Cover

Schweigen
Sie schwieg.
Er trat ein und ich wusste, dass er sie auch heute zum Reden bekommen würde, auch wenn ich selbst es nie schaffte. Er ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Mein Schatz…“, hauchte er in ihr Ohr. Sie reagierte nicht. Zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Nayana. Ich will dir etwas zeigen.“ Noah nickte mir zu und ich verstand. Ich zog mich nach draußen auf die grüne Wiese zurück. Ich wusste nicht wie, aber er schaffte es irgendwie, sie nach draußen zu bringen, sie dazu zu bringen, etwas zu tun. Er würde es mir nicht sagen. Es war sein Geheimnis, wie er sie aus ihrer emotionslosen Starre holte. Ich hatte darum gebettelt, zu wissen, wie er es schaffte, doch mir gegenüber war er so verschwiegen wie einem Fremden gegenüber. Dabei war ich das ganz und gar nicht. Auch wenn er sich das vielleicht wünschte.
Noah führte Nayana in den nahen, grünen Wald. Ich wusste, dass ich ihnen nicht folgen sollte, doch ich trat es trotzdem. Wie sollte ich sonst je wieder ihre Stimmte hören, wenn sie mir gegenüber und keinem anderen gegenüber sprach?
„Wohin bringst du mich, Noah?“, fragte Nayana leise und zögerlich. Wie schön ihre Stimme doch war! „Das wirst du schon noch sehen!“ Er grinste und ich sah, wie Nayana die Mundwinkel verzog. Sie lächelte. Nach Wochen sah ich sie wieder lächeln. Wie schaffte er das nur? Ich folgte ihnen weiter, bis Noah stehen blieb. Er küsste Nayana. Erst sanft. Dann leidenschaftlich. Zunächst wehrte sie sich, doch dann gab sie sich seinen Küssen hin. Oh ja, Noah war unwiderstehlich. Er hatte immer Glück. Und ich. Ich stand immer daneben und bereute meine Entscheidung vor so vielen Jahren.
Nachdem sie sich einige Minuten geküsst hatten, und ich mich mehrere Schritte entfernt hinter einem Baum versteckt übergeben hatte, gingen sie weiter und ich folgte. Wir waren lange unterwegs. Ich deutlich hinter ihnen, damit sie mich ja nicht bemerkten. Noah würde mich nur weg schicken. Stunden später kamen wir an ein kleines Dorf am Rande des Waldes. Ich kannte es. Wir alle kannten es. Jedoch waren wir noch nie dort gewesen. Wir waren ja nicht wie sie. Wir waren ja anders, wie sie zu pflegen wagten. Wir waren wirklich anders. Aber wir waren nicht böse, wie sie es sagten. Durchaus waren wir böse. Aber nur ihnen gegenüber. Innerhalb unseres Volkes kannten wir keinen Hass. Keine Kriege. Keinen Tod. Außer, wenn eines geschah. Und das Schicksal hatte gewollt, dass genau dies geschah, als Noah und ich Feinde wurden – Feinde, die keine andere Möglichkeit hatten, als zusammen zu leben. Und das war schrecklich für uns beide. Vor allem weil er sie hatte.
Ich schluckte meinen Hass hinunter und versuchte herauszufinden, was Noah vorhatte. Ich schlich mich näher heran und konnte ihre Worte verstehen. „Du willst was

?“, fragte Nayana belustigt. Wann hatte ich sie das letzte Mal belustigt gesehen? Noah lachte: „Du hast mich verstanden, kleine Elfe!“ „Das kannst du nicht bringen! Sie hassen uns!“ Was zum Teufel hatte Noah vor? „Na komm!“, rief er, ergriff ihre Hand und stürmte auf das Dorf zu. War er denn vollkommen bescheuert? Die Menschen würden uns umbringen. Sie hassten uns. Und das wusste er. Besser, als jeder andere es wissen konnte. Solange hatten die Menschen und unser Volk friedlich untereinander gelebt. Bis wir kamen. Noah und ich.
Ich rannte nicht Noah und der lachenden Nayana hinterher. Ich hatte wenigstens Verstand und würde mein Leben nicht aufs Spiel setzen. Nicht noch einmal.

Ich wartete einige Stunden. Ich würde nicht ohne Nayana zurückkehren. Noah war mir egal. Zumindest behauptete ich das. Glaub ich. Sie kamen erst wieder, als die Sonne schon unterging. Nayana lachte und war ausgelassen. Ich erkannte die emotionslose, in die Ferne starrende Nayana von heute Morgen nicht wieder. Diese hier strahlte wie die Sonne, war froh und lachte herzhaft über einen Witz von Noah. Sie schien in seiner Gegenwart alles zu vergessen. Die ganze Vergangenheit. Ob das gut war? Ob es nicht gefährlich war?
„Komm!“, rief Noah, der wieder ernst wurde. „Ich will dir noch etwas zeigen.“ Nayana sah ihn skeptisch an. Dann aber nickte sie und hopste neben ihm her. Wie ein Kleinkind, das sich auf eine Überraschung freute. Aber so etwas machten nur Menschen-Kleinkinder. „Es war wundervoll, Noah! So ausgelassen habe ich schon lange nicht mehr gefühlt. So frei. So froh. So unbesorgt.“ Sie grinste. Noah blieb stehen und umarmte sie. „Ich wusste, dass es dir gut tut, sie zu ärgern.“ Auch er grinste breit. Aha. Sie hatten die Menschen geärgert. Das hatte unser Volk früher oft getan. Bis zu dem Abend. Als die Menschen in unser Reich kamen. Nayana und Noah gingen noch eine Zeit lang weiter. Ich folgte leise. Irgendwann blieb Noah stehen.
Nayana kannte diesen Ort. Ihr Gesicht versteinerte sich sofort, und ihre Fröhlichkeit und Ausgelassenheit waren wie weggeblasen. Zurück blieb die trauernde, emotionslose Nayana. Auch ich kannte diesen Ort. Ich dachte schmerzhaft an den Abend zurück. Den Abend vor so vielen Monaten. „Nein!“, rief Nayana entschlossen und deutlich. „Nein.“ Noah seufzte. „Nayana. Du kannst nicht für immer dein zu Hause meiden! Du gehörst dahin! Du gehörst zu deinem Volk! Bitte. Schau dir wenigsten das Land an. Schau dir an, wie es sich wieder verändert!“ Nayana schüttelte versteift den Kopf. „Für mich“, flüsterte Noah. Ich musste näher heran, um das verstehen zu können. Ich sah, wie Nayana noch einen Moment zögerte, bevor sie ergeben nickte. Noah strahlte und rief die Worte in den Wald hinein. Die Worte, die das Portal öffneten. Das Portal in die andere Welt. In unsere Welt.
Noah schob Nayana hinein und die beiden verschwanden. Ich zögerte lange, bevor auch ich hinein ging. Seit dem Abend war ich nicht mehr dort gewesen. Seitdem es passiert war. Seitdem die ganze Königsfamilie ausgelöscht worden war. Bis auf eine junge Prinzessin. Bis auf Nayana. Erst, als sich das Portal schon zu schließen begann, schlüpfte ich hinein.

Ich fand mich auf einer weiten Wiese wieder. Die Sonne strahlte warm von oben hinab. Ich sah hinter mich. Das Portal war verschwunden. Der Wald hinter mir war der Größte im ganzen Land. Auf der ganzen Welt. Ich war oft dorthin gegangen, um Ruhe zu finden. Natürlich, bevor es passiert war. Vor mir sah ich Nayana und Noah, wie sie auf ein fernes Schloss zugingen. Einst war es prächtig gewesen, voller Farben und Lichtern. Jetzt aber waren seine einst strahlenden Mauern verblasst. Doch die Trümmer, unter denen Tausende von Elfen ihr Leben gegeben hatten, hatte man weggeschafft. Das Schloss wurde wieder aufgebaut. Oh ja. Die Attacke der Menschen hatte einen schweren Schlag gegen die Elfen herbeigeführt. Sie hatten keinen Herrscher mehr. Das Elfenland war dem Untergang geweiht. Außer, wenn Nayana ihren Thron wieder nahm. Aber wie sollte sie ein Land regieren, wenn sie mit keinem sprach? Wenn sie trauerte. Und das schon seit fast einem Jahr. Ein Jahr lang war ich nicht mehr hier gewesen. Jetzt war ich wieder zu Hause, aber es fühlte sich so anders an. So falsch. Das hier war nicht das Elfenland von einst. Vor dem Angriff. Das hier war nur die Ruine.
Obwohl das Schloss anfangs so weit weg war, waren sie innerhalb von wenigen Minuten durch das Tor geschritten und befanden sich auf einem großen Hof. Ich versteckte mich mehrere Schritte hinter Nayana und Noah, damit sie mich nicht sahen. Ich sah viele Elfen, die Mauern bauten, Ställe oder ganze Häuser. Das Schloss wurde erneuert. Wer konnte schon irgendwo ein Land regieren, ohne ein Schloss? Die Arbeiten waren in dem einen Jahr schon weit voran geschritten. Die Elfen lebten wieder. Aber sie würden nie wieder so wie früher sein. Nie wieder so lustig. So freudig. Die allwöchigen Feste würde es nie wieder geben. Sehnsüchtig dachte ich an die alten Zeiten zurück.
Als Nayana sich umsah, fing sie, trotz der großen Vorschritte, hemmungslos zu weinen an. Auch das war das erste Mal seit dem Abend, dass ich sie weinen sah. Noah nahm sie tröstend und beschützend in den Arm. „Dieses Land braucht dich, Nayana. Nimm den Thron. Ich werde dir helfen. Gemeinsam werden wir es schaffen, den Menschen Rache zu geben. Aber dafür brauchen die Elfen dich. Du bist das Symbol dafür, dass es Wunder gibt. Du warst dabei, als dieses Schloss unterging und hast überlebt! Bitte. Für sie. Für den König. Für die Prinzen und Prinzessinnen. Für deine Familie. Für mich!“ Nayana schluchzte und nickte. Sie würde Königin werden. Sie würde ihrem Volk helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Und Noah würde ihr helfen. Und mich würde man vergessen. Bevor ich in Selbstmitleid versinken konnte, wandte ich mich ab und ging in Richtung Portal zurück. Ich war schon halb unterwegs, als ich ein Beben wahrnahm. Die Erde wackelte unter meinen Füßen, und ich hatte Mühe, stehen zu bleiben. Nach nur wenigen Augenblicken hörte es auf. Ich sah mich um. Überall auf dem Feld, auf dem ich stand, waren tiefe und große Risse und Schluchten zu sehen. Ich blickte zum Schloss. Es war dem Erdboden gleich gemacht worden. Nein! Dachte ich nur und rannte so schnell ich konnte zurück. Nein! Nicht schon wieder! Das durfte nicht sein! Aber diesmal waren es nicht die Menschen. Diesmal waren es die Götter. Was hatten die Elfen getan, dass die Götter sie mit einem Erdbeben bestraften?
Als ich am Hof ankam, sah ich Nayana auf dem Boden kauern. Neben ihr lag Noah. Sein Unterkörper war unter großen Felsbrocken begraben, sein Kopf stand in schiefem Winkel ab. Er war tot. Ich fiel auf die Knie. Nayana schluchzte still. Nein. Das durfte nicht wahr sein. Das konnte nicht wahr sein! „Nayana!“, flüsterte ich entsetzt. „Was ist geschehen?“, fragte ich, obwohl ich es genau wusste. Steine hatten Noah einfach zerquetscht. Steine hatten ihn mir genommen. Auch, wenn wir uns gehasst hatten, wenn wir Krieg untereinander geführt hatten, war er mein Bruder. Und jetzt lag er da, tot, unbeweglich. „Nayana!“, rief ich erstickt, obwohl ich nicht wusste, warum. Warum rief ich nicht seinen Namen? Warum konnte ich ihn nicht aussprechen? Warum hatte ich das seit Jahren nicht mehr tun können?
Die Zeit verging, doch wir blieben bei ihm. Die ganze Nacht. Den ganzen Tag. Wir waren die einzigen, die da waren, die einzigen, die bei ihm blieben und spürten, wie die letzte Wärme aus seinem Körper wich und er blass wurde. Schließlich stand ich auf. „Nayana. Wir müssen gehen. Er ist tot.“
Sie schwieg. Sie hatte gerade ein neues Leben anfangen wollen. Mit ihm. Er hatte ihr das Lachen gezeigt, das Leben. Die Freude, nachdem sie die Menschen geärgert hatten. Nachdem sie ihre Familie verloren hatte, verlor sie auch ihn und jetzt auch ihren Lebenssinn, das wusste ich. Er hatte ihr Mut gegeben, ihr das Leben zurückgegeben. Sie sollte herrschen über das Elfenland. Zusammen mit ihm. Jetzt würde sie schweigen, für immer. Und das Elfenland würde sich im Krieg verlieren, im Krieg, wer der neue König wurde. Aber ich wusste, das würde sie kalt lassen. Ich musste etwas tun. Ich musste sie überreden, mit mir zu herrschen, damit das Elfenland weiter bestehen konnte. „Nayana. Heirate mich. Ich liebe dich.“
Sie schwieg.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /