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Das erste, das der Mensch im Leben vorfindet,
Das letzte, wonach er die Hand ausstreckt,
Das kostbarste, was er im Leben besitzt
ist die Familie.

Adolf Kolping




Prolog




Und nun stehe ich da, werfe einen letzten Blick auf das grosse Haus vor mir. Wie wunderschön es ist, stelle ich fest und lächle zufrieden. Ich muss an all die vielen Momente denken, an all die traurigen und wunderbaren Erinnerungen, die ich hier zusammen mit meiner Familie erlebt habe. Ich betrachte das Haus erneut, mustere die dunklen Fensterläden und die hohen Bäume, welche wie riesige Säulen davor stehen. Ich trete einen Schritt vor in Richtung Eingangstür, welche aus glitzerndem Glas besteht und erkenne darin mein Spiegelbild, wie es sich sanft durch das zerbrechliche Material streckt.
Ich kann mich noch genau an alles erinnern, an jedes Versteckspiel mit meinem Bruder Luca, an jedes gemeinsames Essen hier draussen im Garten, zusammen mit meiner Familie. Ich erinnere mich an meine Mutter Elinor, wie sie uns lachend durch das ganze Haus jagte und wir keuchend versuchten ihr zu entkommen. Auch an die vielen Fussballspiele kann ich mich noch genau erinnern, zusammen mit meinem Bruder und meinem Vater Steve. Ich muss erneut lächeln, als mir all diese Erinnerungen durch den Kopf stossen.
Es wird immer unser zu Hause bleiben, egal wie weit weg wir nun fahren.
Wir sind eine Familie und wir werden auf ewig zusammen bleiben.




Teil 1




Jimmy




Ich glaube nicht an den Himmel. Ich denke auch nicht, dass es so etwas Ähnliches wie ein Leben nach dem Tod gibt und trotzdem höre ich all deinen Geschichten gebannt zu, ohne einen Laut, ohne jeden Atemzug. Ich schliesse die Augen und finde mich selbst in einem Land wieder, so weit weg und so anders als das Leben hier. Deine Worte treiben mich durch fremde Gebiete, sie führen mitten durch kalte Gewässer und durch drückende Hitze. Es sind deine Geschichten, die mich leiten, deine Stimme die mich führt. Du erzählst die schönsten Geschichten, das hast du schon immer getan. Wenn wir nicht einschlafen, deine Worte waren stets da. Es sind deine Arme, welche sich um uns schliessen und von anderen Welten erzählen, es sind unsere Augen, die sich fest an deinen Blick klammern. Niemals werden wir die Abenteuer vergessen, all die Erinnerungen, die du uns auf dem Weg gabst. Die Schönheit in deinen Worten wird ewig waren, denn ich werde sie tief in meinem Innern tragen. Jedes Wort von dir ist wie ein Stück zu Hause, wie ein winziger Teil des Glücks, das uns schon vor langer Zeit verlassen hat.




*********




Das ist also unser neues zu Hause. Ich sah mir das Haus genau an und versuchte mir vorzustellen, nun für den Rest meines Lebens darin zu leben.
Ich seufzte tief, nahm meinen Rucksack und ein paar Kartonschachtel und lief durch den grossen Garten. Ich öffnete die gläserne Eingangstür.
Da war ich nun. Unser zu Hause, neu und so fremd. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich mich hier jemals daheim fühlen würde.
Als ich mein Zimmer betrat und ich die Schachteln am Boden stellte, da merkte ich auf einmal, wie sehr ich unser altes Haus vermisste. Ich vermisste mein anderes Zimmer, dass zwar nicht so gross wie dieses hier war, doch ich hatte mich trotzdem immer wohl darin gefühlt. Und nun war nicht einmal mehr Lucas Zimmer neben meinem. Selbst das meiner Eltern befand sich ein Stockwerk tiefer und ich musste zuerst die Treppe hinunter steigen, um zu ihnen zu gelangen. Ein leises Klopfen an der Tür liess mich aufschrecken. Luca stand im Türrahmen. Ich nickte ihm zu und er setzte sich neben mir auf den kargen Boden. Lange sagten wir nichts, bis er schliesslich zu mir sah und seufzte. „Du vermisst es auch, nicht wahr?“ ich sah zu ihm hoch und schüttelte den Kopf. „Hier wird es uns schon gefallen. Vielleicht dauert es eine Weile, doch dies ist jetzt unser neues zu Hause. Denkst du nicht auch, dass wir hier glücklich werden?“ Luca sah auf seine Hände und fuhr mit den Fingern den Parkettboden entlang. „Ich weiss es nicht. Ich finde dieses Haus zwar schön und der Garten ist wirklich toll, doch können wir einfach so ein neues Leben anfangen? Was ist mit all den Dingen, die wir nicht mitnehmen konnten. Ich meine all unsere Freunde, unsere Schule und unsere alte Gegend. Jetzt so weit weg von all dem zu sein, ich bezweifle stark, dass ich mich hier jemals zu Hause fühlen werde.“ Ich empfand genau dasselbe wie er, doch ich wollte es nicht zugeben. Ich wollte mich nicht mehr an Erinnerungen klammern und versuchte endlich einzusehen, dass nichts mehr so ein würde, wie zuvor. Plötzlich ertönte ein lautes Klopfen an der Tür und riss mich blitzartig aus meinen Gedanken. Unser Vater streckte den Kopf ins Zimmer und fixierte uns mit seinen müden, trägen Augen. Schliesslich strich er mit der Hand durch das kurze, dunkle Haar, das nun zerzaust in alle Richtungen stand und sagte dann mit harter Stimme: „Was sitzt ihr hier so faul herum? Meint ihr es gäbe nicht noch genug Arbeit zu erledigen?“ wütend funkelte er uns an und wir standen sofort auf und folgten ihm die Treppe hinunter.


*********




Es war still und dunkel. Ich meinte das Haus atmen zu hören. Ein leises, sanftes Rauschen, wie der Wind, der draussen um die hohen Dächer zog.
Ich öffnete die Augen und lauschte gerade der Stille, als ich plötzlich aufschreckte und mich aufrecht hinsetzte. Da war ein anderes Geräusch gewesen, ein leises und dumpfes Etwas, wie ein Schleichen in der Dunkelheit, so hörte es sich an. Ich horchte erneut. Kam es etwa näher? Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Schnell zündete ich ein Licht in meinem Zimmer an und verkroch mich dann wieder unter meiner Decke.
Das Geräusch wurde immer lauter und ich erkannte, dass es sich um eine Stimme handelte, welche nun wie ein leises, gedämpftes Raunen zu flüstern begann. Es war seine Stimme.
Ich hatte auf einmal Angst zu atmen, Angst mich zu bewegen. Ich musste an Luca denken, hörte er es auch? Ich überlegte kurz, dann stand ich auf und öffnete vorsichtig die Tür. Ich sah und hörte nichts. Ich brachte nicht einmal den Mut auf ein Licht anzuzünden, aus Furcht plötzlich sein Gesicht zu erkennen. „Jimmy?“, hörte ich ihn rufen, „bist du es?“ Ich konnte nicht atmen. Ich rannte zum Ende des Korridors, dort wo sich Lucas Zimmer befand. Schnell riss ich seine Tür auf und schloss sie gleich hinter mir wieder. „Was ist los?“, Luca öffnete verschlafen die Augen. Ich hatte ihn anscheinend geweckt, was hiess, dass er die Geräusche nicht gehört hatte. „Jimmy was ist los?“, er setzte sich auf und ich liess mich neben ihm auf sein Bett fallen. „Er ist hier, er hat nach mir gerufen.“ Ich sah ihm direkt in die Augen. „Wer ist hier? Jetzt sprich doch nicht so unverständliches Zeugs. Erklär mir jetzt ganz langsam vor wem du dich so fürchtest.“ „Dad ist hier. Ich hab ihn gehört, wie er meinen Namen gerufen hat.“
Luca sah mich verwirrt an. „Wir müssen Mama wecken, er darf ihr nichts tun. Bitte Luca, steh auf! Wir müssen zu Mama, sofort!“ ich nahm seine Hand und zog so fest daran wie ich konnte. Ich musste ihn irgendwie zum Aufstehen bewegen. Eine Tür wurde zugeschlagen und ich liess Lucas Hand los. Wir starrten uns an. War es meine Tür oder etwa die unserer Mutter?
„Wir können jetzt nicht zu ihr. Jimmy, wenn er getrunken hat, dann ist es viel zu gefährlich für uns.“ Lucas Blick verriet mir, dass auch er Angst hatte.
Doch noch bevor ich etwas erwidern konnte, da öffnete sich plötzlich die Tür vor uns und unser Vater stand im Zimmer.


*********





Ich höre dich weinen, nachts wenn ich in meinem Bett liege und zu schlafen versuche. Ich kann dich atmen hören, so als wäre dein Gesicht direkt neben mir. Als könntest du nur deine Hand ausstrecken und mich in den Schlaf wiegen, genauso, wie du es früher immer getan hast.
Weshalb versuchst du deine Trauer zu verbergen? Ich kann doch genau erkennen wie sehr du leidest. Wie könnt ihr jetzt bloss von mir verlangen, nichts zu unternehmen, nichts zu ändern was längst geschehen war. Ich sehe doch, wie unglücklich du bist. Mama, wie kann ich dir bloss helfen? Bitte lass mich deine Lasten tragen. Ich verspreche dir dann auch, dich nie wieder anzuschreien, dich nie mehr zu belügen. Ich bin dein Sohn Mama, ich und Luca, wir lieben dich.
Was sind das bloss für Narben auf deiner Haut? Weshalb siehst du so müde aus? Ich kann dich nicht mehr leiden sehen, will dir endlich helfen, dir zur Seite stehen. Doch du versteckst dich in deinem Zimmer, beachtest meine Blicke nicht. Und auch Dad sieht weg, wenn ich versuche aus seinem Gesicht zu lesen. Selbst Luca scheint mich nicht zu verstehen. Er dreht den Kopf weg und sagt, er wolle jetzt nicht darüber sprechen. Doch Luca, meinst du wirklich, ich sehe die Angst in deinen Augen nicht? Denkst du wirklich, ich kann nicht aus deinen Blicken lesen? Du bist mein Bruder und ich kenne dich so gut. Ich fühle deine Trauer, so als wäre es meine Eigene. Und du weisst, dass du mir nichts vormachen kannst, denn ich kann durch deine Mauer blicken, ich sehe durch deinen steinernen Schutz. Wann erkennst du endlich, dass du nicht alleine bist? Gemeinsam könnten wir Mama helfen. Wir könnten sie wieder zum Lachen bringen, zusammen würden wir es bestimmt schaffen.




Luca




Sind es die Menschen die wir lieben, welche uns täglich verletzen? Ist es richtig, dass Gott die Leute leben lässt, welche uns zerstören? Ich frage mich, weshalb gibt es Gerechtigkeit und Gesetze, wenn es trotzdem so viele gibt, die sich nicht daran halten. Ein Leben ist zu viel für manche Leute, eine zu grosse Last. Und wem seine Last zu schwer wird, der zeigt sein wahres Gesicht. Er zeigt es denjenigen, die schwächer sind als andere. Und ich kann nicht mehr atmen, denn du warst es, der mir mein Leben geschenkt hat. Du hast mir all dies gegeben, nur um es mir nach all den Jahren wieder zu nehmen.

*********




Du hieltest uns fest in deinen Armen, hast uns gesagt, dass du uns nie verlieren wirst. Und doch sehe ich dich heute Abend nicht hier. All deine Versprechen, deine Worte tief in meinem Innern, sie sind das einzige was ich noch von dir habe. Ich kann mich noch gut an dein Gesicht erinnern, doch wo ist die Wahrheit dahinter verborgen? Versuchst du dich zu verstecken, mich und meinen Bruder hinter dir zu lassen? Ich stehe in meinem Zimmer, hab keine Lust zu den anderen Gästen zu gehen. Auch wenn Mama mir sagt, dass mein Vater mich nicht vergessen hat, dass er jetzt gerade in diesem Moment an mich denkt, ich kann es ihr nicht glauben. Weshalb sollte ich dir wichtig sein, wenn du nicht einmal heute bei mir sein kannst. Und ich frage mich, was wohl in deinem Innern gerade vor sich geht. Es ist mein Geburtstag und du bist nicht hier. Wie soll ich bloss wieder lächeln, wie kann ich glücklich sein ohne meinen Vater, der mir alles Gute wünscht und mich dabei ganz fest in seinen Armen hält. Ich möchte nicht zu den Anderen, nicht einmal ihre Geschenke will ich haben. Nichts von all dem habe ich verdient, wenn nicht einmal mein Vater heute bei mir sein möchte.

Ich hatte gerade meine Augen geschlossen, als sich meine Zimmertür einen Spalt weit öffnete. Ich schlug die Augen auf und da stand er. Ein Mann mit kurzen Haaren und weichem Gesichtsausdruck. Er stand neben meinem Bett und sah mich lange an. Ich konnte seine Miene nicht deuten. Sah er traurig aus oder etwa wütend? Ich schaffte es nicht seinen Blick standzuhalten, ich war zu verletzt um ihn anzusehen. Die Tränen, die mir nun über meine Wangen rollten, hatte ich lange zu verbergen versucht, doch als mein Vater sich schliesslich neben mich legte, da konnte ich nicht aufhören zu schluchzen. Er lag bei mir und hielt meine Hand in seiner fest. Ich konnte ihn atmen hören, leise und gleichmässig. Ein Rhythmus der mir so vertraut war und ich hörte auf zu weinen, nur um seinem vertrautem, geliebtem Atmen zu lauschen.
Hätten Worte ausgereicht, um mich zu trösten, hätte eine Erklärung alles wieder gerade gebogen? Ich konnte ihn nicht ansehen, obwohl ich seinen Blick auf mir spürte. Und dann, nach einer Weile, als wir bloss stumm nebeneinander lagen, da begann er plötzlich zu reden: „Luca, ich wollte da sein. Es tut mir so leid, dass ich dich enttäuscht habe.“ Ich sah ihn an, er zuckte bei meinem Blick zusammen. Konnte er etwa mein Herz rasen hören, fühlte er wie meine Hände zitterten? Ich wusste nicht, ob ich wütend oder einfach nur verletzt war. Trotzdem sah ich ihm in die Augen und liess ihn weiter erzählen.
„Weisst du Luca, ich kann dir nicht erklären weshalb sich alles so verändert hat, denn nicht einmal ich kann es verstehen. Und es soll auch keine Entschuldigung dafür sein, dass ich heute an diesem wichtigen Tag nicht bei dir war, doch bitte versprich mir Luca, dass du nie vergisst wie viel du mir bedeutest. Ich weiss ich habe dich verletzt und könnte ich es wieder gut machen, glaub mir mein Junge, ich würde alles dafür tun“

Wenn ich damals schon gewusst hätte, dass mein Vater später nie mehr so offen und ehrlich mit mir reden würde, ich hätte ihn fest an mich gedrückt und ihm alle seine Fehler verziehen. Doch damals konnte ich ihn nicht verstehen. Ich wusste nicht, dass er schon zu dieser Zeit angefangen hatte zu trinken und ich würde heute alles dafür geben, um noch einmal so neben ihm zu liegen wie damals an meinem Geburtstag.


Elinor



Ich atme und lebe nur für euch. Blickt in meine Augen, sieht darin den Stolz und die Liebe, die ich euch entgegenbringe. Ich kann mein Glück kaum fassen, eine Familie wie diese zu haben. So viele, wunderschöne Jahre zusammen, mit all den Momenten die uns geblieben sind. Ich bete, dass dieses Glück ewig wahren wird, dass unser Lächeln ewig blüht. Und nun stehen wir hier, sehen auf die Bruchstücke vor unseren Füssen und wissen nicht was zu tun ist. Ich werde für uns kämpfen, denn selbst die kleinsten Scherben lassen sich auf irgendeine Weise wieder zusammenfügen.



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Wo sind wir hier nur gelandet? Ich möchte mich bewegen, um endlich wieder frei atmen zu können. Doch ich kann nicht ändern was geschehen ist. Und nun stehen wir hier. Ein neues zu Hause, das Alte so fern und ich möchte mich daran fest halten können. Doch es hat sich alles verändert und ich muss lernen, endlich wieder nach vorne blicken zu können. Ich schliesse meine Augen und sehe selbst den Abgrund nicht. Wieso musstest du dich verlieren, in all dem Zweifel und Leid. Kannst du dich denn nicht mehr an unser altes Leben erinnern? Kannst du dich nicht einmal mehr an unsere Söhne erinnern? Sie sind alles was wir besitzen und ich halte sie fest, so fest wie ich kann. Weshalb kannst du sie nicht beschützen, beschützen vor dir selbst. Und ich frage dich, siehst du den Abgrund vor meinen Füssen? Leite mich durch diese Schlucht, zeige mir den Weg hinaus. Und ich warte, so lange ich noch Hoffnung und Liebe fühle. Sie sagen mir, dass du nie wieder lachen wirst, sie behaupten so vieles, was ich nicht verstehen kann. Zeig ihnen, dass du stark bist, dass du nicht aufgegeben hast. Und doch frage ich mich, wo ist mein Ehemann, wo ist der Vater, den sie so sehr lieben? Du bist nicht mehr derselbe, ich kann es nicht leugnen. Trotzdem versuche ich dich zurück zu holen, denn ich habe dich noch lange nicht aufgegeben. Ich weiss es gibt einen Weg, für uns alle.


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Ich komme nach Hause, das Haus ist still und dunkel. Die Jungs schlafen bereits und trotzdem muss ich nach ihnen sehen gehen. Langsam schleiche ich die Stufen hoch, versuche jedes lautes Geräusch zu vermeiden, denn ich möchte die Beiden nicht aufwecken. Ich öffne Jimmys Zimmertür und setzte mich lautlos neben sein Bett, schaue ihm zu, wie er friedlich schläft und dabei gleichmässig atmet. Er ist mein Sohn, mein Junge und ich möchte nur das Beste für ihn. Ich will, dass er die Schönheit dieser Welt auskostet und nichts von der Traurigkeit, die zu Hause herrscht, erfährt.
Ich frage mich nun, wesshabl musste es so weit kommen? Sein Vater, der ihn anschreit und seine Mutter die nichts zu sagen wagt. Was kann ich denn bloss tun? Steve wird nicht auf mich hören, das weiss ich genau. Wenn es draussen längst dunkel geworden ist und er länger arbeiten muss, kommt er oftmals betrunken nach Hause. Wie soll ich ihm dann bloss in die Augen sehen und ihm sagen, dass es falsch ist, was er tun. Und ich überlege so oft, ob dieser Mann, den ich einst geheiratet habe, vielleicht noch irgendwo in ihm drinnen ist. Denn der neue Steve, der so viel trink, der seine Familie schlägt, das ist er mit Sicherheit nicht.
Ich schliesse Jimmys Tür und laufe hinüber zu Lucas Zimmer. Auch er schläft tief, atmet leise und sanft. Wie sehr ich die Beiden doch liebe und es macht mich krank zu wissen, dass ich sie trotzdem nicht beschützen kann. Ich kann meine Kinder nicht vor ihrem eigenen Vater schützen, denn nicht einmal ich selbst, kann mich vor seiner Wut retten. Tag und Nacht frage ich mich nach dem Grund, weshalb er sich so verändert hat. Ich sehe in sein Gesicht und wundere mich, wie viel Wut ein Mensch in sich tragen kann. Ich möchte zu gerne wissen, woher er all den Hass nimmt. Und jeden Tag nehme ich mir vor, etwas zu ändern, nur am Abend dann schliesslich festzustellen, dass alles noch genau gleich geblieben ist. Ein unendlicher, schrecklicher Lauf, aus welchem es keinen Ausweg gibt. Wie lange kann ich noch kämpfen, ohne zu fallen, wie lange kann ich noch gerade stehen? Wir sind eine Familie, hab ich nicht Recht? Ich versuche mich daran fest zu halten und den Rest auszublenden. Ich versuche alles andere zu vergessen, obwohl ich genau weiss, dass wir nie wieder eine richtige Familie sein werden.


Steve




Manchmal, da wünsche ich mir, dass alles anders gekommen wäre, dass ich so vieles wieder gerade biegen könnte. Doch dann sehe ich in eure Gesichter und ich möchte mit niemanden auf dieser Welt tauschen, denn ihr seid alles was ich habe, alles was ich schon immer wollte. Ihr seid die Familie, von der ich selbst nachts noch träume. Ihr seid die Antwort auf so viele Fragen, das Lächeln nach all den Tränen und doch bin ich es, der euch zum Weinen bringt, ich bin es, der euch all diesen Schmerz zufügt. Ich möchte mich ändern, sage ich jeden Morgen zu mir selbst und mache danach erneut die gleichen Fehler wie zuvor.




*********




Es sind diese Stimmen in meinem Innern. Ich kann sie nicht zurückhalten, ich kann sie nicht ignorieren. Sie versuchen mich zu leiten, mich zu kontrollieren und ich kann nicht mehr weiter kämpfen, ich habe längst aufgegeben.
All diese Augen, sie verurteilen mich, egal ob ich zu Hause oder sonst wo bin. Sie blicken mich an und ich kann sie atmen hören. Ich höre wie sie über mich reden. Dieser Mann. Sie reden über diesen Mann, den ich zu kennen glaube. Dieser eine Mann, der zu oft trinkt, der zu viel flucht.
Wie durch dichtes Glas nehme ich alles wahr, alles was ich sehe und höre.
Sie sollen aufhören zu reden. Sehen sie denn nicht, dass ich Hilfe brauche?
Einen Moment der Klarheit und ich weiss wieder wer ich bin. Für solche Momente lebe ich, tief in meinem Herzen versuche ich sie zu wahren. Doch die Stimmen in meinem Innern werden nicht leiser und ich kann sie nicht mehr länger unterdrücken. Wir hätten nie hierher ziehen dürfen. Ich hätte nie mit dem Trinken anfangen sollen und ich hätte nie meine Arbeit verlieren dürfen.
Ich habe so vieles verloren. Doch meine Söhne sind noch da.
Ich darf sie nicht auch noch verlieren, nicht auch noch sie. Doch soll ich immer weiter lügen? Und was ist mit der Wahrheit? Haben sie nicht ein Recht zu erfahren, dass ich innerlich am brennen bin? Kein Alkohol und kein Pulver dieser Welt können mich retten. Ich sage ihnen, dass ich arbeiten gehe. Doch das tue ich nicht. Ich nehme das Auto und fahre irgendwo hin.
Irgendwo, Hauptsache ich entkomme diesen verurteilenden Blicken. Und jeden Tag geht es mir schlechter. Ich kann abends nicht einschlafen und wenn ich dann so da liege und mich zu erinnern versuche, an all die schönen Dinge in meinem Leben, mir fallen nur noch so Wenige ein. Obwohl es nicht schon immer so war, denn früher hatte ich alles. Ich hatte mehr als ich brauchte.
Und wenn ich dann am Abend nach Hause komme, die Kinder längst im Bett, ich möchte mich am liebsten zu ihnen legen, so wie ich es früher oft getan habe. Doch ich kann nicht aufhören zu trinken, ich kann nicht aufhören zu lügen und zu enttäuschen. Ich werde oft wütend und zerschlage mein Bild im Spiegel. Ich hasse mich. Ich hasse mich für all das Leid, welches sich nur dank mir in unser Leben schlich. Und dann schlage ich meine Familie. Ich habe eine solche Wut, obwohl ich nicht sagen kann, weshalb ich so wütend bin. Und wenn ich wieder klar sehe, dann kann ich meine Frau erkennen, wie sie weint. Nur wegen mir. Und plötzlich sehe ich Jimmy, wie er sich schützend vor seinen Bruder stellt.
Ich weiss nicht weshalb, doch manchmal muss ich lachen, wenn ich die beiden so sehe. Wieso denken sie, dass sie ewig zusammenbleiben werden?
Weshalb meint Jimmy, dass er seinen Bruder für den Rest seines Lebens beschützen kann?
Bitte schlaf deinen Rausch aus, sagt Elinor jeden Abend zu mir, wenn ich sie wütend anfunkle. Doch ich weiss, sie will mich bloss loswerden. Sie will mich verlassen und dann wird sie zusammen mit den Jungs wider in unser altes Haus ziehen. Unser altes Haus, unser altes Leben, alles war damals noch so einfach gewesen und ich sehne mich nach diesen glücklichen Tagen zurück.
Ich blicke in ihre Augen, ignoriere die winzigen Tränen auf ihrer Wange.
Mit wem wirst du mich betrügen, wenn ich nicht mehr hier bin? Wer wird der neue Mann im Haus werden? Jeden Abend frage ich sie dies. Doch was tut sie? Sie schüttelt bloss den Kopf und will mir einreden, dass alles Schwachsinn sei, das ich der einzige und wahre für sie bin. Weshalb sollte ich ihr dies glauben. Weshalb sollten die Stimmen in meinem Innern lügen und sie die Wahrheit sprechen?


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Tag der Veröffentlichung: 20.02.2012

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