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Das Haus der Geschichten
(c) Patricia Koelle

Ich schreibe Geschichten, weil ich Geschichten höre, auch die stillen. Die ersten erzählte mir mein Elternhaus. Dort wurde mir das Schreiben zur Gewohnheit und zur Leidenschaft. Das Haus ist inzwischen über hundert Jahre alt, aber schon damals hatte es zwei Weltkriege überlebt. Es war voll von lautlosen Stimmen.
Wenn ich aus meinem Zimmer das alte Parkett knarren hörte, wusste ich, dass mein Vater gedankenverloren auf und ab wanderte und Ideen wälzte. Mein Vater sorgt für die Geschichten der Zukunft. Er hatte an der Planung der Mondraketen mitgewirkt, und nun arbeitete er unter anderem an Entwürfen für eine Siedlung auf dem Mond. Die Stimme des Parketts spiegelte seine Laune; ich verstand sie genau, während er die Geräusche gar nicht wahrnahm. Doch das Parkett knarrte gelegentlich auch dann, wenn niemand Gegenwärtiges darauf herumlief. Das waren die Geschichten der Vergangenheit. Ich sah Kinder darauf spielen, die längst alt geworden und verschwunden waren; ich sah Soldaten in Uniform durch das Haus stampfen und Köchinnen, die Kohl und Kartoffeln aus dem Garten herauf schleppten. Das Parkett erinnerte sich an ihre Schritte, und wenn es sich langweilte oder ein bestimmtes Wetter es weckte, hörte man ihr Echo.
Natürlich hatten wir auch richtige Geister. Zwei Menschen hatten sich in diesem Haus aus Angst vor der Zukunft das Leben genommen, das war aktenkundig. Zwischen den Kriegen hatte ein Bankier sein Vermögen verspielt und erschoß sich auf dem Dachboden dort, wo später mein Schreibtisch stand. Jahre später rief ein Mann seine Frau im Dienst an, was sie zu Mittag essen wolle. Er ging einkaufen, bereitete ein Steak vor, stellte es auf den Küchentisch und erhängte sich am Fensterkreuz. Das Haus jedoch hatte keine Angst vor der Zukunft. Für uns gehörten die Hausgeister dazu und waren eine seltsam beruhigende Gegenwart. Wenn irgendwo aus unerfindlichen Gründen eine Schublade offen stand oder etwas verloren ging, so waren selbstverständlich die Geister dafür verantwortlich: bei fehlenden Dingen der Bankier, bei seltsamen Geschehnissen der Mann mit dem Steak.
Das Haus hatte noch andere Stimmen. Man konnte sein Herz schlagen hören. An knackig kalten Wintertagen erwachte ich davon, dass es in der Heizung rhythmisch rumpelte. Es war sehr frostig an solchen Morgen, denn natürlich zog es durch die alten Fenster, so dass meine Mutter Kissen auf die Fensterbank legte und die Gardinen damit festklemmte, die sich vor allem morgens im Luftzug bewegten, als winke die Nacht zum Abschied mit dem Taschentuch.
Das Rumpeln in der Heizung war der Hausmeister, der Kohle nachlegte und den Ofen anheizte. Oft blieben das Rumpeln und die Wärme aus, wenn er mal wieder zu tief ins Glas geschaut hatte und verschlief. Dann klopfte meine Mutter energisch mit ihrem Ehering an den Heizkörper. Dieses unwirsche Morsezeichen wanderte an den Heizungsrohren nach unten in den dunklen Bauch des Hauses und weckte den Sünder irgendwann gnadenlos.
Der Hausmeister lieferte uns ohnehin, wie dem Klischee geschuldet, den Bösewicht, den so ein Anwesen braucht. Er mochte keine Kinder außer seinem Enkel. Wenn wir an seinem Fenster vorbei liefen, duckten wir uns; erwischte er uns doch, fuchtelte er bedrohlich mit dem Besen und bedachte uns mit Schimpftiraden, wie es sich für einen anständigen Bösewicht gehört. Vor den Hausgeistern fürchteten wir uns nicht, aber der Hauswart sorgte für das angenehme Gruseln und den kalten Schauer das Rückgrat hinauf. Allerdings hörte er an dem Tag auf, bedrohlich zu sein, an dem er um Hilfe rief, weil seine Frau in dem engen Türrahmen seiner Toilette steckengeblieben war.
Der Garten war natürlich ebenso randvoll mit Geschichten wie das Haus. Dass man von den großen, unregelmäßigen Feldsteinen, aus welchen das untere Drittel der Hausmauern bestand, nur den richtigen hervorstehenden drücken, drehen oder mit einem genialen Zauberspruch bedenken musste, um ein geheimes Verlies oder eine Schatzkammer zu öffnen, wussten wir schon lange ehe Harry Potter erfunden wurde. Selbstredend war auch unter oder im Kirschbaum oder irgendwo anders ein Schatz oder wenigstens die dazugehörige Karte versteckt. Dies bestätigte sich, als wir beim Aushub eines Teiches mehrere Glasperlen, Murmeln und den griesgrämigen Kopf eines Affen aus Stein entdeckten. Der ideale Ort dafür wäre ja der alte Eiskeller gewesen, den es laut alter Pläne gegeben haben soll. Aber von dem war nur noch ein Hügel übrig, auf dem eine gewaltige Linde thronte, und den Eingang fanden wir nie, obwohl wir immer wieder zwischen den Wurzeln herumstocherten.
Die schräge in der Erde versenkten Backsteine, mit welchen die Beete eingefasst waren, ergaben hervorragende Burgzinnen, und des schmiedeeisernen Zaunes, über den man nur mit einer bestimmten ausgefeilten Technik klettern konnte, hätte sich keine Festung schämen brauchen. In den Erdbeerbeeten hinter der Dornenhecke hätte man sich fast verlaufen können, und ein toter Igel, den wir dort fanden, erschreckte uns genug, um für ein paar Tage die Obstraubzüge zu unterlassen. Vielleicht hatte ja der Hausmeister den Igel auf dem Gewissen. Dafür wurde das Schaukelgerüst zum stolzen Segelschiff, mit dem wir auf den Weltmeeren allen Gefahren trotzten.
Wenn es regnete, war wieder das Haus für die Geschichten zuständig. Da mein Vater schon den Mond besetzt und meine Schwestern den Mars mit einer Kolonie Gespenster besiedelt hatten, baute ich meine Geschichten auf die Venus. Die Aufgeschriebenen versteckte ich unter einer losen Teppichfliese. Zudem war ich überzeugt, dass in meiner Zimmerdecke eine Luke nach oben führte, in einen geheimen Raum, in dem ich den Sommer über die Rentiere des Weihnachtsmannes hütete. Sie waren gleichzeitig meine Freunde, die stets geduldig und mit großen Augen meinen Kümmernissen lauschten.
Im Badezimmer spiegelte sich die hohe Stuckdecke in der vollen Badewanne, und der Stuck malte auf diesem Wege Korallenriffe und Polarlandschaften in das Wasser. Ein Epos nach dem anderen spielte sich dort ab: Schiffsuntergänge und Fischfamiliendramen, Seekriege, Seeungeheuer und Pinguinschulen.-
Im Bastelkeller stand unter anderem der Brennofen, den man für Emaillearbeiten benötigte. Sein gefährliches orangerotes Glühen verriet, dass sich hier die Hölle in Miniatur mitten in unserem Haus befand, was gut zu der staubigen verbotenen Schwärze des Kohlenkellers passte. Im Kartoffelkeller wiederum roch es dermaßen modrig, dass es ganz bestimmt mit irgendeiner Leiche zu tun hatte, und wenn es die einer Maus war. Ich wagte kaum zu atmen, wenn ich Kartoffeln heraufholen musste.
Auf dem Dachboden mit den schrägen Wänden und der steilen Treppe hingegen waren es die Spinnweben, die knarzenden Balken und der Staub, der im Licht tanzte, die abstießen und anzogen zugleich und als Kulisse für jede Art Geschichten zu gebrauchen waren. Aus den Wänden kamen manchmal alte Zeitungen von neunzehnhundertsiebzehn sowie gestopfte Wollsocken zum Vorschein, mit welchen frühere Dienstmädchen sich in den kargen Kammern gegen den Winterwind zu schützen versucht hatten. Auch diese Socken hatten Stimmen, die erzählten; ebenso wie der verblichene Vermerk eines Dachdeckers anlässlich des Richtfestes neunzehnhundertfünf, der bei Renovierungsarbeiten zutage kam. Dann war da das geschnitzte hölzerne Treppengeländer, bei dem jeder zweite Balken fehlte, da diese in der Not verheizt worden waren. Auch die Einschusslöcher im schmiedeeisernen Balkongeländer schwiegen nicht.
Dem Krieg war das Zwiebeltürmchen auf dem Treppenhaus zum Opfer gefallen. In späteren Jahren bauten meine Eltern es wieder auf, allerdings als schlichtes Türmchen, die Zwiebel wäre zu teuer gewesen. Nun gab es jedenfalls wieder das erträumte Turmzimmer, gerade groß genug für zwei Sessel und das Teleskop: Vaters Cockpit, in das er sich zum Denken zurückzog oder mit wichtigem Besuch. Von dort aus konnte man nicht nur die Sterne sondern auch an Silvester das Feuerwerk über der Stadt sehen.
Im Esszimmer gab es den gewaltigen schwarze Tisch, den man nach der Montage nicht mehr hatte aus dem Haus tragen können und den meine Eltern daher mit der Wohnung übernommen hatten; das Gesellenstück irgendeines längst verstorbenen Tischlers. Er stand auf baumdicken Beinen mit Klauenfüßen, und man konnte an jedem Ende endlos Platten herausschieben und Beinpaare herausklappen, bis gut und gerne sechsundzwanzig Leute daran Platz nehmen konnten. Was der schon erlebt und gehört haben musste! Ich saß gern darunter, da ich mich dort absolut sicher fühlte. Wenn Familienfeiern stattfanden, hörte ich die Gespräche dumpf durch die Platte und sah sie förmlich am Tischrand heruntertropfen und in die Ritzen kriechen, doch es waren nicht die Stimmen meiner Familie, die ich hörte, sondern die von lang vergangenen Festen fremder und großartiger Leute in Samtanzügen und Brokatgewändern.
Man hätte den Tisch nie in seiner vollen Länge ausziehen können, wären nicht das Ess- und das Herrenzimmer ineinander übergegangen, nur durch eine riesige Schiebetür getrennt, die ausschließlich an Weihnachten vor der Bescherung geschlossen wurde. Die beiden Zimmer zusammen ergaben einen hallenartigen Raum, in dem außer dem Endlostisch nicht nur eine großzügige Sitzgarnitur plus des riesigen Schreibtischs meines Vaters Platz hatte sondern auch eine Tischtennisplatte und das Klavier meiner Schwester. Die Tischtennisplatte wurde nie abgebaut. Fast neunzigjährig jagte meine Großmutter noch immer vor dem Essen meinen Vater daran hin-und her. Ich durfte die Bälle holen, die unter den Schränken verschwanden, wobei ich interessante Runen im Parkett entdeckte, die ich ganz gewiss eines Tages hätte entziffern können, hätte ich sie nicht selbst dort beim Rollschuhlaufenlernen hinterlassen. Ich übersetzte sie trotzdem, was seitenweise Geschichten aus den Silbernen Wäldern ergab, in welchen ich auf einem Flamingo unterwegs war.
Meine Eltern sammelten nicht, wie manche von Vaters Kollegen, Pelzmäntel, vergoldete Kaffeelöffel oder chinesische Vasen der Ming-Dynastie. Sie sammelten Namen auf Listen: die Namen der Vögel, Tiere und Insekten, die uns im Laufe der Jahre im Garten besuchten, die Namen der Blumen, die bei uns wuchsen und die der Früchte, die wir ernteten. Wir hatten einen beleuchteten Schrank für selbstgesammelte Fossilien und Mineralien und einen für Muscheln und anderes Seegetier. So etwas löste unseren Jagdinstinkt aus; das waren die wirklichen Schätze, und das vielbändige Lexikon stand gleich daneben und düngte und befriedigte unsere allzeit gegenwärtige Neugier. Stand etwas nicht im deutschen Brockhaus, war es in der englischen Britannica zu finden.
Vielleicht lag es an diesem Haus, dass ich es woanders meist langweilig fand. Die Häuser von Freunden, Bekannten und Verwandten kamen mir allesamt nackt und öde vor. Nachts lag ich wach und lauschte auf Stimmen, die es nicht gab. Die Häuser blieben stumm; sie bargen keine Geschichten, die sie meinem Hunger danach hätten preisgeben können. Meinen Eltern muss es ähnlich gegangen sein, denn sie verreisten immer widerstrebender und verlegten sich darauf, wenn Reisen unumgänglich war, wenigstens in Burghotels zu übernachten. Dort gab es sie wieder, die Schatten und Stimmen, die mir Altes neu erzählten und Samenkörner für Geschichten herausrückten.
Doch die Fundamente jenes Hauses, in dem ich meine ersten Buchstaben malte, sind die Fundamente meines Schreibens. Und die Geschichten sind immer noch dort unterwegs, alte und neue, geschriebene und ungeschriebene.
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Wem dieser Text gefallen hat, findet meine besten Geschichten in: Patricia Koelle, "Die Füße der Sterne", Ronald Henss Verlag 2008

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Tag der Veröffentlichung: 11.05.2009

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