er nickte. „Du warst schon dort?“

Ich bejahte.

„Das ist so cool“, sagte er. „Naja, dann hat sie mich zu einem alten Mann… wie hieß er noch gleich?“

„Benjamin“, stellte ich grinsend fest.

„Richtig! … gebracht und wir haben geredet. Über ihr ganzes Leben und was sie dort unter der Erde machen. Aber so wie es den Anschein hat, weißt du darüber schon Bescheid?“

Ich nickte. „Ja, das stimmt. Und weißt du auch, wieso dich ausgerechnet Josephine mitgenommen hat?“

„Ähm… ehrlich gesagt, nein. Weißt du es?“, fragte er mich.

Erst wunderte ich mich darüber, aber dann wurde mir klar, dass es etwas plötzlich käme, wenn Calvin erfahren würde, dass er mit Josephine zusammen sein muss. Vielleicht warteten sie darauf, dass ihm klar werden würde, dass er es auch wirklich will, wobei es so aussah, als würde er es schon längst wollen.

„Ähm… Nein“, sagte ich schließlich und fügte hinzu, „Und haben sie auch über dich geredet?“ Diese Frage war auf den Angriff auf sein Haus bezogen.

„Was meinst du damit?“, entgegnete er mit einer Gegenfragen und ich konnte sicher sein, dass sie es nicht gemacht hatten.

„Ach, nicht so wichtig“, sagte ich also schnell und um vom Thema abzulenken, fügte ich noch hinzu, „Und wie findest du Josephine?“

Ich konnte hören wie er lachte und dann sagte er: „Sie ist… süß.“ Okay, das war eine Beschreibung, mit der ich sie niemals geschildert hätte. Dann sagte er noch: „Sie ist anders als die meisten Mädchen, richtig?“

Das fragte er mich? „Also, sie ist wirklich nett. Hast du schon ihre Katze kennengelernt?“

„Sie hat eine Katze?“, fragte er begeistert.

„Ich wusste gar nicht, dass du auf Katzen abfährst“, stellte ich erstaunt fest.

Er lachte. „Als ich noch kleiner war, wollte ich immer einer habe, doch meine Eltern waren dagegen. Sie meinten, dass ich irgendwann keine Zeit und Lust mehr für sie hätte. Wie sieht Josephines Katze denn aus?“, fragte er und bei ihrem Namen wurde seine Stimme ganz weich.

Ich lächelte. „Sie sieht entzückend aus! Wahrscheinlich die gepflegteste Katze, die ich jemals gesehen habe und sehen werde. Sie ist schneeweiß… eben ein kleiner Wollknäul.“

„Das passt zu Josephine“, höre ich ihn schwärmen.

„Du hast dich ganz schön in sie verknallt, hab ich recht?“, fragte ich und kicherte. Dann musste ich aber an Jerry Lee denken, dass er für die Gehirnwäsche abgestimmt hatte. Ich versuchte den Gedanken so schnell wie möglich beiseite zu schieben.

„Ich… ähm“, stotterte Calvin, „Wir sind doch jetzt Freunde, oder Molly?“

Darüber hatte ich noch gar nicht wirklich nachgedacht, aber Nichtfreunde würden sich über solche Themen nicht unterhalten. Also nickte ich und sagte: „Ja, ich denke schon.“

„Gut, dann kann ich dir ja sagen, dass es stimmt. Ich finde Josephine wahnsinnig toll!“

Ich kicherte wieder. „Ja, das habe ich gemerkt.“

Er zögerte mit seiner Frage. „Und denkst du, sie… sie mag mich?“

Ich lachte auf. „Denkst du, sie hätte dir alles preisgegeben, wenn sie dich nicht mögen würde?“

„Nein“, meinte er und grinste, als ob ihm der Gedanke gefallen würde. „Weißt du, das ist alles so verrückt.“

„Ich weiß“, meinte ich.

„Nein, ich meine, nicht nur die Sache mit Josephine. Sondern auch das, was mit meinen Eltern passiert ist. Ich weiß zwar nicht was es war, aber ich würde es so gerne herausfinden.“

Das ist genau das, was wir machen, dachte ich und fragte, ob ich es ihm sagen sollte. Doch ich entschied mich dagegen. Er würde es schon früh genug erfahren.

Ich nickte, auch wenn ich wusste, dass er diese Bewegung überhaupt nicht sehen würde. „Ja, das würde ich auch gerne wissen. Aber ich bin mir sicher, dass du das auch wirst.“

Calvin stutzte. „Wirklich?“

„Klar, wieso denn nicht? Die Polizei ermittelt doch auch schon.“ Innerlich schlug ich meinen Kopf gegen die Wand. Das kleine Wörtchen auch hätte ich lieber weglassen sollen.

„Das find ich superlieb von dir“, erklärte er mir. Anscheinend hatte er nichts gemerkt.

Ich konnte nur nicken und die Stirn runzeln.

„Ich finde es auch super, dass wir jetzt Freunde sind. Erst dachte ich, aus uns könnte etwas werden, aber dann hab ich ja Josephine kennengelernt.“

Langsam fragte ich mich, wieso alle dachten, aus ihnen und mir könnte etwas werden und dann lernen sie die Richtige kennen. Möglicherweise sollte ich Liebesbote oder so etwas werden, denn anscheinend ziehe ich die richtigen Frauen für meine „Liebhaber“ ja richtig an.

„Ja, find ich auch super.“

Er lachte. „Und falls du dich fragst, was das mit Olivia war… ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass ich dich wirklich richtig mochte. Also habe ich was mit ihr angefangen, aber dann hab ich gemerkt, dass das gar nicht richtig war. Außerdem ist sie jetzt mit Phil zusammen. Und ich hab Josephine gefunden… Also, wenn sie mich gefunden hat.“

„Ach, Phil ist mit Olivia zusammen?“, fragte ich verdutzt und ignorierte den Rest.

Er sagte: „Ja, das stimmt. Ich habe es heute erfahren.“

„Das ist aber schön“, meinte ich und war froh, dass Phil nichts mehr von Heaven wollte.

„Ja. Die beiden passen auch super zusammen.“

Ich nickte. „Da hast du recht.“

„Sehn wir uns morgen?“, fragte er nun.

„Klar, wieso nicht? Hast du Lust vor der Schule zu mir zu kommen?“, fragte ich ihn.

„Ist Josephine denn dann auch wieder da?“, erkundigte er sich ganz aufgeregt.

Ich lachte. „Ich denke, ja.“

„Okay, dann bis morgen!“ Er legte auf.

„Bis morgen“, sagte ich, doch die Leitung war bereits tot. 

Dienstag

Es war ein tiefgelegter, schwarzer Sportwagen, der unserer kleinen Gruppe entgegenfuhr, als wir in der Garage eintrafen. Die Gruppe bestand aus Heaven, Josephine, Desiree, Benjamin, mir und auch noch aus Calvin, der an der Hand von Josephine lief.

„Calvin wird euch zu Finn begleiten, da er auch auf irgendeine Weise ein Bekannter von ihm ist. Ich kann nicht sagen, ob es ihn freuen wird, dass er mitkommt, da ihr nicht unbedingt eine enge Beziehung zwischen euch beiden habt, aber da ihr, Heaven und Molly, mit dabei seid, könnte er sich sogar darüber freuen. Denn das wird ihm zeigen, dass ihr mit Calvin befreundet seid und so ein kleines Vertrauen zwischen Finn und ihm aufgebaut wird.“

Im hintersten Teil meines Kopfes dachte ich mir, dass Calvin nun wissen musste, was wir bei Finn wollten – und somit auch, aus was unser Plan bestand. Aber ich konnte nur nicken und Calvin von unten bis oben mustern, der keines Wegs verwirrt dreinblickte, im Gegensatz zu den Vorstellungen meines eigenen Erscheinungsbilds selbst.

Die Türen des Wagens öffneten sich abermals von alleine und wir nahmen Platz – das bedeutete: Josephine, Calvin, Heaven und ich. Desiree und Benjamin blieben vor der immer noch geöffneten Wagentür stehen und sahen uns eindringlich an.

Am Steuer grinste uns Kellan durch den Handspiegel an. „Hey, was geht? Können wir losfahren?“ Er drückte die Kupplung hinunter und gab gleichzeitig Gas, was einen Höllenlärm verursachte, woraus ich schließen konnte, dass dieser Wagen sehr viel schneller fahren konnte, als mir es wahrscheinlich lieb war.

Desiree fragte ihn: „Hast du die Taschen dabei?“

Kellan wurde ernst. „Natürlich hab ich sie dabei.“

Ich überlegte, von was die beiden wohl redeten und was in diesen Taschen wohl stecken mochte, verwarf den Gedanken aber und stellte keine weiteren Fragen.

Benjamin Wotsford lächelte uns aufmunternd zu. „Ich wünsche euch viel Glück, aber wie ich euch kenne, werdet ihr das überhaupt nicht brauchen.“

Das war gelogen. Das war durch und durch gelogen! Wir brauchten Glück, mehr als er uns kannte!

„Danke“, lächelte ich trotzdem zurück und verkniff mir den Kommentar, dass wir Glück sehr wohl brauchen konnten.

Während Heaven sich ebenfalls bedankte, schlug Desiree die Tür zu, aber ich war mir sicher, dass Benjamin meine beste Freundin noch gehört hatte. Calvin sagte nichts. Er war damit beschäftig, Desiree mit einem komischen Gesichtsausdruck zu mustern.

 

Auf der Hälfte der Fahrt fragte Calvin plötzlich: „Was ist eigentlich mein Text? Ich meine, mir wurde nur kurz erzählt, was ihr bei Finn wollt, aber was ich jetzt genau bei der Sache zu tun habe, weiß ich nicht.“

Josephine lächelte beruhigend – etwas, das ich bei ihr noch nie zuvor gesehen hatte. „Ich weiß, dass es für dich schwer ist, über den Überfall zu reden, aber wir möchten, dass du mit Finn darüber redest. Ihm ist schließlich das Gleiche zugestoßen.“

Seine Stimme wurde kalt. „Da gibt es nicht viel zu sagen.“

Heaven meinte: „Dann erzähl das, was du uns auch gesagt hast.“ In Gedanken fügte ich hinzu, dass das nun wirklich nicht sehr viel war, was er uns preisgegeben hatte.

„Dir wird doch ein bisschen einfallen, was du ihm sagen könntest. Wenn nicht, kannst du ja auch ein bisschen dazu erfinden“, lachte Kellan vom Fahrersitz.

„Und was soll das bringen?“, fragte Calvin skeptisch.

Josephine fing an mit seiner Hand zu spielen. „Das soll bezwecken, dass Finn uns vertraut und uns seine Geschichte erzählt.“

„Und wenn er genauso wenig zu erzählen hat, wie ich?“ Calvin war von dem ganzen Plan nicht sehr überzeugt, wie man ganz klar sehen konnte. Oder er wollte einfach nicht darüber reden, was nur zu leicht zu verstehen war.

Ich beugte mich ein Stück in meinem Sitz vor, damit ich Calvin besser ansehen konnte. „Naja, sagen wir mal so, wenn er so wenig wie du zu erzählen hat, dann haben wir wenigstens etwas. Und das ist immerhin mehr, als gar nichts.“

Calvin schnaubte. „Vielleicht wird er euch aber auch gar nichts sagen?“

Kellan meinte: „Die Vermutung hatte Desiree auch, aber ein bisschen könnte er doch wissen – oder über die Lippen bringen.“

„Was ist, wenn er das auch nicht tut? Wenn er gar nichts sagt?“, erkundigte er sich und seine Stimme triefte vor Wissen.

Was er damit sagen wollte, wusste ich nicht, aber er klang so fest davon überzeugt, dass unser Plan nicht aufgehen würde, dass es schon fast unheimlich war. Als ob er genau wusste, dass unser Besuch nichts ergeben würde.

Ich lehnte mich wieder zurück. „Er muss uns etwas sagen“, meinte ich mit festentschlossener Stimme. In Gedanken fügte ich hinzu, denn Heaven und ich hatten versprochen so oft zu Finn zu gehen, bis wir Antworten auf alle Fragen hätten.

 

Bis zu einer Abbiegung in den Wald, kannte ich den Weg. Der Boden dort war mit kleinen Steinchen ausgelegt, die unter den rotierenden Reifen davon sprangen und laut knirschten. Kellan fuhr nicht mehr so schnell wie auf der Autobahn, auf der wir alle Autos überholten hatten, denn der Sportwagen fuhr genauso schnell, wie ich es mir nicht vorstellen hatte wollen. Das war auch der Grund, weshalb wir sehr früh an unserem Ziel ankamen.

Der Steinweg verlief durch einen Laubwald, dessen Bäume jedoch nackt waren und von den kahlen Ästen und Zweigen dicke Wassertropfen auf die feuchte Erde fielen.

Von Weitem erhaschte ich immer wieder ein weißes Etwas, dass nach meinem Empfinden aussah, wie ein großes, dickes Mauerwerk. Nach einer Weile baute sich neben uns eine Steinmauer auf, auf deren Rand eine Art Gitter befestigt war und ich konnte erkennen, dass darauf kleine, stachelige Spitzen dem Himmel entgegen blickten. Das war also die Art, die Patienten vor der Flucht zu hindern.

Schließlich erschien vor uns ein schweres Eisentor – sicherlich drei Meter hoch und fünf Meter breit – das sich nur durch einen elektronischen Mechanismus von innen öffnen ließ. Auf der rechten Seite war ein kleines, aber leeres Häuschen, mit einer Glasscheibe und einer Sprechfunktion, sodass man die Stimmen von außen auch im Inneren gut verstehen konnte – und umgekehrt. Das Dach des Häuschens war leicht gebogen, sodass das Regenwasser in die Regenrinne, die rund um befestigt war, hineinfließen konnte, um schließlich in einer großen Tonne zu verschwinden. Daneben begann wieder der Wald und zwischen dem Gras räkelten sich lilafarbene Blümchen.

Kellan fuhr mit dem Sportwagen nicht auf die Hütte zu, sondern den Steinweg weiterhoch. Dort war ein kleiner Parkplatz, auf dem gerade mal vier weitere Autos zum Stehen gekommen waren. Allerdings konnte ich nicht sagen, ob es Besucher oder nur die Mitarbeiter waren.

Die Fahrertür wurde von Kellan geöffnet und er sagte: „Aussteigen. Wir sind da!“

Ich zog mir meine Jacke über, die ich während der Fahrt über meine Beine gelegt hatte. Unter dem dichten und schattigen Ästen der Bäume, war es sehr kalt. Allerdings wehte kein Lüftchen.

Heaven, Josephine und Calvin kamen mir hinterher, sahen sich um und wollten schon zu dem Tor weiterlaufen.

„Wartet einen Moment“, hielt Kellan uns auf. „Es gibt da noch etwas, dass ihr wissen solltet.“

Wir blieben stehen und drehten uns betreten wieder zu ihm um.

Heaven meinte: „Das hört sich nicht nach etwas Gutem an, hab ich recht?“

„Nicht unbedingt“, gab Kellan zu und ging zum Kofferraum des Autos. „Wir haben uns gestern nach den Besuchszeiten erkundigt und dort ein paar Dinge herausgefunden.“

„Aha“, machte ich, „und was genau sind das für Dinge?“

Kellan räusperte sich und strich mit der Hand über den Kofferraum. „Die Besucher dürfen ohne Erlaubnis oder der Einverständnis der Bewohner nicht mit auf die Zimmer kommen. Zum Teil wegen den privaten Rechten. Hierfür gibt es Besucherzimmer, allerdings könnte es der Fall sein, dass ihr nicht die Einzigen seid, die jemanden besuchen. Also achtet darauf, dass niemand etwas von euren Gesprächen mitbekommt, vor allem die Betreuer oder die Aufsichten nicht. Das wäre ziemlich schlecht, wenn ihr deswegen rausgeschmissen werdet.“

„Wir werden beobachtet?“, fragte Heaven. „Wie sollen wir denn dann unauffällig an Informationen gelange, wenn wir beachtet werden? Das ist so gut wie unmöglich, auch wenn wir darauf Acht geben würden, von niemandem gehört zu werden.“

Kellan nickte. „Ich weiß. Deswegen ist Josephine auch mit dabei.“

„Ah, jetzt kommt endlich die Erklärung, was ich hier mache“, gab sie verächtlich von sich und Calvin grinste. Anscheinend wurde sie in die Position ihrer Rolle überhaupt nicht eingeweiht.

Kellan grinste sie schief an und sagte: „Weil du nicht den Mund halten kannst, bekommst du erst jetzt die Erläuterung.“

Josephine funkelte ihn an, aber ich konnte ein kleines Lächeln im Mundwinkel erkennen. „Na da, bin ich ja mal gespannt.“

„Also, wie gesagt, falls etwas schief gehen sollte, wird euch Josephine helfen und versuchen die Gedanken der Person zu kontrollieren, die euch bei euren Taten stört. Das bedeutet, löschen oder einfach eine andere Erinnerung in den Kopf einpflanzen.“

Als ich hörte, dass sie wenn nötig die Gedanken löschen würde, ballte ich meine Hände zu festen Fäusten. Ich dachte daran, was sie mit uns vorhatten, nachdem sie die Informationen von Finn hatten. Ebenfalls die Gedanken löschen und sich einfach aus unserem Leben entfernen. Aber dies würde niemals passieren, denn Heaven und ich hatten einen guten Plan. Und dieser würde klappen.

Ich sah zu ihr hinüber und wie abgesprochen, blickte sie mir in die Augen und ich konnte erkennen, dass sie dasselbe dachte wie ich. Heaven nickte kaum merklich. Ich tat es ihr gleich.

„Das freut mich“, warf Josephine ein und fügte hinzu, „Dann bin ich ja doch für etwas Nützliches hier.“

Kellan ignorierte sie und sagte: „Jetzt kommt das nächste Problem: Ihr werdet vielleicht ein bis zweimal durchsucht.“

Ich sah die anderen an und fragte mich, ob ich irgendetwas verpasst hatte, aber keiner der anderen schien besonders erleuchtet zu sein. Was hätte daran auch schon so schlimm sein können?

Zu unserer Antwort öffnete Kellan den Kofferraum. Darin lag eine große Reisetasche, in der sich locker ein Mensch verstecken könnte.

„Was ist da innen?“, fragte Calvin nun.

Unser Fahrer schwieg, beugte sich aber zu der Tasche und zog den Reisverschluss mit einem lauten Ratschen auf. In der Tasche waren einige silberne Schachteln, die aussahen wie kleine, stabile Köfferchen.

„Oh nein“, sagte Josephine. „Ist das euer Ernst?“

Kellan nickte. „Jep, Befehl vom Boss.“

Calvin, Heaven und ich hatten natürlich keine Ahnung was sie damit meinten.

Das Mädchen stöhnte. „Du weißt genau, dass Benjamin nicht wirklich unser Boss ist.“

Er lachte. „Klar, weiß ich das, aber-“

„Könnt ihr uns bitte sagen, was in der Tasche oder in den Behältern ist?“

„Sicher“, antwortete er Heaven und holte vorsichtig eine Schachtel heraus. Achtsam öffnete er die zwei Klappmechanismen und der Deckel sprang auf.

Keiner sagte etwas. Jeder starrte auf den Inhalt. Josephine wahrscheinlich aus Langeweile oder weil sie nicht wusste, wohin sie sonst hätte hinsehen können. Calvin aus Unverständnis. Und Heaven und ich aus Verzweiflung.

Calvin brach das Schweigen. „Was zum Teufel ist das?“ Er deutete mit dem Finger auf ein Kabel mit einem kleinen Etwas an beiden Seiten.

„Zieh deine Jacke und den Pullover aus“, forderte Kellan ihn auf.

„Was? Ich zieh bestimmt nicht meinen Pullover aus! Es ist verdammt kalt hier!“, motzte er. „Außerdem-“

Josephine stöhnte. „Mach es einfach.“

Kurz darauf hielt Kellan Calvins Oberteil in der linken und in der rechten Hand das Kabel.

Ich hatte auf den ersten Blick gesehen was es war, konnte es aber immer noch nicht fassen.

Kellan klippte eine Seite des Kabels in die Innenseite des Ärmels und die andere befestigte er unauffällig unterhalb des Kragens. Man konnte nichts davon erkennen.

„Okay und jetzt?“, fragte Calvin, nachdem er den Pullover wieder übergestreift hatte.

„Jetzt“, begann Kellan, „werde ich alles verstehen können, was um euch herum zu hören ist.“ Dann holte er drei weitere Schachteln heraus und ich konnte ahnen, dass diese für Josephine, Heaven und mich waren.

Während wir verkabelt wurden, sagte Kellan: „Ich denke ihr versteht jetzt, was das Problem an der Durchsuchung ist. Es ist verboten Aufnahmegeräte aller Art mit hinein zu nehmen.“ Er zeigte auf die Mauer, auch wenn er das meinte, was dahinter lag. Er nahm vier weiter Schachteln heraus. „Und das hier, ist noch viel schlimmer.“ Kellan öffnete sie und streckte jedem einen Gegenstand entgegen.

„Das ist… das ist eine…“, machte Heaven.

„Eine Brille“, vollendete ich den Satz.

Kellan lachte und ich musterte sie genauer. „Das ist nicht irgendeine Brille.“

Ich bemerkte drei Vertiefungen auf dem Nasensteg, der mittlere größer und tieferer als die anderen. Die Fassung kam mir nicht nur stärker vor, sie war es auch. Sowie die Bügel. Und die Brille war nicht nur dicker, sondern auch schwerer, als eine normale. Plötzlich entdeckte ich an der unteren Kante des linken Bügels eine Art USB-Anschluss.

„Das ist eine Kamerabrille. Für jeden eine andere Farbe und Form, aber mit denselben Fähigkeiten“, erklärte Kellan nun.

Calvin gab ein Geräusch von sich, welches so klang, als wäre er von den ganzen Sachen total beeindruckt.

„Diese Brille besaß einen internen Speicher über vier Gigabyte, bis wir sie etwas überholt haben. Jetzt hat sie einen Terabyte. Das sollte ausreichen. Auch die Stromversorgung haben wir etwas gepusht, in dem wir sie auf eine solarbetriebene Brille umfunktioniert haben. Sie lädt sich also mit Licht von selbst auf. Ziemlich praktisch, wenn man einen ganzen Tag auf Spionage ist. Am linken Bügel ist ein kleiner Knopf angebracht, mit dem man Fotos schießen kann, daneben einer für Videos. Diese Dateien werden natürlich direkt auf der Brille gespeichert und sofort an zwei Computer geschickt. Einer steht bei mir im Auto, der andere ist in den Katakomben in Adams Computerzimmer.“

„Was ist das für ein Teil?“, fragte ich und zeigte auf den USB-Anschluss.

Kellan meinte gelassen: „Das ist meiner Meinung nach unnötig, aber wenn du es wissen möchtest: Es ist der interne Speicherplatz.“ Er nahm mir die Brille aus der Hand und drückte auf einen bisher unscheinbaren Knopf. Sofort sprang ein USB-Stick ein Stück heraus. „Die Brille könntest du jetzt an einen Computer oder sonst irgendetwas anschließen und du könntest Dateien auf sie laden, beziehungsweise herunterladen.“

Ich konnte nur nicken. Es war erstaunlich, was alles in ein solch kleines Gerät passte. Und noch dazu so mikroskopisch.

„Ich sehe überhaupt keine Kamera“, meinte Calvin und drehte die Brille in seiner großen Hand.

Kellan gab mir meine zurück und ich setzte sie provisorisch auf. Dafür schnappte er sich die von Calvin und deutete auf die drei Punkte auf dem Nasensteg. „Hier“, sagte er, „Die zwei kleinen sind zur Verzierung und damit der große Punkt nicht so sehr auffällt. Aber der große Punkt, ist nicht nur ein Punkt, sondern auch die Kamera.“

Calvin staunte. „Die kann man ja überhaupt nicht erkennen!“

Josephine lachte und schnappte sich seine Hand. „Ja, das ist auch der Sinn.“

„Außerdem ist die Brille mit einem besonderen Material umschlossen, sodass kein Scanner hindurch kommt und das elektrische Innere entdeckt. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die Mitarbeiter erkennen, dass das keine normale Brille ist.“

Heaven setzte ihre Brille auf und fragte: „Gut, können wir dann endlich los?“

Kellan grinste. „Noch nicht ganz.“ Er kramte wieder in der Tasche und holte eine kleine Schachtel heraus. Darin befanden sich vier Armbänder. „Hier, für jeden eines.“

Ich lachte. „Wow, wir bekommen sogar Schmuck.“

Heaven stimmte mit ein, fragte dann aber: „Und für was ist das gut?“

Ich nahm Kellan einen der Ringe ab und betrachtete ihn. Das Band war aus festem Material und die darauf befestigte silbern schimmernde Perle war oval und länglich, sodass sie sich über die ganze Breite des Handgelenks erstreckte. Der Verschluss war eine einfache Drehfunktion. Ohne auf die Angaben von Kellan zu achten, legte ich mir das Band um mein rechtes Handgelenk.

„Falls irgendetwas passieren sollte, aus dem ihr nur mit einem Verschwinden entfliehen könntet, wird euch dieses Armband helfen. Außerdem könnt ihr damit auch mit mir kommunizieren.“

Ich sah ihn fragend an. „Was soll das heißen mit dem Verschwinden?“

„Das bedeutet, es nimmt deine Umgebung um dich herum wahr und kann jeden Gegenstand und Entfernung errechnen. Anschließend spiegelt es alle Bilder hinter dir und vor dir auf dich ab. Das heißt, dein Gegenüber könnte dich nicht sehen. Kurz gesagt: Du bist unsichtbar.“

Ich lachte auf. „Okay, das ist ganz klar, das krasseste Gerät!“ Doch dann erinnerte ich mich wieder, was das wirklich für Teile waren. Eine Kamera und ein Mikrophon. Teile, die uns auf jedem Schritt verflogen würden und uns dazu brachten, keine unserer Informationen geheim halten zu können. Und vor noch jemanden konnten wir nichts geheim halten. Vor Josephine und Calvin.

Heaven stimmte mir zu und fügte hinzu: „Jetzt aber los!“

Aber als ich nun die Lage richtig verstand, bekam ich ein richtig mieses Gefühl in der Magengrube.

 

Es ertönte ein gedämpftes Klingeln, als Josephine auf einen runden Knopf drückte, neben dem auf einem Schild mit schwarzer Schrift „Bitte klingeln“ stand.

Ich war aufgeregt und hatte immer wieder verschiedene Gedanken im Kopf, die von einer gelungen Mission bis hin zu der Tatsache reichten, dass der Plan von Heaven und mir mit großer Wahrscheinlichkeit nicht aufgehen würde. Auch meine Freundin machte mittlerweile einen eher gequälten Gesichtsausdruck, was mich darauf schließen ließ, dass sie langsam begriff, was hier vor sich ging. Alles lief in die falsche Richtung. Zumindest für Heaven und mich. Denn wenn alles so ablaufen würde, wie von dem Wotsford-Clan gedacht, würden wir uns bald an nichts mehr von hier erinnern können. Und dann wäre Adam wieder weg und Heaven wäre alleine. Aber auch Jerry Lee wäre nicht mehr hier. Allerdings gab es da einen Unterschied, denn er war nicht mein Freund – zu meinem Bedauern. Er war mit Bethany zusammen und nicht nur das: Sie gehörten auch zusammen. Für immer. Immer. Jerry Lee und ich kannten uns eigentlich schon immer. Und das hatte er auch gewusst, hat es mir aber nicht gesagt, bis ich selbst darauf kam. Doch selbst nach dieser Erkenntnis meinerseits konnte er nicht glauben, dass ich mich an ihn erinnerte. Den Grund dafür kannte ich allerdings nicht.

Es dauerte eine Weile, bis sich im Inneren des kleinen Häuschens mit der Regenrinne um das gewölbte Dach, etwas tat. Erst ertönte ein Geräusch, das sich anhörte, wie das Rascheln von Schlüsseln. Dann wurde eine Tür geöffnet und wieder zu geschlagen. Anschließend das Stampfen von Schritten auf einer Treppe. Anscheinend war das kleine Häuschen durch eine Treppe nach unten mit dem Keller des Hauptgebäudes verbunden.

Dann erschien vor uns ein Gesicht. Es war eine etwas ältere Frau, mit grauen Haaren und einer Brille, die aussah, als würde sie der Dame gleich herunterfallen.

Ich versuchte durch das Glasfenster, indem sich unsere Gesichter spiegelten, etwas zu erkennen und bemerkte, dass sie auf einen roten Knopf drückte und ein Mikrophon zu sich heranzog.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie laut und ihre Stimme war für ihr Alter verhältnismäßig mädchenhaft.

Josephine räusperte sich und beugte sich weiter nach vorne, damit die Frau sie besser hören konnte. „Hi, wir möchten gerne unseren Freund besuchen.“

Die Alte hob eine viel zu stark geschminkte Augenbraue. „Darf ich den Namen Ihres Freundes wissen?“

Josephine nickte. „Finn Haige.“

Der Lautsprecher krachte einmal geräuschvoll. Dann verschwand die Dame wieder und wir konnten Geräusche von Schubladen hören.

Calvin flüsterte: „Vielleicht kommen wir gar nicht hinein?“

Josephine schnaubte. „So ein Quatsch. Ihr wisst doch, mit mir an eurer Seite, kommt ihr überall hin. Die Frage ist nur, ob wir erwischt werden. Also seid ein bisschen lockerer.“ Sie grinste uns alle nach der Reihe frech an.

Dann kam die Frau wieder zurück. „Es tut mir leid, aber es sind keine Anmeldungen für einen Besuch angekommen.“

Josephines Augen funkelten. „Wir haben vor einer Stunde telefoniert. Das könnte der Grund sein, weshalb wir noch nicht eingetragen sind.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein, daran hätte ich mich…“

„Wir haben vor einer Stunde telefoniert“, bekräftige Josephine und ihr Blick wurde ernst, ihre blauen Augen so dunkel wie der Nachthimmel.

„Ach richtig!“, trällerte die Frau und drückte auf einen weiteren Knopf, wie ich wage erkennen konnte.

Es ertönte ein Laut neben uns. Wir drehten uns gespannt in die Richtung und konnten erkennen, wie das schwere Eisentor aufging.

Dann hörten wir noch: „Ihr werdet am Empfang erwartet.“

Vor unseren Augen eröffnete sich ein Weg in eine fantastische Märchenwelt aus Blumen und Bäumen. Um einen runden Pflastersteinplatz, auf dem sich ein riesengroßer Brunnen befand, in dem man im Sommer sicherlich Baden konnte, befand sich eine große Wiese, die unendlich schien wie das Meer. Wunderschön, strahlend, leuchtendgrünes Gras, an manchen Stellen überdacht von großen Weiden, unterbrochen durch kleine Wege, die meist zu Sitzgelegenheiten führten. Die Farben waren strahlendschön und ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie wären, wenn es Sommer sei. Und in der Mitte auf dem Pflastersteinplatz stand ein großes, lilienweißes Gebäude, überzogen von einer Schicht aus Kletterpflanze.

Heaven fand zuerst ihre Sprache wieder und sage: „Und ich dachte, hier wäre es wie in einem Gefängnis.“

„Ich hab ja keine besonders große Ahnung von Blumen, aber das ist wirklich wundervoll“, brachte nun Calvin über die Lippen, die er zu einem Oh verzogen hatte, welches in ein leichtes Lächeln überging.

Ich war völlig erstaunt über den Garten, der sich um das Psychiatriegebäude erstreckte, um irgendetwas zu sagen. Doch am allermeisten staunte ich darüber, dass ich einfach nicht das Ende sehen konnte und gleichzeitig war ich wahnsinnig traurig, dass es nicht Sommer oder Frühling war.

Josephine räusperte sich, vielleicht um mich oder alle wieder in die Realität zu rufen. „Wir sollten uns unserer Aufgabe widmen“, sagte sie bestimmt und trat auf das Gebäude zu.

Wir alle atmeten mehrere Male ein und aus, bis wir ihr zur Eingangstür folgten. Sie war rot wie Wein, ebenso wie die Fensterrahmen gestrichen waren. Außerdem hatte sie einen goldenen Knauf, der matt schimmerte.

Diesen drehte Josephine und drückte die Tür mit Leichtigkeit auf – ich war mir sicher, normale Menschen hätten das nicht so einfach geschafft.

Uns schlug ein fast unbeschreiblicher Geruch entgegen. Er roch nach Leder, Putzmittel und ein kleinwenig nach Erdbeere. Vor uns erstreckte sich ein langer Flur, verschlossen von einer großen Glastür, dessen Boden aus dunkelbraunem Holz bestand, das leicht ins Rötliche ging und so aussah, wie getrocknetes Blut. Die Wand hatte ein strahlendes Lilienweiß, das einen starken Kontrast zum Boden bildete. Allerdings war daran ein Geländer befestigt, das sich den ganzen Flur entlang zog, unterbrochen von weinroten Türrahmen, die aus demselben Holz bestanden, wie der Fußboden. An den Wänden hangen noch ein paar bunte Bilder, auf denen man allerdings keine Landschaften oder Personen erkennen konnte, sondern nur Striche, Punkte und Flächen. Darunter war bei jedem Bild ein kleines, goldenes Schildchen angebracht, auf dem etwas mit schwarzer Schrift eingeprägt war. Beim näheren Betrachten stellte ich fest, dass es sich um Namen und Daten handelte, konnte aber keinen Zusammenhang herausfinden. In einer großen Nische befanden sich der Empfangstresen mit drei Computern auf einem großen Tisch, die in einem hochmodernem Schwarz glänzten; Schränke voller Aktenordner, dessen Inhalt die Halterungen beinahe sprengten; kleinen Stifthalter die überquollen und viele, viele Blätter.

Und davor war eine große Glasscheibe, die uns von all dem trennte.

Allerdings befand sich in diesem Raum niemand. Und in dem Raum, indem wir standen, abgetrennt von dem Flur und dem Empfangstresen, stand ein dunkelblaues Sofa, der dazu passende Sessel in zweifacher Ausgabe und ein großer Glastisch, auf dem eine strahlendgelbe Blume stand und ein paar Hefte gleichmäßig verteilt worden waren. Das alles stand auf einem cremefarbenen, flauschigen Teppich.

„Und ich dachte, wir werden erwartet“, meinte Josephine immer noch gelangweilt, obwohl ihre Stimme angespannter war, als sonst.

Doch im selben Moment öffnete sich die durchsichtige Tür, die neben der Glasscheibe lag und eine große Frau kam zu uns gestoßen. „Es tut mir leid, dass Sie warten mussten“, begann sie und rückte ihre Brille zurecht, „aber ich habe mich so schnell beeilt wie es in meiner Macht stand – oder meine Beine es zugelassen haben.“ Sie lächelte freundlich. Die Frau hatte langes schwarzes Haar, das sie zu zwei Zöpfen zusammengebunden hatte, die ihr nun, den Rücken herunterbaumelten.

„Schon okay“, sagte ich schnell und bereute sofort etwas gesagt zu haben, da meine Stimme nicht wirklich wie meine Stimme klang.

Sie lächelte uns zu. „Ich bin Dr. Abigail Coullough. Sie möchten also Ihren Freund besuchen?“

Heaven nickte. „Ja, Finn Haige.“

Dr. Coulloughs Gesicht veränderte sich blitzartig, als sie seinen Namen hörte, zu einem Lächeln. „Das ist aber ein Zufall! Ich bin seine Psychiaterin. Es wird ihn sicherlich freuen, wenn er mal ein paar Bekannte zu Gesicht bekommt. Ihr solltet wissen, ihr seid die Ersten, die ihn besuchen.“

„Wie geht es ihm?“, fragte ich schnell, ohne darüber nachgedacht zu haben.

Dr. Coullough hob traurig die Schultern. „Nicht besonders gut, aber ich darf euch keine weitere Auskunft geben, solange er nicht das Einverständnis dafür gibt. Allerdings muss ich euch jetzt noch schnell abtasten, darf ich?“ Wir nickten und hofften alle, dass sie unsere Geräte nicht sehen konnte.

Konnte sie auch nicht, denn nachdem sie uns alle abgetastet hatte, fummelte sie an ihren Schlüsseln herum. Sie knipste den Schlüsselbund von ihrer weisen Hose ab und ging auf die Glastür zu. „Aber vielleicht wird er es euch ja sogar selber erzählen.“

Heaven sah sie verwundert an. „Soll das heißen, er möchte nicht, dass irgendjemand erfährt, wie es ihm geht?“

Die Psychiaterin drehte den Schlüssel drei Mal um und zog die Tür auf. „Irgendjemand wäre in seinem Fall die Schule oder seine wenigen Verwandten. Und ja, er möchte nicht mit ihnen reden. Er hat sogar alle Telefonanrufe abgelehnt.“

Josephine räusperte sich. „Könnte es dann sein, dass er sich über unseren Besuch nicht unbedingt freuen wird?“

Damit hatte sich recht. Wenn er schon mit niemandem sprechen wollte oder, dass irgendjemand erfährt, wie es ihm ging, wieso sollte er dann schon besucht werden wollen?

Während wir Dr. Coullough durch die Tür folgten, erzählte sie: „Er hat nichts davon erzählt, dass er keinen Besuch haben möchte. Allerdings werden wir das sowieso feststellen, sobald er sagt, ob er mit in das Besucherzimmer möchte.“

„Und was machen wir, wenn nicht?“, fragte Calvin, der zum ersten Mal wieder zu Wort gekommen war.

Dr. Coullough beantwortete ihm die Frage, auch wenn sie die Einzige war, die keine Ahnung hatte, an wen die Frage wirklich gerichtet war. Sie war an uns drei und Kellan, sowie alle anderen, die uns zusahen. Adam, Jerry Lee, Thierry, Benjamin und Desiree. Sicherlich noch weit mehr Personen.

„Wenn er nicht möchte, kann ich ihn nicht dazu zwingen, aber ich habe ihm schon öfter gesagt, dass es vielleicht nicht falsch sei, endlich mal wieder Bekannte zu sehen. Ich schätze, er hat Angst davor, sich der Realität zu stellen und versucht sich hier zu verstecken, vielleicht um die Tatsache zu verdrängen, dass sein Dad tot ist und seine Mum im Koma liegt.“

Wir liefen durch einige Flure, kamen an fielen Abzweigungen vorbei. Einige Türen hatten Fenster, auf denen die Zimmerausstattungen standen. Entspannungsraum. Modulraum. Besprechungszimmer. Nur für Mitarbeiter. Küche für Mitarbeiter. Zur Sporthalle. Manchmal standen Holzstühle mit schlechter Polsterung und einem Tisch mit Pflanze und Zeitungen, in Nischen die an den Flur gebunden waren. Durch ein paar offene Türen konnte ich erkennen, was sich in den Zimmern der Patienten befand: Holzbett mit gestreifter Bettwäsche; daneben ein Nachttisch, dessen Farbe und Form meistens unterschiedlich waren; eine weiße Heizung, die im Moment auf Hochtouren lief; bunte Gardinen und einigen Bilder an der Wand, welche in allen möglichen Farben gestrichen waren – von weiß oder schwarz bis bunt, mit allen möglichen Mustern oder einfachen Wandklecksen, indem ein Pinsel mit Schwung einige Spritzer auf die Wand hinterlassen hatte oder die Wand mit einem halb gefüllten Eimer Farbe übergossen worden war. Einige Personen hatten ihre Zimmer sehr schön gestaltet. In einem waren viele Pflanzen und Blumen, die in exotischen Farben leuchteten; in einem anderen ein großes Bücherregal, das überquoll vor Wälzern und dicken Lektüren in verschiedenen Farben. Und in einem Zimmer stand sogar auf einem großen Tisch, der überfüllt war mit Zeichnungen und Kritzeleien, ein großes Modellflugzeug, welches zur Hälfte sonnengelb lackiert war.

Ich lächelte und wandte mich an die schweigende Psychiaterin. „Die Zimmer sind wirklich schön.“

Ihre Augen funkelten glücklich. „Vielen Dank.“

Heaven fragte: „Wie kommt es, dass jedes Zimmer eine andere Wandfarbe hat?“

„Nun, wir möchten, dass es den Patienten so gut wie möglich geht und deshalb sollen sie sich auch wohlfühlen. Sobald festgestellt wurde, dass sie länger in der Psychiatrie bleiben müssen, dürfen sie sich ein Zimmer aussuchen, ganz nach dem Wunsch des Ausblickes. Dieser Raum ist dann fürs Erste leer und sie dürfen sich Wandfarbe oder eine Einrichtung aussuchen oder auch einen Plan machen, wie sie ihr Zimmer gestallten möchten. Und dann wird gemalt. Das lenkt sie ein bisschen von ihren Problemen ab und den meisten macht es auch Spaß, auch wenn es ziemlich anstrengend ist.“ Sie lachte.

Josephine sagte skeptisch: „Ich glaube nicht, dass jeder gleich damit einverstanden ist, eine Wand zu streichen.“

Dr. Coullough konnte nur nicken und blieb schließlich und völlig abrupt vor einer Zimmertür stehen. „Das stimmt auch. Einige finden die Idee super, andere wiederum nicht. Diese bekommen dann ein Bett, einen Schrank und ein Nachttischen in ihr Zimmer gestellt. Die Wand bleibt weiß. Allerdings merken die meisten nach einiger Zeit, dass es ihnen überhaupt nicht gefällt, immer auf eine kahle Wand schauen zu müssen und schließlich entscheiden sie sich für unser Projekt.“

„Das ist eine sehr schöne Idee“, meinte Calvin und deutete dann auf die Tür. „Aber was mir aufgefallen ist: Wieso sind hier keine Leute?“, fragte er neugierig.

„Im Moment ist für einige eine Art Bastelstunde, für die anderen ein Ausflug. Aber die meisten, die daran nicht teilnehmen sind in den oberen Geschossen, weil dort gerade eine Zimmerkontrolle ist. Hier unten war sie gestern. Euer Freund ist allerdings nicht mit auf die beiden Veranstaltungen gegangen. Er ist in seinem Zimmer, nehme ich an.“

„Ist es das?“, fragte Josephine und zeigte auf die Zimmertür vor uns. „Sein Zimmer, meine ich.“

„Oh nein“, meinte Dr. Coullough und machte die Tür auf. „Das hier ist das Besucherzimmer.“ Sie machte eine Armbewegung mit der Hand und sagte: „Macht es euch gemütlich, ich werde schnell mit Finn reden und fragen, ob er Lust hätte zu kommen.“ Dann hob sie die Hand vor den Mund und flüsterte: „Hier ist übrigens alles videoüberwacht, also falls ihr etwas anstellen solltet, wären in zwei Sekunden meine Leute hier.“ Es klang fast wie eine Drohung, weshalb wir alle nur kleinlaut nicken konnten. Und dann verschwand Dr. Coullough auch schon.

Und ich nahm das Zimmer in Augenschein.

Der Raum bestand aus mehreren Abteilungen, die durch bunte Wände errichtet waren, welche mir aber nur bis zur Brust gingen. Auf den Mauern waren Ablagen errichtet worden, die mit Blumen und verschiedenfarbigen Lämpchen bestückt waren. In jedem Abteil stand eine kleine Sofaecke, die aus zwei schwarzen Sofas, welche rechtwinklig zueinander standen; einem dunklen, quadratischen Holztisch, der mit Gläsern und einigen Plastikflaschen ausgestatten war, bestand. In einer Schale auf dem Tisch lag ein zusammengebundener Strauch Lavendel, der noch in frischen Farben leuchtete und die Luft mit seinem Duft erfüllte.

Und dieses Mal begegneten wir auch einem Augenpaar, das uns neugierig musterte. Es war ein Mädchen, nicht viel jünger als wir, das alleine in einem Abteil saß. Sie hatte schwarze, glänzende Haare, die ihr in leichten Wellen den Rücken herunterflossen und dunkle Augen, die uns abwechselnd ansahen. Ihr Blick blieb an Josephine hängen und sie runzelte die Stirn. Dann fanden ihre Augen ihre Hände, die mit denen von Calvin verschränkt waren und ihre Augen wurden größer. Dann sah sie schnell weg.

Josephine ließ sich nichts anmerken, obwohl ich genau wusste, dass sie die Blicke des Mädchens gesehen hatte und steuerte auf das hinterste Abteil zu.

Wir setzten uns alle und Heaven sagte: „Ich finde, die Psychiatrie ist sehr schön gestaltet.“

Calvin hatte einen Arm um Josephine gelegt, sie ihren Kopf an seinen Brustkorb angekuschelt hatte, und er sagte: „Ja, das stimmt. Ich hatte gedachte, hier wären kahle Mauern und Zellen in denen die Patienten liegen.“

Josephine kicherte und meinte: „Du siehst zu viele Filme.“ Dann bekam sie einen kleinen Kuss auf ihre Nasenspitze. Ruckartig setzte sich Josephine auf und sagte leise: „Er kommt.“

Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und Dr. Coullough kam herein. Hinter ihr konnte ich einen Blick auf einen Schopf heller Haare werfen. Dann trat sie zur Seite und ich konnte Finn sehen. Seine Haut war heller als sonst und seine blauen Augen strahlten nicht mehr so sehr wie früher. Er war dünner, aber immer noch muskulös, und seine Wangenknochen kamen stark zum Vorschein. Er hatte einen leichten Bart, den man aber kaum sehen konnte, da seine Haare so hell waren, dass sie fast weiß schienen. Aber er sah immer noch verdammt gut aus! Seine Hände hatte er in die Hosentaschen seiner ausgefransten, hellblauen Jeans gesteckt und er trug einen lockeren, grauen Pulli, welcher eine Brusttasche mit einem Knopf hatte, einen runden Ausschnitt und an den Schultern einen schwarzen Stoff. Seine Füße waren mit dicken Socken bestückt, was mich im Inneren zum Lächeln brachte. Sein Blick ruhte auf uns. Er sah irgendwie etwas geschockt aus.

Dr. Coullough gab ihm einen kleinen Stups gegen die Schulter, was heißen sollte, er solle schon zu uns gehen. Und er tat es.

Ich lächelte ihn an und wollte ihn begrüßen, doch er schnitt mir das Wort ab und sagte: „Was macht ihr hier?“ Seine Stimme klang kalt.

Josephine sagte in einem ähnlichen Ton: „Dich besuchen.“

„Ich kenn dich doch überhaupt nicht.“ Finn sah sie stirnrunzelnd an, blickte dann zu Calvin, mit dem er am allerwenigsten gerechnet hatte. Er sah mich an, mit tausend Fragezeichen im Gesicht, die alle den beiden galten.

Dr. Coullough ging zu dem Mädchen hinüber, die wieder angefangen hatte uns zu mustern. Sie sagte zu ihr: „Komm, Ava. Du hast für heute keine Besuche.“

Ava, wie sie hieß, sah sie mit großen glänzenden Augen, die nur so voller Hoffnung strahlten, an und meinte: „Aber sie hat gesagt, dass sie kommen würde.“ Dann lächelte sie. „Sie hat es mir versprochen.“

Dr. Coullough strich ihr über das Haar und lächelte sie sanft an. „Ich weiß, aber für heute hast du keine Besucher, die sich eingetragen haben.“

Ava sah uns traurig an und in ihren Augen bildeten sich Tränen. Ihre Mundwinkel zuckten nach unten, woraufhin sie ihre Lippen fest aufeinander presste.

„Kommt mit, ich bring dich in dein Zimmer“, sagte Dr. Coullough sanft und nahm Avas Hand, die das Mädchen ihr bereitwillig entgegenstreckte. „Wenn du möchtest, können wir etwas spielen. Oder du bringst mir bei, wie man Gitarre spielt.“ Dr. Coullough lächelte sie aufmunternd an.

Ava warf uns allen einen letzten Blick zu und als sie zu Finn sah, rann ihr die erste Träne über die Wange. Doch im Aufstehen drehte sich ihr unbekleidetes Handgelenk und die Innenseite des ganzen rechten Arms kam zum Vorschein. Eine einzige Narbe zog sich über den gesamte Unterarm, die rosa, leicht lila schimmerte. Bei diesem Anblick zog sich mein Magen zusammen, denn ich konnte erkennen, dass es noch nicht lange her war, dass die Wunde angefangen hatte zu heilen.

Ich musste meinen Blick abwenden und sah deshalb zu Finn, der ihr hinterher starrte. Als sich die Tür hinter Dr. Coullough und Ava geschlossen hatte, blickte er wieder zu uns.

„Setz dich“, forderte ich ihn auf und er gehorchte, jedoch nach kurzem Zögern. Dann fragte ich: „Wie geht’s dir?“

Finn zuckte gelangweilt mit den Schultern und richtete dann den Blick auf mich. „Seit wann hast du denn eine Brille?“

„Seit den Ferien“, log ich, „Weil ich doch immer so schlecht die Schrift an der Tafel erkennen konnte.“ Das stimmte teilweise.

Er nickte, kniff die Augen zusammen und es kam mir so vor, als würde er den Nasensteg mit seinen Blicken regelrecht durchbohren. „Aha“, machte er dann. Finn sah zu Heaven. „Und du hast auch eine Brille?“

Meine Freundin nickte und lächelte. „Klar, die sind total modern!“

Ich hatte keine Ahnung, ob das wirklich stimmte, da ich mich nicht sehr für Mode interessierte. Finn allerdings auch nicht, weshalb er nur mit zusammengekniffenen Augen nicken konnte. Dann begutachtete er die Brillen von Josephine und Calvin. Er nickte wieder, aber langsamer als sonst und blickte Calvin dabei tief in die Augen, bis Calvin wegsehen musste.

„Wir haben gehört, dass du bis auf Weiteres den Kontakt zu deinen Verwandten abgebrochen hast“, meinte Josephine.

„Und wer bist du?“, fragte er sie, obwohl es nicht sehr interessiert klang.

Sie lächelte nicht. „Josephine.“

Dann blickte er Calvin an. „Und seit wann steckt ihr unter einer Decke?“ Diese Frage galt Heaven, Calvin und mir.

Heaven runzelte die Stirn. „Wir stecken nicht unter einer Decke.“

Finn verdrehte die Augen. „Seid ihr befreundet?“

Calvin nickte. „Ja, sind wir.“ Er lächelte uns an, aber besonders funkelten seine Augen bei Josephines Anblick.

Finn lehnte sich auf seinem Platz zurück. „Okay, ich kann mir denken, in welcher Verbindung ihr zu der da steht.“ Er nickte mit dem Kopf auf Calvins Freundin.

Sie funkelte ihn böse an. „Die da“, äffte sie ihn nach, „hat auch einen Namen.“

Mein Banknachbar ignorierte sie, sah aber auf ihren Ausschnitt.

Calvin beugte sich provozierend nach vorne und maulte: „Gaffst du sie etwa an?“

Finn lachte verächtlich. „Nein. Ich dachte mir gerade nur, was sie für ein hübschen Oberteil trägt.“ Es war ein einfaches, schwarzes Top, über welches sie noch eine Lederjacke trug. Finn beäugte uns andere am Ausschnitt – selbst Calvin ließ er nicht aus. „Übrigens gilt das für euch alle.“

Wir alle wechselten einen Blick, der mehr als verwirrt war.

Dann zeigte der Junge auf unsere Handgelenke. „Was ist das? Ein Freundschaftsarmband?“

Keiner brachte ein Wort heraus. Er hatte auf alle unsere elektronischen Geräte hingewiesen. Ich wusste nicht, ob es nur ein Zufall war oder… was sollte es sonst schon sein?

Josephine sagte schnell: „Ja, was sonst?“

Plötzlich bemerkte ich, dass sich Finns Blick verändert hatte. Er war immer verängstigter geworden. Seine Finger zitterten leicht und er blickte sich nervös in alle Richtungen um, als würde uns jemand beobachten. Er rieb seine Hände an der Hose ab und verschränkte dann die Arme.

Josephine versuchte wieder freundlicher zu wirken und sagte bestimmt: „Und jetzt zu meiner Frage.“

Finn sah sie mit eisblauen Augen an, als hätte er keine Ahnung, was sie meinen würde.

„Ich meine, du hast den Kontakt zu deinen Verwandten abgebrochen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

Sie schnaubte. „Was soll das denn heißen?“

Die blauen Augen ruhten wieder auf ihr, ohne zu blinzeln.

Heaven fragte ihn ruhig: „Willst du jetzt nicht mehr antworten?“

Finn richtete den Blick auf sie, aber nicht ohne an mir hängen zu bleiben. Er musste sich schrecklich fühlen. Vier Personen, davon die Hälfte fast fremd war, starrten ihn neugierig an, damit er über den Tod seines Dads und das Koma seiner Mum redete.

„Wir haben Calvin mitgenommen, damit du siehst, dass es viele Leute gibt, die hinter dir stehen und dir helfen und dich stützen, wenn es dir nicht so gut geht. Auch wenn du sonst nicht sehr viel mit ihnen zu tun hast.“ Das war das Beste, was mir in den zwei Sekunden eingefallen war, in denen ich hatte handeln müssen.

„Aha“, sagte Finn und schwieg weiter, als ob es ihm egal wäre, dass Calvin hier war. Okay, vielleicht war es ihm ja tatsächlich egal. Ich wusste, dass Finn nicht viel von Calvin hielt, weshalb es ihn auch stutzig machte, dass wir überhaupt etwas mit ihm zu tun hatten – davon abgesehen, dass wir ihn sogar hierher geschleppt hatten.

Ich räusperte mich. „Ich nehme an, du hast nichts mitbekommen, was in deinem Haus genauer passiert ist?“

Er sah mich erstaunt an. „Wie kommst du darauf?“

Ich runzelte die Stirn. „Mir wurde gesagt, dass du dich zu der Zeit auf einer Party befandest“, erklärte ich zögernd.

Leicht nickend und mit zusammengekniffenen Augen sah er mich lange an.

„Hast du den momentanen Zustand deiner Mutter erfahren?“, fragte Calvin ziemlich unerwartet.

Finn sah ihn mit blitzenden Augen an und sagte laut: „Das geht dich überhaupt nichts an! Und… um ehrlich zu sein, möchte ich, dass ihr auf der Stelle geht.“

Ich schluckte und Josephine wollte protestieren.

„Sonst werde ich den Sicherheitsdienst holen und wenn der einmal hier ist, kommt ihr nicht mehr so schnell hier rein“, sagte er mit selbstsicherer Stimme, die leicht wütend klang.

„Okay, okay“, machte Josephine und hob beschwichtigend die Hände.

Ich sagte: „Wir kommen wieder.“ Ich stand auf, während ich unbewusst meine Brille abnahm. Meine Freunde folgte mir zur Tür. Als ich am Türrahmen angelangt war, drehte ich mich nochmal um und sah, wie Finn kaum merklich mit dem Kopf schüttelte. Dabei blickte er mir direkt in die Augen. Als wollte er mir etwas sagen, dass nur ich wissen sollte, dass wir nicht wiederkommen sollten. Allerdings hatte ich dem Clan versprochen, solange zu Finn zu gehen, bis wir alle Antworten auf unsere Fragen hatten.

 

Als wir wieder in Sichtweite des Sportwagens kamen, entdeckte ich Kellan, der unruhig auf und ab lief. Nachdem er uns ebenfalls kommen sah, blieb er stehen und starrte uns an.

„Er hat alle unsere Utensilien angesprochen“, schimpfte Josephine auf Kellan ein.

Kellan schnaubte. „Hat er nicht!“

„Halt doch die Klappe“, schrie Josephine ihn an. „Du hast es doch selbst gehört und gesehen!“

Kellan stöhnte laut. „Und woher soll er sie bitte erkannt haben? Ich habe sie ihm sicherlich nicht gezeigt!“

„Aber Josephine hat recht“, meinte Heaven. „Finn hat alles angesprochen, obwohl er unsere Mikros überhaupt nicht sehen konnte.“

„Als ob er davon gewusst hatte“, stellte Calvin fest.

Kellan lachte verächtlich. „Und woher soll er davon erfahren haben? Er wusste doch noch nicht mal, dass ihr ihn überhaupt besuchen kommt. Weil ihr nicht angemeldet wart! Und mal ganz davon abgesehen, finde ich, dass ihr nicht gerade viel herausgefunden habt. Wenn nicht sogar überhaupt nichts!“ Den letzten Satz rief er und seine Worte blieben in der Luft hängen.

Josephine plusterte sich auf. „Was hätten wir denn besser machen können?“ Ihre Stimme war lauter, als die von Kellan. „Wir wollten Schritt für Schritt alles durchgehen, aber wenn wir keine Antworteten auf unsere Fragen bekommen, wie sollen wir dann weitermachen? Was hättest du denn an unserer Stelle gemacht? Kannst du mir das mal sagen?“

Kellan schloss für einen Moment die Augen und dann sagte er: „Zieht eure Geräte aus, ihr wisst wohin sie gehören. Ich warte im Wagen.“

Mittwoch

Der Wotsford-Clan war nicht sehr darüber begeistert, was wir vollbracht, beziehungsweise nicht vollbracht, hatten. Sie waren sogar richtig enttäuscht darüber, dass wir nichts aus Finn herausbekommen hatten. Aber was hätten wir auch dagegen tun können?

Außerdem hatte ich erfahren, weshalb wir montags keine Trainingseinheit oder Sonstiges hatten. Den Grund dafür hatte mir Josephine in kurzen Sätzen am Dienstag erzählt, als sie mich von den Katakomben nach Hause gefahren hatte.

Sie hatte gesagt: „Montags fand in der Trainingshalle für alle Mitglieder des Clans eine Art Einweihung statt.“

Erst dachte ich, dass das irgendein Ritual gewesen war, aber dann verstand ich, dass es eine Einweihung in unseren Plan war.

„Alle Leute mussten sich in der Trainingshalle versammeln und bei der Vorstellung zusehen. Selbst Benjamin saß im Publikum, der eine Menge Aufsehen erregte, da er es normalerweise ist, der solche Reden halten muss.“

„Und wer hatte sie dann gehalten?“, hatte ich, neugierig wie ich war, gefragt.

„Desiree“, hatte sie erzählt und dann erklärt, „Weil sie doch ziemlich gut in den Plan eingeweiht ist und sich vielleicht besser in uns hineinversetzen könnte, da sie unserem Alter näher ist, als Benjamin. Tja, und dann hat sie mit ihrer Rede angefangen und erzählt, was bei dem Einbruch mit den Eltern passiert  ist und was wir nun vorhaben. Die Vorstellung dauerte ziemlich lange, weil jede Einzelheit besprochen wurde und selbst euer zusammengestellter Fragebogen wurde vorgelesen. Außerdem wurde über Calvin und Bethany auch einige Dinge gesagt und in unserem Clan willkommen geheißen. Daraufhin haben einige gejubelt und gejohlt. Außerdem wurden Bethany und Jerry Lee, sowie Calvin und mir viele Glückwünsche zugeworfen – was für ein Unsinn. Deshalb haben wir zwei uns auch gleich in mein Zimmer verdrückt.“

Und der Wotsford-Clan war enttäuscht von uns, da alle zugesehen hatten, als wir bei Finn in der Psychiatrie im Besucherzimmer saßen. Als ich das erfuhr, war ich natürlich ziemlich erschrocken, weil uns hunderte von Leuten zugehört und zugesehen haben mussten. Und weil alle enttäuscht waren, wollten sie einen neuen Plan machen, bei dem wir mehr aus ihm herausbekommen würden, bevor wir uns wieder mit ihm treffen konnten.

Heaven und ich schafften es aber, Thierry zu überreden, dass er damit einverstanden war. Thierry überredete Benjamin und somit stand der Besuch wieder fest. Ich wollte zu Finn, weil ich wusste, dass Josephine und Calvin an diesem Tag mit anderen Dingen beschäftigt waren, als mit in die Psychiatrie zu gehen. Und so hätte sich Finn uns vielleicht etwas mehr geöffnet.

Dies war aber alles andere der Fall.

Als wir ankamen und in der Eingangshalle mit dem Sofa und dem Empfang standen, erklärte uns Dr. Coullough, dass Finn ausdrücklich gesagt hätte, er wolle nicht mit Josephine und Calvin reden. Da er nur deren Namen sagte und nicht die unsere, durften wir schließlich zu ihm gehen, was hieß, dass wir uns im Besucherzimmer trafen. Dort saß auch wieder Ava, die uns tottraurig anblickte und als Finn kam, wieder anfing zu weinen. Das Neue war allerdings, dass Finn sie tröstend anlächelte, bevor Ava von Dr. Coullough wieder in ihr Zimmer geführt wurde.

Finn hatte sich zu uns gesetzt und uns angestarrt. Vor allem mich, als ob ich irgendetwas falsch gemacht hätte. Er hatte wieder auf die Brille, auf unseren Ausschnitt und auf das Armband gestarrt. Und natürlich hatte er keinen einzigen Ton herausgebracht. 

Nach einer halben Stunde des Schweigens, brachen wir unser Gespräch ab und Finn wirkte äußerst zufrieden über unser Gehen.

Als wir dann wieder in den Katakomben waren, wurde uns natürlich gleich eine Predigt darüber gehalten, dass die anderen es doch gleich gesagt hätten. Heaven und ich konnten eigentlich nur die Augen verdrehen, auch wenn sie natürlich recht gehabt hatten. Anschließend wurde uns erzählt, dass sie vorhatten den Plan in dieser Nacht zu protokollieren. Außerdem, wollte Adam sich noch einmal in das System der Psychiatrie einhacken, um nachzusehen, ob sich etwas bei Finns Zustand nach unserem Besuch verändert hätte. Hatte es. Dort stand über uns zwar nur, von wann bis wann wir ihn besucht hatten, aber auch der Name Ava Estep. Allerdings beruhte die Beziehung nicht viel mehr als auf einer Bekanntschaft zwischen Personen, die sich flüchtig kannten. Deshalb stand auch nicht viel mehr hinter ihrem Namen.

 

An diesem Abend hatte sie Jerry Lee dafür bereiterklärt, mich nach Hause zu fahren, worüber ich sehr glücklich war. Naja, um ehrlich zu sein, hatte er sich nicht wirklich dafür bereiterklärt. Ich hatte ihn gefragt, ob er mich vielleicht fahren könnte und er hatte nach kurzem Zögern zugestimmt.

Jerry Lee grinste. „Es ist übrigens keine gute Idee, die Verstecke der Jäger zu benutzen.“

Er sprach für mich in Rätseln. „Von was redest du?“

„Das wollte ich dir schon lange mal sagen, habe es aber immer wieder vergessen.“ Er lachte. „Als du dich im Schrank vor mir versteckt hast, musste ich dich einfach gehen lassen. Du hattest wirklich Angst vor mir, richtig?“

Ich wurde rot, während er mich grinsend musterte. Jerry hatte also die ganze Zeit gewusst, wo ich war und es war auch kein Zufall gewesen, dass seine Faust ausgerechnet gegen die Tür donnerte, hinter der ich mich befanden hatte. „Ich hatte keine Angst“, behauptete ich schließlich.

Er schnaubte. „So wie dein Herz gepoltert hat, hast du dir vor Angst in die Hose gemacht!“

Ich verdrehte die Augen und schwieg.

„Du musst wissen, dass ich verdammt stolz auf dich bin“, gestand er mir lächelnd und drehte sich so auf seinem Sitz, dass er mir perfekt in die Augen sehen konnte.

Wir standen schon vor meinem dunklen Haus, indem logischerweise kein Licht brannte. Wäre das Verandalicht nicht ab und zu angesprungen, hätte ich das Haus nur sehr schwer erkenne können, so dunkel war es außen. Dafür brannte im Wagen aber ein kleines, schwaches Lichtlein, welches den Innenraum in ein gemütliches Nest verwandelte. Außerdem war es wohlig warm.

Ich lachte und fragte verwirrt: „Darauf, was ich in der Psychiatrie gemacht habe?“

Die Fahrt über hatte ich ihm erzählt, was wir bei Finn alles gemacht hatten, was ja wohlbemerkt nicht sonderlich viel war, denn er erzählte mir, dass er nicht dabei war, als die Aufnahmen live in die Katakomben gesendet wurden. Darauf wurde ich etwas eifersüchtig, weil ich mir denken konnte, mit was er beschäftig war – oder mit wem. Diesen Gedanken versuchte ich aber so schnell wie möglich zu vergessen und schaffte es auch einigermaßen. Ich wollte unbedingt die Zweisamkeit mit ihm genießen.

Er nickte heftig. „Natürlich! Es hätte keiner besser machen können.“

Ich hob eine Augenbraue und sagte skeptisch: „Und trotzdem sind alle von unseren Taten kein bisschen begeistert.“

Jerry Lee zuckte mit den Schultern. „Ist doch völlig egal was die anderen sagen. Die haben doch eh keine Ahnung, von was sie reden und um was es hier überhaupt geht“, behauptete er.

Ich war mir nicht sicher, ob er selbst wusste, um was es hier überhaupt ginge. Das alles war so verwirrend, dass ich selbst nicht mehr wusste, was eigentlich der Sinn des Ganzen hier war.

Also gestand ich ihm: „Ehrlich gesagt, fällt es mir schwer zu glauben, dass hier überhaupt noch einer hinterher kommt.“ Ich setzte mich schräg auf meinen Sitz und zog die Beine an meinen Körper.

„Kommst du denn noch hinterher?“ Er grinste frech und hob schellmisch eine Augenbraue, bis sie unter einer Strähne, die ihm ins Gesicht fiel, verschwand. Seine Augen blitzen während er mich ansah und durch meinen ganzen Körper schossen elektrische Schläge.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich… ich weiß nicht genau.“

Er rückte auf seinem Stuhl hin und her, bis sein Kopf näher an meinem war. Ich weiß nicht wieso, aber automatisch schob ich mich auch seinem Körper entgegen. Konnte es sein, dass ich die Wärme seines Körpers spüren konnte oder bildete ich mir das nur ein?

„Also“, begann er, „bei Finn und Calvin wurde eingebrochen. Soweit kannst du mir doch noch folgen, oder?“

Ich lachte. „Natürlich! Und ihre Eltern wurden verletzt oder sogar getötet.“ Ich hörte auf zu lachen, als mir auffiel, dass das ein sehr ernstes Thema war.

Jerry Lee nickte zufrieden. „Dann sind wir auf euch gestoßen. Ihr habt unser Geheimnis entlüftet und wir haben festgestellt, dass Heaven und du mit Finn und Calvin befreunde seid. Wir haben entschlossen, dass ihr mit ihnen reden sollt, um etwas über den Überfall herauszufinden.“

Ich nickte und als ich wieder sprach, war meine Stimme ganz dünn. „Aber wir müssen ehrlich sein, dass wir nicht sehr viel herausgefunden haben.“

Jerry zuckte mit den Schultern. „Naja, Hauptsache wir haben uns kennengelernt.“

Ich lächelte. Dann dachte ich aber daran, dass sie uns einer Gehirnwäsche unterziehen würden, wenn wir die Lösung auf unsere Probleme hätten. Und danach würden wir uns nicht mehr kennen und überhaupt hatte er Bethany.

Es wäre so, als hätten wir uns nie kennengelernt.

„Das stimmt nicht“, meinte ich und merkte, dass seine Finger an der linken Hand mit einer Locke von mir spielten. Ich hatte keine Ahnung wie die dort hinkamen.

Er blickte mich verträumt an und fragte: „Hm, was meinst du?“

Ich weigerte mich dagegen, jetzt auch nur den Namen von ihr zu denken, geschweige denn ihn auszusprechen. Seine Finger in meinem Haar verursachten ein noch nie dagewesenes Kribbeln in meinem Bauch und ich wollte, dass es nie aufhörte.

„Ich meinte… dass wir uns ja schon gekannt haben. Du… du hättest sagen müssen: Hauptsache, dass wir uns wiedergefunden haben“, komponierte ich schnell.

Jerry fuhr mit seiner Hand über meine Wange und sagte: „Und darüber bin ich unendlich dankbar.“ Mit seinen schwarzen, glänzenden Augen blickte er mich eindringlich an.

Im nächsten Moment fragte ich mich, was zum Teufel hier eigentlich los war. Jerry Lee war für Bethany bestimmt und streichelte jetzt meine glühenden Wange – nicht dass ich das nicht gewollt hätte! Es war wunderbar ihm so nah zu sein. Aber trotzdem war es falsch, mit jemanden Dinge zu tun, die mehr als nur zu einer Freundschaft zählten, wenn dieser schon längst die Eine oder den Einen gefunden hatte.

Plötzlich kam er mir gefährlich nahe. Wollte er mich etwa…? Mein Herz schrie, Ja! doch mein Verstand sträubte sich dagegen. Er nahm mein Gesicht in seine großen, weichen Hände und…

„Bethany“, hauchte ich ihm entgegen.

Mit einem Mal saß er wieder normal in seinem Stuhl, in weniger als einer Sekunde. Er sah stur auf die Straße und beachtete mich nicht. Ich war immer noch halb zu ihm gebeugt in meiner Position. Ich setzte mich ganz langsam wieder in eine normale Sitzposition, aber nicht ohne Jerry Lee aus den Augen zu lassen. Seine Augen waren ausdruckslos und gelangweilt. Ich glaubte sogar, in seinem Gesicht erkennen zu können, dass er leicht genervt war.

Ich räusperte mich. „Was ist los?“ Mein Blick ruhte fragend auf seinem Gesicht.

„Du solltest jetzt gehen“, meinte er, „Morgen ist Schule.“

„Wirst du auch kommen?“

Er sah mich nicht an. „Ich denke, ja. Bethany wird da sein. Sie ist so wundervoll.“ Seine Stimme klang völlig eintönig.

„Geht es dir gut?“, fragte ich, weil ich nicht wusste, wie ich mir sein Verhalten erklären konnte. Im ersten Moment will er mich küssen, im nächsten ist er wieder total merkwürdig und redet von seiner ach-so-tollen Freundin.

„Klar, wieso nicht?“ Seine Stimme veränderte sich überhaupt nicht. „Ich habe die Liebe meines Lebens gefunden. Ich werde für immer glücklich sein.“

Ich musste schlucken. Er sah alles andere als glücklich aus. Noch dazu kam, dass er seine Freundin gerade fast betrogen hatte. Und ausgerechnet mit mir. Ich hätte gerne seine Lippen auf meinen gespürt, aber nicht in dieser Situation. Denn er war für Bethany bestimmt. Und ich wollte auf keinen Fall diejenige sein, die die Beziehung ins wackeln brachte, auch wenn sie sich niemals voneinander trennen würden, egal, was passieren würde, denn sie würden nie wieder den Richtigen finden. Das waren sie ja schon füreinander.

„Das klingt aber nicht so“, rutschte es aus mir heraus.

Jerry Lee sah mich mit matten, dunklen Augen böse an. „Steig aus!“, befahl er in einem herrscharischen Tonfall und verwandelte sich in einen totalen Kontrollfreak.

Ich schluckte und machte mich ratlos aus dem Staub.

Donnerstag

An diesem Morgen gingen wir nicht in die Schule. Wir, das bedeutete Heaven und ich. Jerry Lee, Bethany und Adam wurden mehr oder weniger dazu gezwungen und Calvin hatte sich entschlossen, dass er ebenfalls nicht in die Schule gehen wollte. Allerdings musste er sich im Gegensatz zu uns nicht an der Schule abmelden, da er sozusagen eine Freikarte von der Schule hatte, entscheiden zu dürfen, ob er gehen möchte oder nicht. Natürlich alles nur wegen des Überfalls.

Da meine Eltern nicht da waren, rief Thierry für mich an und gab sich als mein Dad aus, für Heaven rief Kellan an, der sich zusammenreisen musste, nicht zu lachen.

Mit meinen Eltern telefonierte ich fast jeden Abend. Die Gespräche bestanden aus Fragen, wie es mir ginge; was ich mir kochte; ob das Geld reichte, das mir meine Eltern für die zwei Wochen gegeben hatten; wie es in der Schule lief, da jetzt die Zeit für viele Prüfungen angebrochen war; was ich den ganzen Tag machte und wie es meinen Freunden ginge. Und natürlich konnte sich meine Mum nie eine Frage nach Jerry Lee verkneifen, weshalb ich schon nach den ersten paar Telefonaten keine Lust mehr hatte, mit ihnen zu reden. Das gute an den Gesprächen war, dass ich endlich mal wieder die Stimme meiner Oma hören konnte. Sie erzählte mir von Tortenrezepten, die sie unbedingt noch ausprobieren wollte; von ihrem missglückten Friseurbesuch, bei dem ihre Haare viel zu kurz geschnitten wurden; von Büchern, die ich unbedingt lesen musste; dass sie immer Sodbrennen hatte; von ihren Freundinnen aus dem Sportkurs und wie traurig sie war, dass ich nicht kommen konnte. Dafür versprach ich ihr, sie in den nächsten Ferien zu besuchen.

Wir trafen uns um halb zehn alle in der Trainingshalle. Allerdings nicht, um zu trainieren, sondern um uns mit anderen Personen aus dem Wotsford-Clan zu unterhalten, was sie zu unserem nächsten Schritt zu sagen hatten.

Als ich in die Halle kam, staunte ich nicht schlecht. Irgendjemand hatte die Unterteilungen entfernt, sodass es eine einfache, riesengroße Halle war. Und überall, wirklich überall, saßen Leute.

„Kommt mit“, meinte Thierry und zog uns – mich an der Hand – mit sich. Er führte uns in die Mitte der Zuschauer, wo ein bisschen Platz frei war. Dort drückte er uns nach unten auf den Boden und setzte sich anschließend auch – neben mich.

Ein paar Leute weiter rechts von uns entdeckte ich Desiree, die uns anstrahlte, als wir ihr zulächelten. Ich sah noch ein paar andere Gesichter, die mir bekannt vorkamen und einige Fremde lächelten uns sogar an.

Dann kam Kellan zu uns und hinter ihm tauchte eine total gelangweilte Josephine auf, die Calvin an der Hand führte. Als sie uns sah grinste sie ein bisschen. Sie setzte zwischen Heaven und mich, während Kellan neben Thierry Platz nahm, die sofort anfingen zu reden. Und Calvin nahm neben Heaven Platz.

„Coole Action gestern“, meinte sie und sah die anderen Gesichter böse an, die uns beobachteten. Als sie den eisigen Blick von Josephine fingen, sahen sie schnell weg.

„Total“, meinte ich und lachte.

Josephine flüsterte: „Ich sag euch mal was: In diesem Raum kann euch jeder verstehen. Also redet nicht über die privatesten Dinge, die euch jetzt in den Kopf kommen. Und um ehrlich zu sein, ist es völlig sinnlos, dass ich jetzt flüstere, denn selbst das können sie in der hintersten Reihe hören.“

Ich sah mich um und entdeckte, dass uns einige schmunzelnde Blicke zugeworfen wurden.

Josephine sah mich mit hochgezogenen, vielsagenden Augenbrauen an.

Plötzlich betrat Benjamin das Podest, das vor der Menschenmasse errichtet worden war, und ganz unerwartet wurde es im Saal mucksmäuschenstill. Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören.

Seine Stimme hallte durch den ganzen Raum, als er sprach: „Ich heiße euch herzlich willkommen.“

Ich sah mich im Saal um und bemerkte, dass jedes einzelne Augenpaar auf Benjamin gerichtet war. Außer das von Josephine, die mich ansah und dann mit dem Kopf nach vorne zu dem Podest nickte und mir damit sagen wollte, ich solle gefälligst zuhören. Anscheinend hatten alle wahnsinnigviel Respekt vor ihm. So wie ich.

„Wir haben uns heute ihr versammelt, um eine gemeinsame Entscheidung über unser nächstes Vorhaben zu treffen. Da jeder von euch über die vergangenen Geschehnisse mittlerweile Bescheid weiß, möchte ich euch auffordern, eure Meinung hier und jetzt frei zu äußern.“

Erst herrschte Stille und einige blickten sich unsicher an, während sich Benjamin neugierig im Publikum umsah. Sein Blick blieb an mir und Heaven hängen. Er lächelte uns freundlich an und ich musste auch zurückgrinsen.

Schließlich erhob sich eine zierliche Frau mit braunen, lockigen Haaren und sprach: „Vielleicht sollten wir einfach auf den nächsten Angriff abwartet.“ Anschließend setzte sie sich wieder.

„Falls es einen geben wird“, rief ein kleiner, aber sehr muskulöser Mann und fügte hinzu, „Und was sollten wir in der Zwischenzeit machen? Tee trinken?“

Einige andere stimmte der Frau zu, andere dem Mann. Anschließend wurden weitere Aussagen in den Raum geschmissen, die wieder mit Kritiken überhäuft wurden.

So ging es eine ganze Weile, bis eine Frau ein paar Plätze neben mir aufstand. Erst erkannte ich nicht, um wen es sich dabei handelte, aber als ich auf ihre langen, schwarzen Haare starrte, die im Licht unnatürlich faszinierend schimmerten, erkannte ich Desiree. Wie immer sah sie wunderschön aus, als sie sich von der Masse erhob und ihre Stimme den ganzen Raum einnahm.

„Im Moment stehen zwei Möglichkeiten zur Auswahl“, begann sie. „Die eine wäre hier zu bleiben und abzuwarten. Die andere wäre nochmal zu Finn in die Psychiatrie zu gehen.“ Sie machte eine kurze Pause, die möglicherweise die Spannung aufbauen sollte. „Ich würde vorschlagen, dass wir eine Abstimmung machen, ob wir weiter an unserem Plan dranbleiben sollten oder nicht.“

Desiree schaffte es, das „Teetrinken“ so ins Licht zu stellen, als wäre es völlig sinnlos und wir damit nichts erreichen könnten.

Benjamin meinte: „Das ist eine gute Idee.“

Ich sah Desiree lächeln und in ihren Augen blitzte etwas auf.

Der Gründer sprach weiter: „Jeder, der für einen weiteren Besuch bei Finn ist, möchte jetzt bitte die Hand erheben!“

Desirees Hand schoss nach oben.

Nach kurzem Zögern bewegten sich andere Hände ebenfalls der Decke entgegen und nach einem weiteren Augenblick, streckten alle Hände dem Himmel entgegen. Heaven und ich enthielten uns unserer Meinung.

Benjamin sah sich um. Dann nickte er und verkündete: „Somit wäre die Entscheidung getroffen. Heaven, Molly Noel, Calvin und Josephine werden heute noch zu Finn in die Psychiatrie fahren.“

 

Die Autofahrt verlief genauso wie die anderen zwei Male auch, als wir auf dem Weg in die Psychiatrie waren. Wir redeten nicht viel und ich starrte aus dem Fenster. Ich fand allerdings, dass es auch nicht viel zu reden gab, weshalb ich in meinen Gedanken versank und mich darüber ärgerte, dass wir Mikros und Kameras hatten, die alles aufzeichneten, was uns Finn sagte. Ich wusste, dass es nicht besonders gut war, dass uns Finn nichts sagte, andererseits war ich auch froh darüber, denn ich wusste, was Heaven und mir bevorstand, wenn alle Fragen geklärt wären. Und deshalb betete ich, dass Finn dieses Mal ebenfalls nichts sagen würde.

Als wir in das Besucherzimmer eintrafen, bemerkte ich sofort, dass Ava Estep nicht auf eine der Bänke saß und traurig auf ihre Hände starrte, um bei unserem Eintreten uns mit diesem Blick zu mustern und anschließend von Dr. Coullough in ihr Zimmer zurückgebracht werden müsste.

„Ich glaube kaum, dass dieses Gespräch viel bringen wird“, meinte Josephine etwas hochnäsig und wir setzten uns in den Abteil, den wir auch die letzten Male besetzt hatten.

Calvin nickte zustimmend. „Ich glaube das auch nicht. Als ob die letzten Stunden irgendetwas an seinem Verhalten hätten ändern können.“

„Hey, ihr solltet positiv an die Sache rangehen!“, maulte Heaven, auch wenn es etwas ironisch klang. Vielleicht glaubte sie auch nicht, dass sich heute irgendetwas anderes ergeben würde, als die letzten Male. Oder sie hoffte es zumindest.

„Und du?“, fragte mich Calvin, „Was meinst du?“

Alle sahen mich abwartend an.

Ich zögerte, zuckte dann aber die Schultern. „Ich weiß nicht. Verstehen kann ich euch natürlich, aber vielleicht hätten ein paar Tage seine Meinung ändern können und er würde uns jetzt etwas sagen. Allerdings kämen wir auch kaum weiter, wenn wir nur zu Hause herumsitzen würden.“

Josephine zuckte mit den Schultern und meinte schnippisch: „Ja, aber wir würden Geld für Benzin sparen!“

Calvin lachte und ich sah sie schmunzelnd an.

Dann wurde die Tür aufgestoßen und ein wutentbrannter Finn kam auf uns zugehechtet.

„Ihr seid schon wieder hier?“, schrie er uns entgegen.

Erschrocken sprang Calvin auf und stellte sich vor Josephine, Heaven und mich – obwohl Josephine sich ganz gut selbst hätte wehren können. Er hob seine Hand und versuchte ihn zu beruhigen. „Kumpel, reg dich ab!“

Finn sah in Calvins erschrockene Augen, während seine loderten wie die Flammen eines Waldbrandes. „Hast du gerade Kumpel zu mir gesagt?“ Finn sah ihn abwartend mit zusammengebissenen Zähnen an.

„Ähm, das sind wir doch jetzt“, versuchte Calvin klarzustellen.

Als Antwort wurde er aber von Finn so heftig geschupst, dass er auf den Boden fiel.

Calvin sah erschrocken zu Finn und wusste überhaupt nicht, wie ihm geschehen war, sprang dann aber sofort auf. Ich dachte mir, dass er sicherlich nicht zu Boden gegangen wäre, hätte er geahnt, dass Finn sich im nächsten Augenblick auf ihn stürzen würde.

Calvin hob seine rechte Hand, deutete mit ihr auf Finn und fragte laut: „Bist du irre?“

Ich sprang von meinem Stuhl, sodass er an die Mauer hinter mir knallte, und sagte: „Leute, beruhigt euch!“

Jetzt zeigte Calvin mit der Hand auf mich: „Halt dich da raus.“

„Tz“, machte Finn und sah mich an. „Redet er immer so mit dir?“

Calvin und ich sahen uns an, aber noch ehe einer von uns antworten konnte und wusste, wie uns geschah, sprang Finn Calvin an die Gurgel.

Abermals fiel Calvin zu Boden, dieses Mal aber mit Finn auf dem Oberkörper. Finn setzte sich auf Calvin und packte mit beiden Händen fest seinen Hals. Sein Kopf wurde wieder und wieder zu Boden geschlagen. Es machte einen dumpfen Schlag. Dieser wurde aber von dem Gebrüll übertönt.

„Ich. Bin. Nicht. Dein. Kumpel!“, rief Finn Calvin ausdrücklich ins Gesicht. Calvin fing an zu röcheln.

Heaven löste sich aus ihrer Starre und rief: „Finn! Hör sofort auf damit!“

Als ich die Stimme meiner Freundin hörte, setzte ich mich in Bewegung und versuchte Finn von Calvin zu zerren. Doch plötzlich sprang Finn in die Höhe und riss Calvin mit sich nach oben.

Ich spürte einen heißblütigen Schmerz an meiner Schläfe, sah wie mich Josephine zur Seite schupste. Leider zu spät, denn der Ellbogen von Finn hatte sich schon in meinem Gesicht bemerkbar gemacht. Aus dem Augenwinkel sah ich unscharf, wie Josephine Finn von Calvin riss. Dies war für ein menschliches Auge eigentlich viel zu schnell und für mein momentanes Wahrnehmungsvermögen fast unmöglich.

Während ich dies sah, raste ich der Tischkante entgegen und mir wurde schwarz vor Augen.

 

Der Geruch der mich umgab, kam mir bekannt vor, allerdings konnte ich ihn nicht zuordnen. Es roch ein bisschen nach Krankenhaus.

Bin ich in einer Krankenstation? Was ist überhaupt passiert?

Meine Augen brannten bei dem Versuch sie zu öffnen. Ich hob meine Hand und wollte nach meinen Augen tasten, doch als meine Fingerspitzen meine Haut berührten, durchzuckte mich ein Schmerz und ich zog meine Hand blitzschnell zurück.

„Oh, du bist wach“, bemerkte eine Stimme und Schritte kamen näher.

Ich stöhnte und versuchte meinen Mund mit Feuchtigkeit zu füllen, um einen Ton herauszubringen. Meine Stimme klang rau und kratzig, genau wie sie sich auch anfühlte. „Wo bin ich, Thierry?“ Ich klang wie eine fremde Person.

Ich spürte wie er etwas lachte. „Du weißt, wer ich bin, aber kannst dir nicht denken, wo du bist?“

„Ich hab dich an deiner“, ich musste schlucken, weil mein Hals brannte, „Stimme erkannt.“

Thierry schwieg, aber ich hörte, wie Plastik und Papier raschelte.

Ich bemühte mich die nächsten Worte aus meinem Mund zu bekommen. „Könntest du mir vielleicht etwas zu Trinken bringen?“

„Einen Moment“, bekam ich von ihm als Antwort.

Ich versuchte zu stöhnen, aber es erklang nur ein Röcheln. Dann fragte ich: „Was ist mit meinen Augen?“

Thierry schwieg wieder.

„Bin ich blind?“, fragte ich geschockt.

Er lachte, jetzt lauter. „Nein. Warte einen Moment.“

„Wieso? Was machst du?“ Ich klang wie eine Schlaftablette. Ich bekam keine Antwort, deshalb machte ich: „Hm?“

„Sei still“, bekam ich in einem belustigten Ton zurück. „Okay, du darfst dich jetzt nicht bewegen, sonst könnte ich dir möglicherweise dein Auge ausstechen.“

„Was?“, fragte ich verwirrt und wich von seiner Stimme zurück.

Ich konnte einen Schatten auf dem Inneren des Augenlids wahrnehmen und hob abwehrend meine Hände. Ich spürte Thierrys starken Arm.

„Mädel, ich hab dir doch gerade gesagt, du sollst dich nicht bewegen.“ Er schob meinen Arm zu Seite. „Halt einfach still.“

Für eine Sekunde war ich still und plötzlich fühlte ich etwas Kaltes und Flüssiges unter meinem Augenlid. Außerdem spürte ich einen beißenden Schmerz. Es fühlte sich an, als würden meine Augen in Flammen aufgehen oder jemand hätte mir Säure darüber geschüttet. Ich wollte meine Arme heben und mir über die Augen wischen, sie aufreißen. Doch ich konnte meine Hände nicht bewegen.

Als ich das bemerkte, rief ich: „Verdammt, was zum Teufel soll das?“ Meine Augenlider flatterten.

Eine Hand löste sich von meinem Handgelenkt und legte sich fest über meine Augen, was den Schmerz noch schlimmer machte. „Lass die Augen zu.“

„Thierry, was soll das? Das tut höllisch…“ Der Schmerz war wie weggeblasen. Meine Augen waren trocken, die Flüssigkeit war weg. Der Griff um meine Hand und die Hand auf meinen Augen löste sich. Aus Angst die Augen zu öffnen, kniff ich sie zusammen.

Jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen.“

Ich machte ein Auge auf und blinzelte in das Licht, das von der Decke flackerte. Dann machte ich das andere ebenfalls auf.

Ich saß in Thierry Krankenstation. Also, ich lag auf dem hintersten Bett und Thierry stand direkt daneben.

„Na, alles in Ordnung?“, fragte mich Thierry total gelassen.

Ich sah ihn verwirrt an. „Was war das?“ Ich tastete in meinem Gesicht herum und suchte vergeblich nach der Flüssigkeit.

„Ähm… Medizin“, erklärte er trocken.

„Und deshalb wolltest du mir nicht sagen, was du gemacht hast?“ Ich sah ihn stirnrunzelnd an.

Er verdrehte die Augen. „Wenn du es genau wissen möchtest, habe ich dir eine Spritze in deinen Augapfel gegeben, damit er sich wiederhergestellt.“

Ich sah ihn mit offenem Mund an. „Du hast was gemacht?“

Er deutete beschuldigend auf mich. „Genau deshalb wollte ich es dir nicht sagen! Du hättest dich gewährt, wie ein kleines Baby.“

Ich hob meine Hand. „Schon okay! Aber wieso war das überhaupt nötig?“

„Du hattest eine Platzwunde an der Schläfe. Blut ist in dein Auge gekommen und ein paar Äderchen sind geplatzt. Nicht sehr schlimm.“

„Ich hab was?“, fragte ich verwirrt und fasste mir an die Schläfe. Sie fühlte sich an wie immer. „Da ist überhaupt nichts!“

Thierry verdrehte die Augen. „Ja, weil ich sie schon behandelt habe. Du siehst aus wie neu… Naja oder wie vor deinem Sturz. Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern was passiert ist?“

Ich überlegte. Dann fiel es mir wieder ein. „Ja, ich habe den Ellbogen von Finn in mein Gesicht bekommen und bin umgefallen.“

„Auf die Tischkante“, fügte er hinzu. „Und weiter?“

„Ähm… Ich weiß nicht“, gab ich zu.

Thierry räusperte sie und reichte mir vom Beistelltisch ein Glas Wasser. „Kurz nachdem du zu Boden gegangen bist, sind die ersten Helfer eingetroffen und haben Finn aus dem Zimmer gezerrt. Sie haben gesagt, dass Kellan mit dir lieber in ein Krankenhaus fahren sollte. Josephine, Calvin, Heaven und Kellan sind dann natürlich hierher gefahren und haben dich bei mir abgegeben. Und ich habe dich wieder hergestellt.“

Ich schwieg, dann sagte ich etwas kleinlaut: „Danke.“

„Kein Problem. Und jetzt trink endlich“, forderte er mich auf.

Ich nahm einen großen Schluck, aber das reichte mir nicht. Mein Mund war so ausgetrocknet, dass ich alles Wasser auf dieser Welt hätte trinken können.

Als ich auf das leere Glas in meinen Händen blickte, sah mich Thierry an. Und ich sah zu ihm hinauf.

„Mehr?“, fragte er nur. Ich musste gar nicht antworten, da hatte er schon das Glas aus meinen Händen geschnappt und weiteres Wasser hinein gefüllt.

Ich lächelte ihn dankbar an. „Wie hast du das gemacht?“, fragte ich und zeigte auf meine Schläfe.

Er sah mich mit einer erhobenen Augenbraue an, dabei wusste ich, dass er genau verstand, was ich meinte.

Also sagte ich etwas genervt: „Du hast gesagt, ich hatte eine Platzwunde, aber sie ist überhaupt nicht da.“

„Du weißt doch, dass ich Chemiker bin“, erklärte er mir lückenhaft.

„Dann willst du damit also sagen, dass du ein Mittel erfunden hast, das solche Verletzungen heilt?“

„Ja“, beteuerte er mir. Seine Erklärung war ziemlich merkwürdig.

„Okay, und wie lange bin ich schon hier?“

Thierry überlegte. „Hm… Du wurdest um halb drei hier abgeliefert und jetzt ist es sechs Uhr…“

„Oh mein Gott. Das bedeutet also, dass mit deinem Medikament eine Platzwunde in dreieinhalb Stunden heilt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ungefähr.“

Ich schüttelte total verblüfft den Kopf.

Thierry setzte sich auf meine Bettkante. „Hast du Kopfschmerzen oder irgendwelche anderen Beschwerden?“

Ich konzentrierte mich auf meinen Körper. „Nein, eigentlich nicht. Mein Mund ist nur verdammt trocken.“

„Und deine Stimme hört sich an wie ein Rasenmäher. Warte hier. Ich bringe dir eine Halstablette.“

Ich sagte nichts, aber fragte mich, wo ich schon hingehen hätte sollen.

Plötzlich war er weg und dann wieder neben mir. In seiner Hand hielt er eine kleine Schachtel. Er machte sie in Windeseile auf und drückte eine Tablette aus der Plastikverpackung. „Hier. Schluck sie mit Wasser und spül damit nach.“ Er reichte sie mir.

Die Tablette war blau und hatte grüne und rote Tupfer darauf. Ich steckte sie mir in den Mund, aber nicht ohne bemerkt zu haben, dass sie verflucht groß war und als ich sie mit Wasser schluckte, versuchte ich nicht darüber nachzudenken.

„Sehr schön“, meinte Thierry.

„Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“, fragte ich nach einer langen Pause des Schweigens, in der ich spürte, wie mein Hals langsam taub wurde, aber die Trockenheit nachließ.

Thierry zuckte nur mit den Schultern und meinte: „Nicht wirklich. Die Leute waren nur sehr erschrocken darüber, was in der Psychiatrie passiert ist.“

„Wieso? Ich meine, wieso haben sie gleich davon erfahren?“

Thierry lachte verächtlich. „Hast du durch deinen Strutz etwa vergessen, dass alles durch eure Brillen live in die Katakomben gesendet wurde?“

Ich schüttelte den Kopf. „Daran habe ich nicht gedacht.“

„Hm“, machte er.

„Das muss schrecklich gewesen sein.“ Ich sah ihn an, um zu erkennen, was seine Meinung dazu war. Ob er es auch schrecklich fand. Ich konnte nichts erkennen. „Hast du zugesehen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Ich war… beschäftigt.“

Ich nickte nur, denn so wie es aussah wollte er nicht sagen, an welchem Werk er dieses Mal hantierte.

 

Als mich Kellan vor meiner Haustür absetzte, erzählte er völlig abwesend, was während meines Nichtdaseins besprochen wurde.

„Sie haben sich dazu entschlossen Wachposten in der halben Stadt zu positionieren.“

Sie, hatte er mir davor erklärt, waren die Älteren. Das bedeutete Benjamin und einige andere, die ich nicht kannte. Jerry Lee, Adam, Josephine und alle anderen die mindestens unter zwanzig waren, hatten dabei kein Recht  mitzureden, ja nicht einmal zuzusehen.

„Deshalb“, begann er wieder, „wurde auch beschlossen, dass ihr morgen nicht zu Finn gefahren werdet.“

„Und was sollen wir dann machen?“, fragte ich, nachdem mir klar geworden war, was das überhaupt bedeutete. Es bedeutete, dass wir möglicherweise niemals mehr zu Finn gehen würden. Vielleicht irgendwelche anderen Leute, aber nicht wir. Wir, die verletzt werden könnten und andere, die Superkräfte besaßen. Als mir das klar wurde, kam ich nicht umhin mich zu fragen, ob ich Finn jemals wiedersehen würde. Vielleicht wenn er aus der Psychiatrie entlassen werden würde. Falls er das jemals wird. Und selbst dann wusste ich nicht, ob ich das Entlassen mitbekomme oder ob ich überhaupt noch hier wohnen würde. Und ich wusste auch nicht, ob ich jemals die Erlaubnis der Psychiatrieleiter oder die von Dr. Coulloug bekommen würde, um mich mit ihm zu treffen. Vielleicht würde der Wotsford-Clan dies ja sogar unterbinden. Damit mir nicht wehgetan werden konnte. Und wenn das ganze hier vorbei sein würde, würde ich mich ohnehin nicht daran erinnern können.

Möglicherweise war ich die einzige Chance dies verhindern zu können.

„Ihr werdet einen freien Tag haben“, warf Kellan zwischen meine Gedanken, während ich mich wie von Hand gesteuert aus dem Auto machte. Ich verstand seine nächsten Worte klar und deutlich, aber ich achtete nicht weiter auf sie. „Allerdings werdet ihr morgen ebenfalls in den Katakomben sein, damit euch nichts passieren kann, falls ein weiterer Angriff stattfindet sollte.“

„Okay“, sagte ich abwesend. „Dann sehen wir uns morgen.“

Ich wartete gar nicht auf die Antwort, sondern schlug einfach die Tür zu. Ich hatte einen anderen Gedanken im Kopf: Wenn ich die einzige Chance wäre, dies zu verhindern.

Finn hatte gewusst, dass wir Kameras und Aufnahmegeräte dabei hatten. Was wäre, wenn wir diese nicht hätten? Würde er uns dann etwas sagen? Oder was wäre, wenn wir die anderen nicht dabei hätten und ich die einzige wäre, die ihn besuchen gehe? Würde er mir alles verraten?

Heaven und ich, dachte ich. Wir wären die einzigen, die etwas bei diesem Plan zu verlieren hatten. Unseren Verstand. Und diesen würden wir sowieso verlieren – früher oder später, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Aber was wäre, wenn keiner unseren geheimen Aufenthalt bei Finn mitbekommen würde und so keiner einen Grund hätte, unsere Gedanken zu löschen?

Ich war es, dachte ich immer wieder. Ich war es, die zu Finn gehen musste. Alleine.

Freitag

Heaven, Adam und ich standen in einem unförmigen Kreis vor der Schule. Die beiden redeten über irgendein, uninteressantes Thema, das mich abschweifen ließ. Allerdings war das nicht nur der einzige Grund, der das tat, denn ein weiterer saß ein paar Meter von uns entfernt auf einer Bank. Es waren Bethany und Jerry Lee, die engumschlungen aneinander klebten. Wie zwei verschiedenfarbige Kaugummis. Einer süß und wohltuend, der andere bitter und giftig.

Immer wenn einer der beiden in meine Richtung sah, tat ich so, als würde ich Heaven und Adam bei ihrem Gespräch zuhören. Ich wusste nicht einmal, um was es überhaupt ging. Allerdings konnte es für mich nicht allzu interessant sein, da sie mich kaum in das Gespräch mit einbezogen.

Deshalb blickte ich wieder zu dem Pärchen hinüber und ich sah Jerry Lee direkt in die Augen. Er lächelte mich an und Bethany drehte sich auch nach mir um, um mir zu zuwinken. Ich nickte ihnen beschämt zu, weil sie mich erwischt hatten, sah dann zu Boden und anschließend zur anderen Straßenseite.

Dort stand ein Mann. In einem schwarzen, langen Mantel, einer Zigarette im Mund und einer schwarzen Sonnenbrille. Ihn umgab eine Rauchwolke und ich konnte nicht sagen, ob sie von der Zigarette war, da der Rauch unnatürlich seinen Körper umgab.

Aber eines wusste ich: Er starrte unverhohlen auf unser kleines Grüppchen.

Als ich in seine Augen schaute, durchfuhr mich ein kalter Schauer und meine Armhaare stellten sich auf. Von meinem Haaransatz, über den Rücken, bis zu meinen Füßen.

„Alles okay bei dir?“, fragte mich Adam, der meine Reaktion anscheinend mitbekommen hatte.

Ich musste mich anstrengen, um meinen Blick von dem Fremden loszureißen. „Okay, seht nicht gleich hin, aber auf der anderen Straßenseite steht ein Mann, der uns beobachtet“, tuschelte ich ihnen zu.

Adam blickte über seine Schulter und suchte nach ihm. „Da ist niemand“, stellte er fest.

„Was?“, fragte ich verwirrt und sah wieder auf die andere Straßenseite. Der Mann stand immer noch auf derselben Stelle. „Dort steht er doch noch!“

Jetzt sah Heaven hin, während ich Adam musterte. „Molly Noel, da steht wirklich niemand.“

Ein weiterer Blick auf die andere Straßenseite bestätigte mir, dass sie recht hatten. Sie war leer.

„Aber da…“, begann ich. „Da stand gerade noch ein Mann!“ Völlig durch den Wind deutete ich mir der Hand auf die Stelle, an der er gestanden hatte.

„Wie sah er denn aus?“, fragte mich Adam.

„Er hatte einen dunklen Mantel an, der bis zum Boden ging. Und er hatte eine Zigarette im Mund.“

„Und sein Gesicht?“, wollte er schließlich wissen.

Ich zuckte verwirrt mit den Schultern. „Ich weiß nicht recht. Um ihn herum war eine Schicht aus Rauch. Ich hab sein Gesicht nicht gut erkenne können. Ich hab nur helle Haare und dunkelblaue Augen gesehen.“

Adam schüttelte den Kopf. „Nein, da war nie…“

„Warte“, sagte Heaven. „Ich hab vielleicht keinen Mann gesehen, aber Rauchschwaden konnte ich erkennen.“

„Da war auch kein Mann“, sagte Adam abermals.

„Aber als du hingesehen hast, konnte ich ihn noch erkennen!“, bekräftige ich meine Aussage erneut. „Aber nachdem Heaven hingesehen hatte, war er weg.“

„Molly Noel“, begann er wieder, „du bist die Einzige die ihn gesehen hat.“ Er sah mich an, als wäre ich verrückt geworden.

„Und woher sollen dann die Rauchschwaden gekommen sein?“, wollte ich wissen.

Er zuckte mit den Schultern. „Was weiß denn ich. Vielleicht aus einem Kanalschacht!“

Plötzlich stießen Bethany und Jerry Lee zu uns.

Das Mädchen sah genauso geschockt aus, wie ich mich fühlte. „Ich hab ihn auch gesehen!“

„Rauch entsteht auch wenn…“, begann Jerry Lee und sah Adam an. Was er sagen wollte, blieb aber sein und Adams Geheimnis, denn plötzlich wurden Adams Augen groß und die beiden Jungs sahen zu Heaven und mir.

„Sieht so aus, als werden wir beobachtet“, stellte Bethany fest. In einer der hintersten Lücken in meinem Kopfe, freute ich mich, dass Bethany meiner Meinung war. Dieser Gedanke kam aber nicht durch.

„Kanalschacht“, knurrte Adam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und Jerry Lee nickte zustimmend.

 

Zum Mittagessen wurden wir in die große Küche der Katakomben geschickt. Sie bestand aus einem sehr großen Raum, in dem mehrere dunkle Holztische standen, an denen acht Personen Platz nehmen konnten. Diese Tische waren kreuz und quer in der Mitte des Raumes aufgestellt und an allen orangefarbenen Wänden befanden sich die Küchen. Sie waren längs an die gesamten Wände angebracht worden. Das bedeutete, dass es mehrere Trennwände gab, zwischen denen sich die Küchen befanden, die auf die gleiche Anzahl der Tische kamen. In jeder Küche befanden sich die gleichen Geräte. Ein Herd, ein Kühlschrank, ein Ofen, eine große Reihe von Arbeitsflächen, auf denen zum Beispiel eine Mikrowelle, eine Balsamikopflanze oder eine Kaffeemaschine standen. Der Boden der Küchen war schwarzweißkariert gefliest und der Rest, auf dem die Tische standen, bestand aus einem hellen Holz.

Josephine, Heaven, Adam, Jerry Lee, Bethany, ich und auch Calvin, den wir bei ihm zu Hause abgeholt hatten, schnappten uns einen Tisch und eine freie Küche, die nicht weit voneinander entfernt lagen. Das war aber auch nicht weiter schwer, denn nur die Hälfte der Tische und Küchen waren besetzt.

Wir hängten unsere Jacken über die Stuhllehnen und unsere Taschen legten wir daneben auf den Boden. Josephine nahm den Stuhl an einem Tischende, daneben ums Eck setze sich Calvin, dann kam Heaven und schließlich Adam. Calvin gegenüber saß ich, dann kam Jerry Lee und anschließend Bethany.

„Heaven, Molly Noel!“, rief Josephine, „Wir machen die Spagetti mit der Soße. Alle anderen am Tisch können sowieso nicht kochen.“ Mir lieb nicht unbemerkt, dass sie Bethany mit einem spöttischen Blick begutachtete. Dies brachte mich zu einem Lächeln, das ich aber vor Bethany zu verstecken versuchte, die versuchte ihre funkelnden Augen vor uns zu verstecken.

 

Als wir dann alle mit einem großen Teller vor unserer Nase am Tisch saßen, meinte Bethany plötzlich: „Ich finde es komisch, dass nur Molly Noel und ich den Mann gesehen haben.“

Alleine schon die Tatsache, dass sie meinen Namen mit ihrem Personalpronomen in einem Satz verwendete, brachte mich zu einem Würgreitz.

Adam stöhnte. „Ich dachte, diese Sache wäre abgeschlossen.“

„Was für ein Mann?“, fragten Josephine und Calvin fast wie aus einem Munde.

Heavens Freund ließ für einen Augenblick sein Gesicht in die rechte Hand fallen.

„Am Ende des Schultages“, begann Bethany, „haben wir beide einen Mann auf der anderen Straßenseite gesehen.“

Josephine musterte Bethany. „Ja, das ist wirklich äußerst mysteriös.“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.

Ich musste mir ein lautes Lachen verkneifen.

Bethany sah uns ernst an. „Das ist nicht lustig. Er hat uns beobachtet!“

Josephine lachte laut. „Das wird ja immer besser.“

Adam sah sie an. „Hör auf zu lachen und hör dir lieber die Geschichte an.“

„Also“, fuhr sie fort, „der Kerl hatte einen schwarzen, langen Mantel an und eine Zigarette im Mund. Um ihn herum war eine dichte Rauchwolke. Aber weder Jerry Lee noch Adam haben ihn gesehen.“

„Das heißt, ihr zwei wart die einzigen?“, fragte Josephine mich und Bethany mit vollen Backen.

Ich nickte. „Ja und Heaven hat den Rauch gesehen.“

Adam sah seine Freundin an, welche dann sagte: „Aber nur Rauchschwaden.“

„Dann habt ihr wohl einen Stalker“, stellte Josephine belustigt fest. Ich glaubte Jerry Lee schlug ihr mit seinem Fuß gegen ihr Schienbein, denn sie rief laut: „Spinnst du?“

„Rauch“, wiederholte er eindringlich.

Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, die plötzlich ganz groß wurden. „Oh“, machte sie nur. Dann sah sie auf ihr Essen und stopfte sich eine weitere Gabel in den Mund.

„Was soll das denn jetzt heißen?“, fragte ich laut.

Kurz darauf hatten Jerry Lee und auch Adam die Backen voll. So wie es aussah, wollten sie mir überhaupt nicht erklären, was los war.

Alle schwiegen, bis plötzlich die Tür des Saals aufgestoßen wurde und Thierry hineinkam. Er trug eine schwarze, lockere Jeans und einen dunkelblauen Pulli, von dem er die Ärmel ein Stück nach oben gezogen hatte. Außerdem trug er graue, ausgelatschte Vans, die mit mehreren Löchern von allen Seiten besät waren.

Er grinste mich wie immer viel zu freundlich an. Allerdings konnte ich nicht anders und musste ebenfalls zurücklächeln.

„Ich habe gerochen, dass es Spagetti gibt! Ist noch etwas übrig?“, fragte er, kurz bevor er an unserem Tisch ankam. Er sah neugierig in die Töpfe.

„Nein, es ist alles weg“, meinte Josephine schadenfroh.

Er sah sie an. „Es freut mich, dass du heute so gut gelaunt bist, Schönste.“ Dann zwinkerte er ihr mit einem Auge zu.

Sie streckte ihm die Zunge heraus.

„Aber es ist sowieso nicht schlimm, ich hab keinen Hunger. Außerdem würde ich es überhaupt nicht herunterbekommen.“

„Und wieso bist du dann hier?“, fragte Josephine böse. Anscheinend gefiel es ihr überhaupt nicht, dass er ihr Essen heruntergemacht hatte.

Thierry lachte. „Ich konnte mir nicht verkneifen, einen Kommentar über dein Essen zu machen.“

Josephine lachte. „Es ist aber nicht nur mein Essen! Heaven und Molly Noel haben mitgeholfen“, konterte sie.

„Oh“, machte er und sah mich an. Seine Augen funkelten. „Dann ist es natürlich schade, dass nichts mehr da ist.“

Josephine nickte und sagte: „Ja, total schade.“ Allerdings klang es alles andere als mitfühlend. „Also, was machst du nun wirklich hier?“

Thierry sah mich an. „Ich muss dich zur Nachuntersuchung abholen“, erklärte er knapp.

Ich hörte Josephine lachen. „Sicher.“

„Okay“, meinte ich verwirrt, „ich bin sowieso fertig.“

Thierry sprang auf und kam auf mich zu. „Gut“, meinte er, „es ist wichtig, dass ich nachsehe, ob die Tabletten Nebenwirkungen haben.“

Ich schob meinen Stuhl zurück und stand auf. „Okay.“ Kaum stand Thierry neben mir, legte er mir einen Arm um die Schulter. „Wir sehen uns später“, sagte ich schnell zu den anderen, bevor Thierry mich wegzerrte.

Als wir aus der Küche getreten und auf dem Flur ein paar Schritte gegangen waren, sagte er plötzlich zu mir: „Ihr solltet aufpassen über was ihr euch mit so vielen Menschen in einem Zimmer unterhaltet.“ Er zwinkerte mir zu.

Ich sah ihn mit schrägem Kopf und leicht enttäuschten Augen an. „Hast du uns etwa schon wieder belauscht?“

Er lachte laut. „Es tut mir leid, aber ich muss dir jetzt einfach sagen, dass du überhaupt nicht schauspielern kannst.“

Ich schüttelte seinen Arm von meiner Schulter und boxte ihm gegen seine. „Also, hast du oder hast du nicht?“

„Nicht absichtlich“, meinte er und legte wieder seinen Arm um meine Schulter.

„Soll heißen, dass du deine Ohren aus Versehen auf unser Gespräch gerichtet hast?“, fragte ich sarkastisch.

Thierry schüttelte den Kopf. „Nein. Das soll heißen, dass ich dich abholen kommen wollte und in euer Gespräch geplatzt bin. Außerdem habe ich nicht alles mitbekommen, weil ich noch zu weit entfernt war. Es waren eher Wortfetzen, die an meine Ohren gedrungen sind.“

„Falls das eine Entschuldigung sein sollte, kann ich dir sagen, dass es das kein Stück besser macht.“ Ich zuckte mit den Schultern und tat so, als würde es mir leid tun.

Er lachte. „Mach dir keine Sorgen. Es sollte keine Entschuldigung sein.“

„Ich mach mir keine Sorgen“, warf ich zwischen seine zwei Sätze.

„Gut“, sagte er und fügte hinzu, „aber jetzt mal im Ernst: Was war das für ein Mann?“

Ich verdrehte die Augen. „Also hast du genug mitbekommen, um zu wissen, um was es ging.“

Er dachte kurz nach. „Ja, kann man so sagen. Aber natürlich total ungewollt“, wollte er mir versichern.

Natürlich, was sonst?“, meinte ich und ließ es wie eine Frage klingen.

Er ignorierte meine Erwiderung und fragte erneut: „Also, was war das für ein Typ? Wirklich ein Stalker?“

Ich lachte und erklärte: „Wenn wir wüssten, was das für ein Typ war, dann hätten wir sicherlich nicht über ihn diskutiert.“

„Natürlich!“ Er versuchte nicht zu genervt zu klingen. „Und was habt ihr über ihn geredet?“

„Er hat uns nach der Schule beobachtet“, erklärte ich.

Er nickte. „Okay und was denkt ihr nun?“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Denkt ihr, er ist von einem anderen Clan?“, fragte er mich völlig unvorbereitet.

Ich schluckte. „Ja, das könnte sein. Aber außer Bethany und mir hat ihn niemand gesehen.“

Thierry zuckte mit den Schultern. „Na und? Vielleicht ist er einfach abgehauen, als er bemerkte, dass ihr ihn entdeckt habt. Ich meine, wenn er von einem anderen Clan ist, kann das gut der Fall sein, denn ich denke kaum, dass er darauf aus war, von euch gesehen zu werden.“

Ich nickte. „Ja, das könnte sein.“

„Du solltest dir aber keine so großen Gedanken über diesen Kerl machen, denn wir haben die Lage ja jetzt einigermaßen im Griff.“

Ich nickte wieder. „Was ist eigentlich deine Meinung?“, fragte ich dann.

„Ähm, meine Meinung zu was?“ Er konnte meinen plötzlichen Gedankensprüngen nicht folgen.

„Na, was wir jetzt tun sollten.“

Langsam wurde mir der Weg, den wir liefen, immer bekannter, bis ich schließlich wusste, dass nach der nächsten Ecke die Tür zu Thierry Labor und seiner Krankenstation zum Vorschein kommen würde.

„Ach so“, machte er. „Sagen wir mal so: Vielleicht gibt es eine bessere Lösung als die jetzige, aber es steht fest, dass ihr nicht mehr in die Psychiatrie fahren werdet.“

Innerlich musste ich lachen, denn er hatte keine Ahnung was ich plante.

Also sagte ich nur: „Schon klar.“

Ich plante heute Nacht in die Psychiatrie zu fahren.

 

Bevor der Wagen, in dem mich Kellan nach Hause gefahren hatte, auch nur richtig zum Stehen gekommen war, war ich schon herausgesprungen und hatte mich verabschiedet. Ich durfte auf keinen Fall Zeit verschwenden, wenn ich heute noch zu Finn fahren wollte – es war schon sieben Uhr. Und ja, das wollte ich auf jeden Fall.

Die ganze Fahrt über hatte ich geplant, was ich als erstes machen würde, wenn ich im Haus angekommen wäre: Die Schuhe anlassen, während ich eine Tasche aus meinem Zimmer hole und anschließend ein Toastbrot in den Toaster schmeißen. Dann aus meiner braunen Wildledertasche, die ich schon den ganzen Tag mit mir herumgeschleppt hatte, mein Handy, ein paar Stifte und einen Block herausholen – für den Notfall. Daraufhin mein Toast belegen und während ich esse, in meine Jacke schlüpfen.

Und genauso hatte ich es gemacht.

Von der Kommode hatte ich mir anschließend noch meinen Autoschlüssel geschnappt und dann stürzte ich auch schon in meinen Wagen.

Als ich in meinem Auto saß überkamen mich die Gefühle, die ich immer hatte, wenn ich hinter meinem Lenkrad saß. Gute Gefühle.

Ich steckte den Schlüssel ins Loch und entsicherte die Handbremse. Und dann ging es auch schon los.

Ich fuhr denselben Weg, den wir sonst auch immer zur Psychiatrie fuhren, allerdings achtete ich darauf, nicht über die unterirdische Garage der Wotsfords zu fahren. Sonst hätte ich möglicherweise nur unnötige Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Und wie ich es mir schon tausendmal gesagt hatte, durfte mich keiner bemerkten.

Kurz bevor ich den Weg zwischen den Bäumen von der Straße abfuhr, begannen meine Hände zu zittern. Ich musste mich konzentrieren meinen Wagen sicher in eine Parklücke zu befördern, ohne dabei an eines der wenigen Autos zu schrappen. Das hätte mir überflüssige Probleme verschafft, wenn mich jemand dabei erwischen würde.

Nachdem ich mich aus meinem Gurt befreit hatte, lief ich über den Parkplatz zu dem großen Gebäude. Plötzlich stolperte ich und rutschte fast aus. Mein Schuhbändel hatte sich in einem Gegenstand am Boden verheddert.

„So ein Mist“, fauchte ich vor mich hin und wollte den Gegenstand von meinem Fuß entfernen. Doch dann erkannte ich, was es war.

Es war ein Band aus festem Material und die silbern, im Mondlicht schimmernde Perle war oval und länglich, sodass sie sich über die ganze Breite des Handgelenks erstreckte. Der Verschluss war eine einfache Drehfunktion.

Es war das Armband, das einen unsichtbar machte.

Ungläubig starrte ich auf es hinunter, während ich es in die Hand nahm und damit aufstand.

Wie ist es hierhergekommen?, fragte ich mich. Vielleicht war es, als wir die Teile abgelegt hatten und zurücklegen wollten, aus einer der Kisten gefallen. Oder es war mein Armband, das heruntergefallen war, während man mich aus der Psychiatrie getragen hatte. Doch wie groß war die Wahrscheinlichkeit schon, dass ich darüber stolperte?

Ich blickte nach vorne und meine Augen fielen auf das Eingangstor.

Wie sollte ich da eigentlich hineinkommen? Darüber hatte ich überhaupt nicht nachgedacht. Ich konnte schließlich nicht Hypnotisieren.

Meine braunen Augen wanderten wieder auf meine Handfläche, in der immer noch das Band lag. Fast schon unheimlich, dass es hier lag. Vielleicht sollte ich es verwenden, um in die Psychiatrie zu kommen. Allerdings sollte ich es wenigstens versuchen auf legale Weise in das Gebäude zu gelangen. Kurzentschlossen ließ ich das Band in meine Hosentasche gleiten.

Mit schnellen Schritten bewegte ich mich auf das kleine Häuschen, mit dem gebogenen Dach zu.

„Du schon wieder“, erklang es hinter der Scheibe, bevor ich auch nur etwas sagen konnte. „Wo sind deine Freunde?“

„Einen schönen Abend“, versuchte ich die alte Frau mit der Brille zu begrüßen. „Ich bin heute alleine gekommen“, erklärte ich, während ich in den Lichtstrahl trat, der aus dem Fenster heraus schien.

„Ich nehme an, du willst wieder deinen Freund besuchen?“, versuchte sie zu fragen, auch wenn es eher wie eine Feststellung klang.

Also nickte ich. „Ja, hat er denn Zeit?“

Die Frau lachte hoch. „Natürlich hat er Zeit!“ Ich hörte ein Glucksen. „Du bist lustig, Mädchen.“

Ich versuchte mir meine Verwunderung nicht anmerken zu lassen. Erst ist die Frau unhöflich und dann wieder superlieb.

Aber ein Lachen war das Einzige, was ich über die Lippen brachte.

„Warte, Kindchen, ich mache dir das Tor auf.“

„Danke“, brachte ich heraus.

Kurzdarauf öffnete sich die Pforte und ich trat in den Garten, der mir in der Dunkelheit eher wie ein verwunschener Wald vorkam.

Ich beeilte mich in das Gebäude zu kommen. Die Finsternis ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen.

Als ich in das warme, nur leicht beleuchtete Wartezimmer kam, stieß ich gleich auf Dr. Coullough. Sie hatte wohl auf mich gewartet.

„Hi“, sagte sie.

„Schön Sie wiederzusehen“, meinte ich.

Sie gab mir die Hand. „Wie geht es dir? Nach deinem Sturz, meine ich.“

Ich winkte ab. „Alles in bester Ordnung. Und was ist mit Finn?“

Sie schüttelte kümmerlich den Kopf. „Er hat gesagt, dass es ihm unendlich leid tut, was er getan hat, aber er konnte seine Emotionen nicht mehr zurückhalten. Aber er hat auch gesagt, dass er sich persönlich bei dir entschuldigen möchte, falls du nochmal hierher kommst. Und da bist du“, sagt sie jetzt lächelnd.

„Das heißt, er möchte mich sehen?“, fragte ich verdutzt.

Sie nickte. „Ja, ja! Ich glaube, sehr gerne sogar. Er hat mir von dir erzählt“, begann sie und ging auf die Tür zu, hinter der die Privaträume lagen.

Ich staunte. „Wirklich? Und was hat er gesagt?“

„Er meinte, dass ihr in der Schule nebeneinander saßt, bevor er in die Psychiatrie gekommen ist. Wir sind gute Freunde, sagte er gestern. Aber er hat auch erwähnt, dass er mit den anderen drei nicht viel am Hut hat, stimmt das?“

Ich nickte schuldbewusst. „Ja, er hat die Wahrheit gesagt. Er kennt das Mädchen mit den dunkelblonden Haaren…“

„Heaven?“, fragte sie.

„Ja, woher wissen…?“

Dr. Coullough lachte. „Er hat mir von ihnen erzählt. Fahr fort“, forderte sie mich auf.

„Also Heaven kennt er ein bisschen, aber die anderen zwei… Naja, Josephine hat er zuvor noch nie in seinem Leben gesehen, aber Calvin geht auch an unsere Schule.“

Sie nickte. „Ja, das hat er mir auch erzählt.“

„Heaven ist mitgekommen, weil sie meine Freundin ist und ehrlich gesagt, habe ich sie auch als Finns Freundin betrachtet. Calvin, weil ihm etwas Ähnliches passiert ist und Josephine… sie ist die Freundin von Calvin.“

„Aha“, machte Dr. Coullough. „Apropos Freundin: Finn hat jetzt endlich eine Freundin hier gefunden. Sie sind fast den ganzen Tag zusammen und albern herum. Aber vielleicht will er es dir ja selbst erzählen.“ Sie zwinkert mir zu.

„Sicher“, sagte ich und lachte, als wir am Besucherzimmer vorbeiliefen. „Wieso gehen wir nicht hinein?“, fragte ich verwirrt.

„Naja, Finn hatte ein großes Anliegen. Er hat gesagt, falls du jemals alleine kommen solltest, darfst du mit in sein Zimmer gehen.“

„Oh“, machte ich und lächelte.

Sie nickte. „Ja, oh trifft es ganz gut. Ich glaube, er vertraut dir sehr.“

Ich wusste nicht recht was ich sagen sollte, also meinte ich nur: „Ja, kann sein. Ich vertraue ihm auch.“ Das war nicht frei aus dem Hut gezaubert, denn wenn ich über ihn nachdachte, fiel mir sofort sein ehrlicher und bescheidener Charakter ein – und danach seine fast weißen Haare.

Wir blieben vor einer Tür stehen.

„So, da wären wir“, verkündete Dr. Coullough.

Neben der Tür auf einem Schildchen stand „Finn“ und hinter dieser Tür befand sich Finn.

Dr. Coullough klopfte leise an der Tür. Es regte sich nichts.

„Ist er nicht da?“, flüsterte ich leise.

Sie schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen, und klopfte erneut.

Wieder nichts.

Dr. Coullough erhob die Hand erneut, doch bevor sie das Holz traf, wurde sie aufgerissen.

Vor uns stand Ava Estep.

„Huch, hallo Ava! Was machst du denn hier?“, fragte Dr. Coullough sie verwirrt.

Sie lächelte und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Wir… ähm…“

„Wer ist da?“, kam es von weiter hinten aus dem Zimmer.

„Dr. Coullough und…“, sagte Ava, lächelte mich aber schüchtern an.

Plötzlich tauchte Finns Gesicht auf. „Molly Noel!“ Überraschung und Freude huschten über sein Gesicht.

Ich brachte nur ein „Hi“ heraus.

Er betrachtete mich von oben bis unten. Das hieß er sah auf meine Augen, auf meinen Kragen und dann auf meinen Arm. Und erst danach sagte er: „Komm rein!“

„Ich geh dann mal“, sagte Dr. Coullough und machte sich davon.

Ava trat von einem Fuß auf den anderen. „Ich glaube, ich sollte auch…“

Doch Finn schüttelte den Kopf. „Das kommt überhaupt nicht in Frage! Du solltest lieber dabei sein, wenn wir reden.“ Er schnappte sie und mich am Arm und zerrte uns in sein Zimmer.

Sein Zimmer war interessant eingerichtet. Die Wand war dunkelblau, fast schon schwarz gestrichen und der Boden bestand aus einem weichen, dunkelgrünen Gummiboden, der beim Belasten etwas nachgab. Deshalb war das einzige Möbelstück das auf dem Boden stand sein großes Bett. Der Rest – bis auf eine Pflanze und einen Stuhl – hingen an der Wand. Eine Kommode, eine Platte, die den Tisch darstellen sollte, und ein Bücherregal. Doch was mich am meisten bannte war die Decke. Sie war in derselben Farbe gestrichen wie die Wand, doch sie war übersät mit kleinen leuchtenden Punkten. Und diese leuchteten wirklich, denn sie waren die einzige Lichtquelle bis auf das zugezogene Fenster und einer Stehlampe mit einem weißen Schirm. Weshalb es im Zimmer auch etwas dunkel war. Aber das verlieh ihm etwas Besonderes.

„Wow“, sagte ich und starrte auf die Decke. „Wie geht das?“

Finn lachte. „Das sind einfach nur ein paar Lichterketten, die ich an die Wand gehängt habe. Die eigentliche Lampe habe ich abgehängt… sie war scheußlich.“

„Aber es sieht verdammt cool aus!“, bestätigte ich ihm sein Meisterwerk.

„Danke“, sagte er grinsend und zeigte dann auf den Boden, auf dem Ava und er schon Platz genommen hatten. „Setz dich.“

Ich tat es – und es war verflucht gemütlich!

Ava musterte mich neugierig, doch als sie merkte, dass ich sie ansah, blickte sie schnell zu Boden.

„Also“, meinte Finn, „dieses Mal ohne Mikro und Kamera?“

Ich lachte. „Ich wusste es! Du hast gemerkt, dass wir das hatten… Okay, was hat uns verraten?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht, was. Wer!“

„Was?“, fragte ich konsterniert.

Jetzt sah er mich mit einem komischen Blick an. „Sie gehört überhaupt nicht zu euch?“

Ich blickte ihn noch unklarer an. „Finn, von was redest du?“

„Nein!“, rief er. „Von wer!“

Ava ergriff das Wort. „Die Frau“, sagte sie und machte eine Pause. Vielleicht um zu testen, ob ich zuhörte. „Die hier war.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab keine Ahnung von einer Frau.“

„Sie war am Montag hier und hat mit mir geredet“, erzählte Finn aufgewühlt. „Sie erzählte mir, dass ihr kommen werdet und auch die Kameras und die Mikros hat sie erwähnt.“

Ich zuckte nachfragend mit den Schultern. „Und weiter?“

„Sie hat gemeint, dass ich euch nichts verraten dürfte. Und durch die Kameras würde sie erfahren, ob ich es gemacht hätte oder nicht. Und wenn ich es machen würde, sagte sie, würde sie wieder herkommen und mir zeigen, dass ich besser auf sie hätte hören sollen. Sie sah total unheimlich aus.“

Plötzlich dachte ich an Calvin. Er hatte auch eine Frau erwähnt.

„Calvin hat auch von einer Frau gesprochen. Ich glaube, er hatte ziemlich Angst vor ihr“, platzte es aus mir heraus.

„Das ist auch kein Wunder!“, sagte Finn laut. Dann flüsterte er: „Sie hatte ganz dunkle Augen als sie angefangen hatte auf mich einzureden. Sie wollte mich hypnotisieren, hat es aber nicht geschafft… das sagt zumindest Ava.“

Hypnotisieren?

Ich sah sie mit großen Augen an. „Wie kommst du darauf?“

„Ich kenn euch“, sagte sie lückenhaft.

Fragezeichen standen in meinen Augen.

„Na, ich weiß wer ihr seid“, versuchte sie es erneut.

In der hintersten Ecke meines Gehirns machte etwas „Klick!“ aber ich kam trotzdem nicht drauf, was es war.

„Ich hab Josephine erkannt“, meinte sie dann.

„Und ich verstehe kein Wort“, kam es aus meinem Mund.

Finn verdrehte die Augen. „Molly Noel, stell dich doch nicht dümmer als du bist.“

Ich rüttelte meinen Kopf zu Recht. Dann sah ich Ava wieder an. „Du weißt, was sie sind?“, fragte ich entgeistert.

„Na endlich kommt was an“, meinte sie.

Finn grinste. „Ich übrigens auch.“

Ich starrte sie mit offenem Mund an. „Ihr wisst beide von ihnen Bescheid?“

Sie nickten gleichzeitig.

„Seit wann?“

„Oh, ich eigentlich schon immer… wenn du verstehst, was das heißt.“ Sie grinste und ihre Augen funkelten.

Ein weiteres „Klick!“ durchdrang meinen Kopf.

„Du bist genauso!“, rief ich aus. „Hab ich recht?“

Sie nickte lachend. „Ja, das stimmt.“

„Und du?“, fragte ich Finn.

„Was? Ob ich genauso bin? Um Himmelswillen, nein!“, sagte er lachend.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, woher du es weißt… und wie lange.“

„Na, von Ava“, sagte er und es klang, als ob das schon von Anfang an klar gewesen sein musste.

„Wieso hast du…“, wollte ich Ava fragen, doch ich konnte eins und eins zusammenzählen.

Hypnotisieren, nicht geschafft, Ava ist eine von ihnen.

„Oh mein Gott“, brachte ich heraus.

„Endlich ist sie draufgekommen!“, rief Finn freudig aus.

Ich nickte und sah sie wieder an. „Ihr seid zusammen.“

Finn schüttelte den Kopf. „Wir sind nicht nur zusammen, wir sind für einander bestimmt!“

„Schon klar“, meinte ich schnell und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Nach einer etwas längeren Pause frage ich dann: „Wie sah die Frau aus?“

„Sie hatte schwarze lange Haare, die einen wahnsinnigen Kontrast zu ihrer Haut bildeten. Und außerdem waren ihre Augen blau… Sie erinnerten mich an diese eine Bonbonart… Ich hab den Namen vergessen.“

„Ist sie noch einmal hier aufgetaucht?“, fragte ich.

„Nein, sie war nie mehr hier. Und ich hoffe auch, dass sie nie wieder hierher kommen wird.“

Ava streichelte ihm über die Schulter. „Schon okay“, sagte sie in beruhigendem Ton.

„Wie seid ihr beide eigentlich zusammen gekommen?“ Ich wusste nicht, ob diese Frage angemessen war, aber ich war so neugierig, dass ich mich einfach nicht zurückhalten konnte.

Ava kicherte und erzählte verträumt: „Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, wusste ich sofort, dass er es ist. Natürlich wusste ich es. Aber er nicht, weshalb ich lange überlegte, wie ich ihn ansprechen sollte. Dann hab ich mich aber doch irgendwann getraut.“

 „Sie ist einfach in mein Zimmer geplatzt“, warf Finn ein.

Sie nickte. „Ja, aber als ich anfing zu sprechen, warst du völlig von den Socken.“

Finn stieß leicht gegen ihre Schulter. „Ich glaube, jeder wäre von den Socken, wenn man eine solche Geschichte plötzlich zu Ohren bekommt.“

Ich sah sie stirnrunzelnd an. „Was hast du ihm erzählt?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Naja, wie ich hierhergekommen bin. Und dann habe ich ihm meine Talente vorgeführt.“

„Okay“, machte ich misstrauisch, „und dann wart ihr einfach zusammen?“

Finn schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Sie hat mir erst von dem Zwang erzählt, nachdem wir zusammen gekommen sind.“

„Ah“, machte ich.

Dann fragte Finn plötzlich, völlig unvorbereitet: „Willst du wissen, was wirklich am Tag des Einbruches geschehen ist?“

Ich sah ihn verblüfft an. „Soll das heißen, was man sich erzählt stimmt überhaupt nicht?“

„Nein“, sagte er kopfschüttelnd.

„Okay… dann erzähl mal“, wurde er von mir aufgefordert.

„Also es war so: An dem Abend saß ich in meinem Zimmer. Ich hab Hausaufgaben gemacht… oder gelernt. Ich bin mir nicht mehr sicher. Auf jeden Fall habe ich von unten plötzlich Schreie gehört, die eindeutig von meiner Mum stammten. Mein Dad war im Arbeitszimmer. Als meine Mum mit Hilfeschreien begann, stürmte er aus dem Zimmer und rannte die Treppe nach unten. Dann hörte ich sie mehrere Male keuchen. Davor fing aber schon lautes Krachen an. Es waren Töpfe und Pfannen die auf einander auf dem Boden landeten. Ich wollte aufstehen und auch die Treppe hinunterstürzen, aber dann hörte ich plötzlich eine fremde Männerstimme. Ist er tot, hatte sie geschockt gefragt. Dann schrie er: „Verdammt, wir sollten doch niemanden umbringen!“ Eine andere Stimme antwortete dann aber: „Ist doch scheißegal, Mann!“ Ich stand stocksteif halb aus meinem Zimmer im Flur und starrte auf die Treppe nach unten. Auf den Stufen konnte ich die Schatten zweier Personen erkennen. Dann sagte der eine: „Komm! Lass uns zu den anderen gehen!“ Dann waren sie weg und im Haus war es totenstill.“ Seine Stimme begann zu zittern. „Ich bin sofort in die Küche gestürmt. Und dann lagen sie beide da.“

„Schon okay“, sagte ich schnell, bevor er weiter reden wollte. „Den Rest kenne ich.“

„Nicht ganz. Ich habe jedem erzählt, dass ich auf einer Party an diesem Abend war, weil ich mit niemandem über das Gesehene reden wollte. Naja, bis auf Dr. Coullough. Ihr musste ich es erzählten, weil sie mich wieder zu einem klaren Verstand bringen will. Aber diese Bilder werde ich niemals vergessen.“

„Du warst also die ganze Zeit zu Hause und hast alles angehört?“

Finn nickte zögernd.

Ava stupste ihn an. „Bei mir hast du es auch geschafft. Jetzt sag schon, was du noch gesehen hast.“

Er atmete zweimal tief ein und aus. „Ich hab ihn gesehen. Den Mörder.“

Meine Augen wurden groß.

„Die Tür zur Küche liegt genau gegenüber der Wendeltreppe nach oben. Und an der Wand hängt ein Spiegel. Durch ihn konnte ich auch ein Gesicht erkennen. Ich bin mir ganz sicher, dass es das Gesicht des Mörders war, denn er sah total gelassen aus.“

Ich dachte, ich würde ersticken und die nächsten Worte kamen nicht wirklich aus meinem Mund heraus. „Wie sah er aus?“

„Und da ist der Haken: Er sah haargenau so aus wie die Frau, naja, bis auf die Haare. Diese blauen Augen und dieselbe blasse Haut. Doch seine Haare hatten ein helles Blond.“

„Geschwister?“, fragte ich.

Finn nickte. „Ja, ich denke schon.“

Ich sah Ava an. „Wenn du nicht von unserem Clan kommst, woher kommst du dann? Vielleicht kennst du sie ja.“

„Ich war nie in einem Clan. Aber ich habe sie immer bei ihren Trainingseinheiten beobachtet.“

„Hm, das ist schade“, meinte ich traurig. „Das hätte uns vielleicht auf eine Spur bringen können, wenn wir wüssten, wer die beiden sind.“

Ava lachte. „Das wäre zu einfach.“

„Wie meinst du das?“

„Ich denke, hinter diesem ganzen Wahnsinn steckt viel mehr als nur irgendwelche bescheuerten Typen, die Freude daran haben unschuldige Menschen zu verprügeln und zu… töten.“ Sie sah Finn entschuldigend an.

„Ja, das wissen wir auch. Wir tippen auf einen anderen Clan.“

Sie nickte. „Das haben wir auch schon gedacht.“

Wir schwiegen eine Weile.

„Was habt ihr jetzt vor zu tun?“

Ich erzählte: „Der Clan hat Wachposten in der halben Stadt verteilt, um aufzupassen wo und wann der nächste Angriff stattfinden könnte. Sie fanden es sinnlos nochmal hierherzukommen.“

Finn grinste. „Aber du bist es trotzdem?“

Lachend nickte ich. „Ja, sieht wohl so aus. Aber das darf wirklich keiner erfahren, sonst… sonst muss ich ihnen sagen was ihr mir erzählt habt.“

Finn zuckte mit den Schultern. „Das ist doch nicht so schlimm, oder etwa doch?“

Meine Augen wanderten zu dem Gummiboden. „Doch, ist es.“

Beide sahen mich fragend an.

„Also, es war so: Nach einer Trainingseinheit habe ich in der Umkleidekabine ein Gespräch zwischen ein paar Personen des Clans mit angehört. Und dieses Gespräch hat sich alles andere als gut für mich und Heaven angehört.“

„Was für ein Gespräch?“, fragte Finn nachdrücklich.

„Es ging um dich, Heaven und mich. Sie hatten sich gefragt, ob es eine gute Idee wäre, wenn wir unser Leben lang wüssten, dass es Leute wie sie und Ava gibt. Sie haben dagegen abgestimmt.“

Ava klappte der Mund auf. „Sie wollen euch vergessen lassen?“ Sie starrte mich fassungslos an.

Ich nickte. „Der Plan war, dass wir ihnen die Informationen bringen die sie brauchen, damit sie dann unser Gedächtnis löschen können. Damit wir ein normales Leben führen könnten. Das haben sie uns aber nicht gesagt. Und um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht ganz sicher, wem ich vertrauen kann und wem nicht.“

Finn dachte kurz nach. „Ich schwöre dir, ich werde dir immer wieder die Wahrheit erzählen, egal wie oft ich das machen muss.“

„Das ist wirklich nett von dir“, meinte ich. „Aber du bist nicht der einzige meiner Freunde, der den Zwang abwehren kann.“

Er sah mich verwundert an. „Nicht? Wer denn noch?“

„Calvin.“

„Was?“, fragte er jetzt entgeistert. „Arschloch-Calvin?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, er ist überhaupt kein Arschloch.“ Mir fiel die Geschichte mit dem Kuss wieder ein, doch ich verdrängte sie schnell, denn er war an jemanden gebunden. Für immer. „Ehrlich gesagt ist er sogar nett, wenn man ihn mal besser kennengelernt hat.“

Finn nickte und sagte dann: „Wie habt ihr bemerkt, dass er sich gegen den Zwang wehren kann?“

„Naja, er hat sich auf ein Mädchen unseres Clans… Ähm, ich meine des Wotsford-Clans gefestigt.“ Unseres Clans? Ich gehörte nicht zu ihnen. Und das würde ich wahrscheinlich nie.

„Wow“, machte er. „Und sie hat ihn genommen?“ Er lachte.

„Sei nicht so fies“, meinte Ava und boxte ihm gegen die Schulter.

„Das war ein Scherz!“, lachte er schnell entschuldigend.

Ava lächelte zufrieden.

„Okay, ich muss euch jetzt noch etwas sagen“, begann ich.

„Immer her damit“, forderte mich Finn aufgeregt auf.

Ich nickte. „Es war heute nach der Schule, als wir auf unsere Mitfahrgelegenheit gewartet haben. Ich habe mich umgesehen und plötzlich einen Mann auf der anderen Straßenseite entdeckt, der uns beobachtet hat. Keiner außer mir und einem weiterem Mädchen, die ebenfalls den Zwang abwehren kann, haben ihn gesehen. Die anderen haben nur gemeint, dass wir ihn uns eingebildet hätten oder so etwas. Aber ich bin mir sicher, dass dort jemand stand. Dann dachten wir, dass er vielleicht von dem anderen Clan war und geschickt wurde, um uns zu beschatten, denn als ich die anderen auf ihn aufmerksam gemacht hatte, war er plötzlich weg.“

Ava überlegte und ihre Stirn war in viele Falten gelegt.

„Wenn er tatsächlich vom anderen Clan war, dann sollte er sicherlich nicht entdeckt werden und ist deshalb abgehauen, als du ihn gesehen hast.“

Ava nickte und fragte: „Wie sah er denn aus?“

Ich stellte mir sein Gesicht wieder vor. „Er hatte helle Haare und dunkelblaue Augen. Viel mehr konnte ich aber nicht erkennen, denn er war umhüllt von Nebel.“

„Nebel?“, fragte Ava verwirrend.

„Ja, was ist damit? Ein paar Leute haben gemeint, dass dieser aus einem Senkloch kam.“

„Nebel kann auch entstehen, wenn man den Zwang noch nicht richtig beherrscht oder ihn durch Gedankenübertragung anwendet. Sicherlich hat er es falsch angewendet, weshalb du ihn sehen konntest.“

Ich nickte. „Ja, das kann sein. Aber wieso haben ihn die anderen dann nicht sehen können?“

Ava erklärte: „Manche Leute sind leichter zu beeinflussen als andere. Und das andere Mädchen hat ihn gesehen, da sie den Zwang vollständig entweichen kann.“

Plötzlich flog die Tür nach einem lauten Klopfen auf.

„Es tut mir leid, Molly Noel, aber die Besuchszeit wurde überschritten.“

Ich nickte Dr. Coullough zu. „Ja, ich komme.“

Ava sagte: „Wir waren sowieso fertig… oder?“

„Ja, waren wir. Ihr seid jetzt auf dem neusten Stand.“ Ich zwinkerte ihnen zu.

Finn meinte: „Vielleicht sehen wir uns ja vorher nochmal.“

Ich wusste was er meinte. Deshalb nickte ich. Er meinte den bevorstehenden Angriff auf den Wotsford-Clan oder irgendeiner nichtsahnenden Person.

„Wir sehen uns“, sagte ich und ging aus dem Zimmer.

 

Die Straße verdunkelte sich immer mehr, während ich in die enge Einfahrt vor meinem Haus fuhr. Als ich auf die digital Uhr am Armaturenbrett sah, konnte ich erkenne, dass es fast elf Uhr war. Mit einem Klicken schnallte ich mich ab. Langsam öffnete ich die Tür und stieg ungeschickt aus dem roten Wagen. Sofort schlug mir die Kälte ins Gesicht und mir fuhr ein Schauer den Rücken hinter. Im Auto war es wohlig warm gewesen, weshalb die Kälte noch unangenehmer für mich war.

Am dunkelblauen Himmel funkelten ein paar Sterne und in diesem Meer aus glitzernden Punkten prangte der große Vollmond. Es kam mir vor, als strahlte er heller als sonst.

Ich versuchte mich zu beeilen ins Haus zu kommen. Die Dunkelheit und die Geräusche die sie umgab, jagten mir ein mulmiges Gefühl in die Magengrube. Blätterrauschen und das Knarren der alten Bäume, die sich unter dem Druck des Windes verbogen.

Als ich den Haustürschlüssel aus meiner Tasche fischte, war er eiskalt. Dennoch sperrte ich die Tür auf und schaltete angekommen das Licht ein. Ich trat meine Schuhe von meinen Füßen und hängte meine Jacke an den Kleiderhaken. Die Tasche schmiss ich einfach auf den Boden.

In der Küche angekommen, sah ich mich unschlüssig um. Hatte ich Hunger? Nein, nicht wirklich. Durst? Ja, ein bisschen.

Ich ging zu einem der Hängeschränke und öffnete sie. Daraus holte ich mir ein teures und ziemlich großes Kristallglas heraus. Dann schlug ich den Kühlschrank auf und nahm einen Tetrapak kalten Orangensaft in die Hand. Ich goss mir den Saft in unregelmäßigem Fluss in das Glas und ließ die Flasche einfach auf der Theke stehen. Das Plätschern klang in dem völlig ruhigen Haus merkwürdig laut.

Die Kälte konnte ich spüren, als der Obstsaft in meinem Magen ankam. Ich trank in schnellen Zügen mein Glas leer und knallte es dann wieder auf die Platte, um mir erneut einzuschenken. Das volle Glas nahm ich mit.

Ich schlug den Weg in mein Zimmer ein.

Schwerfällig, aber trotzdem irgendwie angespannt stapfte in die knarzenden Treppe nach oben. Ich war sogar zu faul gewesen, das Licht anzumachen, weshalb ich nicht viel sah. Als ich vor meiner Tür stand, spürte ich einen kalten Luftzug, der ohne jeden Zweifel aus dem Türspalt kam. Als ich mich bückte, um zu überprüfen, ob ich mir das nur eingebildet hatte, überstürzte mich die Kälte mit einer Gänsehaut auf den ganzen Armen.

War das Fenster offen?, fragte ich mich. Aber das konnte nicht sein, denn ich hatte es, seid meine Eltern weg waren, nur ein Mal geöffnet und das war am gestrigen Tag gewesen. 

Mit einem Knarren öffnete ich die Tür und lief ohne mich nach rechts oder links umzusehen, zu dem weitaufgerissenen Fenster.

Vielleicht hätte ich mich fragen sollen, weshalb das Fenster überhaupt offen war.

Ich schaffte es nicht, meinen Arm über den Schreibtisch nach dem Griff auszustrecken, bevor plötzlich meine Zimmertür mit einem leisen Klicken ins Schloss fiel.

Der kalte Wind schlug mir meine Haare ins Gesicht, als ich mich ruckartig umdrehte. Dabei verschüttete ich meinen Saft und er klatschte laut zu Boden. Mein Herz klopfte und ich konnte meine pulsierende Halsader spüren.

Ich blickte in alle Richtungen, konnte aber nicht viel sehen, so dunkel war es.

Doch plötzlich ging das Licht an und ich ließ das Glas mit dem gesamten Saft zu Boden gleiten. Dort lag nun ein Haufen Scherben, eingetaucht in eine orangene Flüssigkeit.

Ich blinzelte in das grelle Licht, um zu erkennen, dass ich nicht alleine war.

Zwei große Männer standen an der Tür, die mich fies angrinsten. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet und trugen sogar Masken, durch die man nur einen Blick auf ihre grinsenden Münder und funkelnden Augen werfen konnte.

Ich stand da wie eine Eisskulptur, unfähig mich zu bewegen. Meine Hand war immer noch so, als würde ich das Glas halten, das eigentlich schon auf dem Boden lag.

In diesem Moment sagte der linke Kerl: „Hallo, Kleine!“ Seine Stimme jagte mir einen eiskalten Schauer den Rücken hinunter.

Der andere stöhnte unter seiner schwarzen Maske. „Sie heißt Molly Noel, Robert.“

Ich stand immer noch steif da und konnte mich nicht bewegen. In meinen Gedanken tobte alles wild durcheinander. Zum einen fragte ich mich, wer diese Typen waren. Und woher sie meinen Namen kannten. Und was zum Teufel sie von mir wollten.

Und wie ich hier wegkäme!

„David, das brauchst du mir nicht sagen!“, schrie Robert David mit einer tiefen und bedrohlichen Stimme an.

Als Robert einen Schritt auf mich zu machte, fuhr ich plötzlich zu Boden und krallte mir eine der großen Scherben, die ich geradeso in der Hand halten konnte. Über diesen Schritt hatte ich nicht nachgedacht, doch ich war froh, eine Art Waffe in der Hand zu halten. Die Typen hatten anscheinend nicht gemerkt, dass ich sie aufgehoben hatte, denn Robert kam ungezügelt näher.

Der Wind wirbelte mir die Haare in die Luft.

Das Fenster!

Während ich mich schnell umdrehte, dachte ich: „Spring!“

Das tat ich allerdings nicht, denn plötzlich hörte ich wieder die Stimme von David. „Pass doch auf! Sie will springen!“

Ich hörte zwei schnelle Schritte, drehte mich ruckartig um.

Die Scherbe blieb in Roberts Körper stecken. Um genau zu sein, in seinem Herz.

Über meine Hand ergoss sich etwas Warmes und Nasses. Ich blickte auf meine Hand, die umschlossen von Blut war.

Als Robert nach hinten fiel und ich die Scherbe immer noch fest umschlossen hielt, schnitt ich mir in die Handflächen. Es brannte höllisch.

Ungewollt dachte ich an verschiedene Blutgruppen und zu was eine Mischung alles führen konnte. Ich versuchte sein Blut an meinem Oberteil abzuwischen, doch aus meiner Wunde kam immer wieder neues, das sich mit seinem vermischte.

David stand regungslos im Raum. Als sich unsere Blicke trafen, rannte er auf mich zu. Ich dachte schon, jetzt war mein letztes Stündlein geschlagen, doch er sprang an mir vorbei und über den Schreibtisch aus dem Fenster.

Völlig automatisch riss ich meinen Arm nach vorne und bekam einen Zipfel seiner Mütze zufassen. Ich riss sie ihm vom Kopf und erhaschte einen Blick auf sein Gesicht. Dann war er weg.

Ich drehte mich um. Vor meinen Füßen lag in einer Blutlache die Leiche Roberts. In meinem Zimmer lag wirklich und wahrhaftig ein toter, leerer Körper.

Und ich war die Mörderin.

Meine Hände waren immer noch rot vor Blut, als ich sie wieder betrachtete, um zu überprüfen ob wirklich ich es war, die ihm eine Scherbe in sein Herz gestoßen hatte.

Mein Socken sog sich mit etwas Nassem voll. Ich wollte nicht wissen, ob es der Orangensaft oder das Blut war, das aus Roberts Körper floss und einfach nicht weniger werden wollte. Vielleicht sogar beides.

Ich blickte nicht zu meinen Füßen sondern schloss mit zitternden Händen das Fenster. Zwar versuchte ich den Blick nicht auf die Leiche in meinem Zimmer zu richten, aber ich schaffte es einfach nicht.

Als meine Beine nachgaben, ich in eine Mischung aus Blut und Orangensaft sank, fing ich sofort an zu weinen.

Ich hielt mir eine Hand vor den Mund, um meinen Laut zu ersticken und verteilte nun auch noch den Lebenssaft auf den Wangen und meiner Nasenspitze. Meine Hose konnte ich in den Müll schmeißen, sosehr war sie durchtränkt. Doch die Flüssigkeit, die aus seinem Körper kam, war zu viel um sich nur meine Hose an der Fläche der Schienbeine aufzusaugen. Deshalb wurden so langsam auch meine Knie rot. Ich berührte mit der Handfläche den Boden und fuhr mir dann das vor Tränen nasse Haar aus dem bleichen Gesicht.

Mörderin, dachte ich immer wieder und versuchte meine Hände an der Hose und am Oberteil sauberzubekommen.

Jerry Lee, dachte ich.

Mit weichen und zitternden Knien zog ich mich hoch zum Fenster und öffnete es. Vielleicht würde er kommen, so wie er es mir versprochen hatte.

Ich sank wieder auf den Boden und lehnte meinen Kopf gegen die Wand.

Meine Augen brannten heiß und die Tränen wollten einfach nicht weniger werden. Genau wie das Blut.

Mein Zimmer, das aussah wie ein Schlachtfeld, war von einem rostigen Duft erfüllt, der mir eine miese Übelkeit in den Bauch versetzte. Und dann auch noch die Leiche. Mir wurde noch übler, als ich sie wieder betrachtete. In meinem Magen rumorte es und plötzlich kam der Orangensaft, den ich vorhin getrunken hatte, wieder nach oben, mit kleinen Resten meines Mittagsessens. Mein Erbrochenes landete auf dem Boden und ein paar Spritzer auch auf meiner Hose. Der Duft von Blut, Orangensaft und Erbrochenem machte alles nur noch schlimmer.

Ich hielt mir meinen blutverschmieren Ärmel vor die Nase und den Mund, damit ich nichts riechen konnte. Anschließend versuchte ich die Augen geschlossen zu halten, um nicht mehr meine Umgeben sehen zu müssen. Ich hatte nicht mehr die Kraft aus meinem Zimmer zu gehen. Ich sank mit dem Kopf die Wand hinunter und mein Körper rutschte langsam zur Seite, bis ich ganz am Boden lag. Ich versuchte zu vergessen in was ich teilweise lag und auch was geschehen war und bemühte mich einfach keinen Geruch wahrzunehmen.

Hoffentlich wird er kommen.

Hoffentlich wird er….

 

Ich wusste nicht, wie lange ich noch in meinem Erbrochenen lag, als plötzlich ein Windstoß durch das Fenster kam. Ich aber war viel zu schwach und zu müde, um nachzusehen wer oder was dies verursachte.

„Was zum Teufel!“, hörte ich jemanden sagen. „Molly!“ Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der mich so nannte.

Ich spürte, wie ich am Arm gepackt und geschüttelt wurde. Ich blinzelte durch meine verschleierte Sicht. Ich erkannte sein Gesicht. Jerry Lees.

„Oh Gott sei Dank, du lebst!“, rief er und drückte mich an sich. Ihm war es anscheinend egal, dass ich voll mit Blut und erbrochenem Orangensaft befleckt war.

Plötzlich hob er mich hoch und trug mich an das andere Ende meines Zimmers, um mich von dem Schmutz wegzubekommen. Dabei hinterließ er eine Dreckspur auf dem Boden und auf seinem Pulli.

„Bist du verletzt?“, fragte er mich und betrachtete meine Augen. Seine Augen waren so wunderschön, dass ich mich in ihnen verloren hätte, hätte er mich nicht wieder zu klarem Verstand gerüttelt. Doch dann begann er meinen Körper abzutasten, vielleicht um zu sehen ob etwas gebrochen sei.

Ich streckte ihm unklar meine Handfläche entgegen und wieder rollte eine Träne über meine Wange, als ich daran dachte, dass er überhaupt keinen Ekel dieser Tragödie gegenüber zeigte.

Jerry nahm meine Hand. „Schon okay, das ist nichts Schlimmes.“ Er sah mich wieder an und wischte mir die Tränen weg. „Bleib hier sitzen, okay?“

Ich nickte langsam und schwerfällig, bekam aber ein röchelndes Okay heraus.

Jerry Lee stand auf und ging zu der Leiche hinüber. Er fasste ihr an den Hals und schüttelte dann aber den Kopf.

„Er ist tot… wie man sehen kann. Wer hat das gemacht?“

Meine Lippen gingen leicht auf und ich wollte Ich sagen, aber ich schaffte es nicht. Stattdessen brach der Damm und ich musste den Mund wieder schließen.

Er nickte, obwohl er kein Wort verstand.

Plötzlich riss er der Leiche die Mütze vom Kopf.

Blaue Augen, helle Haare, blasse Haut.

Sofort hörten die Tränen auf. Ich starrte fassungslos, sprachlos und völlig entsetzt auf das Gesicht des Mannes. Ich wusste wer er war. Und dann wurde mir auch schon klar, was ich wirklich getan hatte.

Ich hatte Robert, unseren Beobachter und den Mörder von Finns Vater, umgebracht.

Während ich noch völlig entsetzt war und meine Lippen anfingen zu zittern, holte Jerry Lee sein Handy aus der Hosentasche und machte ein Foto seines Gesichts.

Dann kam er wieder zu mir hinüber.

„Alles wird gut“, meinte er beruhigend und tastete nach meinen Füßen.

Ich starrte immer noch auf das Gesicht von Robert. Er war ein Mörder. So wie ich es war. Aber ich habe der Menschheit einen Gefallen getan. Er nicht. Er war menschenunwürdig.

Jerry Lee zog mir die Socken aus, die vor Blut trieften. Darunter kamen meine nackten Füße zum Vorschein, die allerdings auch mit Blut beschmutzt waren. Plötzlich machte er sich an meinen Oberschenkeln zu schaffen. Aber ich vertraute ihm. Er zerrte ein kleines Loch in den Stoff und riss dann die Hosenbeine ab, sodass ich eine kurze Short anhatte.

„Hast du unter deinem Pulli noch etwas an?“, fragte er zurückhaltend.

Ich nickte.

Er zog mir den Pulli aus und darunter kam ein schwarzes Top zum Vorschein, das nur etwas blutig war – und stank.

Jerry Lee nickte zufrieden. Er huschte schnell durch das Zimmer und schloss das Fenster. Dann nahm er mich hoch und wir verließen mein Zimmer und gingen aus dem Haus.

Als wir vor einem ganz neuen Jeep standen, fragte er mich: „Kannst du stehen?“

Ich zuckte mit den Schultern und wurde dann langsam von ihm auf den kalten Boden gestellt. Ich schaffte es mein Gleichgewicht zu halten, dennoch fühlten sich meine Knie an wie Wackelpudding.

Plötzlich hatte Jerry Lee nur noch ein Unterhemd an und den Pulli hielt er in der Hand. Dann machte er die Tür des Wagens auf und legte seinen Pulli auf den Sitzt. Er nahm wieder meinen Arm und sagte: „Okay, setzt dich auf mein Oberteil. Dein Hintern ist etwas… vollgeblutet und ich wollte dir nicht die ganze Hose ausziehen.“

Er half mir in den Wagen und schnallte mich anschließend auch an. Kaum war die Tür zu saß er auch schon vor dem Lenkrad und wir waren auf dem Weg in die Katakomben.

 

Als das Auto in die Garage des Clans fuhr, konnte ich wieder klar denken, jedoch hatte ich immer noch das Gesicht von Robert vor Augen. Und auch das von David ließ nicht von mir los.

Die Autotür flog auf und vor mir stand Josephine. „Verdammt! Was ist passiert?“ Sie kontrollierte mich hecktisch von oben bis unten ab.

Jerry Lee hatte während der Autofahrt mit ihnen gesprochen, dass sie sich bereit machen sollten, dass wir kommen würden. Allerdings hatte er natürlich auch keine Ahnung gehabt, was wirklich passiert war.

Josephine wurde ignoriert, während ich von Jerry Lee aus dem Wagen gehoben wurde – obwohl ich laufen konnte.

Statt zu antworten rief er laut: „Wo ist Thierry?“

Plötzlich stand dieser vor uns. „Schon da.“ Thierry sah zu mir herunter und begutachtete mein Gesicht. „Wessen Blut ist das?“, fragte er schließlich, als er zu meinen Handflächen kam.

„Na ihres“, blaffte Jerry Lee, aber ich konnte hören, dass er mit den Nerven fast am Ende war.

Ich versuchte den Kopf zu schütteln. „Und Roberts“, brachte ich hervor.

Erst sahen sie mich verwirrt an. Sie hatten keine Ahnung wer Robert überhaupt war. Doch dann rief Thierry: „Gib sie mir!“

„Was ist los?“, wollte Jerry Lee wissen und schob mich zu Thierry.

Während er losmarschierte meinte er: „Es könnte sein, dass sein Blut in ihren Blutkreislauf gekommen ist. Wenn er nun eine andere Blutgruppe hat sieht es schlecht für uns aus. Verdammt schlecht.“

Josephine und Jerry Lee liefen uns aufgebracht hinterher.

„Und was machst du jetzt mit ihr?“, fragte Josephine und ihre Stimme zitterte.

„Ich muss eine Reinigung des Blutes durchführen.“

Ich spürte plötzlich einen starken Windstoß und wusste, dass sich Thierry unmenschlich schnell in sein Labor begeben hat.

 

Nachdem Thierry mir eine milchige Flüssigkeit in den Arm gespritzt, die meinen Blutkreislauf wieder reinigen sollte, und anschließend meine Schnittwunde an der Handfläche verschlossen hatte, ging es mir wieder besser. Sie steckten mich in ein Zimmer mit Badewanne, in der bereits heißes Wasser bis zum Rand stand. Dann bekam ich eine Jeans, einen Pulli, Unterwäsche und ein Paar Socken von Josephine.

Ich wurde in die Küche gebracht, die völlig leer war, bis auf Thierry, Jerry Lee, Heaven, Josephine, Adam, Benjamin, Desiree, Kellan, Bethany, Zoey und sogar Marie. Alle waren an einen Tisch gerückt und sahen mir beim Essen zu. Ich hatte zwar keinen großen Hunger, allerdings wurde ich von ihnen gezwungen, etwas zu essen. Und dagegen hätte ich mich nicht wehren können. Jedoch fühlte ich mich in der Situation – dass mich alle anstarrten – ziemlich unwohl in meiner Haut.

Als ich fertig war fragte Josephine neugierig: „So und jetzt erzähl, was passiert ist.“

„Naja“, begann ich zögerlich mit einer rauen Stimme, „ich bin nach Hause gekommen, habe mir in der Küche etwas zu Trinken genommen und bin dann in mein Zimmer. Dort stand das Fenster offen und ich wollte es zumachen gehen. Aber dann ging plötzlich meine Zimmertür zu und das Licht an. Dabei ist mir das Glas zu Boden gefallen. Und dann habe ich Robert und David entdeckt, die vor meiner Tür standen und mich angrinsten.“

Benjamin sah mich verwirrt an. „Woher kennst du die Namen?“

„Sie haben miteinander geredet und da haben sie ihre Namen erwähnt. Ziemlich unklug. Auf jeden Fall war ja das Fenster offen und ich dachte mir, dass ich vielleicht hinausspringen sollte. Aber als ich mich umdrehte, war plötzlich Robert vor mir und die Scherbe, die ich zuvor aufgehoben hatte, steckte in seinem Herzen.“

„Was?“, riefen Heaven und Jerry Lee. Am lautesten war allerdings Desiree, deren Blick plötzlich alles andere als gut aussah.

„Ja, sieht wohl so aus. Aber der andere, David, ist dann aus dem Fenster abgehauen. Ich konnte aber seine Maske herunterziehen und einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen.“

„Du hast ihn umgebracht?“, schrie mich Desiree an.

„Das war nicht meine Absicht gewesen!“

Adam zuckte mit den Schultern. „Und was ist daran so schlimm?“

„Richtig“, warf Benjamin dazwischen. „Vielleicht wollte er Molly Noel umbringen.“

Desiree schwieg, warf mir aber einen finsteren Blick zu.

„Du hast sein Gesicht gesehen?“, fragte er mich dann wieder. „Wie sah er aus?“

Ich überlegte und versuchte Davids Aussehen ganz genau vor Augen zu holen. „Er hatte grüne Augen und blonde Haare. Ziemlich ausgeprägte Wangenknochen und eine sehr schmale Nase. Und einen Dreitagebart hatte er auch. Und eine Narbe über seinem Auge.“

Benjamin sah mich mit weitaufgerissenen Augen an. „Du sagtest, er hieß David?“

Ich nickte. „Ja, das habe ich zumindest verstanden.“

„David?“, fragte Marie total entgeistert.

„Was ist denn los?“, wollte jetzt Thierry wissen.

Adam sagte: „Der Verräter-David?“

„Ja“, meinte Benjamin.

„Ich werde sein Gesicht niemals vergessen“, murmelte nun Marie, jedoch mehr zu sich selbst.

Thierry schüttelte verwirrt den Kopf. „Wer ist dieser David?“

„David Wotsford. Er war bis zu seinem 15. Lebensjahr Mitglied in unserem Clan, ist dann aber verschwunden… oder untergetaucht. Er hat sich schon immer sehr merkwürdig benommen.“

„Er hat auch erwähnt, dass er sich hier nicht geborgen fühlt. Als würde er nicht dazugehören.“

„Tja und dann ist er abgehauen“, verkündete Benjamin mit einem lauten Schnaufen.

Desiree meinte: „Und jetzt ist er wieder aufgetaucht.“ Ihre Stimme war eiskalt. „Mit Robert, den du umgebracht hast!“ Den Rest schrie sie und ihre blauen Augen funkelten wild.

„Er war der Mörder von Finns Vater!“, platze es aus mir heraus. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich aufgesprungen und mein Stuhl nach hinten umgekippt war.

Alle starrten mich an.

Desiree kniff die Augen zusammen. „Wie kommst du darauf?“

Ich stotterte: „Ich… ich weiß nicht.“

„Hat er es gesagt?“, wollte Jerry Lee wissen.

Ich sah ihn an, als ob er nicht mehr ganz dicht wäre. „Natürlich nicht!“

„Okay und woher hast du dann diese abstruse Idee?“, fragte Adam.

Ich schwieg, doch mein Blick schweifte zu Heaven die mich mit großen Augen anstarrte. Ich öffnete den Mund, doch dann schüttelte sie unmerklich den Kopf. Ich schloss ihn wieder. Als ob sie Gedanken lesen könnte, wusste sie, dass ich bei Finn war.

„Molly“, begann Jerry Lee, „du musst mit uns reden. Oder möchtest du, dass du nochmal angegriffen wirst?“

„Nein“, sagte ich leise.

„Dann erzähl uns, woher du es weißt.“

Wieder sagte ich nichts.

Benjamin meinte leise, als ob er es sich nur selber fragen würde: „Von wem könnte sie es denn wissen?“

„Von Robert oder David“, meinte Kellan.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe es aber nicht von ihnen.“ Wollte ich sie etwa verteidigen?

Thierry stand auf und kam zu mir hinüber. Er legte seine Hände auf meine Schultern und starrte mir auf gleicher Augenhöhe in die Augen.

„Du musst uns helfen, Molly Noel.“

Ich schüttelte den Kopf. „Geht nicht.“

„Und wieso nicht?“ Er sah mir noch eindringlicher in die Augen. Und wieder musste ich feststellen, wie schön seine doch waren. Ich versuchte ihnen Stand zu halten, aber es ging nicht. Ich blickte zu Boden.

„Können wir dir nicht mehr vertrauen?“, fragte Jerry Lee enttäuscht und drehte sich von mir weg.

Wollte er mir nun ein schlechtes Gewissen machen? Dieser Satz ließ mich jedoch so aus der Haut fahren, dass ich nur noch zwei Wörter herausbringen konnte.

„Von Finn.“

Thierry ließ mich entsetzt los. „Was?“

„Du warst bei Finn?“, fragte Desiree aufgebracht. „Ohne uns zu fragen oder Bescheid zu geben?“

Heaven sah mich einfach nur an. Sicherlich fragte sie sich, weshalb ich sie nicht eingeweiht oder mitgenommen hatte.

„Seid still“, befahl Benjamin. „Wenn er es ihr erzählt hat, dann nehme ich an, er hat noch mehr erwähnt.“ Er blickte mich fragend an.

„Ja“, murmelte ich leise.

„Und was genau?“, fragte Desiree nervös.

Ich zögerte mit der Antwort. Ich wollte nichts sagen, denn ich wusste was Heaven und mir danach bevorstand. Jedoch wollte ich auch nicht riskieren, dass noch mehr Leute verletzt werden könnten. Und da sie jetzt schon einen Teil meines heimlichen Besuches wussten, hatte ich überhaupt keine andere Wahl mehr. Also sagte ich: „Dass er überhaupt nicht auf der Party war. Er hat alles gesehen, wie seine Eltern angegriffen wurden. Und dabei hat er auch Roberts Gesicht entdeckt.“

Thierry fragte: „Und da hat Finn dir sein Aussehen beschrieben und du hast ihn wiedererkannt.“

Ich nickte. „Ja und er war auch derselbe Typ, der auf der anderen Straßenseite stand und uns beobachtet hat.“

Desirees Augen funkelten wild. „Und du hast ihn einfach umgebracht!“

Benjamin zeigte auf Desiree. „Reiß dich jetzt zusammen. Was hat Finn dir noch erzählt?“

„Dass er eine Freundin hat“, meinte ich still. „Die so ist wie ihr.“

„So wie…“, begann Adam, doch er beendete seinen Satz nicht.

„Willst du damit sagen, dass Finn…“ Auch Kellan sprach nicht zu Ende.

Ich nickte. „Ja, er kann den Zwang abwehren.“

Desiree fasste sich an den Kopf und sprang fassungslos auf. „Oh mein Gott. Ich muss an die frische Luft.“ Sie verließ den Raum mit schnellen, eleganten Schritten.

„Wie heißt das Mädchen, auf das er sich gefestigt hat?“, fragte Jerry Lee, als Desiree nicht mehr in Hörweite war.

„Ihr kennt sie nicht. Sie heißt Ava Estep.“

„Hm“, machte Benjamin. „Der Name kommt mir nicht bekannt vor.“

Sag ich ja, dachte ich.

„Hat er noch etwas erwähnt?“, fragte Zoey, die das ganze Gespräch still verfolgt hatte.

Ich überlegte. „Ja, er hat von einer Frau gesprochen. Genau wie Calvin.“

„Was hat er über sie gesagt?“, hakte Zoey nach. 

„Er meinte, wenn er etwas über sie erzählen würde, würde sie ihm zeigen, dass er besser auf sie gehört hätte. Denn sie würde es durch unsere Kameras mitbekommen.“

„Hat er auch gesagt, wie sie aussah?“, fragte Marie.

Ich nickte. „Natürlich. Schwarze, lange Haare, blaue Augen und eine helle Haut.“

Es herrschte Schweigen.

Dann sagte Benjamin: „Ich denke, das wäre alles was wir wissen müssen.“

Keiner sagte etwas. Und dann begriff ich, was uns bevorstand.

„Ihr wollt uns nicht wirklich vergessen lassen?“, fragte Heaven laut, aber trotzdem fassungslos.

Schweigen.

Marie war die Erste, die sich aus ihrem Schockzustand löste. „Woher wisst ihr das?“

Ich meinte: „Ich habe euch gehört, als ihr abgestimmt habt.“ Dabei sah ich Jerry Lee mit zusammengekniffenen Augen an, der dafür abgestimmt hatte.

„Es tut uns sehr leid“, begann Benjamin und fügte hinzu, „Aber wir möchten, dass ihr ein ganz normales Leben weiterführen könnt, so wie ihr es schon immer getan habt.“

Adam sprang auf und schrie: „Das werdet ihr nicht machen!“

„Setz dich wieder hin!“, befahl Benjamin in einem lauten Ton.

„Habt ihr euch eigentlich mal gefragt, wie es uns dabei geht?“, schrie nun Heaven. „Ihr würdet uns einfach auseinander bringen!“

Benjamin sagte: „Ihr seid doch überhaupt nicht füreinander bestimmt!“

„Woher willst du das wissen?“, fragte Jerry Lee.

„Was?“, maulte ihn Benjamin an.

Jerry Lee zuckte mit den Schultern. „Hast du jemals darüber nachgedacht, dass sie es vielleicht sind?“

„Nein und das ist völliger Unsinn.“

Jerry Lee schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht. Heaven und Molly Noel können uns alle abwehren.“

Heaven und ich starrten uns an. Dann sahen wir Jerry Lee an.

„Was quatscht du da für einen Unsinn?“, fragte Kellan, der langsam wütend wurde.

„Es stimmt“, meinte er wieder.

„Ich wusste es“, sagte auf einmal Josephine. „Als du mir erzählt hast, dass du gesehen hast wie sie Jerry Lee aus der Schule mitgenommen hatten, habe ich mir schon gedacht, dass du uns abwehren kannst. Und dass du gemerkt hast, dass so ein merkwürdiger Geruch in der Schule war und die Schüler total komisch drauf waren…“

Adam starrte vor sich her als er anfing zu sprechen. „Der Nebel! Er kann entstehen wenn man ihn mit Gedankenübertragung des Zwangs verwendet. Wir konnten den Mann nicht sehen, weil wir den Zwang nicht abwehren können, doch Molly Noel schon. Und Heaven… sicherlich war er schon weg, als sie schließlich hingesehen hat.“ Adam sah seine Freundin fassungslos an. Heaven sah ihn ebenfalls fassungslos an.

„Das ist nicht alles, weshalb ich mir in meiner Sache so sicher bin. Es ist ja so, dass bei kleineren Kindern das Abwehren noch nicht so stark ausgeprägt ist und es sich während der Kindheit bis hin zum Erwachsenenalter noch vollständig ausprägen muss. So war es bei Molly auch. Als ich mit Dimitrie trainiert hatte – ich war vielleicht fünf Jahre alt – hat sie uns entdeckt. Wir haben sie natürlich sofort vergessen lassen. Das tat sie auch, doch als ich auf ihre Schule kam, kamen diese Erinnerungen wieder hoch und ihr ist wieder eingefallen woher sie mich kannte. Und somit weiß ich, dass sie den Zwang abwehren kann.“

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. „Du wusstest es die ganze Zeit? Wieso hast du nichts gesagt?“

Er zuckte mit den Schultern und schwieg.

„Das ist doch gequirlter Mist, den du uns hier zu verzapfen versuchst“, meinte Benjamin, der seine höfliche Art fallen gelassen hat. Sicherlich war er über die neuen Erkenntnisse genauso geschockt wie wir anderen.

„Wenn du es nicht glaubst“, meinte Jerry Lee, „dann probier es aus.“

„Das lass ich nicht zu“, meinte Adam und zog Heaven hinter sich. Obwohl er selbst die Tatsache mit Robert auf der anderen Straßenseite festgestellt hatte, traute er dem Ganzen nicht über den Weg.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich mache es.“

Heaven schüttelte den Kopf. „Nein!“ Sie sah mich erschrocken an und es sah so aus, als wollte sie zu mir stürzen um mich zu schützen, doch Adam hielt sie davon ab.

„Ich vertraue Jerry Lee.“ Ich warf ihm einen Blick zu und konnte in seinen Augen ein Glitzern erhaschen. Jetzt wusste ich, weshalb er mit Ja abgestimmt hatte. Denn es war ihm vollkommen egal gewesen. Er wusste, dass wir unser Gedächtnis nicht verlieren konnten. Und deshalb dachte er auch, dass wir füreinander bestimmt waren. Bis Bethany aufgetaucht war.

Benjamin sah mich an. „Okay, komm her.“ Er stand auf und wartete, bis ich bei ihm war.

„Kann los gehen“, sagte ich entschlossen.

Benjamin legte seine beiden Hände an mein Gesicht und sah mir tief in die Augen. „Für einen so großen Einsatz von Zwang, muss man sich besonders anstrengen. Dabei ist die Berührung zu seinen Opfern genauso günstig wie der Blickkontakt.“

Opfer?

„Was passiert, wenn ich anfange zu vergessen?“

„Deine Augen werden zufallen und du wirst langsam alle Erinnerungen an uns vergessen. Dann fällst du in Ohnmacht und du kannst dich an nichts mehr erinnern. Da du eine Erinnerungslücke hättest, werde ich dir neue Erinnerungen einpflanzen müssen, die allerdings auch wirklich passiert sein könnten. Das heißt, ich könnte nicht sagen, dass du mit einer Freundin etwas gemacht hast, die nicht dieselbe Erinnerung im Kopf hat.“

„Was werde ich danach denken getan zu haben?“

Er überlegte kurz. „Hausaufgaben und lernen. So jetzt schließ deine Augen und denke an alles, was du mit dem Clan erlebt hast.“

Ich tat es und dachte an Jerry Lee. An die Brücke auf der wir das Gedicht und die Fragen gelernt hatten und ich festgestellt hatte, dass ich ihn kannte. An den Kuss von Calvin und dass sich dieser auf Josephine geprägt hatte. An ihr Zimmer und die traurige Geschichte ihrer schneeweißen Katze, Skye. An den Tag an dem Jerry Lee von dem Clan mitgenommen wurde. An die Wohnung von Jerry Lee und wie er versucht hatte sich zu betrinken. An den ersten Tag in den Katakomben und den Weg durch den Wald. An die Garage mit den vielen Autos. An den Mann der uns beobachtet hatte, welcher Finns Vater ermordet und den ich schließlich getötet hatte. An die erste Trainingseinheit, an den Besuch bei Calvin und an die Psychiatrie mit Dr. Coullough. An Finn und seine Freundin Ava.

Dass er mir immer sagen wird, was passiert war.

Plötzlich spürte ich einen Windstoß, die Hände von Benjamin waren weg und um mich herum war alles mucksmäuschenstill.

Sofort dachte ich, dass ich zu Hause in meinem Bett liegen musste. Doch ich stand.

Ungewollt riss ich meine Augen auf, um zu überprüfen, ob ich immer noch in den Katakomben war. Ich stand zehn Meter von Benjamin entfernt und spürte die Hände von einer Person auf den Oberarmen. Der alte Mann kniete neben dem Tisch und hielt sich vor Schmerzen seinen Kopf. Die Blicke waren alle auf mich gerichtet.

Dann sah mich Benjamin grinsend an. „So etwas habe ich noch nie erlebt.“

Ich sah mich erschrocken um und merkte jetzt auch, dass Jerry Lee mich von ihm weggezerrt hatte.

„Was ist passiert?“, fragte ich völlig verwirrt.

Jerry Lee lachte. „Du hast ihn so stark abgewehrt, dass seine Anstrengungen in seinem Kopf geblieben sind und… naja, sie haben sozusagen einen Stromschlag erzeugt.“

„Das wollte ich nicht…“ Benjamin tat mir plötzlich sehr leid. Ich hatte nie vorgehabt dem alten Mann solche Schmerzen zu verpassen.

„Dafür kannst du überhaupt nichts.“

Benjamin stand auf. „Eine solch starke Abwehr habe ich schon lange nicht erlebt.“ Dann blickte er zu Heaven. „Ich glaube, ich spare mir lieber den Versuch, dich auch zu hypnotisieren. Falls jemand an der Abwehr der beiden noch zweifelt, kann er es gerne ausprobieren. Ich bin hier aber fertig und ich denke, ich sollte mich jetzt erst mal ausruhen gehen… mein Kopf brummt immer noch.“

Nachdem Benjamin den Raum verlassen hatte, sagte Adam nervös: „Heaven, ich glaube ich muss dir etwas sagen… Komm mit.“ Seine Augen glitzerten, als er ihre Hand nahm und mit ihr ebenfalls davon ging.

Ich glaubte, ich wusste besser Bescheid was er ihr sagen wollte, als sie selbst.

 

Am Abend wurde beschlossen, dass Heaven und ich in den Katakomben schlafen sollten, da sie Angst hatten, uns könnte etwas passieren. Und außerdem musste in meinem Zimmer erst aufgeräumt werden, weshalb Benjamin ein paar Leute losschickte, die für Ordnung sorgen sollten. Sie taten mir sofort leid, weil sie mein Erbrochenes, das Blut und den Orangensaft beseitigen mussten.

Als Jerry Lee hörte, dass wir bei ihnen schlafen müssten, zog er mich sofort in sein Zimmer. Ich wunderte mich, dass Bethany nicht bei ihm war, doch er erklärte mir, sie müsse heute zu Hause schlafen.

Es sah noch nicht sehr gemütlich aus. Die Form des Zimmers war dieselbe wie die von Josephines Zimmer. Das Doppelbett stand von der Tür ausgesehen rechts an der Wand, davor ein Schreibtisch und an der hinteren Wand war ein kleiner Schrank. Die Wand war grau und der Boden hatte ein dunkles Holz. Allerdings roch es wunderbar nach Jerry.

Er lächelte mich entschuldigend an. „Tut mir leid, aber ich hatte noch nicht so viel Zeit mein Zimmer einzurichten.“

Ich winkte ab. „Kein Problem, du solltest erst mal mein Zimmer sehen“, scherzte ich, obwohl mir momentan gar nicht nach Witzen zumute war.

Er lachte leise. „Ich nehme an Josephine hat dir keine Schlafsachen gegeben?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein… hat sie nicht.“

Er ging auf den Schrank zu und deutete dann auf das Bett. „Setz dich.“

Es war ein Wasserbett wie ich bemerkte, als ich mich auf die wacklige Matratze und die weiche, flauschige Decke niederließ.

Jerry öffnete eine der Schranktüren und wühlte in einem Kleiderhaufen. „Hm“, machte er. „Also ich könnte dir ein T-Shirt und eine Jogginghose anbieten.“ Er drehte sich zu mir um und streckte sie mir entgegen.

„Das ist wirklich nett von dir“, meinte ich und nahm den weichen Stoff in die Hand. Dann sah ich mich unschlüssig im Raum um.

„Oh, verstehe… Soll ich kurz vor die Tür gehen?“

Ich sah ihn unsicher, lächelnd mit gerunzelter Stirn an.

„Bin schon weg!“ Er trat schnell aus dem Zimmer und schloss hinter sich die Tür.

Ich stellte mich vor die Tür damit er sie nicht aufmachen konnte, falls ich noch nicht fertig war und zog ungeschickt meine Klamotten aus, während ich meinen Po gegen die Tür drückte.

Das Oberteil musste ich mit dem Kinn festhalten, damit es nicht über den Hosenbund fiel, als ich versuchte die Hose enger zu stellen. Dann knotete ich die Bändel vorne zusammen. Das Oberteil hing wie ein Sack an meinem Körper herunter und von der Hose wollte ich erst gar nicht anfangen. Allerdings roch es himmlisch. Wenn ich die Chance hätte seine Anziehsachen zu behalten, würde ich es machen ohne mit der Wimper zu zucken. Josephines Klamotten landeten auf einem Haufen neben dem Bett.

Ich öffnete vorsichtig die Tür, an der Jerry lehnte und nachhinten stolperte, als sie nachgab.

„Ähm… Ich bin fertig“, meinte ich und trat von einem Fuß auf den anderen.

Er kicherte. „Ja, das sehe ich. Du siehst… hübsch aus.“ Er zwinkerte mir zu.

Ich gab ihm einen Schubs gegen die Schulter. „So, jetzt zieh du dich um. Ich warte außen.“

„Du musst nicht rausgehen“, meinte er.

Ich hob meine Augenbrauen und wurde rot. „Doch, das muss ich.“ Mit dem linken Arm zog ich die Tür zu.

Eigentlich wollte ich die Zeit nutzen meinen roten Kopf wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch zwei Sekunden später wurde sie wieder geöffnet.

„Hab ich nicht gesagt, du sollst dich…“, wollte ich drohen, aber er trug schon ein T-Shirt und eine Boxershorts.

Er grinste mich an. „Ja, was wolltest du sagen?“

„Nichts. Überhaupt gar nichts.“ Einerseits, weil sich mein Bemängeln schon geklärt hatte und andererseits, weil es mir einfach den Atem verschlug.

Er lachte wieder und schob mich zurück in sein Zimmer. „Brauchst du eine Decke?“

Ich nickte ironisch. „Ja, das wäre nicht schlecht. Und ein Kopfkissen und eine Matratze vielleicht auch.“

Jerry sah mich fragend an. „Wieso eine Matratze? Du schläfst in meinem Bett.“

Mein Herz machte einen Salto mit anschließender Schraube.

„Okay“, sagte ich zögerlich und mein Gesicht glühte.

Er schüttelte lachend den Kopf und holte aus seinem Schrank eine dünne Decke. „Du kannst die Decke haben, die auf dem Bett liegt.“

Ich zeigte auf die, die er in der Hand hielt. „Aber die ist doch viel zu dünn für dich.“

„Molly, im Gegensatz zu dir bin ich kein Mädchen.“ Er warf sich auf das Bett, da unter  seinem Gewicht stark schwankte.

Stocksteif stand ich da und wusste nicht recht was ich machen sollte.

„Wie wäre es, wenn du das Licht ausmachst und zu mir ins Bett kommst?“, fragte er mich, als wäre ich sein Ehepartner.

„Ähm… ja! Wollte ich gerade machen.“ Ich suchte an der Wand nach dem Lichtschalter und drückte ihn nach unten. Es war stockdunkel.

„Was ist jetzt?“, fragte Jerry wieder.

Ich streckte die Arme aus. „Ich sehe nichts mehr.“

Er lachte. „Dann folg meiner Stimme.“

Ich verdrehte die Augen und versuchte das Bett zu ertasten. Als ich davor stand, zog mich Jerry Lee einfach hinein und deckte mich zu.

„Ich bin kein kleines Kind mehr“, meinte ich grimmig.

Ich spürte wie er nickte und in seiner Stimme hörte ich, dass ein Lächeln seine Lippen umspielte. „Ja, das weiß ich. Aber du benimmst dich wie eines. Und jetzt schlaf.“

 

Als ich fast im Tiefschlaf angekommen war, bewegte sie das Bett plötzlich. Ich war sofort wach. Langsam drehte ich mich um und versuchte das Bett nicht sehr zum Schaukeln zu bringen. Ich blickte auf Jerrys Gesicht, das plötzlich nur ein paar Millimeter von mir entfernt war. Seine Augen waren geschlossen und sein Mund ein kleines bisschen offen. Ich betrachtete seine zarten Lippen und merkte plötzlich, dass ich ihm gefährlich nahe gekommen war. Ich rückte ein Stück von ihm ab und legte mich wieder hin, sodass ich sein Gesicht beobachten konnte.

Plötzlich bewegte er sich und seine Mund ging auf und zu. Seine nächsten Worte ließen mir Elektroschocke durch den ganzen Körper jagen.

„Molly… Meine kleine Molly.“

 

Samstag

Als ich aufwachte, konnte ich mich nicht bewegen. Meine Sicht war unklar und ich versuchte sie durch Blinzen zu schärfen. Dann erkannte ich, in welcher Situation ich mich mit Jerry Lee befand.

Er hatte seine Decke von sich getreten und war stattdessen unter meine geschlüpft. Hierbei hatte er sein Bein auf meinen Unterkörper gelegt und mit einem Arm drückte er meine Arme fest an meinen Körper. Mit dem Kopf war ich an seine Brust gepresst.

In dem Moment dachte ich, gleich würde ich ersticken.

„Jerry“, flüsterte ich, doch er zeigte keine Reaktion. „Jerry!“, rief ich und er öffnete erschrocken die Augen. „Ich bekomm keine Luft“, krächzte ich.

„Was?“, fragte er völlig verwirrt, doch dann begriff er. „Tut mir leid.“ Er ließ sofort von mir ab.

„Schon okay“, meinte ich. Es machte mir wirklich nichts aus, dass wir uns so nahe gekommen waren – im Gegenteil. Bis auf die Erstickungsgefahr.

„Wir sollten vielleicht lieber aufstehen“, sagte er und ich konnte erkennen, dass seine Wangen und Augen glühten.

„Wie viel Uhr ist es?“, fragte ich.

Er sah auf sein Handy. „Fast drei.“

Ich stöhnte. „Schon so spät?“

Jerry nickte leidend. „Ja, du hast es erfasst. Zieh dir schnell deine Sachen an, damit wir ins Badezimmer gehen können. Ich warte vor der Tür.“

Nachdem ich aus dem Zimmer getreten war, liefen wir den Flur entlang und schließlich kamen wir zu einer Tür. Dahinter befanden sich nochmal mehrere Türen, hinter denen sich komplette Badezimmer mit Duschen, Badewannen, Toiletten und Waschbecken befanden.

Jerry und ich gingen in dasselbe in dem ich auch gestern gewesen war, als ich mich sauber gemacht hatte. Die Fliesen auf dem Boden waren rot und die Wand war bis zur Hälfte mit weißen Fliesen belegt. Am Übergang zur weißen Tapete klebte ein Mosaikmuster aus roten, orangefarbenen und gelben Glasstücken.

Aus einer Schublade holte Jerry eine Zahnbürste, die noch verpackt war und reichte sie mir. „Hier.“

Ich nahm sie und sagte: „Danke.“ Schnell packte ich sie aus und ließ Wasser darüber laufen, dann quetschte mir Jerry einen erbsengroßen Tupfer Zahnpasta auf die Borsten und ich begann mir die Zähne zu putzen.

Es war faszinierend Jerry Lee beim Zähneputzen zuzusehen, denn er war nach drei Sekunden fertig, so schnell hatte er sein Handgelenk bewegt. Als er fertig war mit Anziehen und Waschen setzte er sich auf den Badewannenrand und wartete auf mich. Er starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an.

„Was ist los?“, fragte ich ihn.

Er rüttelte seinen Kopf und massierte sich dann seine Schläfen. „Benjamin hatte recht: Man bekommt wirklich Kopfschmerzen, wenn man versucht dein Abwehrsystem zu durchbrechen.“ Er grinste breit.

Ich lachte, doch dann fiel mir erst richtig auf, was es bedeutete, ich könnte abwehren. Es wies an, dass irgendwo da draußen mein Seelenverwandter war und ich würde ihn finden, weil es das Schicksal so wollte.

Ich blickte unauffällig zu Jerry Lee.

 

Staunend betrachtete ich Jerry Lee von der Seite, als er in der Küche herum hüpfte, die wir uns geschnappt hatten. Allerdings war dies nicht schwer gewesen, da niemand anderes hier war. Es war schließlich schon Nachmittag.

Auf dem Herd standen zwei Pfannen. In der einen brutzelte Öl und in die andere füllte Jerry Lee gerade zerschnittene Schinkenstückchen, die sofort anfingen zu zischen, kaum kamen sie mit dem heißen Öl in Berührung. Mich hatte er dazu verdonnert einfach nichts zu tun. Es war erstaunlich, dass er kochen konnte, aber als ich weiter darüber nachdachte, war es logisch. Er hatte eine eigene Wohnung gehabt, die er vor kurzem gekündigt hatte, also musste er kochen können.

Als die Schinkenstückchen eine Weile vor sich her gebrutzelt hatten, brach er am Rand der anderen Pfanne vier Eier auf und ließ ihren Inhalt in die Form fließen. Anschließend schüttete er den Schinken zu den Eiern hinzu. In die nun leere Pfanne ließ er zwei Tomaten fallen, die er zuvor in mehrere kleine Teile geschnitten hatte. Als das Rührei fertig war kippte er es gleichmäßig auf zwei Teller und streute darüber die Tomaten. Zum Schluss kamen noch kleine Basilikumblätter, Pfeffer und Salz hinzu.

Mit einem Tablett kam er zu mir herüber und stellte mir das Essen vor die Nase, um sich anschließend auf den Platz mir gegenüber zu setzen.

„Guten Appetit“, meinte er.

Als ich mir eine Gabel in den Mund geschoben hatte, musste ich stöhnen. „Hm, verdammt schmeckt das gut!“

„Natürlich tut es das.“ Er grinste verschmitzt.

Nach ein paar Minuten des Schweigens riss er plötzlich seine Augen auf. Plötzlich war er neben mir und zerrte mich vom Stuhl. „Komm mit! Es ist etwas passiert!“

„Was? Was ist los? Was hast du?“ Ich sah ihn prüfend an, während er mich aus der Eingangstür der Küche schob.

„Mit mir ist überhaupt nichts los… Eher mit Adam!“ Er hob mich hoch und rannte los.

 

In der Garage befanden sich Benjamin, Marie, Josephine, Calvin, Thierry, Bethany, Desiree und Kellan, die alle um Adam herumstanden.

Als wir hereinkamen rief Jerry Lee sofort: „Was ist hier los?“ Wie ein Roboter nahm er Bethany in die Arme.

„Heaven ist verschwunden“, meinte Kellan.

„Was?“, schrie ich und fügte erstarrt hinzu, „Ist das euer Ernst?“

„Ja“, rief Adam verzweifelt. „Ich habe sie vorhin nach Hause gefahren. Dann bin ich in Richtung Katakombe zurück. Auf halber Strecke habe ich bemerkt, dass sie ihre Tasche vergessen hatte und ich wollte sie ihr bringen. Doch als ich vor ihrem Haus stand, war sie nicht mehr da.“

„Regt euch ab, sie kann auch einfach in die Stadt gefahren sein. Oder zu ihrer Oma. Sie ruft sie oft an um zu fragen, ob sie ihr bei der Gartenarbeit hilft.“

Calvin reichte mir mit zitternden Händen ein zerknittertes Blatt Papier.

Thierry sagte: „Nein, Molly Noel. Hierbei handelt es sich um eine Entführung.“

 

An Benjamin Wotsford und seinen Clan,

Wie ein paar von euch sicherlich schon mitbekommen haben, befinden sich eure drei Freunde im Besitz des Swan-Clans.

Falls sie euch irgendwie zu Herzen gewachsen sein sollten, solltet ihr auf schnellstem Wege zu uns kommen, denn sonst sieht es für die drei schlecht aus. Äußerst schlecht. Ungefähr so schlecht wie den Eltern der Familien Haige und Despain.

Wir erwarten euch an der alten Scheune, gleich neben den leer stehenden Fabrikhallen.

Der Swan-Clan freut sich auf eure kurze Anwesenheit.

 

Am Ende des Briefes war ein großes Wappen, auf dem die Initialen D.S. eingedruckt waren.

Ich starrte mit großen Augen auf das Papier, doch plötzlich wurde es mir von Jerry Lee aus der Hand gerissen.

Er nickte als er auf das Blatt starrte. „Dann geht es jetzt wohl los.“

„Halt. Wer ist mit den drei Freunden gemeint?“, fragte Adam plötzlich.

Mich durchzuckte ein Geistesblitz. „Ava und Finn!“

Kellan stürmte aus der Garage. „Ich hole die anderen.“

Benjamin sagte: „Bethany, Calvin und Molly Noel. Ihr werdet hier bleiben und warten, bis wir wieder hier sind.“

Ich starrte ihn fassungslos an. „Was? Ich werde auf keinen Fall hier bleiben!“

„Doch, das wirst du!“, meinte jetzt Thierry. „Ich habe keine Lust, dass du ums Leben kommst.“

Ich fauchte ihn an. „Erst wollt ihr mein Gedächtnis löschen und jetzt wollt ihr es nicht mal gutmache, indem ihr mich mitnehmt?“

„Molly“, sagte Jerry Lee ernst, „es ist sicherer für euch, wenn ihr hier bleibt. Denkst du etwa, es wäre eine gute Idee, wenn wir auch noch auf euch drei aufpassen müssten?“

Ich knurrte: „Nein, aber…“

Thierry hielt mir den Mund zu. „Kein Aber! Ich will, dass ihr drei jetzt in die Küche geht und dort auf uns wartet! Verstanden?“ Er sah mich an.

Ich starrte mit zusammengekniffenen Augen zurück und sagte keinen Ton. Völlig unerwartet nahm mich Thierry in den Arm. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stürmte er den anderen hinterher.

Plötzlich ging das Eingangstor auf und der gesamte Wotsford-Clan eilte in die Garage. Bethany, Calvin und ich wurden an die Seite hinten einen Jeep gedrängt, dessen Ladefläche mit einer Plane überdeckt war.

Ich sah zu Calvin. „Willst du ernsthaft hier sitzen bleiben und darauf warten, dass sie wieder zurückkommen?“

Calvin sah mich verdattert an. „Ich… ich weiß nicht.“

„Du musst dich jetzt entscheiden!“

Bethany warf arrogant ihr Haar nach hinten und sagte mit klarer und fester Stimme: „Also ich bleibe mit Sicherheit nicht hier.“

Einige Autos setzten sich brummend in Bewegung.

„Komm schon“, drängte ich ihn und rüttelte ihn am starken Arm. „Wir müssen doch unseren Freunden helfen.“

Er wirkte nervös. „Ist das eine gute Idee?“, fragte er unsicher.

„Willst du tatenlos zusehen, wie unser Clan hingerichtet wird und Heaven, Finn und Ava mit dazu?“, fragte Bethany.

Dann sagte ich: „Wenn ich jetzt nicht mitgehe, werde ich für immer ein schlechtes Gewissen haben und uns einreden, dass es unsere Schuld war, wenn sie heute sterben werden. Jeden Tag.“ Den letzten Satz sagte ich besonders deutlich und ich betonte jedes meiner Worte.

Calvin zögerte. Dann fing der Motor des Jeeps an zu brummen. „Okay!“

Ich quiekte auf. „Na endlich! Komm schnell, wir müssen uns beeilen.“ Ich hüpfte zu dem Jeep hinüber, riss die Plane los und wollte darunter schlüpfen, als sich der Wagen in Bewegung setze.

Wir rannten los und versuchten uns auf die Stange am unteren Teil des Wagens zu stellen. Bethany machte einen Satz und schlüpfte schnell unter die Plane. Dann Calvin hinterher. Ich rannte immer noch und versuchte mit dem Auto Schritt zu halten. Der Jeep wurde schneller und schneller und ich musste mein Glück versuchen, mich auf die Lade zu schmeißen. Ich gab volles Tempo und sprang.

Mein Oberkörper landete auf der Ladefläche, doch meine Beine baumelten im Abgrund.

„Nimm meine Hand!“, rief Bethany und ich musste mich aus reinem Stolz dazu zusammenreißen, ihre Hand nicht wegzuschlagen. Doch dann wurde meine Hand von einer großen Pranke umfasst und Calvin zog mich zu ihnen hinauf. 

Wir zogen die Plane über unsere Körper und hofften, uns würde keiner entdecken bis wir angekommen waren.

 

Die ganze Fahrt über schwiegen wir vor uns hin, denn wir hatten Angst, dass unsere Stimmen und somit wir entdeckt werden könnten. Ich aber dachte die ganze Zeit über an Heaven und was passieren würde, wenn wir zu spät kämen. Dann wäre sie nicht mehr hier und ich wäre alleine – was gibt es Schrecklicheres als einen geliebten Menschen zu verlieren? Außerdem fragte ich mich, was wohl passieren würde, wenn der Swan-Clan unseren vernichten würde. Dann würde ich auch sterben. Adam, Kellan, Benjamin, Thierry und Jerry Lee… Einfach alle würden ausgelöscht werden und irgendjemand würde unsere Leichen finden und dies unseren Eltern mitteilen. Und diese würden die Fassung verlieren und sich selbst umbringen. Naja, möglicherweise würden sie sich nicht gleich umbringen, aber mit dem Gedanken würden sie mit Sicherheit spielen. Und ich dachte darüber nach, woher mir der Name Swan so sehr bekannt vorkam und was die Hieroglyphen D.S. wohl bedeuteten.

Nach einer Weile wurde der Weg holprig und Bethany, Calvin und ich wurden immer wieder übereinander geschleudert. Ich hoffte nur, dass ich Bethany nicht aus dem Wagen schmeißen würde, denn jede einzelne Berührung mit ihr, machte mich überreizter. Doch ich freute mich über jeden Fußtritt, den ich ihr durch das Hin und Her verpasste.

Und als ich dachte, gleich würde ich ausrasten, stoppte der Wagen ruckartig und wir knallten mit unseren Köpfen gegen die fordere Metallverkleidung.

Wir versuchten unser schmerzerfülltes Stöhnen zu unterdrücken und dann lauschten wir was draußen geschah.

Türen wurden aufgeschlagen und wieder geschlossen. Schritte in Matsch und Schlamm. Kalter Wind der unter der Plane hindurch fegte. Keine einzige Stimme war zu hören. Ich hörte ein Knistern… von Feuer?

„Da brennt etwas“, meinte ich. „Kommt, wir gehen raus.“

Calvin hielt mich fest. „Wollen wir nicht lieber hier bleiben?“

Ich schlug seine Hand weg. „Nein!“

Bethany stöhnte herablassend. „Wenn wir nicht rausgehen, hätten wir auch gleich in den Katakomben bleiben können.“ Sie klang fast so, als wollte sie uns herauslocken. „Gott, bist du ein Feigling.“

Calvin sah sie feindselig an.

Wieder spürte ich Wut in mir hochkommen, ausgelöst durch Bethanys arrogante Antwort. Ich riss mich zusammen da es im Moment wichtigere Dinge gab, als einen Streit mit ihr anzufangen und sagte: „Auf geht’s!“

Langsam krochen wir zum Ende der Ladefläche und schoben die schwere Plastikplane zur Seite. Kopfüber stürzten wir uns auf den harten und doch schlammigen Boden und krochen auf dem Bauch hinter den großen Jeep, um die Lage genauestens zu erkunden.

Wir standen auf einem riesigen Parkplatz, der mit nassem Dreck und Schlammklumpen überschwemmt war, und auf einer kleinen Bodenerhebung stand. Hinter uns stand eine riesige Fabrik aus dunklem Metall, die aussah wie eine kohlenähnliche Gewitterwolke. Die strotzenden Autos des Clans standen auf einem kolossalen Haufen regelwidrig nebeneinander. Unser Jeep stand über den Daumen gepeilt im Zentrum. Vor den Autos und somit dem Berg entkommen, stand eine gigantische Menschenmasse, die alle auf einen Zielpunkt stierten.

Auf eine brennende Scheune.

Vor jeder Seite des Hauses stand ein klappriger Holzstuhl. Und auf jedem dieser Stühle saß ein Individuum. Rechts saß Finn, links Ava und ganz vorne Heaven.

Ich wollte losrennen, doch Calvin hielt mich sofort fest und ich konnte mich kaum wehren.

„Wenn du jetzt rennst, bist du tot“, meinte er und nickte nach vorne.

Er hatte recht. Ich hatte eine folgenschwere Sache übersehen: Um die Scheune herum stand ein Ensemble aus doppel so vielen Leuten, wie unseres. Und alle sahen sehr angriffslustig aus.

„Oh“, brachte ich mit zitternder Stimme hervor.

„Das ich schrecklich“, hauchte Calvin mir ins Ohr.

Ich nickte und musste schlucken. „Das bewerkstelligen wir niemals.“

Plötzlich öffnete sich die fremde Menschenmasse und eine Person trat hervor.

Ich erkannte sie sofort. David.

Er lachte laut. „Ihr seid tatsächlich gekommen.“

„David“, sagte Benjamin mit einer inhumanen Stimme.

„Ganz recht. Es ist interessant, dass du dich noch an mich erinnern kannst, da du mir nie die obligate Aufmerksamkeit geschenkt hast, die jeder andere von dir bekommen hat.“

Benjamin stillschwieg.

David sah ihn erkundigend und etwas überrascht an. „Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen? Findest du es so verwunderlich, dass ich mich gegen dich verbünden und meine eigene Streitmacht errichtet habe?“ Er hob leicht die Hände und zeigte auf Benjamin. „Extra für dich… Ich meine, gegen dich!“

Der alte Mann sah David filtrierend an. „Was soll das hier bringen?“

David lachte lauter und drehte sich fragend zu seiner Menschenmasse um. „Was das bringen soll?“, ausforschte er sie und grinste fies. Einige der Persönlichkeiten, falls sie überhaupt noch eine hatten, fingen in der Masse auch an zu grinsen. „Ich weiß, dass du nicht gerade der Hellste bist, Benjamin, aber das ist wirklich bejammernswert.“ Er warf ihm einen bitteren Blick zu. Dann raunte er tief: „Rache.“

„Gegen?“

„Hm, lass mich überlegen…. Gegen dich und meine Verräter!“

Benjamin trat ein paar Schritte von unserem Clan weg in Richtung Swan-Clan. „Was nutzten dir die Angriffe?“

Er lachte. „Ich habe zwei Fliegen mit einer Klatsche geschlagen.“

Benjamin brummte: „Ich höre?“

„Die Familie Haige“, fing er an, „war vor einigen Jahren in meinem Clan. Deshalb musste sie sterben.“

Ich erstarrte und auch Finn sah sich alarmiert um. Finns Eltern waren eine von ihnen?

David konnte den verwunderten Blick von Benjamin deuten. „Sie sind einfach abgehauen!“, schrie er laut. „Sie haben mich verraten! Und mit ihnen ging auch das Paar Despain!“

Ich starrte entsetzt auf das Geschehen. Hatte er gerade den Namen von Calvin erwähnt? Ich konnte hören wie Calvin neben mir vor Schreck die Luft anhielt.

„Und deswegen mussten sie auch die Schmerzen erdulden, die sie mir zugefügt hatten!“

Plötzlich fing es an zu regnen. Es wurde immer schlimmer.

Es entstand ein erschrockenes Wispern in unseren Reihen.

David lachte irre. „Jaja! Damit hattet ihr nicht gerechnet, was? Und ihr habt kaum damit gerechnet, dass wir uns auch an ihnen gerächt hatten, damit ihr endlich zum Vorschein kommt. Wir. Wollen. Euch. Vernichten.“ Seine Stimme war eiskalt. „Und wie ihr sehen könnt, habt ihr keine andere Wahl als zu sterben. Seht euch nur mal meine Armee aus tapferen Soldaten an! Ihr werdet alle sterben! Bis auf den Letzten von euch!“ Er starrte eine ganze Weile in unsere Fraktion, als suche er nach jemand. „Wer sich dem bevorstehendem Kampf entziehen möchte, der solle jetzt bitte vortreten. Ich werde ihn selbst zur Strecke bringen.“ Er lächelte geistesgestört in die Runde.

Keiner bewegte sich auch nur einen Millimeter.

David nickte unheilvoll. „Das ist wirklich schade… andrerseits bleibt mehr Spaß!“ Er machte eine Pause. Und dann sagte er in ruhigem und dominierendem Ton: „Tötet sie.“

 

Er wandte sich seiner Gruppe entgegen, die wie auf Kommando auf unseren Clan zurasten.

Ich kniff die Augenzusammen als die beiden Fronten aufeinanderprallten und ein lauter Tumult die Stille einnahm.

Doch dann hörte ich nur noch einen Schrei.

Heavens Schrei!

Ich riss mich sofort von Calvins muskulösem Arm los und stolperte schlitternd den Hügel hinunter. Als ich unten angekommen war, sah ich mich um. Vor mir fand ein unnatürlicher Kampf statt. Erdrückend schneller und erbarmungsloser als es eine gewöhnliche Schlägerei gewesen wäre. Es wurden winzige Messer aus den Manteltaschen oder Hemdärmel gezogen und dem Gegner die Kehle durchgeschnitten. Die Opfer waren ebenso von unserer Seite, als auch von der anderen. Die Leichen sanken nieder auf den Boden und wurden in Dreck getränkt. Aber ich konnte ganz klar den Wotsford-Clan von dem Swan-Clan unterscheiden. Unserer kämpfte mit Kopf und nicht nur mit dem Körper. Sie erzeugten nicht viel Kraft um ihre Gegner niederknien zu lassen. Und sie traten nicht auf die toten, blutüberströmten und unansehnlichen Körper der Gefallenen.

Hinter mir hörte ich Schritte. Ich wusste, dass es Calvin war.

„Stopp!“, schrie er mir hinterher. „Riskiere es ja nicht weiterzugehen!“

Ich drehte mich schnell um und meine vollgesogenen Strähnen flogen mir in die Mundwinkel.

Calvin rutschte auf dem Hügel aus und schlitterte den Berg zu mir hinunter. Ich wusste, wenn ich jetzt nicht weiterrannte, würde er direkt vor meinen Füßen zum Stehen kommen und mich fest am Arm packen, um mich grob mit sich zu schleifen. Zurück zum Auto. Wieder ein Stück weg von Heaven.

Ich drehte mich zu der furchtlosen Meute um und rannte in mein Unglück.

Mein Herz klopfte so laut wie das eines Elefanten, aber so schnell wie die Flügel eines Kolibris, als ich zwischen den einzelnen und fremden Gesichtern vorbei rannte. Es wunderte mich, dass mir fast keine Aufmerksam geschenkt wurde. Aber vielleicht lag dies daran, dass der Swan-Clan mit unserem stark zu kämpfen hatte, um gegen sie auch nur einen Hauch einer Chance zu haben.

Meine glatte Schuhsohle fand auf dem rutschigen Boden kaum halt. Ich fiel hin und schürfte mir die Knie auf. Ich ignorierte den Schmerz, als das Blut aus der offenen Wunde drang und sich um das klaffende Loch an der dunklen Jeans vollsog. Die Hose war an den Knien offen und an der Seite vollkommen mit Schmutz übersogen. Die blaue Winterjacke hatte Schlammflecken und ebenfalls Löcher, aus denen die Fütterung quoll und hinter mir eine weiße Spur zurückließ. Meine Haarspitzen schmierten sich voll mit Schlamm und in meinem Gesicht befanden sich Dreckspritzer.

Das alles war mir egal, denn ich sah nur ein Gesicht vor mir. Das von Heaven. Zumindest bis mir von der Seite ein spitzes Messer in die Körperseite geworfen wurde und ich automatisch stehen blieb.

Es blieb in der dicken Jacke stecken und berührte kaum meine nackte Haut obwohl es bis zum Anschlag in dem Stoff steckte. Ich zog es heraus und betrachtete es kurz.

Etwas prallte gegen mich und ich wurde zu Boden gestoßen. Es war ein Mädchen. Ungefähr in meinem Alter.

Sie drückte meine Arme nach unten und stemmte ihre Knie gegen meine Armbeugen, sodass ich mich nicht bewegen konnte. Sie grinste mich angriffslustig an. Dann griff sie mit ihren blutverschmierten Händen um meinen Hals und drückte zu.

Ich röchelte und bekam keine Luft mehr. Plötzlich wurde mehr Adrenalin durch meinen Körper gepumpt und irgendetwas in meinen Muskeln veränderte sich. Mal davon abgesehen, dass ich keine Luft bekam, fühlte ich mich stark und überlegener als je zuvor.

Ich fühlte mich, wie eine von ihnen.

Ohne darüber nachzudenken, zog ich meine Beine unter dem Körper des Mädchens zu mir nach oben und legte meine Füße um ihren Kopf, sodass ich ihn unter Kontrolle hatte. Mein linker Fuß drückte gegen ihre rechte Wage und mein rechter Fuß umschloss ihren Nacken. Die weibliche Person über mir sah mich erschrocken an und ließ ihren Griff etwas lockerer.

Dann trat ich mit dem linken Fuß gegen ihr Gesicht und zog mit dem rechten Fuß ihren Hinterkopf in meine Richtung. Sie war sofort tot, als ihr Genick brach.

Doppelmörderin, dachte ich.

Ich drückte mich mit meinen Händen vom Boden und sprang wie eine Feder auf. Sicher landete ich auf meinen Füßen. Der Untergrund fühlte sich nicht mehr rutschig an und ich hatte keine Probleme Stand zu halten. Ohne über diesen Sprung nachzudenken, rannte ich los. Schneller als je zuvor.

Ein Körper fiel vor meine Füße, doch ich ignorierte ihn und sprang einfach über ihn hinweg. Ich rannte noch fünf Meter, bis ich die letzten mit einem Sprung bezwingen wollte. Als ich gerade hochsprang, wurde mein Knöchel umschlossen und ich wurde zurück auf den Boden gezogen. Ich prallte gegen den schlammigen Asphalt und stöhnte vor Schmerz.

Als ich wieder denken konnte, sah ich auf. Vor mir stand ein voluminöser Mann, der mich mit einem Grinsen bedachte.

Der Versuch mich wieder auf die Beine zu stellen scheiterte, denn plötzlich wurde ich von dem Typen selbst am Kragen hochgezogen.

„Hast du eigentlich eine Ahnung wie viel Lohn auf deinen Kopf gesetzt wurde?“ Aus seinem Mund kam ein Schwall Blut und er ließ mich zu Boden fallen. Ich konnte mich gerade noch auf den Füßen halten, als der Kerl vor mir zusammenbrach und an seinem eigenen Blut erstickte.

In meiner Hand steckte das blutüberlaufene Messer, welches ich ihm gerade instinktiv über die Kehle gezogen hatte.

Dann rannte ich weiter und ließ die Meute hinter mir.

Die Hitze die die Scheune ausstrahlte war fast unerträglich und ich fragte mich, wie lange meine Freunde wohl schon davor saßen und leiden mussten.

Kurz bevor ich bei Heaven ankam stolperte ich und rutschte vor ihre Füße. Ich hielt mich an ihrem Stuhl fest und klammerte mich an ihren Oberarm.

In ihren Augen standen Tränen, ihre Hände und Füße waren gefesselt. Sie starrte mich fassungslos an. „Wie hast du das gemacht?“ Ihre Augen waren nass und groß, wie die eines Babys. „Molly, ich hab solche Angst!“ Die Tränen liefen ihr die Wangen herunter.

„Pst“, machte ich und zog das Messer wieder zum Vorschein. „Egal was passiert: Vergiss nicht, dass ich dich liebe.“

Heaven schüttelte weinerlich den Kopf. „Nein, werde ich nicht.“

Ich versuchte das Seil durchzuschneiden. Die Klinge rutschte immer wieder von der nassen Fläche ab.

Es verging eine ganze Weile, während ich immer unruhiger wurde und mich fragte, wieso dieses verdammte Seil nicht endlich nachgab. Doch dann rutschte die Schneide einfach zwischen den Fäden hindurch und Heavens Hände waren frei.

Heaven rieb sich ihre geröteten Handgelenke und murmelte etwas wie: „Verdammt, wir werden alle sterben.“

Ich blickte zu Heaven und wollte mich ihren zusammengebundenen Knöcheln widmen, doch plötzlich hörte ich meinen Namen.

„Molly!“ Es war Jerry Lee der versuchte der Meute zu entkommen, um zu mir und Heaven zu eilen. Sein Blick war erschrocken und völlig panisch, als er mich neben meiner Freundin sitzen sah. Seine Hose und sein Oberteil waren voller Blut und Schlammklumpen, doch er selbst hatte keine Wunde.

Und dann passierte etwas Schockierendes.

Desiree tauchte neben Jerry Lee mit einem flammenden Spieß auf. Sie hob ihn und durchbohrte seine Brust.

Desiree?

Am anderen Ende des Felds brach Bethany kreischend mit den Händen vor der Brust verkrampft zusammen und starb.

Der leere Blick von Jerry fiel direkt auf mich und seine Lippen formten ein letztes Mal meinen Namen.

„Nein!“, schrie ich verzweifelt und wollte auf seinen Körper zu rennen. Doch ich konnte nicht. Vor meinen Augen tauchten Bilder auf.

Die Frau mit den langen schwarzen Haaren, den blauen Augen und der hellen Haut, die bei Finn in der Psychiatrie war.

Die Inschrift D.S.

Der Name des Clans.

Robert, der aussah wie die Frau, die in der Psychiatrie war.

Auf alle Fragen war die Antwort sie.

Desiree Swan. Zwillingsschwester und Anführerin einer tödlichen Armee.

Die Kämpfenden hörten abrupt auf.

Der Wotsford-Clan war umzingelt.

Die dunklen Haare flogen ihr wie Schlangen über den Kopf, als Desiree über die Leichen und auf den Wotsford-Clan zuging.

„Desiree?“, hauchte Marie, die sie fassungslos anstarrte.

Diese lachte erbost. „Endlich ist der Tag gekommen, an dem ihr zu Grunde gehen werdet!“ Sie machte eine Pause um ihre Stimme wieder herunterzufahren. „An dem ich die Herrscherin über den mächtigsten Clan werde und zudem dem Einzigen.“

Benjamin sah sie entsetzt an. „Ich dachte, du gehörst zu uns?“

Sie gluckste und schüttelte den Kopf. „Das tue ich schon lange nicht mehr! In der Zeit, in der ihr herumgealbert habt, habe ich mir eine Armee erschaffen. Als diese vollkommen war und ich wusste, mit dieser könnte ich euch alle besiegen, begannen die Angriffe! Doch plötzlich tauchten Molly Noel und Heaven auf. Ich wusste, dass sie nicht gut für meinen Plan waren. Ich musste zu Finn in die Psychiatrie gehen und ihn zwingen, kein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren, was er gesehen hatte oder wusste. Das Gleiche musste mit Calvin geschehen. Doch bei keinem der beiden funktionierte es. Weil sie sich beide gegen den Zwang wehren konnten. Weil ein Elternteil uns auch abwehren konnte und das andere so ist und war wie wir. Deshalb musste ich sie dazu terrorisieren und dies klappte auch. Jedoch überraschte es mich, dass mich Calvin nicht wiedererkannte. Er musste die Erinnerungen an mich wohl verdrängt haben.

Doch um mehr über die beiden Mädchen zu erfahren, musste ich es schaffen ein Mädchen oder einen Jungen unter ihren Freundeskreis zu mischen. Mein Opfer war Bethany. Ich zwang Jerry Lee und Bethany dazu, sich aufeinander zu festigen, damit er ihr alles erzählte was er wusste. Und sie erzählte mir die Neuigkeiten und ich war immer auf dem Laufenden. Mit dem endgültigen Kampf wollte ich noch etwas warten, doch als ich heute hörte, dass Finn und Ava etwas verraten hatten, rastete ich aus. Und ein weiterer Grund war die Tatsache, dass Molly Noel meinen Bruder und treusten Verbündeten, Robert, umgebracht hat.

Ich fuhr also zu meinem Clan und beauftragte sie, Finn und Ava aus der Psychiatrie zu holen. Doch plötzlich rief mich Bethany an und sagte, dass Adam Heaven gerade nach Hause fuhr. Sie meinte, es wäre vielleicht reizvoll Heaven auf einen der Stühle zu fesseln, um Molly Noel das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.“

Alle waren vollkommen still und lauschten ihren verrückten Worten. Wie konnte sich ein Mensch so verstellen? Wie konnte ein Mensch so grausam sein?

„Falls ihr euch fragt, wie David in die ganze Situation hineinrasseln konnte, möchte ich euch hier erleuchten: Er war unglücklich und das stimmte wirklich. Das musste ich ihm überhaupt nicht einreden. Doch als ich ihn fragte, ob er sich mit mir und damit gegen euch verbünden wolle, sagte er nein und meinte, ich sei krank im Kopf. Da er aber nun von meinem Plan mitbekommen hatte, musste ich etwas tun. Erst versuchte ich ihm eine Gehirnwäsche zu unterziehen, aber diese scheiterte. Und dann zwang ich ihn, er müsse mir überall hin folgen. Selbst in den Tod. Er begab sich in das Versteck meiner Armee und wartete dort auf meine Zeichen.“ Dann runzelte sie die Stirn. „Doch eine Frage habe ich noch an euch, bevor ihr alle sterben werdet.“ Sie wartete ein paar Sekunden. „Wieso hat sich Molly Noel auf einmal in eine von uns verwandelt und wieder zurück?“ Sie drehte sie blitzschnell zu mir um und starrte mir mit ihren schillernden Augen in meine.

Immer noch geschockt von Jerry Lees leblosem Körper und der Geschichte, die sie gerade preisgegeben hat, rappelte ich mich vom Boden auf und ging auf sie zu. In meinem Inneren loderte Wut.

Desiree räusperte sich und meinte dann: „Ehrlich gesagt, bist du hier mein einziger Feind.“

Ich hatte natürlich keine Ahnung was sie damit meinte.

„Ich habe schon öfter von der Legende über Leute wie dich gehört, aber nie einen zu Gesicht bekommen“, sprach sie mich direkt an. „Die Legende besagt, dass es Individuen gäbe, die normale Menschen seien und in keine normalen verwandelt werden könnten. Sie brauchen nicht zu trainieren, denn in ihren Köpfen sind Kampfschritte eingespeichert, von denen sie nicht mal eine Ahnung haben, dass sie existieren. Diese werden automatisch angewendet, wenn sie von Nöten sind. Deshalb konntest du auch Robert töten, obwohl du hierbei nicht viel gemacht hast, wie mir David erzählte. Aber der Mord an dem Mädchen war genau dadurch zu Stande gekommen. Und der Mann dem du die Kehle aufgeschnitten hast ebenso. Sie entstehen zufällig. Man braucht keine Elternteile mit besonderen Fähigkeiten. Und weil du mehr so bist wie wir, kannst du dich auch nicht gegen den Zwang wehren.“

Nicht gegen den Zwang wehren?

Ich schwieg. Der ganze Clan schwieg. Vielleicht weil sie wusste, dass es besser war jetzt zu schweigen oder weil sie nicht wussten was sie hätten sagen sollen.

Sie grinste mich an. „Und deshalb habe ich mir einen verdammt guten Plan ausgedacht, wie ich dich töten kann.“

„Ich werde mich nicht von dir töten lassen“, entfuhr es mir, mit einer erstaunlich beherrschten Stimme.

Doch Desiree triumphierte, als ich vor ihr zum Stehen kam. „Du wirst sowieso keine andere Wahl haben!“

Plötzlich standen neben mir zwei gigantische Männer, die aussahen wie Schränke. Einer der beiden stellte sich hinter mich und drehte meine Arme schmerzhaft auf meinen Rücken. Der andere umfasste mein Kopf und meinen Hals. Dann stellten sich weitere in einem fast geschlossenen Kreis um mich herum.

Ich wusste, wenn ich auch nur versuchen würde mich zu wehren, würde er mir das Genick brechen.

„Lasst sie sofort los!“, schrie die Stimme von einem unseres Clans zu uns hinüber.

Desiree zischte: „Halt die Klappe!“

Er trat aus der Menschenmasse und rannte auf uns zu. Es war einer der Zwillingsbrüder, die Jerry Lee aus der Schule geholt hatten.

„Chris!“, schrie sein Zwilling. „Bleib sofort stehen!“

Aber er dachte gar nicht daran.

Er rannte einfach weiter, doch als er fast bei uns angekommen war, wirbelte Desiree herum, umfasste seinen Hals und riss ihn ab.

Ich quiekte auf und der Griff um mich wurde fester. Sein Bruder starrte auf die Leiche, die ein paar Meter von ihm entfernt lag.

„Was hast du getan?“, schrie er sie an und wollte auf sie losstürmen. Doch sofort wurde er von beiden Seiten gepackt und davon zurückgehalten, in den sicheren Tod zu rennen.

Die Frau mit den langen schwarzen Haaren lachte. „Es ist schön, dass sich jemand bereiterklärt hat, zu demonstrieren was passieren würde, wenn auch nur einer versuchen will mein Vorhaben zu unterbrechen.“

Der Junge brach auf dem Boden zusammen und versuchte seine aufschäumende Wut unter Kontrolle zu halten.

Desiree wandte sich wieder mir zu. „Fahren wir fort.“ Sie grinste mich an und trat direkt vor mein Gesicht. Sie legte ihre blutigen Finger auf meine Wagen und drückte mit den Fingerkuppen gegen meine Schläfen, sodass es weh tat. Ich aber ließ mir nichts anmerken und starrte zurück in ihren eisblauen Augen, die vor Vorfreude Funken sprühten.

Im Wotsford-Clan sahen sie sich mit erschrockenen Blicken um. Aber was hätten sie tun sollen? Etwa auf mich zu rennen, damit sie alle starben und keiner übrig blieb? Nein. Aber hatten sie überhaupt noch eine Chance? Sie waren ganz klar in der Unterzahl.

Desiree hauchte mir ein einziges Wort entgegen. „Erlisch.“

Während sie dieses Wort immer und immer wiederholte, zogen sich ihre Augenbrauen zusammen, als ob sie sich immer mehr zu konzentrieren versuchte.

Dann erforschte ich ihre Augen.

Eisblau, mit dunkleren und helleren Sprenkel und einer schwarzen Pupille. Als ich genau in ihre Pupille stierte, erhaschte ich plötzlich ein kleines Lichtchen, das darin aufleuchtete. Ich fixierte mich darauf. Ein Gefühl überkam mich, als würde ich nur noch diesen kleinen Lichtpunkt sehen. Es schien, als würde ich immer mehr an es herangezogen werden, bis es blitzartig zyklopisch vor mir war.

Es war ein längliches Etwas, dass aussah wie zwei Spirale mit dickem Band, dessen Enden sich miteinander verbanden. Es drehte sich, machte sich klein und wieder groß. Die Farbe war leuchtend, war aber mit ein paar dunklen Flecken besetzt. Dann erkannte ich massenhaft kleine Schnüre, die sich von diesem Ding wegstreckten.

Ganz plötzlich wusste ich, was es war.

Ihre Seele.

Während Desiree sich immer mehr konzentrierte, begann die Seele sich immer mehr zu bewegen, bis sie von einem langanhaltenden Erschüttern übermannt wurde. Während dies geschah, wurden die Flecken immer mehr, bis das ganze Leuchtband zerstört und die Seele ein schwarzes, mattes Band war, das still vor sich hin schwieg.

Ich riss meine braunen Augen auf – anscheinend  hatte ich sie geschlossen, als ich auf das Spiel des Bandes gebannt wurde – und konnte sehen, wie Desiree vor mir auf den Boden zusammenbrach. Sie hielt ihre Hände an den Kopf gepresst und schrie laut, wie ein sterbender Adler.

„Was hast du getan?!“, fauchte sie mich durch ein erdrückendes Keuchen an.

Ich wusste selbst nicht genau, was mit ihr passierte, aber ich wusste, dass ich ihre Seele gesehen hatte und dass diese verdreckt war, bis sie das Leuchten schließlich in eine kohlenähnliche Farbe verwandelte.

Plötzlich merkte ich auch, dass nicht nur sie die Einzige war die sich vor Schmerz krümmte. Die Personen in der Armee des Swan-Clans wurden abwechselnd von einem Zucken überwältigt. Außerdem war ich dem Griff der Männer entkommen.

„Du müsstest längst tot sein! Ich zwinge dich zu sterben!“ Sie röchelte die letzten Worte.

Jetzt verstand ich, was hier geschah. „Du hast einen riesigen Fehler gemacht, der dir dein Leben kosten wird.“ Ich baute mich vor ihr auf. „Du dachtest, ich könnte mich nicht gegen den Zwang wehren. Aber das kann ich. Und ich wehre euch so stark ab, dass ich einen Stromschlag erzeugen kann. Je mächtiger der Zwang ist, desto stärker ist die Kraft die zurückschlägt.“

„Nein“, hauchte sie mir ihr letztes Wort ins Gesicht. Dann bewegte sie sich nicht mehr.

Sie war tot. Mit ihr fielen alle Mitglieder des Swan-Clans zu Boden und hörten auf zu atmen.

Ich hatte wieder das Bild der Seele mit den Fäden vor mir. Jetzt konnte ich auch ahnen was die Fäden für eine Rolle spielten. Sie waren der Verbindungsdraht zu Desiree, mit denen sie sie an sich gebunden hatte. Bis in den Tod, wie sie selbst gesagt hatte. Aus demselben Grund war auch Bethany gestorben. Weil sie an Jerry Lee gebunden wurde, ohne es zu wollen.

Jerry Lee!

Ich drehte mich um und rannte über das Feld. Über die Leichen hinweg zu einer einzelnen leeren Körperhülle.

Als ich vor ihr zum Stehen kam, krachte ich auf die Knie und legte meinen Kopf auf seine Brust. Kein Herzklopfen. Kein Atmen. Nichts.

Ich bekam am Rande mit, wie ein paar Leute zu Heaven, Ava und Finn rannten und sie freibanden. Adam stürzte sich sofort auf seine Freundin und umarmte sie fest, bis sie keine Luft bekam.

Und ich lag vor der Leiche meines Geliebten und war viel zu geschockt, um irgendetwas zu machen. Weder zu weinen, noch zu schreien, noch mich zu bewegen. Ich versteckte mein blasses Gesicht in den Füllen seiner Jacke und atmete ein letztes Mal seinen wunderbaren Duft ein. Meine Finger klammerten sich an seine Arme und wanderten zu seinen eiskalten Finger, die mit Blut und Dreck beschmiert waren. Und jetzt bemerkte ich erst das Blut, dass durch die Wunde kam, die ihm Desiree zugefügt hatte. Ich wimmerte.

Plötzlich griffen mir Hände unter die Arme und ich wurde hochgezogen.

„Nein!“, schrie ich die Person wild an und trat um mich. Vergeblich.

Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Ich wollte meinen Blick nicht von ihm abwenden, obwohl er grauenhaft aussah.

Irgendwo hörte ich jemanden verzweifelt meinen Namen schreien.

„Du musst hier weg“, meinte Thierry zu mir, der mich festhielt.

Ich schüttelte den Kopf und wollte mich von ihm wegdrücken. „Ich kann nicht!“ Jetzt rollten mir Tränen über die Wangen und meine Stimme zitterte, als ich ihm die Worte ins Gesicht schrie, obwohl ich noch immer in das von Jerry Lee sah. Mein Herz schmerzte so sehr, dass ich dachte zu ersticken.

„Sieh mich an“, versuchte er es erneut, aber nichts half. Dann hob er mich hoch.

„Nein! Wieso tust du mir das an?“ Ich streckte die Arme nach Jerry aus, obwohl ich wusste, dass er mich nicht halten würde.

Dann war er weg und ich hatte nur noch die Autos im Blickfeld.

„Wieso?“, fragte ich leise und mit zitternder Stimme.

„Pst“, machte er nur. Thierry hatte ein blutverschmiertes Gesicht und ich konnte erkennen, dass es sein eigenes Blut war. Er hatte viele Kratzer im Gesicht. Seine Klamotten waren zerrissen und voller Schlamm. Überall klebte Blut.

„Aber… aber er ist… doch meiner…“, schluchzte ich und lehnte mich an Thierry an.

Doch dann sagte er: „Nein, er war deiner.“

Thierry trug mich in einen schwarzen Jeep, in dem Kellan saß. „Bring sie zu ihr nach Hause.“ Er ließ mich auf den Sitz nieder und schnallte mich an.

„Wo gehst du hin?“, fragte ich ihn, als wäre ich ein kleines Kind.

Er zögerte mit seiner Antwort. „Wir… wir müssen uns um die Leichen kümmern.“ Dann schlug er die Tür zu und Kellan fuhr los.

 

Mein Zimmer sah viel zu ordentlich aus, als dass ich es als gemütlich bezeichnen konnte. Die Putzkolone hatte große Arbeit geleistet, allerdings fühlte ich mich hier nicht besonders wohl. Der Duft von ätzendem Putzmittel lag noch in der Luft, auch wenn ich riechen konnte, dass sie versucht hatten es mit einem Rosenduft zu überdecken. Ich hasste Rosen. Das einzige rettende Boot in diesem Raum war das Bett, denn die Bettdecke kam mir sehr bekannt vor. Außerdem wusste ich, dass die Decke darunter immer noch nach mir duften würde, wenn ich mich in sie hinein kuscheln würde.

Ich fühlte mich zerbrechlich und ausnahmslos am falschen Ort. Meine Augen waren glasig und brannten bei jedem Augenaufschlag. Als ich daran dachte, sie für immer zu schließen, kroch ich in mein Bett und begann zu träumen.

Sonntag

Da ich so erschöpft war und so tief geschlafen hatte, bekam ich in der Nacht nicht mit, dass sich Josephine und Skye in mein Zimmer geschlichen hatten.

Als ich jedoch am Nachmittag aufwachte, lag Josephine neben mir und Skye am Bettende. Beide schliefen fest und atmeten gleichmäßig.

Da ich in der Nacht nicht auf den Dreck und Schlamm geachtet hatte, sondern mich gleich unter die Bettdecke verkrochen hatte, war diese nun ruiniert. Auch Josephines Klamotten, Haare und Haut waren voller Dreck.

So leise ich konnte verließ ich mein Zimmer und schlich nach unten in die Küche. Wieso ich das tat wusste ich nicht genau, denn ich hatte überhaupt keinen Hunger. Also setzte ich mich nur auf einen der Stühle und verteilte auch hier meinen Dreck. Ich stützte meine Stirn in die dreckigen Hände, ließ die Haare über mein Gesicht fallen und schloss die Augen.

Jerry.

Sofort schossen mir die Tränen in die Augen, obwohl ich mich einfach nur leer fühlte. Ja, mein Herz war ein schwarzes Loch, das niemals mehr zu schließen schien.

Er ist tot.

Der Gedanke blieb als Echo in meinem Gedächtnis zurück. Meine Arme wurden schwach und ich musste meinen Kopf auf die Holzplatte legen. Die salzigen Tränen tropften auf das Holz, verschmolzen zusammen, hinterließen meine Trauer und machten sie zur Realität.

Ich dachte an Desiree, die sich durch ihren eigenen Hass selbst umgebracht hatte. Und damit hunderte von unschuldigen Menschen in den Tod gerissen hatte, die ungewollt an sie gebunden waren.

Ich dachte an Thierrys zerkratztes und bluttriefendes Gesicht. Wie er mich beherrscht von dem Schlachtfeld gebracht hatte, obwohl er in diesem Moment viele Freunde verlor.

Ich dachte an Calvin, der sich ängstlich hinter einem Auto versteckt hatte. Es war das Beste was er hätte tun können. Er wäre sonst gestorben.

Ich dachte an Josephine, die aufgebracht und aufgelöst zu Calvin stürmte, als sie ihn schreien hörte.

An Zoey und Adam, die sofort zu Heaven stürzten, um sie von ihren Fußfesseln zu befreien.

An Benjamin, der sich kraftlos auf den Boden fallen ließ, während seine Schultern sich unregelmäßig hoben und sanken, als würde er weinen.

Ich dachte an Heaven, die schluchzend meinen Namen schrie. Immer und immer wieder.

Und ich dachte an Jerry Lee, der leblos auf dem schlammigen Boden lag und in dessen Brust ein tiefes, schwarzes Loch...

Ich fuhr nach oben und entdeckte Josephine und Skye in der Küche.

Ich war froh, dass sie mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität geholt hatte. Auch wenn diese kein Stück besser war. Jedoch sah ich so nicht mehr die grauenhaften Bilder. 

Josephines gerötete Augen starrten mich leblos an. Es sah so aus, als hätte sie die ganze Nacht geweint und versuchte gerade ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Bis auf ihre Hände war sie voller Blut, Schmutz und Schlamm. Ihre Haare standen in alle Richtungen und ihre kohlenähnliche Schminke zog sich bis zu ihrem Hals.

Als sie mein tränenüberströmtes Gesicht sah, musste sie schlucken. Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Skye legte sich vorsichtig neben meine Füße und schnurrte leise.

Plötzlich klingelte es an der Haustür. Das Klingeln war viel zu laut in dem stillen Haus.

Josephine drehte sich um und ich sah sie dankbar an, bevor ich meinen Kopf wieder auf die Tischplatte legte.

Ich hörte wie sie die Tür öffnete und mehrere Schritte ins Haus kamen.

„Wie geht es ihr?“ Das war Adams Stimme.

„Wie geht es dir?“ Das war Calvins Stimme.

Sie traten in dem Augenblick in die Küche, als ich meinen Kopf hob. Ich entdeckte Adam, Calvin und Heaven. Alle drei hatten sich gewaschen und trugen saubere Klamotten.

Als mich Heaven erblickte, stürmte sie an den anderen vorbei und zog mich in ihre Arme. Ihr war es egal ob sie wieder dreckig wurde. Sie fragte auch nicht, wie es mir ginge. Wie sollte es mir auch gehen?

Calvin setzte sich auf einen Stuhl und Josephine nahm auf seinem Schoß Platz. Adam und Heaven setzten sich ebenfalls, doch meine beste Freundin behielt meine kalte Hand in ihrer warmen. Das war ein gutes Gefühl.

Keiner sagte etwas, denn niemand wusste was. So saßen wir eine ganze Weil einfach nur in der Küche.

Schließlich meinte Adam leise: „Ich war noch nicht in den Katakomben.“

Josephine schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht. Ich hab Calvin gestern nach Hause gebracht und bin dann sofort mit Skye hierher gefahren.“ Sie verstummte.

„Von den anderen haben wir nichts gehört“, fügte Heaven hinzu.

Leise meinte Calvin: „Ich kann es nicht fassen. Desiree. Ich meine, sie war bei mir zu Hause und hat mit mir geredet! Und ich habe sie einfach vergessen. Obwohl ich mich gegen den Zwang wehren kann!“

Josephine streichelte seine Haare. „Schon okay. Du weißt, dass das Abwehren erst im Erwachsenenalter vollkommen ausgeprägt ist. Das geht bei jedem unterschiedlich schnell. Sie konnte dich also trotzdem ein Stück vergessen lassen.“

Enttäuscht über sich selbst schüttelte Calvin den Kopf. „Sie kam mir schon die ganze Zeit bekannt vor.“

Adam meinte: „Thierry hatte von Anfang an recht. Er konnte sie noch nie leiden.“

„Wie geht es ihm?“, hörte ich meine Stimme sagen.

Alle starrten mich an, als wären sie überrasch, dass ich noch sprechen konnte.

Heaven riss sich als Erste wieder zusammen. „Wir haben auch von ihm nichts gehört.“

Josephine kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Molly, ist es okay wenn ich in die Katakomben fahre, um dort zu duschen?“

Ich zuckte mit den Achseln und wunderte mich, dass sie nach meiner Erlaubnis fragte.

Josephine meinte: „Okay, danke. Wenn ich etwas Wichtiges höre, werde ich mich sofort bei euch melden.“ Sie stand auf und die schneeweiße Skye sprang auf ihre Schultern.

Adam nickte und Heaven meine: „Bis dann.“

Ich schwieg.

Josephine nahm Calvin an der Hand und zusammen verließen sie mein Haus.

Schließlich stand auch Heaven auf und ich bekam Angst, dass auch sie gehen würde, doch sie sah mich an und meinte: „Du könntest ein Bad gebrauchen.“

Ich lächelte matt – oder versuchte es – und schüttelte schließlich den Kopf. Ich wollte gar nichts machen. Ich wollte einfach nur sitzen, liegen oder schlafen. Für andere Dinge war ich viel zu erschöpft.

Heaven räusperte sich. „Adam.“

Er nickte, sprang auf und hatte mich schneller in den Armen als meine Augen seine Bewegungen warnahmen konnten. Doch ich protestierte nicht, denn dazu hatte ich nicht die Kraft und die Lust. Heaven dirigierte uns in das Badezimmer meiner Eltern, da hier eine Badewanne stand und Adam setzte mich auf den Toilettendeckel ab. Meine beste Freundin ließ heißes Badewasser ein und Adam verschwand aus dem Zimmer, kam kurzdarauf mit einem Stapel frischer Kleidung wieder. Als die beiden fertig waren und das heiße Schaumbad bis zum Rand der Badewanne reichte, ließen sie mich alleine.

Ich bewegte mich noch eine ganze Weile nicht, sondern starrte vor mich her. Doch dann zog ich meine schlammbefleckten Klamotten aus, warf sie in eine Ecke und stieg langsam in das heiße Wasser.

Die Wärme tat wahnsinnig gut. Sie löste meine Muskeln und Verspannungen. Ließ die Kälte meines Körpers verschwinden. Eine Stelle blieb jedoch kalt und einsam.

Als meine Haut an den Fingerkuppen weich wurde und sich das Wasser verfärbt hatte, wickelte ich mich schnell in ein Handtuch und setzte mich wieder auf den Toilettendeckel. Ich wollte nicht in den Spiegel sehen. Wollte nicht wissen wie ich aussehen würde. Denn das hätte mir nur die Trauer gezeigt und ich wäre wieder in Tränen ausgebrochen.

Plötzlich öffnete sich die Badezimmertür und Heaven kam herein. Sie ließ erst das schmutzige Badewasser ab und kämmte mir dann die nassen Haare aus dem Gesicht, trocknete sie und band mir einen Zopf. Anschließend half sie mir in Unterwäsche, eine Jogginghose, einen weiten Pullover und dicke, flauschige Socken.

Heaven und ich setzten uns nebeneinander auf das Sofa im Wohnzimmer und kuschelten uns unter eine Decke. Wir hörte Adams Stimme aus der Küche, der wohl mit jemandem telefonierte. Als das Gerede stoppte kam er in das Wohnzimmer.

„Hey Leute, Kellan hat gerade angerufen und gesagt, ich solle in die Katakomben kommen und ein bisschen bei den Aufräumarbeiten helfen.“

Heaven und ich sagte nichts, sondern sahen ihn nur an.

„Hm, macht euch einen schönen Abend… oder so. Und Heaven; ich will dass du heute hier übernachtest.“ Schöner Abend?, dachte ich. „Ich melde mich später bei euch. Wir hören uns.“

Nachdem er weg war, schwiegen wir noch eine Weile. Ohne etwas abzusprechen stand Heaven auf und legte die vierte Staffel Sex and the City in das DVD-Laufwerk.

Sie lächelte mich aufmunternd an. „So, bei welcher Folge sind wir denn eingeschlafen?“

 

 

Regen und Blut, das sich miteinander vermischte.

 

 

Ein offener Bauch. Völlig blutüberströmt. Kein Puls, kein Herzschlag.

 

 

Überall Erdklumpen, Dreck und Regen.

 

 

Ich hatte keine Ahnung, ob es klappen würde.

 

 

Alle Körper beschmutzt. Vollkommen zerschunden und mit Blut befleckt.

 

 

Aber was hatte ich schon für eine Wahl?

 

 

Zerrissene Kleider und Stofffetzen auf dem Boden.

 

 

Ich hatte keine.

 

 

Ich wollte das nicht sehen.

 

 

Und auch wenn, hätte ich mich immer für die eine entschieden.

 

 

Aber ich konnte meine Augen nicht von dem abwenden, was vor mir geschah.

 

 

Weil ich sie so gern hatte, wie meine eigene Schwester.

 

 

Doch wenn ich weiter stehen blieb, würde ich sterben.

 

 

Trotzdem wusste ich, dass es viel zu viele waren, um alle retten zu können.

 

 

Also rannte ich.

 

 

Aber diese eine Person, würde ich retten wenn ich es konnte.

 

 

So schnell ich konnte.

 

 

Für sie.

 

 

Glitschiger Boden der mich zum Stolpern brachte.

 

 

Vielleicht war diese Aufgabe zu schwer für mich, aber ich musste es versuchen.

 

 

Doch meine Füße beachteten dies kaum.

 

 

Damit ich nicht mit ihr leiden musste.

 

 

Meine Beine wurden immer schneller und schneller.

 

 

Und natürlich, um sie glücklich zu machen.

 

 

Der Wind peitschte durch meine Haare.

 

 

Ein Schlauch, durch den eine eigenartige Brühe lief.

 

 

Der Regen rann mir über die Wangen.

 

 

In die Arme, Beine, Hände, Füße, in den Bauch, Hals, Brust…

 

 

Lief mir in den Mund und ich konnte den mitgenommenen Duft von Blut wahrnehmen.

 

 

Überall hinein, wo ich nur einstechen konnte.

 

 

Ich wollte ans Ende gelangen.

 

 

Der ganze Körper war mit Nadelstichen durchbohrt, aus dessen Löchern winzige Tropfen Blut flossen.

 

 

Nur zu ihr.

 

 

Der Körper zuckte.

 

 

Doch ich kam nicht näher.

 

 

War er jetzt tot? Endgültig?

 

 

Der Weg wurde immer länger und länger.

 

 

Nein, da war etwas!

 

 

Bis ich nach Luft rang.

 

 

Ein unregelmäßiges Poltern.

 

 

Und drohte zu ersticken.

 

 

Ein Herzschlag.

 

 

Doch ich rannte weiter.

 

 

Dann schlugen die Augen auf.

 

 

Bis ich umkippte und mir schwarz vor Augen wurde.

Montag

Mein Dekolleté war schweißnass. Meine Finger taub. Mein Mund trocken.

Die Realität war viel zu stark in meinem Kopf verankert, dass ich selbst im Schlaf nicht davon ablassen konnte.

Ich riss die Decke von meinem Leib. In meinem Zimmer war es viel zu warm und ich bekam ein einengendes Gefühl, sowie die Angst zu ersticken. Also stieg ich aus meinem Bett und trat vor meine Zimmertür – ich wusste nicht mehr wie ich nach dort oben gekommen war. Neben mir lag Heaven, die ruhig und tief atmete.

Da ich mich so klebrig und unwohl in meinem Körper fühlte, schlich ich in das Badezimmer meiner Eltern. In die Badewanne füllte ich heißes Wasser mit viel Badeschaum, bis das Wasser fast den Rand erreichte. Ich legte meine Kleider ab und stieg in die Wanne. Die Wärme tat unglaublich gut und meine Muskeln entspannten sich wieder. Ich tauchte meinen Kopf unter Wasser, um endlich alle Geräusche um mich herum vergessen zu können.

Vielleicht sollte ich einfach hier unten bleiben. Für immer.

Doch plötzlich hörte ich ein Pochen – selbst unter der Wasseroberfläche. Anscheinend war ich nicht bestimmt dazu jetzt meinen Frieden zu finden.

Ich tauchte wieder auf.

„Molly Noel?“, schrie eine sehr bekannte Stimme.

Ich stöhnte und flüsterte: „Was willst du Kellan?“

„Komm raus, ich muss dir was sagen.“

Ich schloss für einen Moment die Augen. „Ich sitze gerade in der Badewanne.“

Er lachte – wieso lachte er? „Okay, aber tauche noch einmal so lange unter, dann komme ich hinein und ziehe dich höchstpersönlich heraus.“

Ich verdrehte die Augen und trat aus der Badewanne, wickelte mir ein Handtuch um den Körper und öffnete die Tür.

„Ich brauch Klamotten“, sagte ich tonlos.

Er streckte mir einen Arm entgegen, in dessen Händen er mehrere Kleidungsstücke hielt. „Schon geschehen.“

Ich sah ihn kurz an, sagte aber nichts. Dafür war ich viel zu schwach. Dann verschwand ich wieder im Badezimmer, zog mich an und föhnte mir die Haare – ich sah kein einziges Mal in den Spiegel. Schließlich ging ich wieder zu der Tür hinüber.

„Also, komm jetzt mit!“, meinte er und zog mich am Ärmel mit, als ich gerade so den Kopf aus der Tür streckte.

„Was soll das?“, fragte ich genervt. „Wo ist Heaven?“

Kellan sagte: „Adam ist bereits mit ihr auf dem Weg in die Katakomben.“

Ich fluchte vor mich hin, als er mich dazu verdonnerte meine Schuhe anzuziehen. Ich stand auf und schlüpfte in meine Jacke, die Kellan mir hinhielt. „Wenn ihr versuchen werdet mich aufzuheitern, könnt ihr das vergessen.“ Ich machte eine Pause, während wir zur Tür hinausgingen.

Keine Antwort.

 „Du hast die Schlacht für uns entschieden… Danke.“ Er öffnete die Beifahrertür und drückte mich hinunter, als ob er wusste, dass ich nicht freiwillig in den schwarzen Jeep, der aussah wie neu, steigen wollte.

Als er auch saß, sagte ich: „Das habe ich aber nicht mit Absicht gemacht. Es… es ist einfach so passiert.“

Kellan schüttelte den Kopf während er losfuhr. „Nein, nichts passiert einfach so. Im Übrigen musst du mir noch erzählen, wie du das gemacht hast.“

„Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine Lust, irgendetwas zu sagen.“

Er nickte. „Ja, das habe ich auch schon gemerkt. Aber lass den Kopf nicht hängen.“

Ich lehnte den Kopf gegen die kalte Scheibe und versuchte ihn so gut es ging zu ignorieren, um die Tränen zurückzuhalten.

 

Wir waren schneller an den Katakomben, als ich gedacht hätte. Vielleicht lag dies daran, da ich im Auto für ein paar Minuten eingenickt war.

„Na komm, beeil dich doch ein bisschen!“, drängte mich Kellan und zerrte mich aus dem Jeep.

„Ist ja gut!“, schrie ich ihn an. Wie konnte er es wagen, mir mit einer solch guten Laune zu kommen, obwohl er ganz genau wusste wie mies es mir ging.
Wir fuhren langsam den Aufzug hinunter, sprangen die Wendeltreppe hinunter und Kellan stieß schwungvoll die Tür auf.

Dahinter kam uns Thierry entgegen. Sonst war die Trainingshalle vollkommen leer, was auch kein Wunder war, da die Hälfte des Clans ausgelöscht worden war.

„Na endlich!“, rief er strahlend und zerrte nun ebenfalls an meinem Arm.

Kellan sagte: „Das war nicht meine Schuld. Sie hat sich extrem viel Zeit gelassen!“

„Solange du ihr nichts erzählt hast“, meinte er und zwinkerte mir zu.

Kellan grinste. „Natürlich nicht.“

Thierry packte mich am Arm und rannte los, gefolgt von Kellan.

Als wir stehen blieben, wusste ich sofort wo wir waren. Wir standen vor Thierrys Labor und Chemieraum.

„Was sollen wir hier?“, fragte ich genervt und traurig, als ich über die Verletzten nachdachte, die wohl alle hier gelegen haben mussten.

Thierry verdrehte den Kopf und öffnete grinsend die Tür, schubste mich hinein und machte wieder zu.

Fast wäre ich auf den Boden gefallen, hätte ich mich nicht rechtzeitig stoppen können. Ich packte den Türgriff und rüttelte daran. Die Tür war verschlossen.

„Was soll der Mist?“, schrie ich und schlug gegen die abgeriegelte Tür.

Plötzlich hörte ich das Geräusch von Bettwäsche. Und dann eine Stimme.

„Molly?“

Mein Herz raste, mein Körper erstarrte und meine Augen wurden groß vor Schreck, als ich die Stimme erkannte. Ich hätte sie unter hunderten erkannt – ach was, unter Milliarden!

Ganz langsam um nicht die Fassung zu verlieren, drehte ich mich um.

Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als ich die blasse Person in einem der Krankenbetten sah.

Dort lag Jerry Lee.

Lebendig. Ohne jegliche Spur von Kratzern und Verletzungen.

„Guck nicht so“, meinte er und grinste schief.

Ich brachte keinen Ton heraus.

Er grinste immer noch und klopfte dann auf die Matratze neben seinem Körper. „Ich hab von deiner Heldentat gehört.“

Die Tränen schossen mir in die Augen. Ich wollte mich bewegen, aber ich konnte nicht.

„Jetzt komm endlich zu mir“, forderte er mich schmunzelnd auf.

Ich tat ein Bein vor das andere während ich mich erinnerte, bloß nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Er streckte mir seine Hand hin. Ich zögerte keine Sekunde und ergriff sie. Jerry zog mich neben ihn auf das Bett. Seine Hand war warm, weich und rein. Er war wirklich da. Er saß wirklich neben mir im Bett, hielt meine Hand und sah mich bewundernswert an.

Ohne darüber nachzudenken, zog ich die Decke zur Seite und schob sein T-Shirt hoch. Sein Bauch war völlig unversehrt. Ich starrte fassungslos auf ihn herab.

Jerry lachte laut.

„Was…?“, brachte ich zitternd hervor.

Er kicherte immer noch. „Hat dir keiner etwas erzählt?“

Ich schüttelte den Kopf. „Was erzählt?“

Jerry grinste und meinte: „Dass Thierry sein Projekt beendet hat.“

„Menschen vor dem Tod retten!“, rief ich aus.

„Ja“, sagte er lächelnd.

„Er hat dich gerettet?“

Wieder lachte er, nickte aber freudig. „Und nicht nur mich. Sie haben den gesamten Wotsford-Clan zusammengesucht und alle Personen hierher gebracht. Ja selbst die, des Swan-Clans.“

Ich starrte ihn an.

„Sie haben uns erzählt, dass sie überhaupt nicht wollten, was sie taten. Sie wurden eben an Desiree gebunden. Sie sitzen gerade alle zusammen in der Küche und essen. Sie haben schon seit Tagen keine Nahrung zu sich genommen, weil Desiree sich nicht um sie gekümmert hatte.“

Ich guckte auf die Bettdecke. „So wie du dich an Bethany?“

„Nein, nicht ganz. Du hast sicher gemerkt, dass Desiree nicht gestorben ist, als ein Gebundener von ihr starb. Anders als bei mir und Bethany. Nur die Personen waren an Desiree gebunden, sie aber nicht an sie. Es ging also nur von einer Richtung aus. Bei Bethany und mir ging es von beiden Seiten aus.“

Ich schüttelte den Kopf und meine Finger fingen an zu zittern. „Okay! Kannst du… kannst du aufhören ihren Namen zu sagen?“

„Du hast ja keine Ahnung, wie gerne ich das machen würde.“

Ich sah ihn fragend an.

„Weißt du“, begann er, „immer wenn sie in meiner Nähe war, fühlte ich mich eingeschlossen und belogen. Ich fühlte mich wie eine Marionette, deren Fäden von ihrer Hand gesteuert wurden. Doch immer wenn sie weiter weg war, konnte ich etwas klarer denken. Das Schlimme ist jedoch, dass sie selbst nichts dafür konnte. Und als ich mit dir im Auto saß… ich hätte mich am liebsten an dir festgekettet, damit ich nie mehr von dir loskäme.“

Ich grinste. „Und du hast keine Ahnung, wie sehr du mich verletzt hast. Immer und immer wieder.“

Er senkte den Kopf. „Das tut mir leid. Es tut mir unendlich leid!“

„Ich hab dir längst verziehen. Aber weißt du, für das Festketten ist doch jetzt auch noch Zeit, findest du nicht?“ Er blickte aus einem dichten Wimpernkranz zu mir hinüber. Ich schenkte ihm mein bezauberndstes Lächeln, das ich je einer Person zugeworfen hatte.

Jerry rückte näher an mich heran und mein Herz begann zu poltern.

Er lächelte. „Ich kann dein Herz schlagen hören“, flüsterte er mir zu. Er legte seine Hand über meine Brust und die andere an meine Wange.

Ich rückte näher an ihn heran und saugte seinen Duft ein.

„Soll ich dir sagen, was mir nicht aus dem Kopf ging, während ich auf sie gefestigt war?“

„Hm?“

„Herz, mein Herz, was soll das geben?

Was bedränget dich so sehr?

Welch ein fremdes, neues Leben!

Ich erkenne dich nicht mehr.

Weg ist alles, was du liebtest,

Weg, warum du dich betrübtest,

Weg dein Fleiß und deine Ruh –

Ach, wie kamst du nur dazu!

Fesselt dich die Jugendblüte,

Diese liebliche Gestalt

Dieser Blick voll Treu und Güte

Mit unendlicher Gewalt?

Will ich rasch mich ihr entziehen,

Mich ermannen, ihr entfliehen,

führet mich im Augenblick,

Ach, mein Weg zu ihr zurück.

Und an diesem Zauberfädchen,

Das sich nicht zerreißen lässt,

Hält das liebe lose Mädchen

Mich so wider Willen fest;

Muss in ihrem Zauberkreise

Leben nun auf ihre Weise.

Die Veränderung, ach wie groß!

Liebe! Liebe! Lass mich los!“

Und dann beugte er sich endlich zu mir hinunter und legte seine weichen Lippen auf meine.

Zukunft

Ein kleines Mädchen rannte mit nackten Füßen über eine blumenbesäte Wiese. Ihre langen, dunkelblonden Haare wehten hinter ihr her. Der Saum, ihres puderrosa Tüllkleids mit schwarzen Schmetterlingen als Applikationen, schwebte um ihre Beine wie schwerelose Federn. Während sie immer wieder Kreise drehte und sang: „Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt, dass Marmelade Obst enthält, Obst enthält. Drum essen wir auf jeder Reise, jeder Reise, jeder Reise Marmelade eimerweise, eimerweise. Marmelade, Marmelade, Marmelade. Die essen wir alle so gern.“

Die Wiese stand vor einem großen Haus, das mit weißem Holz verkleidet war, viele Fenster mit Vorhängen und zwei Doppeltüren hatte; die eine führte auf die Veranda vor dem Haus und zur Straße, die andere auf die Veranda hinter dem Haus und in den großen Garten zur Wiese. Das Haus befand sich in der Vorstadt, an einer langen Straße mit Gehweg und vielen anderen großen Villen, die alle verkauft waren. Die ebene Straße war hufeisenförmig und in der Mitte der beiden Spuren sprießten farbenfrohe Blumen und Sträucher in allen erdenklichen Farben, durchzogen von zwei gepflasterten Wegen, die das Überqueren dieses Beetes ermöglichte. Die Wohngegend war ganz neu und schon verkauft, bevor sie überhaupt fertig gebaut war.

Es waren inzwischen zwölf Jahre vergangen.

In diesen Jahren wurden die Katakomben neu renoviert. Die Böden wurden mit Holz oder Fließen überzogen, die Wände verputzt, tapeziert und in freundlichen Farben gestrichen. In der Trainingshalle wurden endlich richtige Wände gezogen und die Umkleiden wurden verbessert. In Thierrys Labor herrschte endlich Ordnung und die Bücherregale im Besprechungszimmer füllten sich mit weiteren Wälzern, in denen nur Benjamin schmökerte. Einige hatten den Wotsford-Clan verlassen, nachdem sie ihre Partner fürs Leben gefunden hatten. Andere blieben.

Ich erfuhr, dass Benjamins Nachkommen niemals durch die Frau geboren wurden, auf die er sich gefestigt hatte. Denn diese fand er erst im Alter von 75. Sie hieß Mathilda. Die beiden verbrachten jede Minute ihres kostbaren Lebens zusammen. Sie unternahmen Ausflüge, reisten an die abgelegensten Orte dieser Welt, machten Wellnesswochenenden und heirateten, da sie sich trotz ihres hohen Alters noch aneinander binden wollten. Vier Jahre darauf starb Mathilda. Benjamin, der sehr alt und schwach wurde, gab den Clan an David Wotsford weiter, um ihm zu zeigen, wie viel er ihm bedeutete und wie sehr er ihm vertraute. Wenige Tage später starb Benjamin Wotsford, der Gründer des Wotsford-Clans.

Außerdem wurden diese Straße und die Wohngegend gebaut. Wir hatten sie zufällig entdeck und die Baupläne genauer betrachten können. Es dauerte nicht lange bis wir uns einig waren, die sieben Häuser um die Kurve der gebogenen Straße zu kaufen. Insgeheim nannten Heaven und ich die Straße „Superhelden-Straße“. Heaven und ich nahmen zwei Häuser die direkt nebeneinander lagen und zogen dort mit unseren Ehemännern, Jerry und Adam, ein. Neben Heaven wohnten Ava und Finn, ein Haus weiter Calvin und Josephine. Auch Kellan, Thierry und Zoey kauften sich jeweils eines der Häuser. Und auch sie wohnten nicht alleine.

Thierry lernte Florence in einem Café kennen und sie verliebten sich unsterblich ineinander. Lange Zeit traute sich keiner der beiden den anderen anzusprechen, bis Thierry es nicht mehr ausgehalten hatte. Seit dem waren die beiden unzertrennlich.

Da Kellan und Calvin ein Autohaus führten und nebenbei in einer Werkstatt alte Fahrzeuge reparierten, lernte Kellan dort Aphrodite kennen, die eine Harley-Davidson wieder verbessern wollte. Zusammen machten die beiden eine Motorradtour.

Zoey reiste ein halbes Jahr durch Kanada und lernte dort Raphael kennen, der zu dieser Zeit Architektur studierte. Mittlerweile war er ein angesehener Architekt, der viele Hochhäuser und Büros baute.

Aphrodite, Kellans Frau, war eine exzellente Schneiderin und zusammen mit Josephine und Florence, eröffnete sie ein Modeateleir. Josephine arbeitete nebenbei an einer Fashionkolumne, die ein Mal in der Woche in einer Zeitschrift erschien.

Ava und Finn eröffneten eine Patisserie, nachdem sie ihren Schulabschluss nachgeholt hatten und es ihnen gesundheitlich wieder besser ging. Ava gab jeden Dienstagabend und Donnerstagabend Yogakurse, die immer ausgebucht waren. Finn leitete eine Selbsthilfegruppe für Jugendliche, die Familienmitglieder verloren hatten und half ihnen dabei, ihren Schmerz zu ertragen und zu verarbeiten.

Jerry Lee, Adam und Thierry gründeten ein Büro für Privatdetektive, in dem Adam als Hacker arbeitete und Jerry Lee und Thierry von Bürgern als Detektive angeheuert wurden oder den Polizisten bei Kriminalfällen Ratschläge gaben.

„Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt, dass Würstchen gutes Fleisch enthält, Fleisch enthält. Drum essen wir auf jeder Reise, jeder Reise, jeder Reise heiße Würstchen meterweise, meterweise. Heiße Würstchen, heiße Würstchen, heiße Würstchen. Die essen wir alle so gern!“

Das 4-jährige Mädchen, das sich im Kreis drehte und dazu sang, war Heaven wie aus dem Gesicht geschnitten. Joline Barrymoore hatte dunkelblonde Haare und die gleichen grünen Augen, wie ihre Mum.

Ihr Gesang wurde plötzlich von der 5-jährigen Luna Wotsford unterstützt, die die gleichen braunen Locken, wie ihre Mum und die gleichen Augen hatte, wie ihr Dad. Braun, ein bisschen Grün, ein bisschen Blau und der dunkle Ring um die Iris, der nach innen zu verlaufen schien. Genau wie die Augen von Thierry. Luna trug eine hellblaue Latzhose mit kurzen Hosenbeinen, darunter ein weißes T-Shirt und war ebenfalls barfüßig.

„Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt, dass Coco Cola Gold enthält, Gold enthält. Drum schlürfen wir auf jeder Reise, jeder Reise, jeder Reise Coca Cola fässerweise, fässerweise. Coca Cola, Coca Cola, Coca Cola, die schlürfen wir alle so gern!“

Die beiden Mädchen nahmen sich an den Händen und drehten sich wild im Kreis. Luna und Joline sahen auf, als sie vom Haus nebenan Stimmen hörten.

Da die Gärten der Häuser nicht voneinander getrennt waren, verliefen diese ineinander und so konnte man von einer Veranda zur nächsten gehen.

Vom Nachbarshaus, das neben dem Haus von Jerry und mir lag, lief grinsend ein 7-Jähriger, Tim Morgen, dessen Gesicht, dessen zerlöcherte, himmelblaue Jeansshort und dessen altes, weißes T-Shirt aus Baumwolle, auf dem eine blaue Rakete zu sehen war, voller Ölflecken waren. Unter seinen zerzausten Haaren glitzerten braune Augen, die beiden Mädchen fröhlich, an.

Hinter ihm liefen Calvin und Kellen, die genauso dreckig waren. Sie kamen gerade aus der Werkstatt und hatten noch keine Zeit gehabt, sich zu säubern.

Vor der Veranda qualmte ein großer Grill, auf dem von Jerry Lee und Adam Würstchen und Steaks gewendet wurden.

„Hey! Da kommt ihr ja endlich!“, rief Adam den beiden zu und klatschte mit Tim ein, der nun gespannt auf die heißen Kohlen starrte.

Heaven, Aphrodite, Josephine und ich saßen schon am gedeckten Tisch und brachen unser Gespräch ab, als wir die Männer plaudern hörten.

Kellan schnaubte geschauspielert. „In der Zeit, in der ihr hier nur an Essen denkt, waren wir fleißig und haben gearbeitet!“

Während Aphrodite aufstand, klatschte nun auch Jerry Lee mit Tim ein. „Na Kumpel, alles klar?“

Der 7-Jährige grinste und nickte. „Ja.“

Adam lachte laut. „So wie ihr ausseht, ist euch euer erster Schminkversuch missglückt. Wimperntusche und Eyeliner kommen auf die Augen.“

„Seit wann kennst du dich denn so gut mit Schminke aus, Lady?“, fragte Calvin grinsend.

Aphrodite ging die Stufen der Veranda nach unten und sagte: „Wie ich sehe warst du heute wieder fleißig, mein Schatz.“ Sie gab dem Jungen einen Kuss auf die Stirn und ignorierte die Schmutzflecken.

Auch Josephine war aufgestanden, ging die Treppen nach unten auf die Wiese und wurde dort von Calvin in die Arme genommen. Er hob sie hoch und drehte sich im Kreis, genau wie Luna und Joline.

Kellan gab Aphrodite einen Kuss auf den Mund. Diese lachte fröhlich, schnappte schließlich Tims kleine Hand und meinte: „Bevor wir essen, musst du dir aber noch die Hände waschen.“

„Aber Daddy und Calvin auch“, sagte er und zeigte auf die beiden.

Luna und Joline kamen auf Calvin und Josephine zugerannt, die gerade aufgehört hatten sich zu drehen.

Joline fragte hoffnungsvoll: „Wollt ihr mitmachen?“

Luna sang: „Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt, dass Nudelsuppe Kraft enthält, Kraft enthält. Drum schlabbern wir auf jeder Reise, jeder Reise, jeder Reise Nudelsuppe tellerweise, tellerweise. Nudelsuppe, Nudelsuppe, Nudelsuppe. Die schlabbern wir alle so gern!“

Josephine ließ sich von den beiden Mädchen mitziehen, während Calvin, Kellan, Tim und Aphrodite im Haus verschwanden, um sich dort die Hände und das Gesicht zu waschen.

Kurz nachdem die vier in unserem Haus verschwunden waren, kamen Arm in Arm Ava und Finn, sowie Thierry und Florence durch den Garten von Heaven und Adam zu uns gelaufen. Ava und Finn begrüßten Jerry und Adam, die auf Tellern gerade dampfende Fleischberge errichteten, dann kamen die beiden die Veranda nach oben und begrüßten auch uns, bevor sie sich auf zwei Stühle setzten.

„Hi, Daddy! Hi, Mummy!“, rief Luna Thierry und Florence zu und rannte den beiden in die Arme.

Joline rannte auf die Veranda, setzte sich an den Kindertisch und wippte ungeduldig mit den Beinen in der Luft.

Thierry lachte. „Na wo treibst du dich denn schon wieder herum?“

Luna grinste und wurde von Thierry auf seine Schultern gesetzt.

Florence meinte: „Das nächste Mal sagst du vorher Bescheid, wenn du zu Joline gehst.“

Luna war zwar erst fünf Jahre alt, doch trotzdem hielt sie nichts in der Welt auf, ihr Haus zu verlassen, um in der Straße spazieren zu gehen oder sich mit Freunden zu treffen. Schon mit drei Jahren brach sie aus dem Kindergarten aus, weil es ihr dort zu langweilig war, lief den ganzen Weg nach Hause und setzte sich vor den Fernseher.

Jerry Lee und Adam trugen große Teller auf die Veranda, die gefüllt mit Steaks, Würsten und Fleischspießen waren, und stellten sie auf den großen Tisch, an dem vierzehn Personen Platz nehmen konnten und einen kleineren auf den Kindertisch. Joline blickte mit großen Augen auf den Teller und sog den warmen Duft durch die Nase ein. Jerry Lee und Adam setzten sich zu uns an den großen Tisch.

Zusammen mit Josephine im Schlepptau, wurde Luna von Thierry auf den Verandaboden abgestellt und sie setzte sich zu Joline. Luna nahm einen Schluck aus ihrem pinken Becher und gurgelte: „Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt, dass Wasser kleine Blubbs enthält, Blubbs enthält.“

Joline grinste und nahm ebenfalls einen großen Schluck.

Zusammen gurgelten sie: „Drum trinken wir auf jeder Reise, jeder Reise, jeder Reise Blubberwasser literweise, literweise. Blubberwasser, Blubberwasser, Blubberwasser, das trinken wir alle so gern!” Die beiden verschluckten sich, als sie lachen mussten.

Thierry sah uns fröhlich an. „Hey Leute! Wird ja auch mal Zeit, dass wir wieder einen Grillabend machen“, meinte er.

Ich grinste. „Allerdings. Das letzte Mal ist ja schon zwei Tage her“, meinte ich ironisch.

Josephine lachte.

Heaven sagte: „Kommt, setzt euch.“

Tim, der gerade aus dem Haus gerannt kam, fragte neugierig: „Wo ist Simon?“

Aphrodite erschien hinter ihm und setzte sich ebenfalls mit zu uns an den Tisch.

Heaven stand vom Tisch auf und sagte zärtlich: „Hier. Willst du ihn halten?“ In ihren Armen lag, in einem braunen Teddyplüsch-Overall, ein kleines Würmchen. Mit den großen, blauen Augen starrte es seine Mutter an. Simon Barrymoore.

Tim sprang fröhlich in die Luft und rief dabei: „Ja!“

Heaven ging um den großen Tisch herum, zu dem Kindertisch, während Tim sich aufgeregt auf einen der kleinen Stühle setzte. Joline und Luna rückten sofort näher an Tim heran. Vorsichtig legte Heaven ihm Simon in die Arme, der bei Tims Anblick sofort anfing zu grinsen.

„Ich will auch mal!“, forderte Luna und Joline stimmte mit ein.

Heaven grinste. „Joline, du siehst deinen Bruder doch jeden Tag.“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Aber er ist so süß!“

Hinter Calvin und Kellan, die wieder gepflegt aus dem Haus kamen, erschienen Zoey und Raphael, die in ihrer Mitte einen 3-jährigen Jungen hatten. Er hieß Milo Hold, hatte rote Haare und grüne Augen. Die roten Haare hatte er von seiner Mum geerbt, die grünen Augen von seinem Dad. Milo trug eine dunkelblaue Schlupfjeans mit Gummizug, ein weißes T-Shirt, auf dem ein schwarzer Hut mit der Beschriftung „Cool Little DUDE“ abgebildet war. Das war das typische Zoey Outfit, denn sie kaufte Milo oft Oberteile mit Aufschriften wie „Best Kid Ever“ oder „SUPERBOY“.

Als er Tim sah, der gerade Simon an Luna weitergab, grinste er und rannte auf ihn zu. Tim und Milo verstanden sich trotz des großen Altersunterschiedes sehr gut. Und auch Luna und Joline waren beste Freundinnen. Tim half Milo die Verandatreppe hinunter und dann spielten sie Cowboys – keiner von ihnen wollte ein Indianer sein.

Wir begrüßten Zoey und Raphael und die beiden setzten sich zu uns, Kellan und Calvin taten es ihnen gleich.

Als Joline, Luna, Tim und Milo endlich am Kindertisch saßen, sich die Bäuche mit Würstchen und Steaks vollstopfen und wir Erwachsenen uns am großen Tisch versammelt hatten, hoben wir alle unsere Gläser.

„Auf wen stoßen wir an?“, fragte Kellan.

Josephine scherzte: „Na auf mich!“

Wir lachten, verdrehten die Augen und Calvin gab Josephine einen Kuss auf die Wange.

„Auf Jetzt“, sagte ich.

„Und auf das, was noch kommen wird“, fügte Jerry Lee hinzu und lächelte mich an.

Heaven, Adam, Thierry, Kellan, Calvin, Josephine, Ava, Finn, Zoey, Raphael, Florence und Aphrodite hoben ihre Gläser höher und sprachen uns feierlich nach.

Ich lächelte Jerry Lee glücklich an und legte meine Hand sanft auf meinen runden Bauch.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen beim Autor (Pauline H.)!
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

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