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Leseprobe - das 6. Kapitel "Im Kern der Zwischenwelt"

Juliette stand auf der obersten Steinstufe der Treppe, die in den Keller führte, und es drückte ihr ein lauer unguter Wind entgegen, der sie an die betäubende Substanz erinnerte, mit der das Großvaterphantom in der letzten Nacht das Hadesfeuer im Kamin entzündet hatte. Sie hielt das Messer schützend vor sich und verharrte still, bis sich ihre Augen an die Düsternis gewöhnt hatten, die von langen Zungen eines Geflackers am Ende der halbmondförmigen Treppe durchzuckt wurden.
Sie hatte das Gefühl, einen weiteren Dimensionssprung tun zu müssen, denn im Keller war die Sphäre eindeutig dichter, noch betäubender. Es konnte jedoch auch möglich sein, dass sie nur tiefer in die Zwischenwelt eindringen würde und der oberirdische Teil des Hauses im Randbereich der Zwischenwelt existierte. Das würde auch erklären, warum sie in der Dachkammer weitaus weniger unter der Schwere des Dunstkreises zu leiden hatte. Es war nicht dieselbe Situation wie im ersten Stock, jetzt hier am Eingang zum Keller zu stehen, der offensichtlich den Kern dieser seltsamen und irrealen Dimension darstellte und gänzlich der Reichweite der Realität entglitten war, die noch im oberen Teil des Hauses präsent war. Dort verschaffte am Tage das zu einem Grau gefilterte Sonnenlicht der Realität Einlass und verdünnte den bedrückenden Dunstkreis und in dieser Nacht erleichterte das silberne Licht des Mondes die Atmosphäre. Doch im Keller, tief in der Zwischenwelt, vor den Toren der Unterwelt, verdichtete das Geflacker der Höllenzungen den Dunstkreis, der aus dem Innern der Erde, den verrotteten Eingeweiden des Hauses lethargisch machend, entmutigend und versklavend hervorquoll. Und Juliette hatte alle Mühe, sich nicht zu vergessen und zum Sklaven der Zwischenwelt, zur Marionette des phantomartigen Herrschers zu werden.
Nun war es so weit, ihre Augen hatten sich an die düsteren Lichtverhältnisse gewöhnt und sie hatte die Benommenheit mit unbeugsamer Entschlossenheit von ihrer Seele und mit einem heftigen Schütteln aus ihren Gliedern vertrieben. Der Abstieg in die Welt zwischen Himmel und Hölle, Gut und Böse stand ihr bevor, in die Welt, die sie mit ihren schwachen züngelnden Vorboten, mit ihren flackernden, hypnotisierenden Armen zu sich lockte.
Juliette rutschte zweimal auf den ausgetretenen Stufen aus, bis sie unten angekommen war und in einen langen Gang blickte, der am Ende der Treppe begann und von Fackeln erhellt wurde, die in Metallhaltern an der Wand befestigt waren. Dieser Anblick kam ihr nur allzu bekannt vor, doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken, sondern ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge richten. Der Gang war in den grauen Fels mit Meißeln getrieben worden, man konnte die Werkzeugspuren deutlich erkennen, selbst in diesem Flackerlicht. Juliette strich mit den Fingern über die tiefen Rillen im Gestein, nahm sich die kurze Auszeit im Hier und Jetzt, befüllte die Wand als etwas Reales in dieser irrealen unfassbaren Zwischenwelt, als ob es in diesem Moment nichts Wichtigeres gäbe als diese stummen Zeitzeugen.
Schnell schüttelte sie die Lethargie aus ihrem Körper und weg von ihrer Seele. Wieder hatte der Dunstkreis versucht sie zu versklaven. Sie musste sich beeilen!
Kurz blickte sie noch einmal die Treppe hinauf. Noch hätte sie umkehren und diesem unseligen Ort entfliehen können. Aber eines war ihr bewusst, dass sie ihrem Schicksal nicht entfliehen konnte, es würde sie einholen, wo auch immer sie sich versteckte. Jetzt, wo es ihre Seele bereits gespürt hatte, musste sie ihrem Schicksal, diesem Gang entlang folgen, wenn es sein musste, bis in die Hölle!
Nun war die Zukunft da, in die sie die Antwort, als sie auf der Treppe saß und auf das Großvaterphantom gewartet hatte, geschoben hatte: Was würde sie tun, wenn er ihr Leben bedrohte, würde sie es fertig bringen ihn zu töten, sie, die Pazifistin, die sogar mit ihrem Bus einer Maus auswich, wenn sie über die Straße lief? Aus dem Bauch heraus beschloss sie sich zu schützen und zu hoffen, dass es nicht zum Äußersten kommen würde. Das war das Einzige, was sie tun konnte.
Mit diesem Vorsatz begann sie den Gang entlang zu gehen, der in unzähligen Windungen und Treppenstufen tief in die Erde unter >>Lavender House<< führte. Der betäubende Dunst wurde dichter und es fiel ihr immer schwerer, dagegen anzukämpfen. Die Hitze stieg unerträglich an, und Juliette war froh, dass sie nur noch ihren Büstenhalter trug und wünschte sich, dass sich ihre Schlaghosenjeans in kurze Hosen verwandeln würden. Dann sah sie endlich, nach einer letzten Windung, das Ende des Ganges und die zweiflügelige, massive Holztür, die mit dicken, schmucklosen Eisenscharnieren an der Wand befestigt war.
Wie lange war sie wohl diesem Gang gefolgt, wahrscheinlich nur einige Minuten, doch sie fühlte sich, als hätte sie die Reise zum Mittelpunkt der Erde hinter sich.
Sie bewegte sich auf die schicksalhafte Tür zu, blieb davor stehen und wappnete sich für den unausweichlichen Kampf, das Messer in Verteidigungshaltung vor sich.
Maschinenartige Geräusche drangen, ebenso vertraut wie der Anblick des Ganges und ebenso schnell ignoriert, durch die Tür gedämpft an ihr Ohr.
Es war sehr seltsam, jetzt, wo sie vor dieser Tür stand, der betäubende Dunst nach ihrer Seele griff und sie nur schwer atmen konnte, musste sie an ihre Lieben denken:
Zuerst kam ihr der Mann in den Sinn, der ihr das Leben geschenkt hatte, und das zweimal, der sie vor diesem Haus und dem, was ihr nun widerfahren war und noch bevorstehen würde, beschützen wollte. Sie hätte ihren Vater, den Journalisten, gerne noch einmal gesehen, ihm gesagt, dass sie ihn liebe und dass sie ihm über alle maßen dankbar sei, dass er sie von diesem Haus weggebracht und ihr dadurch dreißig schöne Jahre geschenkt hatte. Sie hätte ihm einfach gerne Lebewohl gesagt.
Dann war da Tessa, die gute, treue Freundin, einst Geliebte, die von ihrem ersten Treffen an, bei einem Spaziergang an der Themse, zu ihrem Leben gehört hatte. Auch wenn sie völlig unterschiedliche Charaktere waren, so waren sie dennoch Seelenverwandte und würden es immer bleiben, eng verbunden für alle Zeit. Manchmal wünschte sie sich, das Tessa und sie es als Liebende geschafft hätten, diese Seelenverwandtschaft zu leben, doch es war schon ein Erfolg, dass die Liebe, bei den ständigen Streitereien, die sie in ihrer Romanze hatten, sich in eine dauerhafte Freundschaft verwandelt und nicht die verwandten Seelen entzweit hatte. Ihrer Tessie müsste sie nicht Lebewohl sagen, sie würde immer bei ihr sein.
Und natürlich war da noch Sir Arthur, Onkel Plumbs, der liebe alte Knabe, der wie ein zweiter Vater für sie war. Im Grunde genommen verband sie viel mehr als das, nämlich das Band der Freundschaft, und er war ein zuverlässiger Freund, mit dem man über alles reden konnte, jemand, der einem sein Herz öffnet und es niemals mehr vor einem verschließt. Wie sehr würde sie ihn vermissen. Sie hatte ihm nie all das gesagt, und hätte es doch tun sollen. Jetzt würde er nie wissen, was sie für ihn empfand oder sie würde nie erfahren, dass er es schon lange wusste, in seinem großen Herzen, das alles Gute aufsaugt.
Und zu guter Letzt dachte sie an Isaac, ihren Churchill, den hilfsbereiten, mürrischen Exzentriker, den Teufelskerl und den Experten für alles Übersinnliche, der für sie immer wie ein großer Bruder war, ihr immer mit Rat und Tat zur Seite stand und sie vor allem Bösen beschützte. Er hatte seine tiefe Freundschaft zu ihr mehrfach bewiesen, egal wie oft sie ihn auf die Probe stellte, mit ihren nie Enden wollenden Fragen, die jedem anderen auf die Nerven gegangen wären. Doch Churchill war wie ein Fels in der Brandung, an den sie sich immer halten konnte, wie stürmisch auch die See des Lebens wütete. Der zuverlässige Brummbär.
Wie sehr würde sie dieses Vierergespann vermissen, die guten Freunde, die Familie!
Nach diesem Lebewohl verlor sie keine Zeit mehr. Sie ergriff die eisernen Türgriffe, deren obere Enden sie an zwei Teufelshörner erinnerten und öffnete das Tor zu ihrem Schicksal.

Impressum

Texte: Das Buch wurde im Januar 2008 vom Triga Verlag veröffentlicht.
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2009

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