Wenn die Haustür geöffnet wird und die kalte, frische Luft das Gesicht trifft fühle ich mich für kurze Zeit frei. Dann setze ich einen Fuß vor den anderen. Langsam gehe ich durch die Straßen meiner kleinen Heimatstadt. Entlang der Straße, an den kahlen Bäumen vorbei, die vielen Autos beobachtend, deren Fahrer schnell zur Arbeit gebracht werden müssen, um ihr eigenes Geld zu verdienen – um ihr eigenes Leben leben zu können.
Ich verfalle in Gedanken. Was werde ich in 5 Jahren sein? Versoffen das Nachmittagsprogramm an einem kleinen Röhrenfernseher begutachtend oder werde ich doch etwas werden?
Werde ich leben können?
Mein Blick fällt auf die Uhr am Rathaus. Es ist schon spät, ich muss schneller gehen, mein Magen knurrt jetzt schon. Ich hatte keine Zeit zu frühstücken. Ich hatte eigentlich auch keinen Hunger – die Angst vertreibt es. Die Angst vor dem dämonischen Tor, jederzeit bereit einen gänzlich zu verschlingen und nur noch auszuspucken wenn man völlig wertlos ist.
Noch fünfzig Meter.
Ich höre schon die sogenannte Vorklingel – eine einfache Bedeutung: noch drei Minuten.
Rennend und schwer atmend erreiche ich die Hölle. Niemand weiß wie die Hölle aussieht, da unten wo der bösartige Teufel angeblich lauert. Wie sie auf Erden aussieht, ist mir in jedem Falle klar: es ist ein zweistöckiges, riesiges Gebäude. Weisse Fassade, Unwissende würden es unschuldig nennen, fast vornehm. Aber wer ging schon freiwillig dort hinein?
Nervös betrete ich das Gebäude. Die Fenster haben verdunkelte Scheiben. Draußen scheint es nun, als ob es jeden Moment regnen würde, ja, als ob die Apokalypse eingetreten wäre – gleich fallen die Kröten vom Himmel.
Es passiert natürlich nichts. Der Gebrüll auf den Gängen bringt mich in den Alltag zurück. Lauter kleine Personen rennen an mir vorbei. Wie eine Welle rennen sie auf mich zu – rempeln und schlagen sich gegenseitig aus der Bahn, nur um einen ordentlichen Platz in der letzten Reihe des verteufelten Unterrichts zu erhalten.
Ich schleife mich langsam in meinem Raum, der täuschende Heiligenschein aus der Tür, erfüllt mich nicht mehr mit Wärme, denn ich kenne die Wahrheit – ich kenne diesen verdammten Raum.
Sie haben schon alle ihre Plätze eingenommen, ganz vorne, direkt gegenüber des verteufelten Lehrenden ist noch ein Platz frei.
Wir willenlosen Zombies starren auf unsere Tische, wünschen uns nun mehr denn je nochmal die freie Luft zu spüren. Nein, die Fenster müssen geschlossen bleiben!
Ich bekomme vier Zettel in die Hand gedrückt. Der Lehrende schaut mich wohlwollend mit seinen dämonischen Augen an – diese Taktik kenne ich schon.
Er setzt sich mir gegenüber und kontrolliert Arbeiten anderer verlorener Seelen und schüttelt ab und zu den Kopf und lässt ein leises Zischen von sich hören.
Ich schaue auf den ersten Zettel. Verflucht seien Pythagoras und Konsorten, das sie mich hier, in meinem Elend schwitzen lassen, vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Hilfe suchend schweift mein Blick durch den Raum; die anderen schreiben ja alle! Man hört das Kratzen von Bleistiften, das Rascheln von Federtaschen und das Seufzen des Klassenbesten, der anscheinend die erste Aufgabe schon gelöst hatte, denn er grübelte schon über dem zweiten Blatt.
Ich vernehme ein leises Pochen auf meinem Tisch und drehe mich wieder um – der Lehrer zeigt auf mich und dann auf das noch unberührte Aufgabenblatt. Ich verstehe und fange an zu arbeiten.
Meine Hände zittern abnormal stark und ich habe Schwierigkeiten überhaupt den Bleistift für die Skizze sicher in der Hand zu behalten.
Ich schweife mit meinen Gedanken wieder ab.
Was kann alles schief gehen? Ohne gute Note gibt es keine Ausbildung. Ohne Ausbildung kann ich mein Leben nicht leben. Also hängt doch alles von diesen paar Aufgaben ab. 11 jährige verbissene Arbeit, kann also durch dieses....durch dieses belanglose Etwas vernichtet werden. Nur der Teufel macht solche Pakte – und nur ein Esel wie ich konnte ihn unterschreiben.
Ich schaue auf den Lehrer, gerade verdrehte er die Augen in Kombination mit dem Schütteln seines Kopfes, beim korrigieren von Arbeiten. Er war ein Diener, ein Diener der Hölle. Ich lächelte, denn sein Platz nach dem Tod war sicher. Sicher unerfreulich.
Ich schwitzte wie verrückt. Meine Hände klebten förmlich an den Aufgabenblättern und panisch versuchte ich die Aufgaben zu verstehen. Die Zeit saß mir im Nacken und der Druck schnürte mir die Kehle zu. Was würde man nur denken, wenn ich das hier nicht schaffe? Von wegen ich lerne für mich – daheim lauern die Raubtiere von Eltern, gierig auf die Leistungen des Kindes gaffend, im ewigen Wettstreit mit den Kindern ihrer Bekannten.
Ich zittere jetzt schon vor den Sanktionen der Eltern. Man kann nicht fliehen – die imaginären Fesseln halten einen zurück – sie fragen nicht, sie handeln einfach.
Wenn ich sterbe, komme ich dann in den Himmel? Ich glaube nicht an den Gott – denn es gibt nicht mehr genug Gutes, das seine Existenz rechtfertigen würde, aber sein Gefährte, der Teufel muss vorhanden sein, man sehe sich nur die Nachrichten an.
Aber es muss einen Himmel geben, die einzige Hoffnung die mich nicht vor dem Tod zittern lässt. Der Tod muss sanft sein, man schläft langsam ein und träumt auf ewig von freier, klarer Luft, in einem Bett aus weissen Federn. Der Tod ist stressfrei – und das sollte reichen.
Der Druck zu versagen, ist groß – warum sollte ich ihn mir noch antun? Die Angst macht einen kaputt. Äußerlich ist man da, man lebt und weiß irgendwann ist es vorbei. Aber innerlich bin ich schon tot. Das Herz abgeschaltet um nicht gänzlich verrückt zu werden, hier in diesem unschuldigen Gebäude.
Der Lehrer zeigt mir ein fragendes Gesicht, sein Blick wandert über meine Arbeitsfläche und den immer noch unbearbeiteten Blättern – die Zeit verrinnt derweil Sekunde um Sekunde – ich gebe auf.
Mit einer schnellen Verabschiedung verlasse ich den Raum, ich weiß das ich keinen verkümmerten Punkt bekomme, aber das ist zum Glück dem Tod
egal.
Texte: Copyright 2008 Philipp R.
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für meine Freunde