Kreuzberg war einmal ein anderer Ort. Da war nichts von dem Lärm und der Buntheit der türkischen Märkte, keine fremden Gerüche oder Sprachen und Klänge drangen an Nasen und Ohren der Bewohner. Das Leben ging still und geordnet seiner Wege. Bürgerlich, geschäftig zwar, aber still. Die Geschichte, die zu erzählen ist, nimmt ihren Ausgang in einem der herrschaftlichen mit Stuck verzierten Häuser am Landwehrkanal. Hohe Linden säumten damals die Uferstraße. Auf dem Kanal schipperten die Ausflugsdampfer, Musik und Gelächter wehte hinauf in die durchsonnten Zimmer einer geräumigen Wohnung im vierten Stock, in der unsere Geschichte beginnt. Es ist die Wohnung der Familie Richter, ein gut situiertes Ehepaar mit zwei Söhnen, Zwillinge, und eine Tochter, Marie. Zum Kanal hin lagen drei vom Licht durchflutet Zimmer, elegant, wenn auch etwas altmodisch eingerichtet. Aber es gab noch andere Räume in dieser großen Wohnung, man konnte sie über einen düsteren Flur erreichen. Das Tageslicht kam so gut wie nie dorthin. Das Zimmer am Ende dieses Flurs, besser die Kammer vor der Küche gehörte Marie, der Hauptperson dieser Geschichte. Es war klein, ein wenig muffig und sehr sparsam eingerichtet: ein Bett, ein Schreibtisch, ein Stuhl. Es war, verglichen mit den sonnigen, hohen Räumen am Kanal, eine andere Welt. Wir lassen unseren Blick ein wenig schweifen, zum Haus nebenan, dort wohnte früher Ingeborg Hahn, ihre beste Freundin, auch sie hatte ihr Zimmer im hinteren Teil der Wohnung, aber es war geräumig und nett eingerichtet. Doch sie war nicht mehr da. Marie und Ingeborg gingen in die neunte Klasse des Luther-Gymnasiums, einer strengen Lehranstalt mit hehren christlichen Zielen. Ingeborg war zwei Jahre zuvor aus Spandau in das Haus am Kanal gezogen, Marie lebte schon lange dort, beide hatten sich eng angefreundet. Ingeborg war groß, still, schüchtern und trug ihr graublondes Haar zu zwei fadenscheinige Zöpfen, Rattenschwänze nannte man so etwas damals. Eine Brille mit rötlichem Horngestell lies ihre hellen Augen unnatürlich groß erscheinen. Eine Eule mit Rattenschwänzen also. Marie war ein wenig kleiner als ihre Freundin, dunkelhaarig, lebhaft, ein wenig zu gut gepolstert, gekleidet wie ein Junge und voller Phantasien. Sie gaben ein seltsames Paar ab. Und eines Tages war Ingeborg fort, verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. An dem Morgen, als sie ihr Kind nicht finden konnte, nicht im Bett, nicht in der Wohnung, eilte ihre Mutter, Frau Hahn, hinüber zu den Richters, Maries Eltern. Bleich und verweint stand sie vor der Haustür. Frau Richter bat sie hinein und gab der zitternden Frau erst einmal einen Kaffee. Dann lies sie sich berichten. Frau Hahn erzählte ihr stockend, sie habe ihre Tochter noch am Abend zuvor zu Bett gehen gesehen und nun war das Zimmer leer. Alles lag an seinem Platz, das Bett war benutzt, nur das Nachthemd fehlte, die Hausschuhe, ein Morgenrock. Die Polizei kam schnell und man suchte nach Spuren. Nichts war zu finden, kein Fingerabdruck, keine fremden Kleinigkeiten, die sonst der Polizei einen Hinweis zu geben pflegten, was geschehen sein könnte. Man suchte die ganze Umgebung ab, vermutete, sie sei weggelaufen, vermutete, sie sei das Opfer eines Verbrechens geworden, verdächtigte die Eltern, deren Freunde und ihre Freunde und Schulkameraden. Man schlich durch das Haus, stocherte im Kanal, Hunde wurden eingesetzt, blasse, schlecht gekleidete Kommissare kamen und gingen, aber keiner fand auch nur den kleinsten Hinweis auf das, was geschehen war, geschehen sein könnte. Und Marie schwieg. Marie schwieg, weil sie wusste, dass alles ihre Schuld war, ganz allein ihre Schuld. Und sie war zu feige, einzugestehen, was geschah, in jener Nacht als Ingeborg verschwand. Zurück zu dem Punkt, an dem alles anfing. Marie war sechs Jahre alt, als ihre Eltern in das Haus am Kanal zogen, Maries Vater hatte es gekauft samt der Hinterhöfe. Die Richters, das waren zwei Brüder, eine Haushaltshilfe und Marie. Die Brüder, acht Jahre älter als Marie, waren Zwillinge. Sie lernten unentwegt und hatten wenig Zeit für die kleine Schwester. Diese beiden lebten ihr ganz und gar eigenes Leben, in das niemand hineinpasste, sie waren eineiig, blass und rotblond und immer hinter irgendwelchen Büchern versteckt. Marie bekam ihr Zimmer, ganz hinten an diesem langen dunklen Gang, es war klein und verwinkelt und das Fenster, das auf den ersten Hinterhof hinausging, war für eine lange Zeit zu hoch für das kleine Mädchen, um hinaus schauen zu können. Günther und Peter, die Zwillinge, bezogen das Zimmer neben ihr, es war viel größer, aber sie waren ja die Söhne und dazu noch zu zweit. Neben dem Zimmer der Zwillinge befand sich das Elternschlaf¬zimmer, dann das Elternankleide¬zimmer und der Arbeitsraum der Mutter. Neben dem Zimmer von Marie war die Küche und die winzige Kammer für das Hausmädchen. Der vierte Stock, wie gesagt, über der Wohnung gab es nur noch den Dachboden. Man musste nur die Treppe hinauf gehen, dann stand man vor zwei Türen. Die eine, kleine hölzerne, führte in die Waschküche, in der eine „moderne“ Wasch¬maschine neben dem alten Zuber stand, Herr Richter hatte sie als Einstand spendiert. Und die andere, die hohe eiserne Brandtür führte auf den Boden. Das Hausmädchen, sie hieß Hanna, verwahrte den Schlüssel. Er war groß und schwer, ganz schnörkellos, kalt. Marie hatte Angst vor ihm und vor der Tür, zu der er passte. Der Dachboden war verbunden mit den anderen Dachböden beider Nachbarhäuser und ihrer Hinterhöfe, ein Labyrinth von Dachböden öffnete sich hinter dieser schweren Eisentür. Jeden Mittag bereitete Hanna für Herrn und Frau Richter das Essen und brachte es in einem großen Korb hinüber zu ihrem Büro, das im Hauptflügel des ersten Hinterhofs lag. Um nicht über den Hof gehen zu müssen, nahm sie den Weg über den Boden. Marie durfte sie begleiten, wenn sie rechtzeitig aus der Schule heimgekommen war und sie tat es mit einer Mischung aus Angst und Neugier, aber die Angst überwog. Auf dem Boden hing die Wäsche der anderen Mieter, man konnte nicht sehen, ob sich vielleicht jemand dahinter versteckte, die Wäsche wehte im seichten Wind der undichten Ziegel und Fenster. Es gab zudem viele Türen dort oben: kleine Verschläge in Nischen, in denen die Mieter ihre Habseeligkeiten aufbewahrten, Mansarden, die vermietet waren an Leute, die niemand kannte. Niemand wohnte in den Mansarden, die Mieter stellte Gerümpel darin ab oder kamen, um ungestört zu schreiben, zu malen oder einfach zu denken. Manche der Türen waren verschlossen andere nur angelehnt, so dass man hineinspähen konnte. Es hieß, dass sich hin- und wieder die Obdachlosen in die Mansarden verkrochen, aber das war nur ein Märchen, wie sollten sie heraufkommen ohne einen Schlüssel. Aber das Gerücht hielt sich hartnäckig unter den Mietern. Dann war dort oben noch eine weitere Eisentür in der Brandmauer, die hinüber zum anderen Haus führte, zum Haus, in dem in ferner Zukunft Ingeborg wohnen sollte. Marie lief dicht an das Mädchen gedrängt durch diese unheimlichen Räume, vorbei an einer Unmenge von Balken, die sich scheinbar ohne System aneinander¬reihten. Einige Balken waren nach dem Krieg hinzugekommen, um die Konstruktion zu stützen, denn die Dächer waren allesamt durch die Bomben abgedeckt und durch Brände zerstört worden. Ein Sammelsurium von Türen, Verschlägen, finstereren Winkeln und Balken also, durch das Marie und Hanna sich einen Weg bahnen mussten. Dicht an Hanna gedrängt lief sie, immer einen Zipfel des Kittels in der Hand, und panisch in der Angst, das Hausmädchen zu verlieren. Diese Angst kam nicht von ungefähr. Hanna hatte mir eines nachmittags am Küchentisch erzählt, dass die Leute im Haus dort oben vor Jahren einen Toten gefunden hatten, der Mann hatte sich erhängt an einem der Balken. Keiner kannte ihn, es war ein paar Jahre nach dem Krieg gewesen und da war alles möglich, die Menschen waren verzweifelt und vielen taten so etwas, auf fremde Böden gehen und sich erhängen. Sie erzählte mir, dass er damals nur gefunden wurde, weil ein Fenster dort oben offen stand und der Leichnam und das Seilende, an dem er hing, durch den Wind hin- und hergeschaukelt wurden, so dass das dicke Seil schwer am Boden schleifte. Das hatten die damaligen Besitzer unserer Wohnung gehört und waren hinaufgestiegen. Sie fanden den Mann, ganz blau war sein Gesicht und die Hände, sein Mund und seine Zunge waren wie von Blei verfärbt, das ist so eine grauschwarze Farbe, die nicht abgeht. Warum das so war, das konnte man sich nicht erklären. Diese Geschichte erzählte Hanna mir, als ich so ungefähr neun Jahre alt war und von diesem Tag an verfolgte mich das Bild des schaukelnden blauschwarz verfärbten Leichnams, und das allerschlimmste: ich hörte von da ab das Schleifen des Seils. Ich hörte es ganz genau, über meinem Zimmer war es. Es gab nur einen einfachen Holzboden, der mich von dort oben trennte und ich konnte jedes Geräusch hören. Ja ich hörte es und ich hörte noch mehr: Schritte, Flüstern, Husten, das Knarren der Türen. Es ging nicht jede Nacht so, aber oft, sehr oft raubte mir das den Schlaf. Meine Brüder, die ich immer wieder fragte, ob sie es auch hörten, lachten mich aus. Es sei nur Einbildung, da gäbe es gar nichts. Meine Mutter, eine große, strenge schwarzhaarige Frau von damals Mitte vierzig, die mit meinem Vater zusammen eine Fabrik für Trikotagen leitete, hatte kaum Zeit, sich um mich zu kümmern und ich hatte viel zu viel Respekt vor ihr, um sie mit meinen Sorgen zu belästigen. So blieb mir nur Hanna. Ihr kleines Kämmerchen ging von der Küche ab und ich schlich mich nachts zu ihr, und kroch in ihr Bett, um endlich einschlafen zu können. Und seltsam, bei ihr war alles ruhig. Sicher, der erste Eindruck den man nun erhalten muss, ist der, dass meine Brüder recht hatten und ich mir das alles eingebildet habe, unter dem Einfluss dieser widerlichen Schauergeschichte. Aber das ist nur der erste Eindruck. Dann zog Ingeborg Hahn in das Nachbarhaus. Da war ich zwölf Jahre alt. Ich entdeckte sie am Tag ihres Einzugs mit einem Buch in der Hand auf einer der Bänke am Kanal, direkt vor unserem Haus. Auf diesen Bänken saßen die Leute und schauten auf das Wasser und die Schiffe, fütterten die Tauben, die dort in Massen auftraten oder schwatzten mit den Nachbarn. Ich beobachtete Ingeborg eine Weile und als ich mich von ihrer vollkommenen Harmlosigkeit überzeugt hatte, setzte ich mich zu ihr. Es war der Tag bevor sie in unsere Klasse kommen sollte. Wir unterhielten uns über dies und das, wie es Mädchen tun, die gerade zwölf Jahre alt geworden waren, wir fanden uns annehmbar. Und als sie am kommenden Tag vor unserer Klasse stand, war ich die einzige, die sie kannte, sie durfte neben mir sitzen und ich beschloss sie zu mögen. Von da ab gingen wir gemeinsam zur Schule, teilten unsere Freizeit, und machten überhaupt alles zusammen, was man nur zusammen machen kann. Ihre Familie hatte die Wohnung im dritten Stock des Nebenhauses gemietet. Sie war auch groß aber nicht so groß wie unsere. Die Hahns waren auch nur zu dritt. Ingeborgs Vater war Rechtsanwalt, aber ein eher glückloser. Mein Vater, der bald über ihn einiges erfuhr, berichtete allerlei von seinen verpatzten Fälle und machte sich lustig über ihn. Die Mutter war ein Ebenbild der Tochter, nur ohne Zöpfe, aber mit einer missratenen Dauerwelle, die gerade in Mode war. Es war angenehm bei ihnen, nicht so streng wie bei uns und ich besuchte sie gerne, vor allem weil ich schnell hin- und herschlüpfen konnte, von Wohnung zu Wohnung und nicht um Erlaubnis bitten musste. Hin und wieder kam Ingeborg auch zu mir, wenn meine Eltern nicht zuhaus waren. Kamen sie heim, musste Ingeborg gehen. Es war ganz undenkbar, dass sie zum Essen bleiben durfte. Überhaupt das Essen. Um punkt sechs Uhr wurde es „eingenommen“, so hieß das bei uns. Hanna läutete eine Glocke und dann marschierten wir Kinder mit gewaschenen Händen und gekämmten Haaren ins Esszimmer. Vater, rotblond wie seine Söhne, sprach ein Gebet, es wurde gespeist in gerader Haltung, mit den Händen auf dem Tisch, sprechen durfte man nicht. Hielten wir Gabel oder Messer falsch, klopfte der Vater mit dem Zeigefingerknöchel auf den Tisch. Das war das einige Geräusch, das er machte. Dann wieder ein Gebet und wir durften gehen. Die Eltern wollten danach allein sein, um noch dies oder das zu besprechen und sich auszuruhen. Manchmal nahmen sie sich nach dem Essen etwas Zeit für uns und fragten nach den Schulerfolgen. Aber da gab es nicht viel zu berichten, wir waren alle gute Schüler und nichts anderes erwarteten sie von uns. Die guten Noten wollte man gar nicht zur Kenntnis nehmen, über schlechte Noten regten sich beide maßlos auf. Sie waren sich überhaupt immer einig. Das war unser ganzes Familienleben. Mutter setzte sich nach dem Essen ins Wohnzimmer und hörte Radio, die Fernseher waren damals noch nicht allzu verbreitet. Vater arbeitete in seinem schönen hellen Arbeitszimmer, wir Kinder mussten in unsere dunklen Gruften zurück. Gemeinsames, wie bei so vielen anderen meiner Klassenkameraden, gab es bei uns nicht. Wir lebten, wenn schon, mit Hanna, die uns mittags am Küchentisch versorgte, die uns nach unseren Hausaufgaben fragte, mit mir spielte oder mit Ingeborg und mir einfach schwatzte. Es war eine riesige Wohnung, aber mein Leben war auf die Küche und mein kleines Zimmer beschränkt. Selbst an den Wochenende war es nicht anders. Die Eltern fuhren zu Geschäftsfreunden oder luden solche ein. Es kamen Männer in dunklen Anzügen und Frauen in strengen Kostümen. Sie saßen in unserem Wohnzimmer mit den Nierentischchen und nippten an dünnwandigen Gläsern, knabberten am Gebäck und gingen irgendwann wieder. Keine Musik, kein Gelächter. Wir wurden niemandem vorgestellt, hatten still in unseren Zimmern zu bleiben und unsere einzige Aufgabe bestand darin, nicht zu stören, nicht aufzufallen. Selbst in den Sommerferien, wenn alle Familien zusammen verreisten oder Ausflüge machten, wurden wir abgeschoben, zu einer Tante, der Schwester meiner Mutter. Bis heute frage ich mich, warum meine Eltern überhaupt Kinder gewollt haben. Nun, meine Brüder haben die Fabrik übernommen, aber mich, mich hätte es doch gar nicht geben brauchen. Zwei Ich stützte mich also in ein Leben mit Ingeborg. Wir gingen zusammen nach Haus, aßen noch jeder für sich, aber dann gehörte der Tag uns. Bis sechs Uhr konnten wir zusammen sein, Hausaufgaben machen, lachen, reden und weil wir beide quasi oben wohnten, ging Hanna mit mir jeden Tag über den Boden und öffnete die Brandtür zum Dach und die Brandtür zum Nachbarhaus, damit wir nicht über die Straße laufen mussten. Ingeborg hatte auch einen Schlüssel zu ihrer Bodentür und so trafen wir uns meist auf halber Strecke. Noch immer hatte ich schreckliche Angst vor dem Boden, noch immer hörte ich Geräusche von oben, aber ich wollte keine Memme sein, denn Ingeborg, die ja auch nicht gerade eine wilde Natur war, hatte keine Angst, allein dort oben herumzulaufen. Als ich vierzehn wurde erbat ich von Hanna hin- und wieder den Schlüssel und wagte mich todesmutig hinauf, um Ingeborg dort oben zu treffen, doch ich musste ihr den Schlüssel immer gleich wiederbringen, denn Hanna brauchte ihn für ihre täglichen Wege in das elterliche Büro. So lief ich wieder hinunter, brachte den Schlüssel zurück und wir ließen alle Türen offen, wir erhofften dort oben ungeheure Entdeckungen. Es war ja in all den Jahren nichts beunruhigendes geschehen und so machten wir Mädchen uns daran, die Ecken und Winkel dort oben genauer zu untersuchen. Wir streiften durch das ganze Labyrinth, öffneten Türen und lugten durch die Verschläge. So verlor der Dachboden mit der Zeit seine gespenstische Aura. Alle, denen wir dort begegneten, kannten wir, es waren die Nachbarn und ein alter Herr, der eine der Mansarden gemietet hatte, in der er oft zum Arbeiten saß. Er war ein Schriftsteller oder ein Professor, so genau wussten wir es nicht. Der alte Herr war immer sehr höflich und zog vor uns den Hut. Doch ganz unvermittelt war er nicht mehr zu sehen und wir vermuteten, er sei gestorben. Einige Tage nachdem wir begannen ihn zu vermissen, kam Hanna sehr aufgeregt vom Einkauf zurück, sie hatte diese entsetzliche Zeitung mitgebracht, die alle in Berlin lasen. Dort fand sich ein Bild unseres netten alten Herrn mit der Unterschrift: Wissenschaftler mit Blei vergiftet. Hanna erinnerte sich sofort an die Geschichte mit dem Gehenkten. „Weist Du nicht, was ich Dir erzählt habe, damals?“ fragte sie mich aufgeregt. „Der Mann war ganz mit Blei verfärbt. Das kann doch kein Zufall sein. Und weißt du, was ich vergessen hatte zu erwähnen, der Mann hatte ganz merkwürdige Kleider an, die keiner von den Nachbarn einordnen konnte.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. “Wenn das mal alles ein Zufall ist.“ Ich will es verraten: das war kein Zufall. Nachdem ich diese Nachricht gehört hatte, lief ich sofort zu Ingeborg, um ihre die Geschichte haarklein zu berichten. Wir beide beschlossen, die Mansarde zu untersuchen, vielleicht würden wir etwas entdecken, bevor die Polizei sie fand. Es war die Zeit, in der Kriminalromane für Kinder sehr beliebt waren, fünf, sechs Freunde lösten zusammen knifflige Fälle und wir waren von diesen Geschichten wie von einem Virus infiziert. Ingeborgs Vater hatte einen Satz mit Dietrichen zu Haus, irgendwie war er daran gekommen, ein Rechtsanwalt hat eben seine Beziehungen, und Ingeborg wusste, wo er sich versteckt hielt. Wir hatten ja nur den Nachmittag, um unseren Eltern zu entgehen, und der war eigentlich zu gefährlich für eine solche Unternehmung, es konnte jemand kommen, die Wäsche aufhängen oder Hanna ging hinüber zu den Eltern, unberechenbar war so ein Nachmittag. Wir beschlossen erst einmal bei Poppels ein Eis zu essen, denn es war Sommer und reichlich heiß, die Zeit kurz vor den Ferien. Also schlenderten wir hinüber zur Lausitzer Straße und bestellten uns Frau Poppels sahniges Schokoladeneis in der Muschelwaffel. Frau Poppel kannte mich gut, denn sie war mit meinen Großeltern befreundet, die sie immer grüßen lies. Die waren nach dem Mauerbau in Richtung Bayern entflohen, hatten sich nun ein Haus gekauft und ich sollte in diesem Jahr das erste Mal dort Ferien machen. Meine Brüder, das sollte ich noch anmerken, waren längst fort aus Berlin, sie studierten in Hamburg, Betriebswirtschaftslehre, dort konnten sie bei Tante Hedwig wohnen, der Schwester meiner Mutter, die wir sonst in den Ferien immer besucht hatten. Das waren schöne Ferien, die Tante machte mit uns Radtouren und wir gingen ins Schwimmbad. Aber ich freute mich nun auch sehr auf die Großeltern, die ich lange nicht mehr gesehen hatte. Auch Ingeborgs Familie wollte fort, sie hatten sich im Jahr zuvor einen Volkswagen gekauft und hatten beschlossen, bis nach Österreich zu fahren. Wir hatten also nicht viel Zeit, unseren Plan umzusetzen, sollte es noch vor den Ferien geschehen und es sollte doch noch vor den Ferien geschehen. Wir beschlossen, erst einmal festzustellen, ob man mit einem Dietrich die Brandtür aufschließen konnte, die die beiden Dachböden der Häuser trennte, dann mussten wir uns an die Mansardentür machen. Ich konnte mir keinen Weg vorstellen, wie ich für längere Zeit an den Bodenschlüssel gelangen konnte, aber für Ingeborg war es leicht, er wurde fast nie gebraucht. Ich musste also bei Ingeborg übernachten. Dazu musste ich erst einmal die Erlaubnis erhalten. So wenig, wie meine Eltern sich um mich kümmerten, so unerbittlich pochten sie darauf, dass ich das Haus möglichst wenig verließ. Das war für ein vierzehnjähriges Mädchen, die nur ein winziges dunkles Zimmer ihr Eigen nannte, ein fast unerträglicher Zustand. Aber es musste doch möglich sein, meiner Mutter nach all den Jahren der Freundschaft mit Ingeborg eine solche Erlaubnis abzutrotzen. Ingeborg und ich waren uns einig in unserem Plan. Übernachtung bei ihr, Schlüssel nehmen, Dietriche nehmen und dann in der Nacht hinauf auf den Boden. Wir brauchten nur noch ein Licht und das war leicht zu besorgen. Einige Straßen von uns entfernt waren Bauarbeiten zugange. Damals hingen dort zur Warnung für die Autofahrer immer Laternen, die mit Petroleum gefüllt waren. Sie eigneten sich ganz vorzüglich für nächtliche Spaziergänge und wurde daher gerne geklaut. Wir gingen also an der Baustelle vorbei, an der schon keiner mehr arbeitete, legten geschickt eine Jacke über eine der Laternen und schon hatten wir das Problem gelöst. Wir zogen mit der in die Jacke gewickelten Petroleumfunzel wieder ab, ohne dass es jemand gemerkt hatte. Als ich nach Hause kam, war es gerade kurz vor sechs, ich war erleichtert, denn Unpünktlichkeit wurde bei uns mit Stubenarrest geahndet und den konnte ich jetzt ganz und gar nicht brauchen. Noch immer pflegten wir das gleiche Ritual, auch wenn wir nur noch zu dritt waren. Beten, essen, schweigen. Ich hatte nie bei einem anderen Kind essen dürfen und so dachte ich, es sei überall so und schwieg ganz selbstverständlich. Nach dem Essen bat ich meine Mutter im eine Unterredung. Sie fasste sich an die Schläfe, als sie das hörte, es war ihr unangenehm mit mir konfrontiert zu werden und sie signalisierte immer Kopf¬schmerzen, wenn ich etwas von ihr wollte. Die hatte sie in den letzen Jahren oft und so bekam ich sie nur selten zu Gesicht. Ich bat sie um die Erlaubnis, bei Ingeborg schlafen zu können, die Schule sei so gut wie beendet und die Zeugnissen geschrieben und es war Freitag und am kommenden Morgen mussten wir erst zur zweiten Stunde in den Unterricht. „Ich muss das mit dem Vater besprechen“; sagte sie nur und verschwand in Richtung Arbeitszimmer, in das sich mein Vater bereits zurückgezogen hatte. Mein Vater war nun schon ganz grau und sehr gealtert. Er tat mir immer etwas leid, obwohl ich gar nicht genau wusste, warum. Nach zehn Minuten kam sie wieder. Zu meiner großen Überraschung bekam ich die Erlaubnis und zu meiner noch größeren Überraschung lächelte sie und strich mir über das Haar: „Ach du bist ja schon so groß, eine junge Dame fast, wir müssen lernen, dich loszulassen.“ Das war nun wirklich Unsinn, was mussten sie denn loslassen? Ich wagte nichts zu sagen, ich war sogar ein bisschen stolz, dass man mir so viel Aufmerksamkeit schenkte. Aber dann ging es ans Realisieren unseres Plans. Ich packte mein Nachthemd ein und den Morgenmantel, die Hausschuhe, Zahnbürste und alles für den nächsten Morgen, Schultasche, frische Wäsche usw. Dann war ich gerüstet und ich bat Hanna, mich über den Boden zu begleiten. Es schien mir der Beginn meines größten Abenteuers. Wie sehr ich recht behalten sollte, wusste ich allerdings nicht. Die Hahns begrüßten mich mit großer Freude. Man hatte schon das zweite Bett gemacht und uns beiden eine Praline zur guten Nacht aufs Kissen gelegt. Wir Mädchen gähnten demonstrativ und meinten, wir müssen sehr schnell schlafen. Herr Hahn wünschte uns lächelnd angenehme Ruhe und die beiden verschwanden im Wohnzimmer. Ingeborg zeigte mir, sobald sich die Tür geschlossen hatte, die Dietrich-Sammlung und den Bodenschlüssel und wir tanzten vor Freude im Zimmer herum. Jetzt mussten wir nur noch abwarten, bis die Eltern schlafen gingen, dann war unsere Stunde gekommen. Es war gegen halb elf, als wir die Schlafzimmertür klacken hörten. Wir beide warfen uns die Bademäntel um und zogen Pantoffeln auf die Füße, dann verließen wir leise und mit allen Schlüsseln und der Laterne die Wohnung. Wir schlichen uns aus der Wohnung, die Treppen hinauf und Ingeborg öffnete die schwere Tür. Sie gab ein lautes Ächzen von sich und dann stand sie offen, so dass wir hindurchschlüpfen konnten. Ich muss es zugeben, ich schlotterte vor Angst, die kleine Funzel warf eine Menge grausiger Schatten an die Decke und der Weg, den wir ja täglich gingen, war kaum zu finden. Endlich gelangten wir an die Brandtür zu unserem Haus. „Schsch,“ machte ich, als Ingeborg die Dietriche aus der Tasche zog. Aber es war nicht zu verhindern, sie klirrten. Ingeborg hatte bereits einen ausgewähnt, der passen sollte und hantierte damit am Schloss herum. „Lass mich,“ rief ich leise, als es nicht ging und Ingeborg gab mir den Haken. Sie hielt die Laterne und ich bewegt ihn vorsichtig im Schloss, immer hin und her, bis das Schloss endlich schnappte. „Na bitte“; ich war zufrieden, dass es mir gelungen war, denn die Tür ging auf. Danach huschten wir durch die Balken hindurch zur Mansarde. Sie war still und dunkel. Das Schloss war viel kleiner als das vorige und wir suchten nach dem passenden Dietrich. Endlich schien einer zu passen und die nächste Tür sprang auf. Dahinter befand sich ein ganz wohnlich eingerichtetes Zimmer. Ingeborg hob die Petroleumlampe hoch und wir sahen einen Ohrensessel, eine Stehlampe, einen Schreibtisch, auf dem jede Menge Papiere lagen und einen riesigen Schrank. Mitten im Raum stand ein länglicher Tisch auf dem drei stählerne Tabletts standen. Auf den Tabletts waren Ringe angeordnet, wunderschöne, in allen Farben schillernde Ringe aus einem Material, das wir noch nie gesehen hatten. Ingeborg wollte nach ihnen greifen, doch in einem Moment geistiger Klarheit griff ich ihre Hand und hielt sie fest. „Fass sie nicht an,“ rief ich, lauter als ich es wollte. „Aber warum nicht, sie sind so schön.“ „Ich habe so ein Gefühl,“ sagte ich ihr, „es ist etwas mit diesen Ringen.“ Und ich ging um die Tabletts herum, damit ich genauer sehen konnte, was es war. Auf jedem Tablett lagen, sorgfältig ausgerichtet, dreißig Ringe, in Fünfer-Reihen geordnet. Wir beschlossen, die Stehlampe anzumachen, das Licht hier oben sah sowieso niemand. Alles wirkte wärmer und weniger bedrohlich danach. Ingeborg setzte sich an den Schreibtisch und begann in den Papieren zu lesen, die dort lagen. Ich öffnete den Schrank und fand darin noch ein Fach voller Ringe, dann Beutel mit einer merkwürdigen Substanz und jede Menge Papiere und dann zu meinem Schreck und meiner Verwunderung in der untersten Schublade, einen Strick. Ich zuckte zusammen und rief Ingeborg. „Ich glaube das ist der Strick von Erhängten.“ „Ach Marie, du hast eine blühende Phantasie“, sie kam zu mir herüber und da das Teil. Natürlich war es nicht mit 100%iger Sicherheit zu sagen, aber für mich war es der Strick de blauen Erhängten. Ingeborg ging zurück zu den Papieren, nach einer Weile rief sie aus: „Da schau, ich habe etwas gefunden.“ Sie zeigte mir ein Blatt mit einer Zeichnung, darauf war ein Kaninchen zu sehen, das eines dieser Ringe um den Hals trug, an einem Band oder Faden. Dann war das Kaninchen wieder zu sehen, diesmal von einem hellen Blitz umhüllt. Als nächstes war ein Omega gezeichnet, so: . Dann kamen Wellenlinien, dann wieder ein Omega und dann stand da: Zwei Stunden. Dann war das Kaninchen wieder zu sehen, mit Band aber ohne Ring. Wir wurden aus dieser Zeichnung nicht recht schlau, brüteten darüber und vergaßen alles um uns, als wir plötzlich das Knarren der Mansardentür vernahmen. Ingeborg und ich schreckten auf und starrten zur Tür. Im Rahmen stand der alte Mann. Wir beide schrieen auf aber er zischte nur, „Seit leise Kinder, man kann alles unten hören.“ „Bitte entschuldigen Sie“, riefen wir fast im Chor, aber er zischte wiederum und machte eine Bewegung mit den Hände, dass wir leise sein sollten. Der Mann kam näher und da merkte ich, dass es nicht der alte Mann war, sondern ein anderer, der im sehr ähnelte. „Wer sind Sie,“ fragte ich ihn. „Ich bin der Bruder von Professor Demand, wisst Ihr nicht dass er tot ist?“ „Doch, doch, antwortete ich, wir haben es in der Zeitung gelesen. Ich bemühte mich zu flüstern, aber er senkte wieder die Hände. „Habt Ihr etwas angefasst?“ „Nein, nichts“. „Gott sei Dank, es wäre euch auch nicht gut bekommen. Wisst Ihr, was für Experimente mein Bruder hier gemacht hat?“ Wir schüttelten den Kopf. Ingeborg gab ihm die Zeichnung. „Ja, sagte er versonnen, „das trifft es.“ Er griff hinter die Tür und holte einen Käfig aus der Dunkelheit. Er war gefüllt mit Mäusen, die sich schlaftrunken darin bewegten oder zusammengerollt schliefen. Er schloß die und wir starrten auf das Mäusegewühl. Dann zog er silbrig glänzende Handschuhe aus seiner Jackentasche, er streifte sie über. Es war ein Material, das wir noch nie gesehen hatten. „Ihr kommt mir gerade recht, wunderbar, ihr könnte als Zeugen bleiben. Wir werden jetzt sein Experiment wiederholen, das mein Bruder hier gemacht hat, ich will wissen, wie weit er wirklich gekommen ist. Ihr werdet aber darüber schweigen, bis ich euch sage, dass ihr reden dürft. Seit Ihr einverstanden?“ „Aber ist es nichts verbotenes, was wir hier tun“; wollte ich wissen. „Papperlapapp“, antwortete er, „seit wann ist Wissenschaft etwas verbotenes. Er hätte sich gefreut, wenn ihr in besucht hättet, nichts an dem was hier geschieht ist geheimnisvoll.“ Das war glatt gelogen, aber wir glaubten ihm jedes Wort, denn wir waren froh, dass er nicht wütend über unseren Besuch war. „Wie heißt Ihr überhaupt?“ Ingeborg und Marie, stellten wir uns vor und er war natürlich auch ein Professor Demand, Nummer zwei quasi. Nach diesen Höflichkeitsfloskeln zog er eine Maus an ihrem Schwanz aus dem Käfig. Danach nahm er einen Faden und fädelte einen der Ringe daran ein. Er schaute auf. „Faßt die Ringe nicht an, noch nicht, sie reagieren nur mit lebendiger Materie, ihr werdet es gleich sehen.“ Er nahm die Maus und legte ihr den Faden mit Ring um den Hals. Nur eine Sekunde später war die Maus verschwunden, einfach verschwunden. Es war nichts von ihr übrig, es gab keinen Rauch, wie in einer Zirkusvorstellung und keinen Lichtblitz. Nichts. Die Mädchen waren verblüfft und der Professor war verblüfft. „Es geht also“, meinte er. „Was geht?“, fragte Marie ihn. Er schaute sie verwirrt an. „Das Teleportieren natürlich, habt ihr es nicht gesehen?“ „Was ist das, teleportieren?“ „Etwas wird von einem Ort zum anderen bewegt mittels einer uns noch unbekannten physikalischen Kraft. Sie strahlt von diesem Ringen ab, es ist ein ganz besonderes Material, unserem irdischen Blei irgendwie ähnlich auf den ersten Blick.“ „Wohin ist die Maus geraten?“ fragte Ingeborg. „Wir wissen es nicht. Erst einmal ist ein Mensch teleportiert worden, es endete tragisch.“ „Er war der Gehenkte auf dem Boden hier,“ zischte Marie leise. Der Professor nickte nur. „Damals hatte ich Berlin bereits verlassen und mein Bruder forschte allein weiter. Ich weiß bis heute nicht, wie der Mann in unsere Welt kam. Es war merkwürdig, ja unerklärlich.“ Er schaute uns beide an: „In zwei Stunden ist die Maus zurück, wir werden sehen, wie es ihr dann geht.“ Wir wurden zappelig, zwei Stunden sollte wir hier noch warten. „Mitgefangen, mitgehangen,“ sagte der Professor. „Ich habe euch nicht angeschimpft, als ich euch fand wie ihr fremdes Eigentum durchschnüffelt habt, ich werde nichts zu euren Eltern sagen, jetzt müsst ihr mir diesen Gefallen tun.“ „Hatte ihr Bruder nicht wenigstens eine Theorie, wohin die Maus verschwindet?“ Ingeborg wollte nicht locker lassen. Der Professor blickte auf seine Fingernägel. „Das Universum hat seine Geheimnisse, eines davon ist wohl, dass es nicht nur unsere drei Dimensionen und nicht nur ein Universum gibt, also nicht nur unsere Welt, sondern viele Welten. Habt ihr Euch schon einmal den Schaum in der Badewanne angeschaut?“ Wir nickten mechanisch. „Stellt Euch vor, ihr würdet in einer dieser Schaumblasen leben und sie wäre nicht durchsichtig? Was würdet ihr sehen?“ „Das innere einer Kugel“; antwortete ich. „So ist es. All die anderen Kugeln würden euch entgehen, aber in ihnen wäre auch leben, parallel zu euren Leben, quasi parallele Wirklichkeiten.“ „Aber das ist doch Unsinn“, meinte Ingeborg. „Vielleicht“, antwortete Prof. Demand und schaute wieder auf seine Fingernägel. Sie schwiegen eine Weile. „Woher hatte ihr Bruder die Ringe“, Marie wollte den Fluss des Gesprächs nicht versiegen lassen, musste sie doch hinter diesen Wahnsinn kommen, in dem sie beide gerade steckten. „Ich weiß nicht, wie er an diesen Stoff gekommen ist, er hat es mir nie verraten. Früher machte er die Experimente in unserem Haus, bevor er diese Mansarde gemietet hat. Wir hatten Glück, unser Haus blieb von den Bomben verschont, aber nach dem Krieg mussten wir Mieter hinein nehmen, unangenehme Leute. Ein Mann rief ihn an, das war 1945, er sagte, er wolle Deutschland verlassen nach all dem Irrsinn. Mein Bruder vermutete es sei ein Wissenschaftler, der den Wahnsinn der Hitlerei überlebt hatte und er verabredete sich mit ihm. Ich kann mich sehr genau daran erinnern. Er nannte sich Rotenberger, Prof. Rotenberger. Der Mann kam dann zu uns und mietete ein Zimmer für die Zeit bis er alles erledigt hatte für die Abfahrt. Ein netter Herr, sehr ruhig, sehr belesen. Wir haben so manche Stunde zusammen verbracht. Als er fortging hat er ein Säckchen Pulver dagelassen. Meinen Bruder hatte er eingeweiht, sie wollten getrennt weiterforschen. Und schließlich musste ja jemand Bescheid wissen, wenn einer verschwand. Sie blieben in ständigem Briefkontakt, mein Bruder war derjenige, der weiterforschte, weiter-experimentierte. Das Zeug war ja hochgefährlich, jede Berührung führte ins Ungewisse. Also, wahrscheinlich weiß niemand mehr, wie das Zeug auf unsere Welt kam. Prof. Rotenberger ist vor einigen Jahren gestorben. Wir erhielten einen Brief von seinem Dekan in Princeton. Ein sehr verdienter Mann war unser Professor geworden. Der Dekan wollte die Briefe haben, die mein Bruder von ihm erhalten hatte. Aber da wurde nichts draus. Mein Bruder hat sich geweigert, denn er wusste, dass auch Rotenberger nichts herausgegeben hatte. Wollt Ihr es versuchen, Ihr seid garantiert in einer Minute zurück. Ihr bekommt einen Ring um den Hals und den anderen steckt ihr auf die Hand. Marie schaute Ingeborg an, dann nickte sie. Es war das Abenteuer ihres Lebens. Egal, was geschah, sie wollte wissen, was sich auf der anderen Seite der Welt befand. Der alte Mann hatte zwei Ketten mit jeweils einem Ring gegriffen, sie lagen verdächtig griffbereit. Die Ringe waren in Tüten verpackt. Dann hing er sie ihnen um. Ingeborg zitterte. Er nahm ein Tablett mit zwei Ringen, dann streifte er den ersten Ring Ingeborg über, sie verschwand sofort, wie ausgelöscht. Marie wusste, es gab kein Zurück. Sie hielt ihre Hand dem Alten entgegen. Dann spürte sie ein Kribbel. Um sie rauschte es, Farben änderten sich, aber sie hatte das Gefühl, sie stand immer noch an der gleichen Stelle. Dann begann sie sanft zu fallen. Ganz sanft glitt sie auf einen tief unter ihr gelegenen Boden. Sie spürte nicht, dass sie den Raum, in dem sie die Ringe erhalten hatte, verlassen hatte, es war, als sei nur das Haus nicht mehr da. Dann verflüchtigten sich die Farben um sie herum und sie konnte wieder alles sehen. Sie stand auf einen großen Platz, neben ihr Ingeborg. Sie lächelten sich erleichtert an. Es war ihnen nichts passiert, dem Himmel sei dank. Der Boden unter ihren Füßen war Sand, fest getretener Sand. Kleine, lehmgelbe zweistöckige Häuser umgaben den Platz in einiger Entfernung. Es war still, keine Menschenseele war zu sehen. Kein Kanal, keine Straße, nur Lehm. Wo sind wir? Marie klang besorgt und unschlüssig. Wollen wir gleich zurück, oder wollen wir uns umschauen? Ingeborg schüttelte leise den Kopf. Komm, das ist unheimlich hier, wir müssen fort. Marie nickte und griff nach der Kette an ihrem Hals, dann zögerte sie. Bitte lass uns wenigstens in eines dieser Häuser schauen, nur in eines. Ingeborg verdrehte die Augen. Das habe ich mir doch gedacht. Immer das gleiche mit dir. Also gut, wir schauen in eines der Häuser, aber dann fort von hier. Es ist unheimlich. Sie wanderten langsam zum nächsten Lehmhäuschen hinüber, es sah aus der Nähe noch schäbiger und ärmlicher aus als sie es vermutet hatten. Dann traten sie durch die niedrige Tür vorsichtig ein. Im Haus saß ein junges Mädchen vor einer Feuerstelle. Ärmlich war ihre Kleidung, ein Schleier bedeckte ihren Kopf. Als sie die beiden Mädchen in der fremdartigen Kleidung sah, schrie sie auf. Wer seihet ihr? Es war ein merkwürdiges, altertümliches Deutsch, das sie sprach. Altertümlich, aber verständlich. Marie machte eine beschwichtigende Bewegung und setzte sich an das Feuer. Was machst du hier? Das Mädchen war erstaunt: Ihr sprechet dermaß fals, wer seihet ihr? Marie lächelte. Wir sind Reisende, gib uns ein Glas Wasser. Kein Wasser, kommet erst mit den Herren. Das Mädchen lächelte nun ebenfalls. Dann warten wir auf die Herren. Marie lächelte weiter, Ingeborg zupfte ihr am Ärmel. Das Mädchen schaute erschrocken. Nicht warten. Werde geschlagen, wenn Fremde in Hausen kommen ohne Erlauben des höchsten Herren. Marie stutzte. Wer ist denn der höchste Herr. Das Mädchen hielt ihr die Hand hin, es war ein einfacher Ring daran, aus irgendeinem billigen Metall. Ist mein Herr. Ingeborg, die bisher noch nichts gesagt hatte, rief aus. Sie ist verheiratet. Aber sie ist doch höchstens so alt wie wir! Marie nickte.
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Ende der Leseprobe, der Rest folgt demnächst!
Textende
Tag der Veröffentlichung: 23.09.2008
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