Das Leben lieben
Von
Francis Madrid
Texte © Copyright by Francis Madrid
Germany 01.07.2016
braeuer212@gmail.com
Cover © Copyright by 2121391_original_R_M_B_by Steffie Pelz_pixelio.de
Druck und Verlag: bookrix.de
www.bookrix.de
Die Handlung dieses Romans ist die Geschichte einer außergewöhnlichen Frau und beruht auf Tatsachen.
Gertrud verlässt 1933 Nazi-Deutschland, um in Barcelona als Mannequin zu arbeiten. Sie lernt bedeutende Künstler kennen und ist in deren Kreisen als Model hochgeschätzt. Dann bricht der spanische Bürgerkrieg aus und sie muss Spanien verlassen, findet aber Mittel und Wege, um zurückzukommen. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ist sie gezwungen, unorthodoxe Wege zu gehen. Ihr Leben gleicht einer Achterbahnfahrt, an deren Höhen und Tiefen sie zu zerbrechen droht.
Portrait
„Lulu“, von Francisco Labarta
Für meine Mutter
+ 1903 - 1990
„Gertrud, komm vom Baum herunter.«
Sie wusste, wenn ihr Vater sie so nannte, wurde es ernst. Er war ein sanfter Mann, ein Künstler, ein Maler aus Leidenschaft. Er liebte die Farben und ... die Frauen.
Er hatte jung, sehr jung, geheiratet, weil er die Nachbarstochter verführt hatte und zu seiner Verfehlung stehen musste. Da er als Künstler kein Einkommen hatte, musste er notgedrungen anderweitig Geld verdienen, um die kleine Familie zu ernähren. Dies tat er als Kurier für eine Handelsfirma mit Geschäftsverbindung nach Russland.
»Gerti, bitte, komm runter.«
Gerti war ihr Kosename und wenn ihr Vater sie so rief, wurde es ihr warm ums Herz. Er wusste es und nutzte das als Strategie aus, um sie vom Baum herunter zu bekommen. Sie liebte ihren Vater und konnte es nicht verstehen, dass er wochenlang fern blieb. Wenn er aber von der Reise zurückkam, durfte sie in die rechte Tasche seines Überhangs greifen. Dort hatte er immer eine kleine Überraschung für sie - meistens waren es kleine Bonbons.
»Gerti, wenn du jetzt nicht herunter kommst, bringe ich dir nichts mehr mit.«
Gertrud wurde am 13. September 1903 in Mainz am Rhein geboren. Schon mit fünf Jahren war sie ein Wirbelwind. Anstatt mit Puppen zu spielen, wie andere kleine Mädchen auch, kletterte sie lieber zusammen mit Jungs auf Bäumen herum. Zu ihrem Leidwesen wurde sie nicht von ihnen akzeptiert und musste sich Mutproben unterziehen, wodurch sie oft mit blutenden Wunden nach Hause kam. Die ihr auferlegte Strafe, erledigte sie mit stoischer Gelassenheit um im nächsten Augenblick wieder auf den nächstbesten Baum zu klettern.
»Nein! Das durfte auf keinen Fall geschehen und so begann sie, vom Baum herunter zu klettern. An einem kleinen, spitzen Ast blieb ihr Rock mit dem Saum hängen, mit dem Resultat, dass das Kleid zerriss.
»So, das hast du jetzt davon. Deine Mutter wird nicht begeistert sein.«
Ihre Mutter kam aus dem Haus heraus und hatte beide Fäuste in die Hüften gestemmt. Sie war durch die Härte des Lebens frühzeitig gealtert. Ihre magere Gestalt, das Ergebnis von Entbehrungen und Nahrungsverzicht zugunsten ihres Kindes, ließ sie älter erscheinen, als sie in Wirklichkeit war.
»Ich weiß nicht, was ich mit diesem Kind anstellen soll. Sie braucht eine feste Hand, du bist zu selten hier.«
Als Gertrud sechs Jahre alt wurde, verließ der Vater die Familie, um der Frauen wegen nach Russland zu gehen. Die Sehnsucht war so stark, dass sie sein Gewissen und die Liebe zu seinem Kind übertraf und ihn rücksichtslos handeln ließ. Er verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Um zu überleben, musste die Mutter sich als Wäscherin verdingen, so dass Gertrud tagsüber auf sich alleine gestellt war und sich in der Mainzer Innenstadt, als alleiniges weibliches Mitglied einer Jugendgang, mit kleinen Diebereien die Zeit vertrieb. Dieser Umstand blieb den Behörden nicht lange verborgen und sie griffen zu. Das Jugendamt gab sie dann in die Obhut einer Pflegefamilie. Dort wurde sie als billige Arbeitskraft ausgenutzt. Um ihr Kind wieder zu sich nehmen zu können, ließ die Mutter ihren Mann für tot erklären und heiratete, notgedrungen, zwei Jahre später wieder. Der Mann, ein Taugenichts und Trunkenbold, ruinierte die Familie vollends, sodass die Mutter bis zur völligen Erschöpfung schuften musste. Weitere zwei Jahre später erkrankte die Mutter an Magenkrebs und starb.
Gertrud war mittlerweile zehn Jahre alt und vollkommen der Willkür des trinkenden Stiefvaters ausgesetzt, der sie eines Nachts vergewaltigte. Von nun an musste sie Nacht für Nacht seine sexuellen Attacken über sich ergehen lassen.
Ein Jahr später starb der Stiefvater an Leberzirrhose und ihr Martyrium nahm ein Ende. Dafür steckte man sie in ein Waisenhaus, aus dem sie x-Mal ausbrach. Das Jugendamt war völlig überfordert. Sie kam in eine Anstalt für schwer erziehbare Mädchen und lernte dort Karla kennen. Karla war ebenfalls nach dem Tod ihrer Eltern zu einer Pflegefamilie gekommen und misshandelt worden. Beide Mädchen waren im gleichen jugendlichen Alter und reizvoll anzusehen. Gertruds war blond und ihre Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden während Karla schulterlange, schwarze Haare hatte. Sie verband während des Anstalts-aufenthaltes eine innige Freundschaft und da sie unzertrennlich waren, konnten sie sich gegenseitig vor dem Anstaltsterror schützen und ohne größeren Schaden diese schlimme Zeit überstehen.
Mit siebzehn wurden sie aus der Anstalt entlassen und ihre Wege trennten sich, sie hielten aber Briefkontakt. Gertrud bekam in Frankfurt bei einer jüdischen Familie, im Haushalt, eine Anstellung und zum ersten Mal in ihrem Leben stellte sich so etwas wie Normalität ein. Sie hatte eine Beziehung mit einem jungen Handwerker, die nach zwei Jahren in einer Verlobung endete, aber ihrerseits wieder aufgelöst wurde. Sie war bindungsunfähig.
Karla bekam in Würzburg ebenfalls eine Anstellung im Haushalt, hatte aber mit dem Hausherrn ein Verhältnis und wurde schwanger. Die Ehefrau entließ sie, aber der Ehemann hielt zu ihr und trennte sich von seiner Frau. Als Gertrud davon erfuhr, holte sie Karla zu sich nach Frankfurt, brachte sie mit dem Einverständnis der jüdischen Familie in einem Mansardenzimmer unter und versorgte sie mit dem Notwendigsten bis zur Geburt des Kindes, dessen Patentante sie wurde. In der Zwischenzeit hatte der Vater des Kindes seine persönlichen Verhältnisse geordnet und eine kleine Wohnung in Würzburg besorgt, in die dann die kleine Familie einzog. Später schrieb Karla, dass sie trotz allem jetzt sehr glücklich wäre, weil ihr Geliebter die Scheidung eingereicht hatte.
Dann kamen die Nationalsozialisten an die Macht und die jüdische Familie wurde, wie alle anderen Juden auch, interniert. Gertrud steckte man in ein Umerziehungslager, um die schädlichen Einflüsse des Judentums auszumerzen. Der Kontakt zu Karla ging in den Wirren der Zeit dann irgendwie verloren.
Eines Nachts träumte sie von ihrer Mutter. Sie spielte draußen im Garten, da hörte sie die Mutter rufen: "Gerti, Gerti, komm rein, es kommt ein Gewitter." Sie konnte es nicht glauben, denn es herrschte das schönste Wetter, aber ihre Mutter rief immer wieder: "Gerti, Gerti, komm rein!" Da wusste sie, dass es eine Warnung war, und traf die Entscheidung, Deutschland und den Nazis den Rücken zu kehren.
Nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag und der damit erlangten Volljährigkeit, nahm sie den Zug und verließ Deutschland in Richtung Rom. Dort hatte sie eine Anstellung als Aupairmädchen bei einer italienischen Familie gefunden. In ihrer Freizeit lernte sie eine Spanierin namens Milagros kennen und sie schlossen Freundschaft. Milagros war sehr geschäftstüchtig und ein Sprachgenie. Sie verkehrte ausschließlich in den gehobenen Gesellschaftskreisen und sprach fließend vier Fremdsprachen: Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch. Außerdem pflegte sie unter anderem Kontakte zu Künstlern und Modemachern.
Nach einem Jahr Aufenthalt musste Gertrud zurück nach Deutschland, wo sie als Straßenbahnschaffnerin Arbeit fand. Ihre Absicht, Nazi-Deutschland zu verlassen, verlor sie aber nie aus den Augen. Zwischen ihr und Milagros herrschte ein reger Briefverkehr und so erfuhr sie, dass Milagros in Barcelona Fuß gefasst und eine Model-Vermittlung eröffnet hatte. Sie lud Gertrud ein, nach Barcelona zu kommen und für sie zu arbeiten.
Zwischendurch fand sie wieder Kontakt zu Karla, denn sie wollte ihr Patenkind sehen. So erfuhr sie, dass die Scheidungsmodalitäten voll im Gange waren und Karla ihr zweites Kind erwartete.
Nun war es leider nicht mehr leicht, Deutschland zu verlassen. Neben dem Nachweis eines Arier-Passes war auch der Nachweis notwendig, eine für Deutschland wichtige Tätigkeit auszuüben. Gertrud war eine ausgesprochen hübsche Frau geworden, die dem deutschen Schönheitsideal durchaus Rechnung trug. Sie war blond, schlank, hatte eine Körpergröße von 175 cm und ihre Gesichtszüge waren eben, mit weichen Konturen. Ihre großen, graugrünen Augen verliehen ihrem Gesicht das gewisse Etwas.
Milagros ließ ihr zweihundert US Dollar zukommen und ein Dokument, das von der deutschen Botschaft in Madrid ausgestellt war. Dieses Dokument bestätigte ihr eine für das deutsche Vaterland wichtige repräsentative Tätigkeit im Modebereich. Der Teufel allein wusste, wie Milagros an so ein Papier gekommen war. Vier Wochen später bekam sie ihre Ausreisegenehmigung. Der Weg nach Spanien war für sie frei.
An einem Montagabend im Mai 1933 ging Gertrud, mit einem Pappkoffer in der Hand und in der festen Absicht Deutschland für immer zu verlassen, zum Frankfurter Hauptbahnhof. Nach längerem Suchen fand sie einen freien Sitzplatz im vollbesetzten Nacht-Express >Köln-Saarbrücken< und wartete voller Spannung auf die Abfahrt des Zuges. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung im Abteil, nicht erfreulich, etwas Düsteres lag in der Luft. Ihre Mitreisenden waren: Ein Pärchen, das sich krampfhaft gemeinsam die Hände hielt, ein derber, fetter Handelsvertreter, der Gertrud sofort mit den Augen auszog, ein schwer einzuordnender, schwarz gekleideter Mann mittleren Alters und zuletzt ein hagerer Mann, dem man schon die Gestapo-Zugehörigkeit von Weitem ansah
.
Die Dampflokomotive spuckte und fauchte ihren Dampf hoch hinaus, aber durch den Fahrtwind wurde er wieder heruntergedrückt und hüllte die Waggons ein. Um zu verhindern, dass der bissige Rauch in das Abteil eindrang, mussten die Fensterscheiben geschlossen gehalten werden. Der Zug hatte Fahrt aufgenommen und das gleichmäßige Rattern der Räder auf den Schienen verfehlte nicht seine eindösende Wirkung. Erst als der Zug langsam in den Mannheimer Hauptbahnhof einrollte, kam wieder diese undefinierbare Angststimmung auf. Während der Zug langsam am Bahnsteig vorbeirollte, sah man zwei Soldaten und einen Offizier auf den Zug warten. Einer der Soldaten führte einen Dobermann an der Leine. Gertrud entging nicht der ängstliche Blick, den das Pärchen sich zuwarf und plötzlich verstand sie: Es waren Juden, die illegal versuchten, Deutschland zu verlassen!
Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung und die Situation normalisierte sich, bis plötzlich die Abteiltür von einem der Soldaten aufgerissen wurde.
»Kontrolle! Ihre Papiere bitte.«
Sie waren alle im Schockzustand. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie hektisch begannen, ihre Papiere aus den Taschen heraus zu kramen. Einer nach dem anderen gab dem Soldaten seine Papiere. Als Gertrud ihre Papiere vorzeigte, unterzog der Soldat sie mit den Augen einer ausgiebigen Prüfung.
»Sie wollen nach Spanien, schöne Frau?«, er gab ihr lächelnd die Papiere zurück. «Na dann, gute Reise.«
Gertrud atmete erleichtert auf und steckte ihre Papiere zurück in die Handtasche. In der Zwischenzeit hatte sich der Soldat an das Pärchen am Fenster gewandt und deren Papiere in Empfang genommen.
»Kommen Sie mit, für Sie ist die Reise hier zu Ende«, sprach er im Befehlston. Der Mann wollte etwas einwenden und wurde vom Soldaten barsch angeschrien: »Maul halten!«
Die Frau begann zu schluchzen und nachdem ihr Mann die Koffer aus dem Netz heruntergeholt hatte, lief sie hinter ihm her aus dem Abteil.
»Juden!«, sprach der Dicke von dem gegenüberliegenden Platz - man konnte den Angstschweiß auf seiner Stirn glänzen sehen - »diese Verbrecher versuchen es immer wieder«, er ließ offen, um was für ein Verbrechen es sich handelte.
In Karlsruhe war der nächste Halt und als der Zug am Bahnsteig hielt, sah sie durch das Fenster die Soldaten, die das Paar abführten, vorbeilaufen. Für Gertrud war es eine schlimme Erfahrung und sie fühlte sich in ihrer Entscheidung bestätigt, ihr Heimatland zu verlassen. Unter solchen Unmenschen wollte sie nicht leben.
Für die im Reich verfolgten Juden, war das Saargebiet ein Zufluchtsort geworden und Saarbrücken Dreh- und Angelpunkt für weitere Reiseziele. Nach dem Passieren der Grenzkontrollen tauschte Gertrud ihre Reichsmark gegen französische Francs und kaufte sich eine Fahrkarte nach Paris.
Die Fahrt im französischen Zug war angenehmer. Viele von denen, die es geschafft hatten - legal oder illegal -Deutschland den Rücken zu kehren, atmeten durch. Man war nicht mehr unmittelbar der Gefahr ausgesetzt, verhaftet zu werden, das war Grund genug zu lächeln und sich verstohlen an den Händen festzuhalten. Mit jedem Kilometer Abstand zur deutschen Grenze wuchs ihre Zuversicht und dementsprechend gelöster war die Stimmung. Gertrud musste aber an das verhaftete Pärchen denken, sie hatten es nicht geschafft. Bei dem Gedanken an die weinende Frau und deren Schicksal standen ihr die Tränen in den Augen.
Paris! Sie war in Paris! Gertrud stand am Ausgang der la Gare de lEst mit ihrem Pappkoffer in der Hand und konnte es nicht glauben.
»Mademoiselle, Taxi?«
Der Taxifahrer, ein typischer Franzose mit Schnurrbärtchen und Baskenmütze, schaute abwartend in ihre Richtung. Als er ihr leichtes Nicken vernahm, stieg er aus, um ihren Koffer im Kofferraum zu verstauen.
Gertrud saß auf dem Rücksitz und der Taxifahrer sah sie fragend an:
»Où?«, fragte er, was so viel heißen sollte wie: "Wohin?"
Gertrud sagte einen der wenigen französischen Sätze, den sie kannte:
»Je ne sais pas« - "Ich weiß es nicht."
»La femme est drôle« - "die Frau ist drollig", murmelte der Taxifahrer vor sich hin, während er den Motor anwarf. Da sagte Gertrud:
»Gare dAusterlitz«
»Vous êtes allemand?«, fragte der Taxifahrer neugierig. Gertrud verstand sofort seine Frage und sagte spontan:
»No autrichien.«
»Ah! Autrice, bon. Isch machö einö kleine Tour, damit Sie seön Paris, kostet nix extra.«
Gertrud fragte sich, was geschehen wäre, wenn sie gesagt hätte, dass sie eine Deutsche war.
Die Gare dAusterlitz war der Ausgangsbahnhof für Züge in den Süden Frankreichs, dort kaufte sie sich eine Fahrkarte nach Portbou.
Portbou war Grenzstation und Umsteigebahnhof für Reisende nach Spanien, denn die spanischen Züge fuhren auf eine breitere Spur als die französischen. Die Fahrt von dort nach Barcelona war die reinste Qual, weil der Zug unterwegs an jedem Bahnhof hielt. Dafür hatte sie Gelegenheit, eine der schönsten Küstenlandschaften Spaniens kennenzulernen.
Sie war fast achtundvierzig Stunden unterwegs, bis der Zug am Donnerstag in der Früh den Bahnhof Estació de França in Barcelona erreichte.
Milagros wartete am Bahnsteig. Sie war elegant angezogen und sah sehr mondän aus.
»Liebes. Herzlich willkommen in Barcelona. Endlich bist du da.«
Die beiden Frauen umarmten sich herzlichst.
»Ja, es war eine lange Fahrt, aber ich bereue sie nicht, in Deutschland könnte ich nicht mehr leben.«
»Ja, dieser Hitler ist ein Irrer, aber komm - lass uns gehen«, sprach Milagros und winkte einen Kofferträger herbei.
Draußen vor dem Bahnhof pulsierte unter einem wolkenlosen Himmel das Leben und Gertrud kam aus dem Staunen nicht heraus.
»Hast du Hunger? Willst du etwas trinken? Wir können gerne auf der Café-Terrasse etwas essen.«
»Nein, danke! Ich möchte so schnell wie nur möglich ein Bad nehmen. Lass uns zu dir fahren.«
Sie liefen um den Bahnhof herum zum Parkplatz, wo ein silbergraues, amerikanisches Cabriolet parkte. Milagros bezahlte den Kofferträger und schloss den Wagen auf.
»Donnerwetter, ist das ein schickes Auto.«
Gertrud war sichtlich beeindruckt.
»Komm, steige ein, wir können uns während der Fahrt weiter unterhalten«, sagte Milagros und ließ den Motor an.
Barcelonas Straßen waren großzügig gebaut und mit viel Grün angelegt. Überall gab es Straßencafés und Modegeschäfte. Gertrud genoss die Fahrt im offenen Wagen, während der laue Fahrtwind ihr das Haar zerzauste.
»Barcelona ist eine reiche Kulturstadt geworden«, sagte Milagros, während sie geschickt den Wagen durch den Verkehr steuerte. »Hier sind viele berühmte Künstler und Millionäre ansässig. Elvira, mein Topmodel, hat einen geheiratet. Du wirst sie heute Abend kennenlernen, Gerti.«
Die Fahrt ging noch eine halbe Stunde weiter, vorbei an viele Häuserschluchten, kein Haus hatte weniger als zehn Stockwerke. Dann bog Milagros in ein elegantes Wohnviertel ein.
»So, wir sind da«, sprach sie, während sie den Wagen in eine Parkbucht abstellte.
Gertrud entnahm ihren Koffer und lief hinter Milagros zum Haus. Milagros schloss die schwere Glastür auf und sie betraten den Hauseingang. Der Boden bestand aus weißen Marmorplatten, auf denen ein wertvoller Läufer ausgelegt war, der direkt zum Fahrstuhl führte - ein Mahagoni-Ungetüm mit Platz für zehn Personen. Milagros drückte auf den Knopf für das zehnte Stockwerk und der Fahrstuhl setzte sich lautlos in Bewegung. Oben angekommen, schloss Milagros die Wohnungstür auf und sprach zum herbeigeeilten Dienstmädchen:
»Maria. Das ist meine Freundin Gertrud. Sie wird bei uns wohnen, lass ihr bitte ein Bad ein.«
»Lebst du hier allein?«, wollte Gertrud wissen.
»Ja, du kennst meine Einstellung zu Männern. Sie sind gut, wenn man sie braucht. Ansonsten lasse ich die Finger von ihnen. Komm, ich zeige dir dein Zimmer.«
Sie lief den Gang entlang bis zu einem Quergang und bog links ein, um die nächste Tür zu öffnen.
»Sag mal, wie viele Zimmer hat deine Wohnung?«
»Sechs - und zwei Badezimmer mit Toilette sowie ein Zimmer und ein WC für das Personal im Dienstbodentrakt. Dort befindet sich auch die Küche.«
"Das muss doch ein Vermögen kosten", dachte Gertrud beim Anblick der Wohnung und des Mobiliars.
»Ich kann mir gut vorstellen, was du denkst. Woher hat sie so viel Geld, um das alles hier zu finanzieren?«
Gertrud wollte etwas erwidern, aber da kam das Dienstmädchen und verkündete, dass das Bad eingelassen sei.
»Bade mal ausgiebig und schlaf dich aus. Heute Abend habe ich ein paar Gäste eingeladen, damit sie dich kennenlernen. Dann wirst du sehen, ob dir das gefällt oder nicht, aber ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn das nicht so wäre.«
»Heute Abend schon? Ich bin gerade angekommen!»
»Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wie sagen die Amerikaner? Time is Money. Von denen können wir noch was lernen«, sprach Milagros und eilte aus dem Zimmer.
Das Badezimmer war luxuriös. Es war ganz in Weiß gefliest, mit blauen Ornamenten-Kacheln im Sockel, dazu passend vergoldete Wasserhähne im Waschbecken, Bidet und Badewanne. An einem aus schwerem Messing gefertigten Kleiderständer hing ein weißer Bademantel mit Kapuze und in einem weißen Regal befand sich ein Stapel weißer Handtücher.
Gertrud zog sich im Schlafzimmer aus und betrat nackt das Badezimmer. Vor einem an der Wand hängenden Spiegel sah sie sich kritisch ihren Körper an. Sie war etwas mager, aber im Großen und Ganzem konnte sie zufrieden sein.
Das warme, gut duftende Badewasser war eine Wohltat und ihre Nerven entspannten sich zusehends. Sie konnte es nicht glauben, in Barcelona zu sein und diese destruktive, lebensbedrohende, braune Macht hinter sich gelassen zu haben. Allerdings war sie jetzt in der Fremde und auf sich allein gestellt. Milagros verfolgte in erster Linie ihre eigenen Interessen, davon war sie überzeugt, darum musste sie genau aufpassen, was sie tat.
Sie stieg aus der Badewanne und nachdem sie sich einen unglaublich flauschigen Bademantel angezogen hatte, lief sie in ihr Zimmer, legte sich ins Bett und schlief augenblicklich tief ein.
Kurz vor zwanzig Uhr betrat Milagros nach kurzem Anklopfen das Zimmer.
»Gerti, Schätzchen, aufwachen, um neun kommen meine Gäste.«
»Aber ich habe doch nichts zum Anziehen.«
»Du kennst mich doch. Ich habe schon etwas für dich besorgt.«
Als Gertrud das Salonzimmer betrat, wurde es augenblicklich still im Raum. Alle Blicke waren auf sie gerichtet und man konnte förmlich ihre Bewunderung aus ihren Augen ablesen. Anwesend waren zwei Herren und eine Dame, alle mittleren Alters.
»Da bist du ja, Liebes«, Milagros strahlte über das ganze Gesicht, »darf ich euch meine deutsche Freundin vorstellen? Gertrud, das ist Señor Labarta, ein berühmter katalanischer Künstler. »Encantado, Señorita«, Labarta gab ihr die Hand und Gertrud sah ihn lächelnd an, während sie einen kleinen Knicks andeutete.
»Und hier sind Raul und Elvira Moreno. Ihnen gehört eine große Modehauskette, führend in Barcelona und Madrid. Frau Moreno ist Österreicherin, sie hat lange Zeit in Wien gelebt.«
Der Mann gab ihr freundlich die Hand, seine Frau war etwas reservierter und sprach mit deutlichem Wiener Akzent. Sie nahmen alle Platz und es folgte das übliche Geplauder, wobei Gertruds Konversationsbeitrag sich mangels Spanischkenntnisse darauf beschränkte, die von Milagros übersetzten Fragen mit ja oder nein zu beantworten. Dann trat das Dienstmädchen ein und gab Milagros ein Zeichen, worauf diese ihre Gäste bat, in das angrenzende Esszimmer zu gehen. Dort sollten sie unter Berücksichtigung der ausgelegten Namenskarten Platz nehmen. Milagros saß an der Tischfront, Gertrud zu ihrer Rechten und anschließend Señor Labarta. An Milagros linker Seite saß Raul Moreno und daneben seine Frau Elvira.
Das Dinner zog sich bis weit in den Abend, was für spanische Verhältnisse völlig in Ordnung war. Gertrud fiel auf, dass zwischen Milagros und Raul Moreno innige Blicke ausgetauscht wurden. Anscheinend war Elvira Moreno nicht eifersüchtig, oder, was Gertrud eher vermutete, ahnungslos. Das Gespräch zwischen Gertrud und ihrem Tischnachbarn Señor Labarta gestaltete sich schwierig, aber Gertrud profitierte von den in Italien erworbenen italienischen Sprachkenntnissen. So kam es durch die Ähnlichkeit zur spanischen Sprache zu einer einigermaßen verständlichen Unterhaltung.
Der Kaffee wurde im Salon serviert. Die anfängliche Steifheit war einer lockeren Atmosphäre gewichen und alle plauderten durcheinander. Gertrud war neben Elvira Moreno zum Sitzen gekommen.
»Gertrud. Ich darf doch Gertrud sagen?«
»Gerne, Frau Moreno.«
»Sagen Sie Elvira zu mir, Gertrud. Ich muss schon sagen, Milagros hat nicht übertrieben, Sie sind eine außergewöhnliche aparte Frau. Wollen Sie nicht für uns arbeiten? Wir führen regelmäßig unsere Kollektionen vor und ich kann Sie mir sehr gut auf dem Laufsteg vorstellen.«
»Das wäre himmlisch! Aber ich habe darin keine Erfahrung.«
»Das lernen Sie schnell. Ich melde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen und dann besprechen wir alles in Ruhe.«
Gertrud war bei diesen überraschenden beruflichen Perspektiven überglücklich und eine große Last fiel von ihren Schultern ab, denn ewig konnte sie Milagros nicht auf der Tasche liegen.
Zu fortgeschrittener Stunde, nachdem die Luft vom Rauch der Zigaretten verqualmt und der ausgeschenkte französische Cognac die Stimmung weiter aufgelockert hatte, beschlossen sie spontan, am Wochenende einen Ausflug nach Sitges zu machen. Sitges war ein malerischer Badeort in der Nähe von Tarragona. Es wurde in Insiderkreisen als Geheimtipp gehandelt und da die Morenos im Nachbarort ein Ferienhaus besaßen, war es beschlossene Sache, dass sie dort übernachten würden.
Am nächsten Tag - es war Freitag -schliefen sie lange und gegen Mittag nahm Milagros sie mit auf Shoppingtour. Ein Modegeschäft war aufregender als das andere und Gertrud wurde von Milagros vollkommen neu ausgestattet.
»Ich werde dir alles zurückzahlen«, schwor Gertrud, aber Milagros winkte ab. Sie saßen in einem Straßencafé, vor sich eine Tasse heiße Schokolade. »Das sind Betriebs-investitionen. Ich habe dich gestern mit wichtigen Leuten bekannt gemacht, die deiner Karriere ungemein förderlich sein können. Du wirst von mir gecoacht und sobald sie etwas von dir wollen, müssen sie mir Prozente bezahlen. Sobald du aber auf eigenen Füßen stehst, trennen sich unsere geschäftlichen Wege.«
»Elvira hat schon gefragt, ob ich nicht für sie arbeiten will.«
»Elvira ist ein armes Schwein. Sie hatte geglaubt, ausgesorgt zu haben, wenn sie diesen Millionär heiratet - und nun muss sie um jede Peseta betteln.«
»Er ist Millionär?«
»Und was für einer. Ihm gehören ganze Wohnblöcke im Zentrum Barcelonas, aber das Wichtigste ist, dass er den sechsten Sinn hat. So hat er vor vier Jahren, kurz vor der Weltwirtschaftskrise, alle seine Wertpapiere verkauft und sein Geld in Immobilien gesteckt. Der Schwarze Freitag ist an ihm spurlos vorübergegangen.«
»Ich will ja nicht indiskret sein, aber du hast was mit ihm. Nicht wahr?«
»Er hat mich damals gewarnt. Ich habe es ihm zu verdanken, dass ich nicht alles verloren habe. Also ist es nur gerecht, wenn ich ihn jetzt dafür ein wenig verwöhne. Außerdem, Geld regiert die Welt und da ist es nützlich, wenn man jemand kennt, der viel davon hat. Das Dokument, ausgestellt von der deutschen Botschaft im Madrid, das deine Ausreise ermöglicht hat, hast du ihm zu verdanken.«
Gertrud
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Texte: Francis Madrid
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Tag der Veröffentlichung: 08.05.2024
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