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Schicksalsbegegnung


Er war doch immer so optimistisch und gut gelaunt, und seine Heiterkeit war ansteckend. Man unterhielt sich gerne mit ihm, denn er hatte ein grosses Allgemeinwissen, das er gerne und ausführlich mit allen teilte, die es interessierte. Sein Humor war in der ganzen Firma bekannt. Und wenn wir bei unserer täglichen Arbeit ein Problem hatten, wandten wir uns stets als Erstes an ihn, da er oft mit innovativen Ideen helfen konnte. Es schien, als könne ihn nichts aus der Ruhe bringen, und so schaffte er es immer wieder, dass die Leute sich beruhigten, wenn etwas nicht funktionierte. Ich habe noch nie jemanden etwas Schlechtes über ihn sagen hören. Ich wüsste auch nicht was. Alles, was er anpackte, schien zu funktionieren. Man konnte richtig neidisch werden auf ihn, denn er hatte alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Er war ein guter Finanzexperte und hatte seine eigene Abteilung. Finanziell hatte er ausgesorgt, und er zeigte gerne seinen Wohlstand. Er war mit einer sehr attraktiven Frau verheiratet, mit der er die Welt bereiste. Da sie keine Kinder hatten, genossen sie das Leben in vollen Zügen. Alle beneideten ihn, doch jeder gönnte es ihm, da er einfach ein toller Typ war.

Umso erstaunter waren wir, als er plötzlich monatelang nicht mehr zur Arbeit kam. Niemand wollte uns sagen, was wirklich los war. Er sei krank, aber man könne auf seinen Wunsch hin keine Einzelheiten geben. Sein Telefon nahm er nicht mehr ab, und auch die E-Mails wurden nicht mehr beantwortet. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Dann teilte man uns mit, er habe gekündigt. Da musste etwas Schlimmeres passiert sein.

Jetzt ein Jahr später sitzen wir uns gegenüber in einem kleinen Café, wo wir uns zufällig begegneten. Ich erkenne ihn fast nicht wieder. Der strahlende Playboy, der immer perfekt gestylt war, dessen Körper die Männer neidisch werden liess und die Frauen zum Träumen brachte, sitzt vor mir wie ein Schatten seiner selbst. Unrasiert, mit dicken Tränensäcken kauert er in seinem Stuhl, wie wenn er sich vor etwas verstecken würde. Sein Blick wirkt leer, und sein sonst so heiteres Gesicht erscheint wie eine traurige Maske. Nach einem kurzen Smalltalk frage ich ihn zaghaft, was denn passiert sei und wo er jetzt arbeite. Mit einem müden kraftlosen Lächeln erklärt er mir, dass er ein Burnout hatte und nun in Behandlung sei wegen einer Depression. Ich bin sprachlos, das habe ich nicht erwartet. Als er weiterredet merke ich, dass es ihm schwerfällt. „Du weisst ja, ich habe diese drei Projekte geleitet. Es musste wie immer alles so schnell wie möglich abgeschlossen werden. Viele Überstunden und Wochenendeinsätze wurden zur Regel. Ich lebte nur noch für die Firma. Ich sah kaum noch meine Frau, hatte keine Zeit für Sport und andere Freizeitaktivitäten, und auch sonst pflegte ich keine privaten Kontakte mehr. Ich sah nur noch die weitere Beförderung und die dazugehörige Gehaltserhöhung. Meine Frau beschwerte sich immer mehr, und wir stritten fast täglich. Schliesslich ist sie zu ihren Eltern gezogen. Wahrscheinlich lässt sie sich scheiden. Ich aber stürzte mich noch mehr in die Arbeit, um auf andere Gedanken zu kommen, aber das war ein Fehler. Ich bin zusammengebrochen.“

Er macht eine Pause und ein beklemmendes Gefühl überkommt mich. Seine Traurigkeit trifft mich mitten ins Herz. Vor mir sitzt ein gebrochener Mann, der mit sich ringt und nach Worten sucht. Nichts erinnert mehr an den erfolgreichen Geschäftsmann, der für uns ein Vorbild war. Nie hätte ich gedacht, dass irgendetwas diesen starken Mann in die Knie zwingen könnte. Klar stehen wir alle unter Druck seit der Krise und die Arbeitsmoral ist im Keller. Jeder kämpft um seine Anstellung, und überall herrscht ein Konkurrenzkampf. Unterschätzen wir alle den Druck, der auf uns lastet seit der Ankündigung der Restrukturierung? Wir wissen, dass unsere Jobs in der Schwebe hängen. Aber es gibt doch noch Hoffnung, oder? Wie wenn er meine Frage gehört hätte, fährt er fort: „Zuerst dachte ich, alles wird wieder gut, es sei nur ein vorübergehende Phase. Aber nachdem ich krankgeschrieben wurde und nur noch zuhause rumlag, verlor ich alle Hoffnung. Die ganze Welt wurde düster, und ich fühlte mich in einem schwarzen Loch. Und drei Monate später bekam ich die Kündigung! Man könne nicht länger auf meine Genesung warten, die Projekte seien zu wichtig. Das gab mir den Rest. Ich wurde einfach ersetzt wie ein fehlerhaftes Teil. Wir werden nicht mehr als Individuen behandelt in dieser Branche. Alle sind austauschbar!“ Seine Stimme wird laut vor Empörung, und Tränen bilden sich in seinen Augen. „Ich habe alles verloren!“, fährt er leise fort. „Das tut mir leid“, konnte ich nur noch sagen mit belegter Stimme, aber er schluchzt leise, sieht mich entschuldigend an, steht auf und geht.

Ich schaue ihm nach. Ich will aufstehen und ihm nachgehen. Aber ich kann ihm nicht helfen, dafür kennen wir uns zu wenig. Mir wird klar, dass ich eigentlich niemanden aus der Firma richtig kenne. Jeder spielt seine Rolle innerhalb des Systems, aber in der Freizeit geht jeder seines Weges. Es sind nur Arbeitskollegen, keine Freunde. Wie einsam er sich wohl gefühlt hat in seiner Depression ohne Partner und Freunde? Aber ich habe eine Frau und zwei glückliche Kinder, die zuhause auf mich warten. Sie sind mein Leben! Vielleicht sollte ich doch endlich die Branche wechseln, wie es meine Frau schon vorgeschlagen hat. Sie hat bemerkt, dass mich die momentane Situation immer mehr beunruhigt und auslaugt, und wegen den Überstunden sehen wir uns weniger als sonst. Wieso soll ich mein Leben nicht jetzt schon ändern, anstatt zu warten bis ich dazu gezwungen werde? Ich will nicht so enden wie er. Das Glück findet man nicht im Materiellen, und Ansehen hilft nicht gegen Einsamkeit. Ein guter Freund hat einmal gesagt: “Ich arbeite um zu leben, ich lebe nicht, um zu arbeiten!“ Jetzt verstehe ich seine Worte.

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Tag der Veröffentlichung: 14.11.2011

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