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1. KAPITEL
Verschlafen streckte sie ihre Glieder von sich, hob ihre Hüften an, bog ihren Rücken durch und spannte ihre Arme und Beine an. Schließlich ließ sie sich mit einem Seufzer auf den Boden zurückfallen.
Ihre weichen Locken lagen auf dem braunen Laub ausgebreitet und schlängelten sich geschmeidig durch die Blätter.
Über das mondförmige Gesicht huschte das letzte bisschen Schlaf. Sie hatte die Lider halb geöffnet, hob einen Arm empor um ein Gähnen zu verdecken. Dann schlug sie die Augen völlig auf, wendete den Kopf und blickte verwirrt, eben erst aus den Gefilden des Traums zurückgekehrt, um sich.
Das Sanfte und Ruhige hatte ihr Gesicht verlassen, wie plötzlich aufgeschreckt. Die Stirn war in Falten gelegt, in den Augen etwas vorsichtiges, tastendes und doch dieses leichte Lächeln auf ihren lieblichen Lippen, als sie sich umsah, als wüsste sie nicht recht was als nächstes zu tun sei.
Als wäre sie am falschen Ort.
Wirklichkeit und Traum, Traum und Wirklichkeit.
An statt auf weißem Laken, war sie gebettet auf das weiche Moos des Waldbodens.
Sie erhob sich rasch von ihrer Ruhestätte, ließ die Hand den schlanken, braunen Stamm, des angrenzenden Baums empor gleiten, die raue Struktur unter den Fingern, den Blick in die grüne Krone gerichtet, bevor Sie sich leichten Fußes auf den Weg machte.
Bald verließ das Mädchen den Hain, ihre Heimat, beschleunigte den Schritt, nach einem letzten Blick zurück geworfen hatte.
Die Haare flatterten hinter ihr her als sie befreit über die Wiesen und Felder rannte, bekleidet mit einem weißen, flattrigen Leinenkleid, dass ihr bis zu den Knöcheln ging und in dessen Saum sich allerlei Kletten und Diestel verfangen hatten. Ihr Haupt war gekrönt von einem Kranz aus Ehren und blauen Kornblumen, die Füße barfuß und verdreckt.
Überall dort wo sie lang Schritt schien die Sonne freundlicher auf die Erde hinab und ein sanfte Böe streichelte ihren Nacken, lies die wilden Locken in seinem Spiel tanzen.
Die anmutige Gestalt setzte sich auf einer Blumenwiese nieder, die nahe einer tiefen und dunklen Schlucht verlief über dessen Rand sie kurz gesehen hatte.
Sie legte sich mit dem Rücken ins grüne Gras und beobachtete die vorbei ziehenden Wolkenformationen, die sich zu immer größeren Bergen auftürmten.
Sie roch den nahenden Regen in der Luft und setzte sich seufzend auf, um sich auf den baldigen Rückweg zu machen.
Der erste Tropfen war auf ihr Haar niedergefallen und lief ihre Schläfe entlang über ihr Kinn, bis er in das grüne Gras tropfte und den Boden benetzte.
Wasser klatschte auf ihre nackten Arme, hinterließ feuchte Spuren. Bald klebte ihr Kleid auf der Haut und wurde schwer, sodass sie es bei jedem Schritt mühsam vom Körper abziehen musste.
Es war dunkel geworden und ein schattenhaftes Lila färbte den Himmel.
Eilig lief sie auf den Pfad zu, der sich in den Wald schlängelte. Besorgt darüber, was ihre Mutter sagen würde. Kurz bevor sie den Waldrand erreichte, hielt sie plötzlich inne.
Ein kalter Schauer überlief sie, etwas lag in der Luft, ein Hauch von Krankheit, Verwesung und Tod. Unglaublich süß und schwer. Ihre Brust hob und senkte sich rasch, als sie vor-sichtig den im Schritt erstarrten Fuß absetzte, sich langsam umdrehte, die schweißnassen Hände ins Feuchte Tuch gekrallt.
Ihr gegenüber stand ein bleicher Mann mit schwarzem Haar, das seine Stirn beschattete.
Sein Bart war stark gestutzt, zwei schmale Linien, die sich am Kinn trafen und in einem Ziegenbärtchen mündeten. Er war gewandet in ein schwarzes Kaftan ähnliches Gewand, das seine ausgezehrte, hagere Gestalt nicht zu verbergen mochte, da es mit jedem regenreichen Windstoß an ihn gepresst wurde.
Sein einziger Schmuck war eine feine, kunstvolle Goldkette an der ein alter, abgegriffener Schlüssel hing.
Er war von einer Blässe, als hätte er seinen letzten Atemzug getan und läge auf dem Totenbett.
Das Mädchen keuchte angstvoll auf. Hätte der Regen nicht jedes Geräusch verschluckt, wäre sie schon viel früher auf ihn aufmerksam geworden.
Er sagte nichts, packte sie an der Hand, um sie mit sich zu ziehen. Der Ausdruck seines Gesichts war für sie nicht begreiflich, so schwankte er zwischen Triumph, Unsicherheit und noch etwas, dass sie nicht entziffern konnte. Sein Blick verweile immer noch auf ihr.
Peinlich berührt, zupft das Mädchen an ihrem Kleid, schloss die Lider bis auf einen kleinen Spalt. Der Mann hatte ihre Reaktion durchaus bemerkt und lächelte, bevor er sich völlig umwandte. Verdattert stolperte sie über ihre Füße, als er eilig den Weg zurück lief, den sie vor kurzem genommen hatte. Willenlos folgte sie ihm. Erst als sein Gefährt in Sicht kam realisierte sie, was geschah. Dieser Mann entführte sie!
Vor den Ebenholz farbenen Streitwagen, waren zwei schwarze, gewaltige Rösser gespannt aus dessen Nüstern bei jedem Atemstoß Funken sprühten.
Die hundeartige Bestie, die seine beiden Häupter zwischen seinen Vorderpfoten abgelegt hatte, sprang nun auf und zerrte geifernd an der Kette, die ihn mit dem goldbeschlagenen Rad verband. Die Speichelfetzen flogen in alle Richtungen, als er wild den Kopf schüttelte und bedrohlich bellte.
Das Mädchen stoppte abrupt, versuchte die Hand aus seinem Griff zu winden, drehte sich gleichzeitig zur Flucht.
Jedoch vergeblich, seine Hand lockerte sich nicht, unerbittlich schubste er sie in Richtung Wagen und baute sich vor ihr auf, sodass keine andere Möglichkeit blieb als die Fläche zu erklettern. Sie kauerte sich tief in den von der offenen Seite am weitesten entfernten Teil.
Der Mann hatte inzwischen seinen Hund losgebunden und die Leine eigesteckt. Dann war er ebenfalls aufgesprungen, die goldenen Zügel in die Hand, trieb er durch zischende Geräusche die Pferde an.
Rasch nahmen sie Geschwindigkeit auf. Die vertraten Wälder flogen an ihr vorbei, die Räder ratterten. Das Mädchen bebte und war doch starr vor Angst, unfähig zu handeln, zerbrach sie sich den Kopf darüber was sie tun sollte oder wohl eher konnte.
Wenn sie an den offenen Rückseite herausblickte, erspähte sie bald nichts vertrautes mehr und stumme Schluchzer ließen ihren Leib erbeben.
In sich zusammengefallen umarmte sie sich selbst, als suche sie verzweifelt nach Halt. Hätte sie doch auf ihre Mutter gehört und wäre zuhause geblieben Der sonnige Tag hatte sie verlockt.
Der unebene Boden und die mangelnde Federung schüttelte sie ununterbrochen durch. Bei jeder Bodenwelle hüpfte sie ein Stück weit nach oben um daraufhin schmerzhaft auf ihrem sowieso schon wunden Hintern zu landen.
Ihr Entführer stand völlig unbeweglich, aufrecht und blickte steinern in die Ferne. Bald war sie vor Erschöpfung eingenickt und als sie plötzlich aufschreckte, da sie durch ein besonders tiefes Schlagloch gerast waren. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie stetig bergab brausten.
Sie steuerten durch eine Art längliches Tal, vielleicht ein Einschnitt den vor Äonen ein Fluss mühevoll in den Boden gegraben hatte. Die Seitenwände standen soweit auseinander, dass man sie nur verschwommen durch den Nebel erahnen konnte, der mit Anbruch der Abendstunden aufgestiegen war. Er waberte um die grünen Zypressen, die wie grüne Flammen in den dunkler werdenden Himmel loderten und den Weg zu beiden Seiten säumten.
Dunstfinger griffen nach ihr, strichen über ihre kalten Wangen, liebkosten sie. Sie wimmerte leise, als ein weißer Schwaden ihre Lippe berührte und sie presste sie nur um so heftiger aufeinander.
Der Rauch wich indessen ein Stück zurück und war vom Rest wieder einverleibt worden. Sie umkreisten sich, sie lösten sich auf, schufen sich neu. Ein seltsamer Tanz, gleichsam wie wenn die Brühe von einem eigenen Leben erfüllt wären.
Obwohl sie auf den ersten Blick harmlos schien, hinterließ sie einen feuchten, klammen Überzug auf ihrer Haut, der sich unangenehm anfühlte.
„Sieh nicht zu lange in der Nebel, wenn man sich nicht in Acht nimmt verzaubert er einen und lässt seine Opfer als willenlose Hüllen zurück“.
Persephone wurde aus ihrer Trance gerissen, als der Mann das Wort an sie gerichtete. Dann warf er ihr einen Mantel zu, der zu seinen Füßen gelegen hatte.
Sie dachte an andere Abende an denen sie in einer Decke ge-wickelt vor dem Haus gesessen hatte. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie dies oft zusammen mit ihrer Mutter getan.
Sie hatten gemeinsam in den Himmel gesehen und ihre Mutter hatte ihr von den Sternen erzählt. Eine Geschichte war ihr besonders im Gedächtnis geblieben, sie hatte sie nur ein einziges Mal gehört:
Kallisto war als Nymphe Dianas zur Keuschheit verpflichtet. Doch weckte ihre Schönheit die Begierde Zeus. Es verlangte ihn nach ihr und so trat er in der Gestalt ihrer Herrin an sie heran, als sie unbedarft mit Köcher und Bogen durch den Wald streifte. Er küsste sie, aber nicht auf eine schwesterlich züchtige Weisel. Sie wehrte sich, aber wer kann Jupiter bezwingen. Und es kehrte siegreich zurück in den Äther der Herrscher. Kallisto aber war verhasst der Ort des Geschehens.
Im Antlitz Dianas erblickte sie ihren Schänder, so schwer die Schatten, die ihre Seele belasteten, nicht zu verraten. Es war ihr nicht vergönnt die Entweihung vom Staub der Zeit verdecken zu lassen. Beim Bade wurde man sich ihres Zustands gewahr, denn der Raub war nicht ohne Folgen .
Diana, die Betrogene verstieß die arme Kallisto. Nicht genug auch die Gattin des Ehebrechers gab ihr die Schuld und wandelte sie, nachdem sie das Kind geboren hatte in eine Bärin, um ihr das zu nehmen, was ihr Mann an dem Mädchen begehrte.
Viele Sommer und Winter zogen ins Land. Das Kind, das so großes Unglück über seine Mutter gebracht hatte, war zu einem Mann herangewachsen und selbst vieles erlebt. Nun hatten die Moiren, welche das Schicksal eines jeden spinnen, eine Kreuzung von Mutter und Sohn bestimmt und die Fasern verflochten.
Arkas jagte im heimischen Wald. Plötzlich trat ein Bär in seinen Weg, richtete sich auf und schwankte zähnebleckend auf ihn zu. Der junge Mann sprang erschrocken zurück und stolperte, seinen Speer schob er schützend vor sich. Die Bärin breitete die Arme aus und brummte. Dabei senkte sie den Kopf und ließ sich auf die Tatzen fallen.
Freilich erkannte Arkas die eigene Mutter nicht, die immer noch unter dem Fluch Heras stand, sodass es Zeus zu verdanken ist, dass der Sohn nicht die eigene Mutter mordete.
Wir wissen nicht was ihn dazu bewegte, ob Gefühle sein Herz erweichten. Jedenfalls warf er Arkas und Kallisto als großen und kleinen Bären in den Himmel, wo sie wieder vereint sind.
Kallistos Schicksal nachsinnend lehnte sie sich zurück, ihre Mutter war leicht und irgendwie anders gewesen als sonst, wie wenn sie sich etwas erinnern würde, dass sowohl Freude als auch Schmerz vereinte. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter ihr daraufhin das Sternbild Ursus Major gezeigt hatte. Dieses geht niemals unter. Im Herbst steht es tief am Nordhimmel und seine sieben hellsten Sterne bilden den großen Wagen.
Aber dies hier war keiner jener lauschigen Abende zu zweit, geschweige denn das sie die Sterne sehen konnte. Diese waren unter einer dicken Wolkenschicht verborgen und würden sich sobald nicht zeigen.
Sie konnte schon froh sein das es nicht mehr regnete. Seufzend schmiegte sie sich enger in die Decke. Im Moment gab es sowieso keine Möglichkeit zur Flucht. Der Wagen fuhr sehr schnell, sodass ein Abspringen unmöglich wäre. Außerdem würde sie dafür erst einmal ihren Entführer passieren müssen.
Obwohl er nicht übermäßig muskulös wirkte, reichte es allemal um so ein Mädchen wie sie aufzuhalten und sie bezweifelte stark, dass er sie unter wortreichen Entschuldigungen nach Hause bringen würde, wenn sie ihn nur freundlich darum bäte.
Deshalb hing sie weiter ihren Gedanken nach. Was ihre Mutter wohl tun würde? Hatte sie ihr verschwinden schon bemerkt?
Langsam wurde es dunkel und die Müdigkeit legte sich über sie. Das Mädchen fühlte jeden einzelnen Knochen in ihrem Leib. Tranen rannen über ihr Gesicht, malten feuchte Spuren auf die staubigen Wangen. Damit er ja nichts bemerken würde, zog sie sich leise schniefend die Decke über das Gesicht. Sie schaukelte vor und zurück.
Sie weinte, weil sie das Gefühl hatte, dass es nie wider so werden würde wie zuvor, dass er ihr etwas genommen hatte, dass unwiederbringlich verloren war.
Von Unsicherheit erfüllt, geschunden und übermüdet, erlangte der Schlaf die Herrschaft über sie.
Hypnos nahm die Schlummernde bei der Hand und führte sie in seine Welt. Unruhig rollten die Augen unter den Lidern, zeugten von den Ängsten die sie als gesichtslose Gestalten heimsuchten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Sophia, die mir eine Inspiration war

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