Leseprobe - aus dem 2. Kapitel "Ein adeliger Zigeuner", wo Vincenzo, der Protagonist der Geschichte, mit seiner Zigeunerfamilie im späten 17. Jahrhundert durch Ungarn reist und beginnt, in die Welt der Vampire einzutauchen.
Janno und ich hatten uns am späten Nachmittag unsere Pferde geschnappt und ritten zum See, um uns ein paar Fische zum Abendbrot zu fangen. Sofort nachdem wir angekommen waren, legten wir unsere Köder aus, banden uns die Schnüre, an denen unsere Köder befestigt waren, um den großen Zeh, flegelten uns ins hohe Gras und ließen uns die warme Abendsonne der letzten, schönen Herbsttage auf den Bauch scheinen. Wir lauschten den Grillen und ehe wir uns versahen, schliefen wir ein. Liberta und Landro - so hieß Jannos schwarzer Hengst - grasten währenddessen auf einer Wiese über dem Weg, der am Ufer des Sees entlang führte und sich unweit über unseren Köpfen befand.
Als die Nacht hereingebrochen und der Vollmond über den Horizont gestiegen war, weckte mich das immer lauter werdende Rattern einer Karosse. Ich setzte mich auf, streckte mir den Schlaf aus den Gliedern, stand auf, nahm die Schlaufe von meinem Zeh und drückte sie Janno in die Hand, der immer noch schlaftrunken im Gras saß. Dann schaute ich mich um und sah eine schwarze, vierspännige Reisekarosse, die den Weg entlang in unsere Richtung brauste. Der Kutscher trieb die Rappen mit unglaublicher Härte an, und in dem Moment, als sie an uns vorbeirauschten, übermannte mich ein seltsames Gefühl, das mich schon einige Monate lang, seit wir im Frühjahr in der Nähe von Rom unser Lager aufgeschlagen hatten, hin und wieder befallen hatte. Dieses Gefühl der Vertrautheit und der Geborgenheit, das meinen Körper warm durchzog und Lichtblitze in meinem Kopf auslöste, überkam mich immer nachts und mir war, als ob mich jemand beobachtete. Normalerweise erlebte ich es immer nur für ein paar Sekunden, aber dieses Mal beherrschte es mich mit einer Intensität, die mir Angst einflößte, und das aller erste Mal vernahm ich eine ganz leise Stimme, die mich zu sich rief.
Vincenzo, komm zu mir, ich warte auf dich. Fürchte dich nicht, komm zu mir!
Obwohl mir diese Stimme freundlich erschien, überlief mich eine Gänsehaut. Immer wieder zog diese alte, geheimnisvolle Stimme, die man unmöglich einer Sprache zuordnen konnte, durch meinen Kopf. Als die Karosse in der Ferne verschwunden war, erstarb auch die Stimme mitsamt dem Gefühl und den Lichtblitzen. Janno, der sich inzwischen neben mich gestellt hatte, fing mich auf, als ich in die Knie sank.
„Vincenzo, was ist mit dir?“, entfuhr es ihm.
„Nichts, nichts, es geht mir gut. Mir ist nur ein wenig schwindelig“, beruhigte ich ihn, atmete einmal tief ein und drückte meine Knie durch.
Dann klopfte mir Janno auf die Schulter und sagte: „Der Teufel will ihn wohl kriegen, so wie der rast. Ist wohl der Besitzer des Herrenhauses gewesen, und der … hm …“, er überlegte, „hochwohlgeborene Herr, will nicht bezahlen für sein Seel.“
„Welches Herrenhaus?“, fragte ich.
„Ist ein großes Haus“, gestikulierte er wild mit den Händen. „Dort am Ende des Wegs.“
Ich starrte den Weg entlang und hing meinen Gedanken nach, während Janno die Schnüre aus dem See zog. Ich hätte nur zu gerne gewusst, wer in dieser Karosse saß und was über mich gekommen war. Wieso wurde ich auf die seltsame Weise gerufen? Hatte ich mir das nur einge…?
Jannos Stimme riss mich aus den Gedanken. „Lass uns heim reiten, Bruder, wir fangen nix mehr heut!“
Die gesamte Nacht hindurch, in der ich kein Auge zutat, und während des darauf folgenden Tages beschäftigte mich ständig diese geheimnisvolle Karosse oder treffender ausgedrückt der, der in ihr gesessen hatte und offensichtlich in dieses Herrenhaus gefahren war und mir, nicht zum ersten Mal, diesen Zauberbann geschickt hatte. Ich musste herausfinden, wer mich mit dieser fremdartigen, jedoch verführerischen Magie heimsuchte und wieso das ausgerechnet mir passierte? Tief in mir wusste ich, dass ich die Antwort auf diese Frage in diesem Herrenhaus finden würde, und als die Nacht hereinbrach und Ruhe im Lager einkehrte, schnappte ich mir Liberta und ritt meinem Schicksal entgegen.
Das Anwesen hüllte sich in Dunkelheit, als ich durch das prachtvoll verzierte, schmiedeeiserne Tor in den Hof einritt. Wieder beschlich mich dieses so vertraute Gefühl und wieder vernahm ich diese einlullenden Worte. Nervös versuchte ich die Quelle dieses imaginären Zauberbanns ausfindig zu machen, während ich im silbernen Licht des Vollmonds auf die gefächerte Treppe, die zum Eingang des Prachtbaus führte, zuritt. Auch Liberta spürte die fast greifbare Spannung, die, je näher wir dem Gebäude kamen, an Stärke zunahm, und er wieherte vor Erregung. Zögernd näherten wir uns dem riesigen, steinernen Gemäuer mit den unzähligen Sprossenfenstern, Giebeln, Erkern und einem gotisch anmutenden, rechteckigen Turm, der sich auf der linken Seite des Hauptgebäudes befand und dieses um einige Stockwerke überragte. Auf der Spitze des Turms sah ich eine Beobachtungsplattform, die von einer Steinbalustrade umschlossen wurde, und in den Ecken ragte jeweils ein kleiner Turm, dessen Spitze eine Krone zierte, in den funkelnden Sternenhimmel.
Als dann die Treppe vor mir lag und der Zauberbann meinen Kopf und meine Gefühle mit erschreckender Stärke beherrschte, stieg ich von Liberta ab, band ihn an den linken der zwei Steinlöwen, die die Treppe auf beiden Seiten zierten, streichelte ihm über den Hals, um ihn zu beruhigen, drehte mich um und schritt auf die zweiflügelige, hölzerne Eingangstür zu, die sich mit einem lauten Knarren von selbst öffnete, als mein Fuß das kleine Podest am Ende der Treppe berührte. Obwohl mir die vertrauensseligen Worte meine Sinne süß vernebelten und diese zutraulichen Gefühle mir das Gegenteil suggerierten, als mein Bauchgefühl mich warnte, schlug mein Herz mir bis zum Hals, als die stock finstere Eingangshalle vor mir lag. Wie in Trance blickte ich zu der Plattform empor, und ich wusste instinktiv, dass dort der Verursacher des Zauberbanns auf mich wartete. Kurz flammte in mir der Wunsch auf, mich umzudrehen, und so schnell und so weit wie nur irgend möglich von diesem Ort zu fliehen. Doch mein Körper gehorchte mir nicht mehr, und eh ich mich versah, bewegte ich mich, Schritt für Schritt, durch die Halle. Ich konnte nur schemenhaft einzelne Möbelstücke und die Treppe, über die ich wie hypnotisiert in das erste Stockwerk gelangte, erkennen. Auf dem Korridor, der durch die erste Etage verlief, bog ich links ab und schritt an dessen Ende durch eine Tür, die sich ebenso wie die Eingangstür wie durch Geisterhand auftat. Danach stieg ich über eine Wendeltreppe den Turm hinauf und trat durch eine bereits geöffnete Klapptür hinaus auf die Plattform.
Meine Haare, die ich in jener Nacht offen trug, wehten im kühlen Herbstwind um meinen mit einem abgenutzten weißen Rüschenhemd, das ich wie immer nur halb zugeknöpft hatte, und den dünnen gelben Kniehosen, unter denen ich weder Strümpfe noch Schuhe trug, doch etwas spärlich bekleideten Körper. Plötzlich schien der Zauberbann gebrochen zu sein, und ich konnte über meinen Körper wieder frei verfügen und fing prompt zu zittern an. Ich begann mich umzusehen. Mein Blick wanderte über die Plattform, während ich mich langsam umdrehte, bis ich hinter meinem Rücken eine Malerstafette erblickte, auf der sich ein Gemälde befand.
Ich ging näher und bewunderte diese schwarz-weiße, detailgenaue Wiedergabe der atemberaubenden Aussicht, die sich einem von diesem himmelsnahen Bauwerk aus darbot. Ich bestaunte das silbrig schimmernde Wasser des Plattensees, das hinter den Silhouetten des Märchenwaldes lag, der ihn umschloss und wo jeder Baum und jedes noch so kleine Tier in allen möglichen Grauschattierungen bis ins kleinste Detail dargestellt waren. Im Wasser des Sees spiegelten sich Millionen von Sternen, die auf den Wellen zu tanzen schienen, und inmitten dieses grandiosen Sternenhimmels prangte der herrliche Vollmond, dessen Licht diese großartige Landschaft in eine lebensbejahende Symphonie der Nacht verwandelte. Ich versank tief in Faszination.
„Hallo, Vincenzo, gefällt dir mein Gemälde?“
Panisch drehte ich mich um meine eigene Achse und suchte die Person, zu der diese markante Stimme, die zwar asexuell, aber dennoch sehr sinnlich, berauschend und ausgesprochen verführerisch anmutete, gehörte, doch ich konnte niemand sehen. Hatte ich mir nur eingebildet, dass jemand zu mir sprach? War diese Stimme ein Teil des Zauberbanns, der mich kurz zuvor heimgesucht hatte? Doch diese Stimme klang anders als die einlullende Stimme die nur in meinem Kopf existiert hatte, sie war real. Nein, das hatte ich mir nicht eingebildet.
„Wer ist da? Zeig dich, wer immer du auch sein magst!“, schrie ich in die Nacht hinaus.
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, trat ein Wesen hervor, das zwar eine menschliche Statur hatte, das aber bei näherem Betrachten ganz und gar nicht wie ein menschliches Wesen aussah, sondern wie ein bestechend schöner Gottdämon, dem der Himmel und die Hölle keinen Einlass gewährt hatte. Denn ein Wesen mit solch einer Schönheit gehörte zwar in den Himmel, doch durch seine dämonische Erscheinung wäre die Hölle wohl ein geeigneter Ort für ihn gewesen. Er war etwas kleiner als ich und sehr grazil gebaut und wirkte größer als er war - mit seinem langen, rotblond gelockten Haar, das über seinen bodenlangen, grünen, mit Fabeltieren bestickten Seidenmantel fiel und ihm bis zu den Knien reichte, seiner bleichen, edlen Haut, den dünnen Lippen, der schmalen, langen Nase und den hellgrauen, fast silbern schimmernde Augen, die auf sehr beängstigende Weise leuchteten und mich dennoch in ihren Bann zogen.
„Oh mein Gott, was bist du?“, stammelte ich vor Entsetzen und Angst, aber auch vor Bezauberung und Neugier.
„Ich heiße Artifax, und ich bin ein Vampir.“ Ein Lächeln ließ seine langen, elfenbeinfarbenen, spitzen Zähne aufblitzen.
Ich schrak zurück. „Was willst du von mir? Hast du vor mich zu …?“
Er hob die Hand, während er sich, lautlos, auf mich zu bewegte. „Du musst dich nicht vor mir fürchten, denn ich werde dir nichts tun!“ Und schon stand er vor mir.
Stocksteif vor Furcht, nur noch imstande, meine Lippen zu bewegen, sprudelte ich hervor: „Aber wieso bin ich hier? Wieso hast du mich gerufen, mich hergeholt, und woher kennst du meinen Namen?“
Während er sprach, verankerte sich mein Blick auf seinen hypnotisch aufblitzenden Fängen. „Ich weiß alles über dich, denn ich habe deine Gedanken gelesen. Du bist mir das erste Mal in der Nähe von Rom aufgefallen, als du dort mit deiner Zigeunerfamilie dein Lager aufgeschlagen hattest. Du hast mich bezaubert, mit deiner Wildheit, deiner Lust zu Leben, deinem Streben nach Freiheit und der tiefen Liebe, die du, trotz allem, was dir widerfahren ist, so vielen Menschen in deinem Umfeld entgegenbringst. Du besitzt ein großes Herz, das nie aufhört zu lieben, auch wenn es gebrochen ist. Das alles strahlt durch dich hindurch wie das ewige Licht durch meine alten Augen. Du bist wunderschön, Vincenzo. Deswegen habe ich dich auserwählt.“
Mit jedem Wort, das er sprach, verflüchtigte sich die Furcht und ich blickte tief in seine Augen, gänzlich ohne Entsetzen, als ob sich mir durch seine warmen, zutraulichen Worte und der vertrauensvoll schwingenden Stimme, mit der er sie mir entgegengehaucht hatte, seine alte, grundgute Seele eröffnet hatte.
„Wozu auserwählt?“, fragte ich.
Seine kalten Hände ergriffen die meinen. „Um einer meiner Gefährten zu werden und die Ewigkeit mit mir zu teilen.“
Ich sollte ein Vampir, ein Blutsauger werden, des Teufels Handlanger.
Artifax, der offensichtlich meine Gedanken gelesen hatte, warf ein: „Vielleicht gibt es einen Teufel, vielleicht auch nicht, aber ich bin niemandes Handlanger. Ich diene nur mir selbst und mein Tun, so wie das jedes Vampirs, huldigt der Mondgöttin.“
„Und was hätte ich davon, so wie du zu werden?“ Alle stereotypischen und abergläubischen Vorstellungen über Fabelwesen, die sich aus vielen Wintergeschichten in meinen Kopf geschlichen hatten, die Aurelias Vater vorm Kamin in seinem Haus in Kronstadt immer gerne zum Besten gab, blitzten vor meinem inneren Auge auf.
„Du würdest ewig Leben, ewig jung sein und keine Krankheit könnte dich mehr ereilen. Du könntest mit mir die Ewigkeit durchstreifen und eine unbeschreibliche Freiheit erleben, die du nicht einmal erahnen kannst“, entgegnete er auf meine Frage.
Freiheit, das war das Schlagwort. „Aber was würde aus meiner Familie, sollte ich mich für die …“, ich zögerte kurz, „Ewigkeit entscheiden?“ Und in meinen Gedanken setzte ich noch hinzu: Wie soll ich dann Lulu jemals finden? Soll ich mich ihr so zeigen, als Vampir? Dann muss ich die Suche aufgeben. Ich schüttelte den Kopf und beantwortete die Frage selbst. „Ich müsste meine Familie und meine Freunde verlassen. Sie müssten sterben, während ich, als dein Zeitvertreib, ewig leben würde?“
Verständnisvoll strich er mir mit seiner kalten Hand über die Wange, was mich instinktiv meinen Kopf zurückziehen ließ.
„Oh Nein! Du kannst die Menschen, die dir am meisten bedeuten, mit in die Ewigkeit nehmen und du wirst erst zu mir kommen, wenn du dein vorgegebenes Leben zu Ende gelebt hast. Natürlich bist du auch als Unsterblicher oder vielleicht gerade als Unsterblicher ein freies Wesen und musst nur so lange bei mir bleiben, wie du es wünschst, so wie ich dir auch jetzt die Möglichkeit gebe zu gehen, damit du deine Entscheidung in aller Ruhe und ohne Druck meinerseits treffen kannst. Natürlich kannst du immer, während der Nacht, versteht sich, zu mir kommen und ich werde dir jede Frage, die du hast, beantworten, falls es mir möglich ist.“
Jetzt hatte er meine Neugierde und meinen Entdeckergeist erst recht geweckt und jetzt wollte ich alles über seinesgleichen und über ihn erfahren. Wir saßen bis zum Morgengrauen auf der Plattform und er beantwortete alle meine Fragen, so wie er es versprochen hatte, und in den drei folgenden Nächten kehrte ich zu ihm zurück und er erzählte mir stundenlang von seinem knapp zweieinhalbtausendjährigen Leben. Ich erkannte, dass Artifax ein Wesen war, das überhaupt nichts von einem Dämon an sich hatte, und dass ich mit jeder Nacht, die verging und die ich in der Gesellschaft dieses wundervollen Geschöpfes verbringen durfte, mehr die Unsterblichkeit wollte. Oh ja, ich wollte mit Artifax durch die wilde, aufregende Ewigkeit reisen und sehen, was die Zukünftigen Generationen aus der Welt machen würden. Niemals krank zu werden, niemals zu sterben, ewig jung sein; wie verlockend.
Als ich in der vierten Nacht zu ihm ging, hatte ich meine Entscheidung getroffen, und obwohl ich Aurelia sehr liebte, erzählte ich ihr nichts von meinem Vorhaben oder von meinen Treffen mit Artifax, auch wenn sie mich jeden Morgen nach meinen nächtlichen Eskapaden befragte. Damit wollte ich sie nicht belasten, denn ich musste diese Entscheidung alleine treffen. Aber ich nahm mir vor, ihr zu gegebener Zeit alles zu erzählen und ihr die Möglichkeit geben, zu wählen, so wie Artifax sie mir gab.
Auch in dieser vierten Nacht befand sich Artifax auf der Plattform, und als ich dieses Mal zu ihm kam, wollte ich keine Geschichten mehr hören, zumindest nicht in diesem Moment. Ich wollte ein Wesen der Nacht werden oder treffender ausgedrückt den ersten Schritt dazu tun, um eines Tages als Unsterblicher wiedergeboren zu werden.
Die Bluttaufe geschah ohne ein Wort zu wechseln, unter dem magischen Vollmond, der über dem Turm thronte, umgeben von Millionen Sternen. Ich trat zu Artifax und schaute ihm in die glühenden Augen. Er nickte begrüßend und warf mit seiner rechten Hand seine Lockenmähne über die Schulter, dann ritzte er mit dem Fingernagel des Zeigefingers seine Halsschlagader auf. Blut ergoss sich aus der Wunde. Ich schloss meine Augen, als er seine Hand in meinen Nacken schob, dann zog er mich zärtlich an sich heran und presste meine geöffneten Lippen auf den Quell des Blutstroms. Wie feurige Glut floss das ewige Blut in meinen Mund, und ich schluckte genüsslich und ohne Ekel hinunter, bis sich die Wunde von selbst wieder verschloss. Ich war berauscht vor Glück, als das zeitlose Blut meinen Körper zum Glühen brachte. Mein Herz schlug immer schneller, während ich meine Augen öffnete, die wie zwei neugeborene Sonnen zu glühen begannen.
Jetzt begriff ich, wie es für Artifax möglich war, in der Dunkelheit so detailliert zu malen. Die Nacht war mit pulsierendem Leben erfüllt. Jeder Baum, jeder Ast, jedes Blatt, jede Blume, jeder Grashalm und jedes Tier, auch wenn es noch so klein war, strahlte das Licht seiner Lebensenergie aus. Mein Blick wanderte zum Vollmond hinauf, der blutrot vom Himmel leuchtete. Ich war jetzt ein Kind der Mondgöttin und mit ihr verbunden. Während ich weiterhin, wie verzaubert, auf den Mond starrte, begann das ewige Blut in meinen Zellen zu ruhen, die Farbe des Erdtrabanten wechselte wieder von blutrot zu silbern, und die Dunkelheit der menschlichen Nacht umfing mich.
Immer noch aufgewühlt vom Erlebten, blickte ich zu Artifax, der mich mit steinerner Miene ansah. Er sprach mit trauriger Stimme: „Du musst mich jetzt verlassen und darfst keinen Kontakt mehr mit mir haben, bis du in der Ewigkeit erwachst! Dort werde ich dich erwarten! Und sollten die, die du mit dir nehmen wirst, vor dir sterben, werde ich mich ihrer annehmen, bis du bei uns bist!“
„Aber wie willst du wissen …?“, der Tränenfluss, der aus meinen Augen quoll, ertränkte meine Stimme.
„Ich werde über dich und die deinen wachen und immer die telepathische Verbindung mit dir aufrechterhalten, ohne dass du es merkst. Geh jetzt, ich wünsche dir ein langes und erfülltes Leben! Wir werden uns wieder sehen!“ Dann holte er aus seiner Manteltasche die drei mit seinem Blut gefüllten Fläschchen, mit denen ich die Menschen, die ich liebte, mit in die Ewigkeit nehmen konnte, drückte sie mir in die Hand und schob mich mit einem guten Rat auf die Klapptür zu. „Wähle weise, wen du mit in die Ewigkeit nimmst, und lasse deine Lieben selber entscheiden.“
Hätte ich diesen Rat doch nur befolgt, dann wäre mir einiges erspart geblieben.
Tief traurig über den Abschied, ging ich, nachdem ich ihn umarmt hatte, weinend durch das Haus zu Liberta und ritt heim zu der Frau und der Familie, die ich über alles liebte.
Texte: Dieses Buch wurde im März 2007 vom Novum Verlag veröffentlicht.
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2009
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