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Non plus ultra

Mein Herz klopft so laut, wie das eines Löwen auf der Jagd. Ich höre nichts, außer dem Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Nicht die Menschen auf der Tribüne, nicht die Schreie der Sportler, nicht die Anweisungen meines Trainers. Er schlägt mich kräftig auf die Schultern, damit sich meine Muskeln anspannen, sieht mir ins Gesicht, sagt unverständliche Worte. Ich bin ganz weit weg, nehme alles wie durch einen Schleier wahr, verschwommene Konturen. Die Menschen, sowie die ganze Situation um mich sind ungreifbar. So weit entfernt. Mein Herzschlag ist in jedem Muskel zu spüren, so sehr, dass es fast schon schmerzt. Versuche mich auf meinen Trainer zu konzentrieren, starre auf seine Lippen, die sich wie in Zeitlupe neu formen. Doch die Worte prallen an mir ab, wie von einer Mauer.

Ich fühle mich wie fremdgesteuert, von einer Marionette geleitet, als ich einen Fuß vor den anderen setze. Nähere mich der Matte. Setze meinen linken, nackten Fuß darauf, dann den rechten. Warte. Es kommt mir wie ewig vor. Versuche krampfhaft wieder in die reale Welt zurück zu gelangen, meine Konzentration aus der Spielecke des aufzuklauben und einzusetzen. Irgendwie weiß ich, dass ich verloren bin.

Der raue Untergrund der „Tatami“ beruhigt mich. Mein „Gi“, dessen Gefühl ich schon seit über 10 Jahren genau kenne, schmiegt sich wie eine zweite Haut an mich. Es ist so vertraut. Ich fühle mich sicher. Denke an alte Fischer in Kroatien und Honigverkäufer aus Parga, daran, wer die videomediale Werbung für Bahnhöfe entwirft.

Denke daran, dass ich daran jetzt auf keinen Fall denken sollte.

Denke dann an Stufenbarren und Herbstlaub, an den Geruch von Benzin und an frisch gewaschene Bettwäsche, an Adressstempel und Nils Holgersson, an warme Sommernächte, an Reykjavik und an Hobbypsychologen, an nichtssagende Politikerreden, an Moralapostel und Rollladenkästen.Plötzlich denke ich an Revolution. Glaube, dass Revolution kein lauter, kriegerischer Kampf sein muss, sondern heißen kann, in Zeiten, wo Lügen Alltag sind, die Wahrheit zu sagen. Weiß aber, dass es immer wieder diese Menschen gibt, die sich aufspielen, Menschen, die glauben, sie wären mehr als nur gewöhnlich. Und das sind meistens die Menschen, die nachher, wie sagte Friedrich Nietzsche noch, mehr Affe sind, als so mancher Affe.

Ich werde vom Kampfrichter aus meinen Gedanken gerissen. Energisch zeigt er das Handzeichen, das mir signalisiert, dass ich auf die Wettkampffläche kommen soll. Die Polin klatscht mich unfreundlich ab, hebt die Fäuste und grinst mir böse ins Gesicht. Hebe ebenfalls meine Fäuste, warte wieder. Dann ertönt die japanische Aufforderung „Hajime!“. Abrupt werde ich aus meiner merkwürdigen geistigen Abwesenheit gerissen, ich höre noch meinen Trainer rufen: „Auf geht’, zeig denen, wer hier der Chef ist!“ und im Hintergrund meine gut 50 Teamkameraden Schlachtsprüche brüllen, dann ist mein merkwürdiger Rausch endgültig vorbei.

Nachträglich, zwei Jahre später, kann ich sagen, dass diese Zeit, die mir damals vor meinem ersten Kampf auf der Junioren-Weltmeisterschaft so unglaublich lange vorkam, natürlich nur wenige Sekunden, wenn überhaupt eine Minute gewesen sein muss. Trotzdem kann ich mich an jede einzelne dieser Sekunden genauestens erinnern, als wäre diese Erinnerung in meinem Gedächtnis eingebrannt. Wieso ich gerade das gedacht habe, an das ich gedacht habe, kann ich Euch nicht sagen. Aber ich muss immer wieder daran denken, nicht nur, weil es mir selbst vollkommen unerklärlich scheint, sondern auch, weil ich es nicht vergessen kann.

Ich hatte vor diesem Wettkampftag zwei Tage lang weder gegessen, noch auch nur die kleinste Menge Flüssigkeit zu mir genommen. Zusätzlich hatte ich sieben Wochen vorher angefangen meine Kilos mit Laufen gehen und einem absurd durchstrukturierten Ernährungsplan zu verlieren, damit ich in überhaupt teilnehmen konnte. Den Rausch, den ich an in diesen Minuten hatte, lässt sich für mich nur als eine Art Mangelerscheinung erklären. Vielleicht war ich auch einfach nur so sehr konzentriert, dass ich komplett abgeschaltet habe und es mir dann sogar vorkam, als wäre ich nicht im Geringsten konzentriert. Ich weiß es nicht.

Für viele von Euch wird sich mein Beitrag und diese biografische Erzählung sehr merkwürdig anhören, vielleicht sogar absurd und idiotisch. Vielleicht findet ihr auch, dass das in Eurem Verständnis gar kein Rausch gewesen ist. Deshalb ist es für mich auch verständlich, wenn ihr es nicht nachvollziehen könnt. Ich habe schon viele Leute sagen hören, wieso ich das denn machen würde und wie ich überhaupt Gefallen an einem solchen Sport haben könne. Vor allem als Frau.

Jeder von Euch, der im gewissen Sinne ein Hobby hat oder etwas, mit dem er aufgewachsen ist, wird genau verstehen, was der Sport für mich bedeutet hat und immer noch bedeutet. Heute kämpfe ich nicht mehr auf Wettkämpfen. Den Sport mache ich weiterhin. Ob nun als Sportler selbst, als Trainer oder als Kampfrichter. Es ist mein Leben und mein ganz persönlicher Rausch. Doch der Rausch dieser wenigen Minuten im November vor zwei Jahren, war wohl bis heute das Non plus ultra.

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Tag der Veröffentlichung: 12.11.2013

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