Cover

01 VOR WORT

Ein Weckerklingeln. Der Inspektor schälte sich aus den Laken und blinzelte trüb ins Licht der Nachttischlampe. «Wäh, Aufstehen... Erstmal Pipi machen, dann Fußnägel schneiden und wieder ab im Bett. Das ist doch mal ’n Plan!» Der Inspektor lachte sich ins Fäustchen. Er liebte es, der Pflicht ein Schnippchen zu schlagen.


02 TATWORT

»Rrrrrrrrrrrrrrrrrrring!« Erneut weckte ihn ein Klingeln, diesmal das des Telefons. Er hatte von Löwen geträumt.
«Jap. Hier spricht der Inspektor... Ach, was, keine Ursache, ich habe mich heute auch schon verwählt. Ach so, sie nicht? Ein Fall? Hökschte Geheimhaltung? Paaranormale Ereignisse? So so, schön schön. Wie, ich? Na, da muss ich aber erstmal frühstücken.»
Der Inspektor setzte sich an einen reichlich gefüllten Frühstückstisch. Eine Art Hausdame, oder sagen wir ‹Bedienstete› musste das alles wohl vorbereitet haben.
«Ach Dorothy...», seufzte der Inspektor und dachte zurück an den gestrigen Abend, als er den Zauberer von Oz gesehen hatte. Er schmierte gedankenverloren eine Portion Erdbeermarmelade in seine Pfeife und wollte gerade zu einem blubbernden Zug ansetzen, als erneut das Telefon klingelte.
«Jaja, ich komm ja schon, eben noch Haare waschen...»
Der Inspektor wusch sich die Haare mit einer Hand. Nicht, dass die andere verletzt gewesen wäre, ganz im Gegenteil, sie baumelte gelangweilt am Ende ihres Armes und klimperte Debussy auf einem imaginären Klavier. Nein, die einhändige Waschung war nicht von Nöten, aber der Inspektor liebte den Kitzel, die verruchte Gefahr des Verstoßes gegen Konventionen. Außerdem muss man als Inspektor immer vorbereitet sein. Und als hätte er es geahnt, musste er sich direkt gegen maskierte Ninja-Kämpfer verteidigen, die unbemerkt sein Bad betreten hatten.
«Wech, ihr Schweine, ich hab Schauma inne Augen...!»
Ja, man kann sagen, er kämpfte bereits direkt nach dem Aufstehen um sein Leben. Warum auch nicht, immerhin war er der Inspektor.

Am Tatort angekommen blieb der Inspektor kurz vor der Türe stehen und rauchte eine erschnorrte Zigarette. Das barg weniger Gefahren als die Pfeife. «Keine Eile, keine vorschnellen Schlüsse...», sagte er sich. Spätestens jetzt, nachdem er, vom Shampoo geblendet, seine schwarzen Handtücher für Ninja-Kämpfer gehalten und sie einhändig mitsamt der Duschkabine zu Fall gebracht hatte. Nun stand er da, am Tatort, rauchte seine Zigarette und inspizierte. Das Gebäude war eine alte Villa, vermutlich gotischer Bauart, mit verrotteten Wasserspeiern zwischen den Zinnen und knorrigen Trauerweiden im Vorgarten. Das gesamte Gelände war abgesperrt mit gelben Plastikbändern; please-line – do not cross sagten sie. Davor stand ein verrostetes, mausgraues Peugeot 403 Cabriolet, ein Krankenwagen, ein Leichenwagen, ein Streifenwagen, ein Maibach und das Rennrad des Inspektors. Menschen wuselten umher und waren damit beschäftigt, weiße Kreidelinien um alles auf dem Boden Liegende zu ziehen. Als der Inspektor auf den Eingang zusteuerte, bemerkte er bald, dass eine unheilvolle Macht seine Schnürsenkel zusammengeknotet hatte.
«Nee, nich...» machte der Inspektor und matschte sich der Länge nach aufs Maul. Mit letzter Kraft sah er eine kleine Maus, die aus ihrem Erdloch hervorlugte und gähnte. Dann gingen die Lichter aus.

Dunkelheit. Brandung. Sturm. Meterhohe Wellen brechen und klatschen ohrenbetäubend auf einen verlassenen Sandstrand. Trotz der Dunkelheit kann man ein einzelnes Mädchen erkennen, eine junge Frau, deren sonnengebleichtes Haar im Sturm ihren Kopf umtanzt. Sie steht den Wellen zugewandt und ruft ihnen entgegen. Es scheint als tanze auch sie, mit dem Meer, als wiege sie sich hin und zurück mit der eintreffenden und abziehenden Brandung. Mal treiben die Wellen sie zurück, mal sie das Meer, so scheint es. Ein Tanz voller Schönheit und Anmut, voller Kraft und Urgewalt. Was mag sie wohl rufen?

Als der Inspektor wieder zu sich kam, war ein Polizei-Praktikant dabei, seine Umrisse mit Kreide nachzuzeichnen.
«Na, lass den Quatsch, Page!» Der Inspektor schlug dem Praktikanten die Kreide aus der Hand und machte ein grimmiges Gesicht. Die Sommersprossen im Gesicht des Praktikanten versammelten sich ängstlich.
Im Gebäude kam ihm ein bulliger Mann in Uniform entgegen.
»Inspektor, ich bin ihr Vorgesetzter, Sergeant Sothebys.«
«Willkommen», sagte der Inspektor unwillkürlich und erwiderte den Händedruck des Sergeants.
»Sie haben bereits gegessen, nehme ich an?«
«Vorzüglich sogar. Es gab Eier, Speck und Würschtl, aber auch Obst und Gemüse, ein Inspektor braucht seine Vitamine.»
»Gut gut. Hören Sie, ich muss sie leider bereits verlassen, aber Olsen, unser Praktikant wird sie gewiss herumführen.«
«So so, Praktikant, wie? Verlassen, was? Hmm-hmm, hmm-hmm. Sie haben nicht zufällig eine Zigarette? Oder gar etwas zu verbergen?!?» dachte der Inspektor, da Sergeant Sothebys bereits draußen vor seinem Dienstwagen, dem schwarzen Maibach stand. Dieser betastete seine Uniform als habe er etwas vergessen, machte auf dem Absatz kehrt und lugte noch einmal durch die Eingangstür.
»Inspektor? Eine Sache noch: Gehen Sie niemals und unter keinen Umständen durch die verlorene Tür, hören Sie mich? Niemals...« sagte der Sergeant und ein Schatten schien über sein Gesicht zu huschen.
«Was denn» sagte der Inspektor, der zwischenzeitlich einen aus unerfindlichen Gründen in der Eingangshalle abgestellten Ofen von innen inspiziert hatte. Doch der Sergeant war bereits wieder verschwunden und mit ihm der Schatten auf seinem Gesicht.
«Naja, wird schon nicht so wichtig gewesen sein. Wo war ich? Ach ja, beim Inspizieren.»
»Äh, Inspektor?« Der Praktikant zupfte am Mantel des Inspektors und wollte etwas wissen.
«Klappe zu, Page, ich muss inspizieren!» Der Inspektor hatte sich für einen Moment an seinen Sturz erinnert und war daher kurzzeitig unabsichtlich unwirsch.
»Aber Inspektor...«
«Was ist denn, Page?»
»Was machen wir mit i h m?«
Der Praktikant deutete auf einen Hund, der, angeleint an den Kamin in der Empfangshalle, seine Genitalien beschnupperte.
»Der Sack...«, dachte irgendeine Stimme voller Neid.
«Was ist das? Was ist mit ihm?»
»Das ist ein Beagle, Inspektor, der wurde hier gefunden.«
«Gefunden, was? Ein Igel, wie?»
»Ein Beagle, Inspektor...«
«Selbstverständlich. Machen sie doch einfach eine Durchsage, dass er von seinem Frauchen im Eingangsbereich abgeholt werden möchte. Wir haben zunächst Wichtigeres zu tun. Erst einmal: Wem gehört dieses Gebäude?»
«‹Mir...›» erklang eine alte, zitterige Stimme. Im Durchgang zum Westflügel stand eine buckelige Alte. Sie war ganz und gar in eine graue Pferdedecke gehüllt und bekam die Augen in ihrem zerfurchten Gesicht nicht weit genug geöffnet, als dass man ihre Farbe hätte erkennen können.
«Wie? Was?» Der Inspektor fuhr um.
«Ah, die Hexe...», dachte er, und direkt danach: «Welche Hexe?»
«‹Kommen Sie, ich muss ihnen etwas zeigen...›», sagte die Alte und lockte mit ihrem knochigen Finger.
«Joch, warum nicht?» sagte der Inspektor und ließ einen Morgenstern, den er gedankenverloren einer alten Ritterrüstung aus der Hand genommen hatte, einfach fallen. Er rieb sich kurz die Hände und folgte der buckeligen Alten auf ihrem Weg zu der verbotenen Tür.


03 TAT ZWEIT

Ein Poltern. Kurz davor ein «Nee, nich...». Der Inspektor hatte sich mal wieder gemault. Er war einmal längs über den gerade fallen gelassenen Morgenstern gestolpert. Aber selbst wenn dieser nicht da gelegen hätte, hätte er sich wahrscheinlich wieder lang gemacht und erneut die Maus gesehen, bevor die Lichter ausgingen. Abermals hatte eine dunkle Macht seine Senkel verknotet. Abermals erschien ihm das Mädchen vom Meer. Sie schien traurig, obwohl sie zwischen Tüchern tanzte. Diesmal rief sie nichts, nein, sie lächelte. Sie lächelte das traurigste Lächeln und schien glücklich.

»Inspektor? Inspektor!« Der Praktikant zupfte an seinem Ärmel und machte ihn nervös. «Is’ ja gut jetzt... Mann, du machst mir noch den Mantel kaputt.» Der Inspektor richtete sich auf und klopfte sich imaginären Staub von der Brust.
«Wo is die Omma hin, Page?»
«‹Sein Name ist Olsen›», erklang die Stimme der buckligen Alten. Die Stimme schien aus dem Nebenzimmer zu kommen.
«Selbstverständlich. Ollßn, hilf der Omma aus der Ritterrüstung.»
»Ich glaube die Stimme kam aus dem Salon, Inspektor.«
«Salon, wie? Stimme, was? Sie sind n helles Köpfchen, Ollßn.»
»Olsen, Inspektor.«
»Ja Omma, is ja gut.«
»Das habe ich gesagt, Inspektor.«
«Selbstverständlich. Sonst wäre die Stimme ja auch aus der Ritterrüstung gekommen.»
«‹Ich bin im Salon! Und jetzt bewegen sie ihren Arsch hierhin, sonst schicke ich ihnen den Beagle auf die Eier.›»
«Junge, kneif den Beutel weg, das ist ein palmesischer Eierbeißer-Beagle», sagte der Inspektor.
»Inspektor, sehen sie, er schnuppert an ihrer Pfeife.«
«Wo hat er die denn weg?»
Die Alte lachte diabolisch. Diesmal schien ihre Stimme vom Gemälde über dem Kamin zu kommen. Es zeigte pokernde Hunde. Als Jackpot winkte ihnen ein röhrender Elch, dessen Augen sich zu bewegen schienen.
«Watte ma’ sollte ich nicht gerade noch in den Salon kommen?»
«‹Ach ja›», sagte die Alte hinter dem Gemälde. Ein Rumpeln und Klimpern, dann kam ihre Stimme wieder aus dem Salon.
«‹Verzeihen sie, aber mein Knecht Ruprecht und ich haben so lange keinen Besuch gehabt, und sonst benutze ich die Zwischenwände nur noch für’s Altglas.›»
«Knecht Ruprecht? Was ist das den für’n Scheiss-Name für ’nen Beagle? So würd’ ich ja nicht mal ’nen Windhund nennen.»
«‹Sie haben nicht mal einen Namen.›»
»Das ist auch ganz gut so. Sonst könnte mich ja jeder anrufen. Was für ein Terror!«
Wieder spielte die linke Hand des Inspektors Klavier. Die Rechte hatte aus Verlegenheit den Morgestern aufgehoben und ordnungsgemäß am Ritter positioniert.
»Kommen sie jetzt, oder was?«
»Ach wissen se was gute Frau, das ist ja ganz hübsch hier mit ihrem Zwischenwand-Budenzauber, aber ich glaub ich komm besser morgen wieder. Irgendwie bin ich gerade nicht in der Stimmung zu inspizieren. Und irgendwas knotet mir immer die Latschen zusammen, das macht ja dann auch keinen Spass.«
»Na dann bis morgen. Die Pfeife behalte ich aber hier.«
»Ja, behalten se ihn ruhig ’ne Nacht, mich nervt das Mantelgezupfe schon den ganzen Tag. Ollßn, sie wissen was zu tun ist?«
»Inspektor?«
»Sehr gut,« sagte der Inspektor und hob den Hut zum Abschied. Beim Herausgehen stolperte er noch über die gesamte Ritterrüstung, Olsen stand sofort parat und zeichnete ihren Umriss nach. Also nur den der Rüstung jetzt, der Inspektor hatte sich mit katzengleicher Geschmeidigkeit gerade noch davor gerettet, dass abermals die Lichter ausgingen.
Er winkte noch im Losfahren mit der rechten Hand, die linke spielte ‚Pop Goes the Weazle’ auf der Fahrradklingel. »Das is ja alles ein Quatsch hier...« dachte der Inspektor, und danach: »Erstmal ab im Bett.«


*

»Mann, gut, dass der Typ erstmal weg ist.« dachte der Beagle.
»Nervt, ne?« dachte die Maus.
Er lag am Fuße des Kamins und ließ sich vom offenen Feuer den Rücken wärmen, sie kam gerade aus einem Loch in der Wand zum Westflügel und gesellte sich zu ihm.
»Anstrengend ist der. Ist der so blöd, oder tut der nur so?« die Maus nahm einen kräftigen Zug von der Pfeife, der Beagle hatte sie mit allerhand Kräutern gefüllt.
»Beides, glaube ich. Außerdem macht er immer dasselbe. Umfallen, aufstehen, ‚selbstverständlich’ sagen.«
»Obwohl ich das sogar n bisschen süß find.«
»Du bist ja auch ne Maus.«
»Was soll das denn heißen?«
»Nix.«
»Wie nix?«
»Ja, nix halt jetzt. Ich bin einfach vorsichtig, okay?«
»Nee, nee, vorsichtig bin ich. Du sollst rücksichtig sein.«
»Stimmt.«
»Wieso eigentlich noch mal?«
»Wir sollen doch hier den Chor aus der griechischen Tragödie machen. Ich kuck voller Weisheit zurück und du kannst die Zukunft sehen, aber nicht verändern. Deswegen heißt du doch auch Cassandra.«
»Heiß ich? Hmm. Komischer Name.«
»Das seh ich anders..«
»Wie heißt Du denn noch mal?«
»Darwin. Die Alte sagt aber immer Knecht Ruprecht.«
»Och, das find ich hübsch. Haste jetzt eigentlich schon gemacht?«
»Ich bin stubenrein, was denkst du?«
»Nee, zurückkucken mein ich.«
»Ach so. Ja, so halb. Willst Du nicht mal nach vorne kucken?«
»Ok, ich versuch’s.«
Die Maus kletterte auf den riesigen Bordeaux roten Ohrensessel am Kamin, und warf einen Knopf, den der Inspektor bei einem seiner Stürze verloren hatte, ins Kaminfeuer.
»Man muss immer erst einen Teil der Vergangenheit verbrennen, um so Platz für die Zukunft zu schaffen!« sagte die Maus mit geschlossenen Augen und erhobenem Zeigefinger, ihr Mund war klug zu einem kleinen ‚o’ geformt.
Der Beagle dachte kurzzeitig daran sie zu küssen, flüchtete sich dann aber doch in einen Witz. »Kennste den: Was passiert, wenn man ne Maus und nen Beagle kreuzt?«
»Nix.« sagte die Maus.
»Scheiße, kannteste schon.«
»Hallo? Ich bin vielleicht vorsichtig?«
»Ach ja. Und, was siehst du sonst noch?«
»Nicht viel, nur Eckdaten. Aber, ja, doch, das ist dann doch schon einiges.«
»Ja dann sachs doch...«
Die Maus kletterte auf die Ohren des Sessels, formte ein altes Zigarettenblättchen zu einem Trichter und rief in feierlichem Ton:
»Hö-ömm...«
»Die Alte versucht den Inspektor durch die verlorene Tür zu bugsieren. Der Inspektor traut sich nicht, weil er Höhenangst hat. Der Beagle beißt ihm die Eier ab. Er flüchtet hinter die Tür. Der Beagle behält seine Pfeife. Hinter der Tür trifft der Inspektor auf das Mädchen vom Strand. Sie nennt ihn Burt, was ihn verwirrt, aber nicht abschreckt. Die beiden singen Jingle Bell Rock und gewinnen einen Preis. Der Praktikant kommt durch die Tür und holt den Inspektor mit dem Rennrad wieder zurück (nach einer spektakulären Rettungsaktion). Das Mädchen weint und bleibt am Meer zurück, wo sie für immer wartet und ihr ein Bart wächst, der ihr jedoch recht gut steht, zur Verwunderung aller Beteiligten. Der Inspektor ist allein und eierlos. Der Beagle und die Oma gründen einen Verein für Eunuchen.«
»Wow. Dir muss ja noch langweiliger sein als mir.«
»Wieso?«
»Na wenn man immer schon alles weiß.«
»Na ja, ich weiß ja nicht alles. Nur das, was ich weiß, kommt dann auch so. Dafür vergesse ich aber auch voll schnell. Was war jetzt noch mal vorhin?«
»Eigentlich nix. Der Inspektor ist hier rumgewirscht und die Alte wollte ihn locken. Dann hat er sie aber so verwirrt, dass gar nix mehr ging. Und dann ist er nach hause gefahren, weil er meinte, er hätte keine Lust mehr.«
»Hmm-hmm. Komischer Typ. Und das Mädchen?«
»Ach die versteh ich noch weniger. Aber die find ich jetzt ganz süß.«
»Die steht auf Beagles.«
»Is wahr?«
»Jap. Ganz sicher.«
»Ja dann...«

Der Kamin und alles um ihn herum schien zu schrumpfen, aber es war nur die Perspektive, die sich aus der Empfangshalle zurückzog. Sie schloss die Eingangstür von außen und verschwand irgendwo in der sternenklaren Nacht.


04 TAT EINHEIT


»Der Hut ist wohl ein männliches Genitale mit seinem emporgerichteten Mittelstück und den beiden herab-hängenden Seitenteilen.«
(Freud sich Sigmund)

»Na dann Hut ab, Inspektor.«
(Darwin der Beagle)


Donnergrollen. Blitze zerschneiden die Dunkelheit. Der Sturm rauscht über die baumbewachsene Landschaft. Dazwischen eine verlassene Landstraße. Darauf ein Rennrad. Darauf der Praktikant. Die Blitze schlagen links und rechts hinter ihm in die Baumreihen, sie scheinen ihn zu verfolgen. Seine nassen Haare beben im Takt der dramatischen Streicher. »Ich muss den Inspektor retten«, sagt er sich. Immer wieder. »Ich muss den Inspektor retten, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«

Der Inspektor wachte auf. Er hatte gut geschlafen und entschloss sich deshalb direkt aufzustehen. Er hatte irgendetwas Aufregendes geträumt, irgendjemand hatte ihn retten wollen. Solche Dinge gefielen dem Inspektor. Er schmierte sich Marmelade auf sein Frühstücksei, duschte den größten Teil seines Körpers und war bereit den Fall der verlorenen Tür wieder aufzunehmen. Nicht dass er gewusst hätte, dass dieser so hieß. Genauso wenig wusste er, dass er es sein sollte, der die verlorene Tür wieder findet. Aber so war es.
»Und heute gehe ich auch mal früh ins Bett!« sagte der Inspektor sich verbindlich.
Am Anwesen der Alten traf er zunächst auf einen Haufen Sperrmüll, darin ein riesiges Himmelbett. »Mann, das is ja mal ’n Himmelbett«, dachte der Inspektor und warf das Hollandrad, das er gestern versehentlich für den Heimweg benutzt hatte, gedankenlos in die Trauerweiden. »Boa, das is ja ma’ ’n Sperrmüll!« sagte er, als er diesen betrat. Es war nicht einfach nur ein Haufen, es war eine scheinbar endlose Landschaft. Alte Garderoben säumten baumgleich Alleen aus Teppichen, die Möbel dazwischen waren offenbar bewohnt, und am Horizont türmte sich ein Berg aus Unmengen von Schrott, Holz und alten Kandelabern. »Alten, kann der labern!« verbesserte der Inspektor den Erzähler ohne es wirklich zu bemerken. Seine Augen waren auf das Himmelbett fixiert, er war wie verzaubert. In weiter Ferne erklangen Sirenen, doch der Inspektor war zu müde. Er legte sich in das Bett und schlief.

»Warum hast du eigentlich keinen Namen?« fragte das Mädchen vom Strand.
»Warum? Alle guten waren schon weg. Clouseau, Columbo, sogar Schneider. Der hatte zwei Nullen im Namen. Aber ach, nee, der hieß Kommissar...«
»Deshalb hast du keinen Namen?«
»Irgendwie albern, oder?«
»Wenn 4...«

Ein Klingeln weckte den Inspektor. Diesmal war es das des Hollandrades, das der Praktikant entdeckt hatte.
»Aaah, hör auf zu klingeln, Mann. Das is’ ja schlimm. Hast Du nix anderes zu tun?«
»Nee, Inspektor. Die Alte ist verschwunden und der Beagle redet nicht mit mir.«
»Verschwunden was? Der Igel, wie?«
»Der Beagle, Inspektor.«
»Jaja, hatten wir schon. Wo gehen wir denn jetzt mal hin, hmm? Mehr Lust auf Sperrmüll, oder sollen wir lieber n i c h t ins Haus gehen und uns hier noch n bisschen umgucken? Wo kommt denn der Haufen hier überhaupt her?«
Der Inspektor deutete schwungvoll in die Richtung, in der noch vor wenigen Minuten die Sperrmülllandschaft gelegen hatte.
»Welcher Haufen, Inspektor?« fragte der Praktikant, der die Reste des Sperrmülls mit einem Kehrblech in den Müllcontainer an der Strasse kippte.
»Hast Du das alles weggemacht? Du Depp! Das war doch voll geil! Hast Du das nicht gesehen? Das war... ach vergisses. Komm gehen wir ins Haus.« Der Inspektor nahm den Praktikanten in einen freundschaftlichen Schwitzkasten und rubbelte ihm den Kopf. Bei zweitem Hindenken war er dankbar für eine aus dem Weg geräumte Option. »Kopfnuss, Kopfnuss...« rief er und lachte. Der Praktikant lachte auch. Beide waren glücklich und betraten eng umschlungen das Anwesen der Alten.
»Bist Du eigentlich schon mal bei Gewitter Rennrad gefahren?« fragte der Inspektor bereits zum zweiten Mal. Beim ersten Mal hatte sein Kopf wieder zu Inspizierzwecken im Ofen in der Empfangshalle gesteckt.
»Nö, Inspektor. Ich bin überhaupt noch nie Rennrad gefahren.«
»Ach, echt? Weißte was? Ich schenk Dir meins. Und du kannst auch ruhig meinen Vornamen in den Mund nehmen.«
»Sie haben einen ...? Ich dachte sie...«
»Jaha! Ich hatte auch keinen. Jetzt aber schon. Ich heiße ab sofort ‚L’inspecteur Inspektor’. Einfach nur ’nen Vornamen. Haha! Das ist der Clou; so einen Inspektor hat es noch nie gegeben!«
Der Inspektor rieb sich die Hände und feixte. Er fühlte sich als Schaffer, als unbewegter Beweger und hätte die Welt aus den Angeln heben können. [insbetttuer] Dann verfinsterte sich seine Miene.
»Scheiße.«
»Was ist denn, l’inspecteur?«.
»Nix, mein Sohn. Das verstehst du noch nicht. Ich muss denken...«
Der Inspektor hatte eine Vision gehabt. Etwas hatte ihm auf der Zunge gelegen, konnte es gar die Lösung des Falles gewesen sein? Der Inspektor lief, eine Hand am Kinn, die andere hinter dem Rücken, Rillen in den Marmorboden der Empfangshalle. Er umkurvte Ritterrüstung, Ohrensessel und Ofen, wieder und wieder auf gleicher Spur. Dann explodierte er. Er sprang auf die Ohren des Sessels, ein Knopf riss ab und flog in den Kamin. »Ich hab’s! Haha, halt dich fest, mien Jung, wir werden, woah, woah...«
Er war gefährlich weit nach hinten geneigt, ruderte mit den Amen und schien sich im nicht vorhandenen Wind zu wiegen. »Nee, nich...!«
Er landete -Bauz!- auf seiner Kiste, die er mit zur Arbeit gebracht hatte, weil er darin gern sein Butterbrot aufbewahrte. Dann rollte der Inspektor rückwärts, kopfüber in den Salon im Ostflügel.
»Aah-ha!« machte er während er aufsprang. Der Salon war gar kein Salon. Es war das Musikzimmer.
»Na hier muss ich erstmal inne halten. Boyzeck, mach die Türe zu, ich werde improvisieren!«
Der Inspektor verschränkte die Finger und ließ sie am langen Arm knacken, die Handflächen nach außen gewandt. Schwalbenschwanzartig warf er das untere Ende seines geöffneten Mantels hinter sich und setzte sich an den Flügel.
»So, dann wollen wir mal.«
Zunächst tremolierte er schüchtern im Diskant, und ließ es jäh verklingen.
Erneut setzte er an, noch zarter, noch zerbrechlicher und steigerte es nach und nach, mehr und mehr, immer lauter in einem scheinbar endlosen Crescendo bis aus dem ehemals fragilen Tremolo kurze, harte Quint-Akkorde geworden waren. Plötzlich rutschte er mit dem rechten Ellenbogen die gesamte Klaviatur hinab bis zum tiefen F, das er ewig zu halten schien, Zeit verging und entschuldigte sich, dann ließ er langsam ab.
Wieder setzte er an, diesmal zu einem zaghaften a-Moll Akkord Arpeggio, doch seine Gedanken waren längst anderswo.
»Hab ich eigentlich abgeschlossen heute morgen? Hah! Wer schielt denn da von der Wand? Die Mäusels von Avignon! Wenn da mal nicht die Omma hintersteckt!«
Der Inspektor war sich sicher, dass sich das Gemälde bewegt hatte. Seine Rechte griff zum elfenbeinenen Brieföffner auf dem Flügel, während die Linke das Bild anvisierte.
»Zack Omma, Licht aus!«
Die Klinge rotierte durch das Musikzimmer und traf eine der Demoiselles mehr oder minder genau zwischen die Augen. Eine Fontäne spritzte hervor und tränkte das am Boden liegende Tigerfell blutrot.
Der Praktikant war tot.


05 AUFGABE FLUCHT GLAUBEN

Ein schwarzer Maibach rauschte über die regennasse Fahrbahn. Eine bullige Gestalt saß in dem Fahrzeug, das ihm zunächst entgegen und dann an ihm vorbei fuhr. Dieses Fahrzeug war ebenfalls ein Maibach und die bullige Gestalt darin kein geringerer als Sergeant Sothebys.

»Der Inspektor hat seine Vision vergessen? Gut, gut. Und nur der Praktikant wusste davon? Sehr, sehr gut. Ja, in der Tat.«
Sothebys warf sein Handy auf den Rücksitz und entzündete sich bei gut 240 km/h eine kubanische Zigarre. Es sah ganz so aus, als ließe sich mit diesem Fall ordentliches Geld verdienen. Und der Inspektor funktionierte bislang besser als in seinen kühnsten Träumen. Das Mädchen vom Meer lag gefesselt und geknebelt im Kofferraum. Was sollte jetzt noch schief gehen?

*

Wie konnte alles so schief gehen? Es hieß der Inspektor habe den Praktikanten getötet. Dieser war kaum aus dem Gemälde geklappt, da hatte schon die gesamte Mordkommission im Musikzimmer gestanden.
»Inspektor? Es tut mir leid, aber wir müssen sie verhaften, wegen Mordes an dem Praktikanten. Außerdem erkennen wir ihnen hiermit offiziell den Dienstrang des Inspektors ab. Bitte händigen sie uns ihre Waffe und ihre Dienstmarke aus.«
»Selbstverständlich...« Mit hängendem Kopf hatte er die Marke übergeben. Alles schien vorbei. Dann hörte er eine innere Stimme, sie klang ein wenig wie die des Mädchens. »Du bist kein Mörder, und das weißt Du. Du bist verwirrt, siehst seltsame Dinge, aber niemals würdest Du es zulassen, dass Du diese Grenze überschreitest. Schwing Dich auf Dein Rad und verschwinde, wenn sie Dich einbuchten wirst Du nie die Wahrheit erfahren.«
»Jungs, hört mal, ich glaube ich habe meine Waffe im Rennrad liegenlassen. Fisherman?«
Er bot Agent Fisherman eine Erfrischungspastille an und lächelte charmant. Mittlerweile stand er mitten in der Empfangshalle, zehn Uniformierte sicherten den Ausgang.
»Sorry, Männer.« Der Inspektor startete er seine Flucht.
Als Agent Fisherman eine der Pastillen in seinen geöffneten Mund schieben wollte, schob die Linke des Inspektors die komplette extra- scharfe Packung nach. Während er Fisherman so außer Gefecht setzte, hatte die Rechte längst zum vertrauten Morgenstern gegriffen und mit einem Streich drei Mordkommissionspraktikanten von den Beinen geholt. Der Inspektor sprang aus der Drehung auf den Ohrensessel und kauerte in der Hocke, die Knie auf Schulterhöhe weit von sich gestreckt. Zwei Agents stürmten auf ihn zu. Er sprang ab, stützte sich auf ihre Köpfe und schlug sie im Flug zusammen, die im Männerspagat gespreizten Beine hätten die beiden zur Hilfe eilenden Praktikanten enthaupten können, doch sie beließen es bei einer betäubenden Verwarnung. In der Eingangstür warteten zwei besonders bullige Agenten auf ihn. Das heißt: er wartete auf sie. Eine Fliege, nennen wir sie Hartmut, setzte sich auf den Helm der Ritterrüstung und putzte sich die Flügel. Irgendwo in der Ferne ertönte eine Hupe. Dann blinzelten die beiden Agenten fast zeitgleich. In einer einzigen blitzschnellen Bewegung zog der Inspektor den linken Arm aus seinem Mantel und schleuderte ihn mit dem rechten um sich herum, so dass er eine Art Segel vor sich trug, mit dem er auf die Agenten zustürmte. Sogleich lagen sie zu einem beigen Paket verschnürt direkt vor dem Kamin.
»Don’t you ever fuck with me!« rief der Inspektor noch voller Adrenalin, schwang sich auf sein Rennrad und raste vom Gelände der Alten. Er verließ den Tatort eines Mordes und zugleich die Nähe zu der verlorenen Tür.


Er radelte Tag und Nacht, da er wusste, dass sie ihm keine Ruhe lassen würden. Er schlief wenige Stunden am Morgen in den Wäldern. Das hatte den Vorteil, dass er dann aus dem Verkehr war, wenn alle am intensivsten nach ihm suchten. Nachts würden sie ihn nie finden, da war er sich sicher, und nachmittags ließ ihre Aufmerksamkeit erfahrungsgemäß ordentlich nach. Außerdem konnte er so auf Lagerfeuer verzichten und hinterließ kaum Spuren. Ja, der Inspektor war gut darin zu flüchten. Nur wohin? Er musste jemanden finden, mit dem er reden konnte, ohne einen Gesprächspartner würde er diesen Fall nie lösen können. »Wüsste ich doch nur wie ich dieses Mädchen finden kann«, dachte er. Sie musste den Schlüssel haben. Sie war es, die ihn gerettet hatte. Sie war es, die ihn auch jetzt am Leben hielt, doch seine Kräfte schwanden. Er brauchte Hilfe, so viel war sicher. Dann brach er endgültig zusammen.

*

¬Das Mädchen stand nun seit vier Tagen am Strand und sprach mit dem Wasser. Irgendetwas hatte sie nicht mehr in Ruhe gelassen, seit sie am Dienstag hergekommen war, um einige Weihnachtslieder auswendig zu lernen. Sie hatte permanent das Gefühl, das Meer spräche mit ihr, spielte ein wildes und doch zärtliches Spiel mit ihr...
Ab und an war ihr der Gedanke gekommen zu gehen. Einfach nach hause zu fahren, ein heißes Bad zu nehmen um die Kälte aus ihren steifen Gliedern zu vertreiben. Auch ihre Katze Anette hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. Doch sie konnte nicht anders als dazubleiben und setzte auf ihre Nachbarin, die eh immer in ihrer Wohnung herumschmarotzte. Vielleicht würde die sogar abspülen, wenn sie eh schon mal da war....
uiik uiik uiik...
Da war es wieder4. Seit einigen Stunden hörte sie immer wieder ein vertrautes Geräusch aus den Wellen. Sie versuchte genauer hinzuhören aber schaffte es nicht. »Ich hab zuwenig Zeit«, dachte sie kurz, verstand sich dann aber selbst nicht und lauschte weiter. Vorgestern hatte sie doch ein paar mal einen Hund bellen gehört, dann wieder dachte sie, sie hätte eine krächzende Frauenstimme vernommen und nun wiederholt:
uiik uiik uiik...
Leider war sie langsam mit ihrem Latein am Ende. Sie hatte geschrieen, getanzt, gesungen, aber das Meer hatte völlig unwillkürlich geantwortet. Trotzdem - sie wusste, dass sie gemeint war, und nur sie. Sie entschied sich noch ein paar weitere Stunden zu bleiben und dem Meer noch eine Chance zu geben, ihr sein Geheimnis zu offenbaren.
Plötzlich türmte sich direkt vor ihren Füßen ein kleines Häufchen Sand auf. Ein winziges Köpfchen tauchte auf, in diesem Köpfchen öffnete sich ein riesiger Schlund und... gähnte.
»Üaaah«.
»Ääh«, sagte das Mädchen und tupfte sich ein paar Tropfen Mäusespeichel von ihrem ohnehin nassen Schuh.
»Wüsste ich doch nur wie ich dieses Mädchen finden kann.« Eine viel zu tiefe, beinahe männlich anmutende Stimme kam aus dem kleinen Mäusekörper, er schüttelte sich, bäumte sich auf, dann fiel er auf die Seite und bewegte sich nicht mehr.
Das Mädchen blickte verstört auf die im Sand liegende Maus, dann wieder zur See hinauf. »Ich brauche Hilfe«, dachte sie und dann: »Ich, oder wer jetzt?« Sie grub vorsichtig den reglosen Mäusekörper aus dem Sand aus und steckte ihn ebenso vorsichtig in die Hemdtasche. Kurz dachte sie an ihre Brust und über das Geschlecht der Maus nach. Dann wurde es Nacht.


06 WALD IS NACHT

Ein Knistern. Ein Knacken. Ein Knistern und Knacken. Der Inspektor öffnete blinzelnd die Augen. Es war Nacht und vor ihm flackerte ein Lagerfeuer. Er war eingehüllt in seinen Mantel, in dem er Tage zuvor die Agenten vor den Kamin der Alten geworfen hatte. Er sah sich um und versuchte herauszufinden, wo er war. Anscheinend lag er ziemlich genau da, wo er zusammengebrochen war, irgendwo in den Wäldern.
»Na, aufgewacht?«
Auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers saß der Beagle und röstete Marshmellows an einem langen Ast.
»Du?« Der Inspektor rieb sich verwundert die Augen.
»Marshmellow?« fragte der Beagle.
»Gern. Ich äh... was... also, häh?«
»Hattest wen anders erwartet, was?«
»Um ehrlich zu sein ja. Wobei erwartet nicht das richtige Wort ist. Mehr erhofft.«
»Ersehnt meinst Du wohl...«
»Ich... äh...«
»Hier, nimm dir erstmal was Süßes.«
Der Inspektor setzte sich neben den Beagle und verbrannte sich die Schnüff an einem perfekt gerösteten Marshmellow.
»Na, wieder mal das Maul verbrannt? Du musst echt mal langsamer machen.« Der Beagle zog an der alten Pfeife des Inspektors, sie war wieder mal mit allerhand Kräutern gefüllt.
»Darf ich auch mal?«
»Nee. Du bist so schon verwirrt genug. Aber ich hab dir einen Wein eingeschenkt, da.« Der Beagle deutete mit der Pfeife auf einen alten Baumstumpf, der wie ein Tisch hergerichtet war.
»Was machst Du eigentlich hier?« fragte der Inspektor.
»Mit Dir reden. Hab ich zwar eigentlich keinen Bock drauf, aber leider ist die Maus zu dem Mädchen. Sie meinte es soll so sein. Und sie weiß so was.«
»Es gibt sie also?«
»Die Maus oder das Mädchen?«
»Beide...«
»Was glaubst Du denn?«
»Dass es sie gibt.«
»Dann gibt es sie wohl auch.«
»Und warum solltest Du mit mir reden?«
»Damit Du mal runterkommst. Kuck Dich doch mal an, Du wirschst überall rum als wärst Du zuhause.«
»Bin ich nicht?«
»Schon, aber nicht alleine. Schon mal was von Rücksicht gehört?«
»Hör mal zu, Igel...«
»Da, das meine ich. Du weißt ganz genau, dass ich ein Beagle bin, nennst mich aber ‚Igel’, damit ich Deinen Namen trage und dann tarnst Du das Ganze noch als Witz, damit man es Dir durchgehen lässt.«
»Au.«
»Truth hurts, sagste?«
»Ja-ha. Das ist aber auch nicht sonderlich rücksichtsvoll.«
»Ich bin auch nur rücksichtig und nicht rücksichtsvoll. Außerdem: Fight fire with fire.«
»Sonst noch was?«
»So einiges, aber ich soll Dir ja helfen und Dich nicht kaputt machen. Gnn, gnn.« Der Beagle knabberte an der Krempe vom Hut des Inspektors.
»Ey, das ist mein Hut! Den brauch ich, sonst bin ich so gut wie nackt!«
»Na dann Hut ab, Inspektor. Genau darum geht’s.«
»Hat Dir die Maus gesagt, dass Du das tun sollst?«
»Nee, aber dass ich es tun werde. Und sie weiß so was.«
»Hatten wir schon.«
»Na und? Du sagst doch auch dauernd dasselbe.«
»Ich, üaaah...« der Inspektor gähnte.
»Müde? Dann hau Dich erstmal hin, wir haben Zeit.«
»Ich...«
»Jajaja. Du, Du, Du. Leg Dich hin und warte. Gute Dinge kommen zu dem der wartet.«
»Wie platt, üaaah...«
»Du auch. Und jetzt leg Dich hin, sonst schmeiß ich den Hut ins Feuer, alles klar?«
»Ist ja gut, Ig-, ich mein... Beagle. Und danke für den Wein.«
»Kein Ding, war eh Deiner.«
Der Inspektor rollte sich zu Füßen des Beagles zusammen, deckte sich mit seinem Mantel zu und träumte bald.
Nach langen, scheinbar traumlosen Stunden erwachte der Inspektor. Die Sonne knabberte lächelnd am Horizont. Er blickte sich um. Das Feuer war erloschen und der Beagle lag, den Hut des Inspektors eng umschlungen, dort wo er zuvor gesessen hatte. Er schnarchte.
»Watte ma’...« Der Inspektor begann zu denken.
»Was zur Hölle mache ich eigentlich hier? Ich lasse mir von ’nem bekackten Köter die Krempe abkauen und glaube ihm auch noch, dass das, was er da macht, gut für mich ist? Was weiß der denn schon? Den hat ’ne Maus geschickt. Ich glaub et hackt. So nich...«
Er schwang sich in seinen Mantel, pflückte behutsam seinen Hut aus den Pfoten des Beagles und betrachtete ihn. Naja, ab ist sie noch nicht, mehr stilvoll zurechtgestutzt. Danke, Bello. Er streichelte behutsam den Kopf des Beagles, der im Schlaf ein befriedigtes Knurren von sich gab. Dann griff er sich die Flasche Wein vom Baumstumpftisch und machte sich auf den Weg.
»Das Rad lass ich dem Hund«, dachte er. »War ja eh für den Praktikanten gedacht. Und von hier an geht’s wohl auch besser zu Fuß.«
Der Inspektor drang tiefer und tiefer in die Wälder vor. Ja, der Beagle hatte recht gehabt mit vielem, was er gesagt hatte. Aber was weiß er denn schon über mich? Er knabbert an meinem Hut rum und dann schnuppert er sich am Sack. Das kann’s doch nicht sein. Seit wann lasse ich mir von jemand anderem sagen, wo es lang geht. Wie soll ich denn eines Tages ‚My Way’ singen können, wenn ich Beagles hinterher dackele. Scheiß auf Hund und Maus. Und das Mädchen? Was weiß ich denn schon über das Mädchen? Dass ich in ihrer Gegenwart wahrscheinlich dahin schmelzen würde, ja. Aber sonst? Davon ab, was weiß sie schon von mir? Und war die unheilvolle Maus nicht immer dann erschienen, wenn er sich gemault hatte? Und folgte nicht direkt danach immer das Mädchen? Was war, wenn sie hinter all dem steckte? Wem kann ich denn hier noch trauen?
Er traf auf eine Lichtung, an der sich der Trampelpfad, den er beschritten hatte, mit einem anderen kreuzte. »Crossroads«, dachte er unwillkürlich und blickte sich um. »Hmm-hmm, hmm-hmm. Links, rechts, geradeaus? Wenn ich rechts lang gehe, dann treffe ich gleich auf den komischen Typen da mit dem Schlangenstab. Scheint so als verkaufe er Äpfel. Hmm-hmm. Ach kuck, und links langs steht sein Zwillingsbruder. Na das ist ja auch mal ne Art Geld zu verdienen...«
Die teuflisch grinsenden Zwillinge näherten sich ihm von beiden Seiten mit viel versprechenden Blicken.
»Nee, lasst ma Jungs. Ich hab die letzten Jahre genug Äpfel gegessen. Ich kann die Dinger nicht mehr sehen.«
Die Brüder ließen die Äpfel fallen und griffen zu Bananen.
»Nee Kinners, so schon gar nicht. Phallus-Symbolen gehe ich neuerdings aus Prinzip aus dem Weg. Jaja, die Wurst mit Bohnen könnt ihr auch wech tun. Kuckt mal, ich komm von da...«, der Inspektor deutete entspannt hinter sich. »Und wenn ich eines weiß, dann, dass mein Weg erstmal da wegführt. Also schmiert Euch dat Futter inne Haare, ich gehe geradeaus. Basta.«
Links und rechts neben ihm pufften rote Nebelwolken und die Brüder waren verschwunden.
»Siehste, geht doch...« dachte der Inspektor, und dann „bis später“ und danach »Watt?«. Er griff in die Innentasche seines Mantels und fand zu seinem Erstaunen nicht nur den Wein, sondern auch eine letzte Zigarette in einer leer geglaubten Schachtel. »Siehste wohl.« Er entzündete die Zigarette, murmelte kurz »Fags – For a good smoke. Was ein Quatsch.« und hielt inne. Der Weg vor ihm bestand offenbar aus gelben Backsteinen. Wie war das denn noch gleich? Ach ja... »...we hear he is a wiz of a wiz, if ever a wiz there was...«
Der Inspektor hüpfte den Weg entlang und ließ die Fersen in der Luft zusammen klacken. Er hatte keine Ahnung, wohin der Weg führte, aber er war sich zumindest sicher. Dieser Weg war seiner.


*


Darwin erwachte von einem Scheppern, gefolgt von einem Motzen.
»Scheiße hier alles, ach sonne Kacke. Wieso hat der das denn abgeschlossen? Ich... aaaargh.« Unter dem Baum, an dem der Inspektor sein Rad abgestellt hatte, stand eine ganz in schwarz gehüllte, glatzköpfige Gestalt und prutschte an dem Rennrad rum.
»Ach Mann, erst der Reinfall mit dem Mädchen und jetzt dieser Mist hier. Das ist doch...«
Die Gestalt war keine geringere als die Sergeant Sothebys! Darwin stand auf und trabte gemächlich auf Sothebys zu. Dann stellte er sich neben ihn und betrachtete fachmännisch Sothebys Schloss-Knack-Versuche.
»Nimmste das Rad mit, jetzt?« fragte er unverbindlich.
»Nee, ich will es nur lackieren und dafür stört das Schloss.«
»Für Sarkasmus ein bisschen schwach. Aber na ja, sie haben sicher andere Stärken. Das Schloss ist übrigens nur als Blender über den Sattel geschwungen...«, sagte Darwin bereits im Weggehen.
Er kehrte zurück zum erloschenen Lagerfeuer und begann aufzuräumen, indem er die Tischdecke vom Baumstumpf nahm und faltete.
»So so, der Sergeant klaut das Rad und der Inspektor stiefelt die gelbe Backsteinstraße hinunter. So weit so gut. Dann können wir nur hoffen, dass bei der Maus auch alles nach Plan verläuft, was?« fragte der Beagle einen buckligen Schatten zwischen den Bäumen.


07 ALLES NICHTS

»Was gibt’s denn?« »Alles und nix.«
(Der Inspektor) (Der Zauberer)


Ein Telefonmast am Rande einer einsamen Landstraße. Sie zerschneidet das Grau der zugefrorenen Felder und verbindet so Horizont mit Horizont. Auf der stählernen Leitung von diesem zum nächsten Masten sitzt ein einsames Rotkelchen. In seinen kleinen Klauen beginnt die Leitung zu schwingen, es öffnet seinen Schnabel und lässt die Stimme des Beagles ertönen.
»Alles klar bei Dir?«
»So weit ja...« antwortet die Maus.
»Wo bist Du?«
»Irgendwo auf dem Land. Nur alte Leute hier. Ich glaube wir fahren heute Nacht weiter.«
»Und wo bist DU?«
»Immer noch in ihrer Tasche. Aber obwohl ich ihr so nah bin, komme ich irgendwie nicht an sie ran. Sie will nicht reden, glaube ich, oder sie kann nicht. Immer irgendwas zu tun. Ich glaube sie brütet.«
»Ein Ei...?«
»Oh, bitte...«
»Tschuldigung.«
»Was macht er?«
»Er stolpert durch die Wälder. Weiß nicht ob’s ihm wirklich gut geht, aber er macht abgefahrene Sachen hier. An einem Tag lässt er die Belze-Buben verpuffen, am nächsten trinkt er sie mit Whiskey unter den Tisch, Dann rennt er vor ihnen weg. Und wieder von vorn. Beim Kartenspielen wollen sie ihn natürlich immer gewinnen lassen, aber er lässt sie gewinnen. Völlig irre.«
»Hat er irgendwas unterschrieben?«
»Nö, aber ne Menge versprochen. Irgendwie tanzt er mit denen und keiner weiß, wer führt. Wird er es schaffen?«
»Hat er es nicht immer irgendwie geschafft?«
»Schon, aber das ‚wie’ wird immer...«
»...eigenartiger? Ja, das soll es doch auch.«
»Wird es denn außerhalb der Wälder funktionieren? Er hat so lang niemanden gesehen und war schon vorher, sagen wir... eigenartig.«
»Er wird stärker. Zumindest glaubt er das. Dann wird er es auch. Hat er schon Yoda getroffen?«
»Nee, aber den Zauberer.«
»Wie lief’s?«
»Er hat ihn mit ‚Willkommen’ begrüßt, in seinem Palast. Was ein Vogel...«
Das Rotkehlchen schließt den Schnabel und putzt sich kurz unter den Flügeln.
»Was?« erklingt wieder die Maus. „Was hast du gesagt?“
»Ein Vogel, der Inspektor...«
»Ich hör Dich voll schlecht, sie fährt gerade durch einen Tunnel.«
»Ich schreib’s Dir auf.«
»Was?«
»Ich... ich liebe Dich!« sagte der Beagle, senkte den Kopf und griff sich mit der Pfote an die Augen.
»Kannste’s mir aufschreiben? Ich hör hier nix und sie kämpft hier im Tunnel gerade mit grauen Engeln. Wußtest Du, dass sie Kung Fu kann?
Ich ruf Dich zurück, versprochen...«
Der Beagle hängte das Hörrohr in den alten Telefonapparat, griff sich noch mal mit der Pfote zwischen die Augen und dann zur diamantbesetzten Montblanc-Feder der Alten. Er begann zu schreiben.
»Der Inspektor ging...«
Er zerknüllte das Blatt und warf es in den Bastkorb unter dem vergitterten Loch in der Steinmauer, das er Fenster nannte. Wieder setzte er an.

»‚Will kommen!’ sagte der Inspektor, als er die Höhle des Zauberers betrat. ‚Was gibt’s denn?’
‚Mo-mang, haben sie nicht mein Reich betreten?’
‚Jaja, klar. Und? Was gibt’s?’
‚,Sie be-, sie, äh, sie... kommen sie...’
*seufz*
‚Was wollen sie denn wissen?’
‚Alles, sonst hätte ich ja draußen bleiben können.’
‚Wissen sie was?Ich mag ihre Art.’ sagte der Zauberer.
‚Was denn?’ fragte der Inspektor, der den Grünnebel speienden Ofen des Zauberers entdeckt und umgehend von innen inspiziert hatte.
‚Nichts. Sie wollen also alles?’
‚Ja, gern. Was gibt’s denn da so?’
‚Wie wäre es mit Zusammenhängen? Die meisten, die herkommen wollen Zusammenhänge.’
‚Oh ja, Zusammenhänge find ich hübsch. Was haben sie denn da so für mich?’
‚Gegensätze.’
‚Ah...ha?!?’
‚Gegensätze hängen zusammen. Immer. Und in jedem Zusammenhang gibt es Gegenstätze. Das ist alles.’
‚Klingt für mich eher nach nix. Hamse da vielleicht was zum Vorführen? Ich denke sie sind Zauberer...’
‚Zauberer, ja. Kein Illusionist. Wenn sie erwarten, dass hier weiße Tiger in die Freiheitsstatue und zurück wandeln, dann sind sie hier richtig falsch.’
‚Hmm-hmm, hmm-hmm. Und das mit den Gegensätzen?’
‚Geben sie mir ein Beispiel aus ihrem Leben.’
‚Das ist ein bisschen schwer, so ganz ohne Zusammenhang.’
‚Sehen sie?’
‚Sehe ich was?’
‚Denn Zusammenhang der Gegensätze?’
‚Guter Mann, ich glaube sie haben deftig einen an der Klatsche.’
‚Mag sein. Schon mal was von _____________ gehört?’
‚In welchem Zusammenhang?’
‚Als Gegensatz.’
‚Aaaaaah, so langsam... Weiß ist schwarz ist weiß. Ohne Scheiß?’
‚Was sind sie von beidem?’
‚Das, dachte ich, könnten sie mir vielleicht verraten.’
‚Hab ich das nicht bereits?’
‚Sie meinen beides?’
‚Ich meine gar nichts. Ich glaube gar nichts. Ich glaube alles, ich meine alles, ich meine... nichts. Sie müssen sich entscheiden.’
‚Hmm-hmm, hmm-hmm. Äh, ja. Hören sie mal, es ist ja ganz schön hier mit ihrem Nebel da und dem Gegensatzgefasel, aber ich glaube ich komme besser später wieder.’
‚Das ist ihre Entscheidung.’
‚Ich weiß.’
‚Dann verlassen sie mein Reich als Wissender. Das war es doch, was sie wollten. Mu-hu-ha-ha-ha-haaaar...’ machte der Zaubererer, breitete seinen purpurnen Umhang aus und verschwand im grünen Nebel.
‚Oh Mann, es gibt immer einen, der noch mehr spinnt.’
‚Es dreht sich A l l e s ! Alles um n i c h t s. Mu-hu-ha-harrr.’ Mit großen Gesten spottete der Inspektor den Zauberer nach und musste darüber kichern, wie schwarz es klang. ‚Irgendwie beruhigend’ dachte er und verließ die Höhle, während irgendwo in der Ferne eine verträumte Johnson sang und fast im knisternden Lagerfeuer unterging.«

Naja, irgendwie so war das wohl, dachte der Beagle, merkte dann, dass er diesen Satz aufgeschrieben hatte und strich ihn durch. Dann griff er zum Goldstaub, hielt sich seine Pfote vor die Schnauze und blies behutsam über die noch frische Tinte. Er legte die Seiten beiseite, zog neue Saiten auf und begann behutsam seine Johnson zu streichen. Dabei blickte er müde durch das vergitterte Fenster zu den Sternen und fragte sich sehnsüchtig, ob die Maus dieselben Sterne sah.


PANORAMA-SPIEGELSPIEL


Der Inspektor war tief in die Wälder vorgedrungen. Er hatte Orte gesehen und Worte gelesen, von denen er unweigerlich glauben musste, sie betreten zu haben. Er hatte den Zauberer getroffen, die Brüder mit den Schlangenstäben und vieles mehr. Das meiste davon war unbeschreiblich gewesen. Und immer hatte er das Gefühl, das Mädchen sei bei ihm. Ja, das Mädchen. »Ach, Dulcinea...« machte der Inspektor und danach: »Watt?«
Am Ausgang der Höhle des Zauberers hatte ihm einer der Einparker eine Karte mit den bekanntesten Attraktionen des Waldes für teuer Geld verkauft. Der Inspektor hielt die Idee ursprünglich für Quatsch und hatte seine Meinung seitdem auch nicht geändert. Er fand die Karte scheiße. Er zerknüllte sie auf der Stelle und setzte an zu einem Sprungwurf in einen aus unerfindlichen Gründen auf drei Metern Höhe angebrachten Mülleimer vor der Höhle des Zauberers. Dann ging wieder das Licht aus, und diesmal richtig. Genau genommen passierte unendlich viel. Mit dem Inspektor, dem Mädchen, im Wald, mit der Maus und dem Beagle. Nicht zu vergessen Sergeant Sothebys. Und die Alte und ihr Anwesen. Selbst der Praktikant war gar nicht tot, allein diese Geschichte war völlig irre. Und dann wartete da noch der fiese Oberschurke Jesus Hitler!
Als der Inspektor wieder zu sich kam, hatte er plötzlich einen Namen. Und er wusste nun, was zu tun war. »Na dann werd’ ich wohl los« dachte Inspektor Dante Faustino.


» FAST VORWORT...


PERSPEKTIVEN


»Faustino gehört zu den Lesehöhepunkten meines Jahres. Man ist durchgängig in einem wahrhaft ‹irrsinnigen› Groove. Die Beschreibungen von Gestik, Mimik und Bewegung sind so auf den Punkt und einfallsreich, dass sie meiner eigenen Darstellungstechnik die morschen Knochen lockerten.«


Oliver Uschmann, Wortguru
(Hartmut & Ich, Haus der Künste)


»Hat mich der Lesestoff verändert? Musste Faustino in die Welt? Es entsteht für mich nichts. Der Text vernichtet sich selbst, wie eine Leuchtrakete im Regenguss...«

Jürgen Hille, Realitätsforscher
(Klangportraits)


»Es geht alles zu seiner Zeit. Alles! Sogar nichts!«

Esmeralda Delacroix, Voodoo-Yoga-Therapeutin
(Heavenly Tuning)


Dankeschön.

Alles Liebe,
Der Sommer.

PS: Bitteschön.


©netword XXIII, 2008

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.11.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /