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Wir lagen nackt auf einem Dach und sahen uns in die Augen. Das klingt jetzt sicherlich ganz irre romantisch, aber ich gebe offen zu, dass es das nicht war.


Ich habe nachgedacht. Etwas zuviel für meinen Geschmack. Noch heute gehe ich gerne auf dieses Dach, das uns damals vorkam wie der schillerndste Ort der ganzen verfluchten Welt. Ein pulsierendes Mekka der größten Ansammlung von Helden, die es je gegeben haben mag.

Wir waren Könige und herrschten wie Götter über das Regiment Straßenlaternen und nächtlicher Verkehrsaufkommen, deren Lichter uns zu huldigen gedachten. Beglitten von Engelschören aus neun mal einskommafünf Volt D-Zellengetriebenen Kassettenrekordern, saßen wir nächtelang auf unserem Thron aus schlichter Teerpappe und philosophierten uns den Sinn des Seins zurecht, während unter uns das stete Treiben abnahm, bis auch wir müde genug waren und einer dem andern gleich unseren Olymp verließen.


Siebenundzwanzig Kisten Bier und einige Jahre später sieht die alte Dachterrasse allerdings nicht mehr ganz so schillernd aus. Woher denn auch? Sie war es nie gewesen.

Und was noch schlimmer ist: Wir selbst waren auch nie davon überzeugt gewesen. Was wir taten, war schlichtweg das, was wir auch auf jedem anderen Architektonischen Gebilde hätten tun können.
Wir tranken und rauchten und schwoften über das Leben, dessen wir selbst schon lange überdrüssig waren, weil wir ahnten, wohin es uns tragen würde. Fünf pubertierende Neurotiker, die zufällig die stets geöffnete Tür zur Dachtreppe meines Hochhauses fanden und damit sogleich ein Ticket für sozialen Aufstieg in der Hand hielten.

Nicht das wir solche Loser gewesen wären. Ich möchte behaupten, wir waren etwas ähnliches wie akzeptiert. Wir waren nicht die aknegeplagten Computerfreaks, deren heutige Gehaltsabrechnung mich wahrscheinlich augenblicklich dazu verleiten würde, mir ernsthafte Gedanken über ein intensives Mitarbeitergespräch zu machen. Wir gehörten auch nicht den strebsamen Gemütern an, die sich heute sicherlich mit dem Klima beschäftigen. Auch keine Schläger oder Auto-Tuner oder Mädchenschwärme waren wir, um dem Duktus der Schulklischees treu zu bleiben.

Nein, wir waren die Normalversager. Der unbarmherzige Auswuchs dessen, was man Mittelmaß nennen darf.

Und plötzlich hielten wir eine Türklinke in den Händen, die uns über Nacht zu hochgelobten Schulhofstars avancieren ließ. Wer hätte gedacht, dass die bereits erwähnte Teerpappe einen ganzen Jahrgang anzog? Und sich obendrein niemand jemals beschweren würde?

Tatsächlich befand sich der obere Hausabschluss jedoch über den Köpfen eines sehr geduldigen und stets gut gelaunten Hausmeisterehepaares, das uns schließlich diese eine große Party erlaubt hatte, nachdem die höflichen Normalversager ihnen einen angemessenen Kuchen gebacken hatten. Was natürlich den Faktor der Illegalität schmälerte, weswegen wir auch niemals davon erzählten.

Herr Klein – so hieß der Hausmeister – ließ sich eine abschließende Prüfung der Umzäunung des Daches und aller Aufbauten allerdings nicht nehmen. Heute frage ich mich manchmal, ob der Mann wusste, worauf er sich damals einließ.

Jedenfalls ist keiner an diesem Abend betrunken vom Dach gefallen.


Siebenundzwanzig Kisten Bier und einige Jahre später klingt das alles mordsgefährlich. Man stelle sich nur einmal den ganzen Aufruhr vor, der aus übermäßigem Alkoholkonsum von unachtsamen Jugendlichen resultierte.

Noch heute sehe ich die lachenden Gesichter von etwa fünfzig Leuten vor mir, die sich alle Gruppendynamischen Zwängen unterliegend nicht wirklich leiden konnten.
Ich sehe meine vier Freunde aus alten Tagen, wie sie gemeinsam mit Fraktionen jeglicher Schulhofecke konspirierten.

Und ich sehe ein unerreichbares Mädchen, das mich fragt, ob es denn hier eine Toilette gäbe, während ich vor lauter Schüchternheit ebenfalls gerne auf einen solchen Ort verschwinden möchte.
Natürlich gab es eine Toilette in meinem Domizil. Vier Stockwerke tiefer und Elternlos.

Ein paar Minuten später hat sie mein Zimmer betrachtet und teilt mir mit, es sei irgendwie ganz schön spießig. Ich brabble unverständlichen Mist vor mich hin, lehne mich schulternzuckend zur Seite und halte das Gespräch kaum aus. Dabei findet sie, ich müsse unbedingt lockerer werden und spendiert mir einen Tequilla auf Hausmeister Kleins Dachpappe. Sicherlich. Heutzutage kann man sich denken, was solcherlei Aktionen beinhalten, doch damals? Pubertierend? Mehr als genug damit beschäftigt aufrecht zu stehen?

Ich jedenfalls wusste nichts davon, dass sie nur Momente davon entfernt war, mich zu küssen und mit mir in das spießige Zimmer zu verschwinden, das sie anscheinend trotzdem leiden konnte.

Stattdessen benahm ich mich wie ein Hinterwäldler in ihrer Gegenwart. Ich frage mich manchmal, ob sie damals überhaupt ein Wort von dem verstanden hat, was ich sagte. Und ob „von hier oben kann man echt tief gucken.“, wirklich ein kluger Satz war. Zumal ich mindestens einen Daumen, wenn nicht sogar beide ausgestreckt und gegrinst habe.


Siebenundzwanzig Kisten Bier und einige Jahre später klingt das alles ziemlich dämlich. Schließlich war nichts von dem, was wir damals vollbracht haben, eine wirkliche Leistung. Meine heutigen Freunde wissen davon nichts, aber die Tatsache, dass wir auf diesem Großstadtdach waren, ist nicht so berauschend wie sie klingt.

Natürlich war es eine schwüle Nacht gewesen und wir hatten sogar Lampions. Genau so, wie man sich das vorstellt. Romantisch verklärt und am liebsten mit Happy End.

Ich würde gerne sagen, dass ich damals die große wahre Liebe gefunden habe und dass ich heute noch mit dem wunderschönen unerreichbaren Mädchen zusammen bin. Aber die Wahrheit sieht anders aus.
Ich habe es damals kaum geschafft, ihr gegenüber auch nur einen einzigen sinnergebenden vollständigen Satz zu formulieren. Also füllten sie, meine Freunde und ich mich so lange ab, bis ich nicht mehr aufhörte zu reden.

Ihr erging es kaum anders. Wir schmetterten uns alle Geschichten, die wir bis dato kannten schlecht artikuliert um die Ohren, hielten Vorträge über Teerpappe und Straßenlaternen und ehe wir es uns versahen, waren wir die letzten auf der höchsten Party dieser Stadt.


Heute kann ich nicht mehr sagen, ob es Erschöpfung war. Siebenundzwanzig Kisten Bier und einige Jahre später sind die Empfindungen stumpf geworden. Ich weiß noch, wie wir uns küssten, wie ich ihr mit der Hand durchs Haar fuhr und sie mir sagte, dass sie mich mag.


Wir lagen nackt auf einem Dach und sahen uns in die Augen. Das klingt sicherlich ganz irre romantisch.

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Tag der Veröffentlichung: 24.04.2009

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