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Kapitel 1


Die Sonne stand wie ein rot glühender Feuerball tief am Horizont und die Straßen schwirrten von der warmen Luft, die seit Tagen immer stickiger wurde. Es war einer der letzten Sommertage im August. Ein warmes Lüftchen wehte und Anjali fröstelte trotz der Wärme. Sie saß gedankenverloren in ihrem Zimmer auf der Fensterbank und schaute durch das geöffnete Fenster hinunter auf das bunte Treiben in der Straße. Sie konnte selber kaum glauben, dass sie hier saß. Sie, die niemals ihr geliebtes Indien verlassen wollte. Und jetzt? Jetzt saß sie in London und versuchte, ihre Gedanken und ihr Leben neu zu ordnen. Sie hatte soviel in Indien zurück gelassen und doch konnte sie nicht zurückkehren - nicht jetzt und wahrscheinlich ihr Lebtag nicht mehr. Dessen war sie sich sicher. Zu sehr schmerzten sie die Erinnerungen an eine vergangene Zeit, in der sie glücklich war. Sie arbeitete jetzt in einer großen Werbeagentur und versuchte, sich an dieses Leben in London zu gewöhnen. Sie schlang ihre Arme fester um ihren Körper, sie fror jetzt. Wind machte sich auf und ließ die ersten Blätter durch die Luft tanzen, die der großen Hitze dieses Sommers nicht stand gehalten hatten und von den Bäumen fielen. Sie schaute zum Himmel und sah, wie sich immer schneller immer größere und dunklere Wolken zusammenzogen und erste große schwere Regentropfen herunterfielen. In der Ferne zuckten Blitze und binnen weniger Minuten war ein schweres Sommergewitter ausgebrochen. Anjali schloss das Fenster.

Sie stand einige Minuten still in ihrem dunklen Zimmer und beobachtete den Regen, der gegen das Fenster klatschte. Sie merkte nicht, dass ihr Tränen über das Gesicht rannen, bis sie ein lautes Poltern, welches aus der Wohnung über ihr drang, aus ihrer Starre löste. Instinktiv hob sie ihr Gesicht in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Sie hörte jemanden fluchen und dann folgte Stille. Sie musste unwillkürlich schmunzeln und wischte sich mit der Hand über das nasse Gesicht. Der Mieter über ihr musste ein absoluter Tollpatsch sein, es verging kein Tag, an dem dort oben nichts zu Bruch ging und kein Fluchen des Mieters zu hören war.

Anjali schaute auf die Uhr und erschrak. Ohne es zu bemerken war es nun schon bald Mitternacht geworden. Sie musste morgen früh zeitig aufstehen, schließlich hatte sie einen wichtigen Termin im Büro und musste ausgeschlafen sein. Sie huschte ins Bad und machte sich fertig. Sie lag im Bett und lauschte durch das angeklappte Fenster nach draußen. Es war ruhig geworden und das Gewitter war in einen sanften Sommerregen übergegangen. Ohne es zu merken glitt Anjali in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Sie hatte seit Monaten nicht mehr geträumt und konnte sich nicht erklären, woran das liegen könnte. Allerdings störte es sie auch nicht unbedingt, da sie Träumen eh keine besondere Bedeutung zumaß.

Am nächsten Morgen wurde sie durch das erbarmungslose Klingeln ihres Weckers aus dem Schlaf gerissen. Noch ziemlich verschlafen setzte sich Anjali in ihrem Bett auf und streckte sich ausgiebig. Sie hatte sehr gut geschlafen und war trotz der frühen Stunde für ihre Verhältnisse erstaunlich gut gelaunt. Sie schlug die Bettdecke zur Seite und sprang aus dem Bett. Sich streckend ging sie ans Fenster und schaute auf die noch fast menschenleere Straße hinunter, die in der Morgendämmerung noch feucht glänzend dalag. Der Regen hatte den Staub der letzten Wochen weggewaschen und die Luft war zum ersten Mal seit Langem angenehm kühl und frisch. Anjali schloss das Fenster und machte ihr Bett. Dann ging sie in die Küche um sich einen Kaffee zu machen. Während der Kaffee lief ging sie ins Bad. Sie brauchte ihre morgendliche Dusche, damit alle Lebensgeister wach wurden. Im Morgenmantel ging sie in die Küche, nahm sich eine Tasse Kaffee, setzte sich an den Küchentisch und steckte sich eine Zigarette an. Ein Laster, welches sie nicht aufgeben konnte und, wenn sie ehrlich zu sich war, auch nicht aufgeben wollte. Während sie “frühstückte” ging Anjali noch einmal die Unterlagen durch, die sie heute brauchte. In diese morgendliche Stille hinein platzte das Klingeln ihres Telefons. Anjali schreckte hoch und schaute zur Uhr, die an der Küchenwand hing. Es war halb sieben Uhr morgens. Wer rief um diese Zeit denn schon an?

Das Telefon klingelte noch immer. Anjali ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. “Mrs. Kapoor? Singh hier!” Ihr Chef. Was wollte der denn so früh? “Da bin ich aber froh, Sie noch zu Hause zu erreichen!”, hörte sie ihren Chef sagen. “Was gibt es denn, Mr. Singh? Ich wollte gleich los.”, hörte sie sich sagen. “Deshalb rufe ich ja an,” erwiderte ihr Chef. “Sie brauchen heute doch nicht ins Büro zu kommen. Der Werbepartner hat sich anderweitig orientiert und mir heute Nacht mitgeteilt, dass der Deal zwischen unserer Firma und ihm nicht zustande kommt!” Anjali hörte an der Stimme ihres Chefs, dass er ziemlich sauer war. “Das tut mir leid, Mr. Singh.” sagte Anjali. “Kindchen, das muss Ihnen nicht leid tun!” klang Mr. Singhs Stimme schon wesentlich freundlicher. “Mit Ihrer Arbeit hatte das nichts zu tun. Sie haben wie immer hervorragende Arbeit geleistet. Mir tut’s nur um die viele Zeit leid, die Sie dadurch im Büro zusätzlich verbringen mussten!” “Ach, das habe ich doch gerne gemacht Mr. Singh. Sie wissen doch, dass ich diese Arbeit liebe.” erwiderte Anjali und sie meinte es auch genau so. Sie liebte ihren Beruf und kniete sich in jeden Auftrag und steckte viel Herzblut in ihre Arbeiten. Mr. Singh wusste das und hatte manchmal so seine liebe Mühe, Anjali in ihrem Arbeitseifer zu bremsen. “Mrs. Kapoor, hören Sie”, sagte Mr. Singh. “Ich möchte, dass Sie sich den kommenden Monat frei nehmen, sich mal wieder richtig entspannen und den Kopf freikriegen. Der letzte Auftrag hat uns allen viel Kraft und Nerven gekostet, vor allem Ihnen.” “Aber…” wollte Anjali protestieren. “Kein Aber!” unterbrach ihr Chef sie in einem Ton, der keine Widerrede zuließ. “Ich werde die Firma einen Monat schließen. Sozusagen Betriebsferien, kreative Pause. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Wir müssen alle den Kopf wieder freikriegen und neue Eindrücke sammeln.” “In Ordnung, Mr. Singh.” sagte Anjali. “Aber wenn Sie mich brauchen - Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen.” “Nein Anjali, ich werde die Firma für die Zeit nicht betreten. Und Sie will ich vor dem ersten Oktober nicht im Büro erwischen und auch nichts anderes von Ihnen hören, außer vielleicht einer Urlaubskarte!” sagte ihr Chef energisch und verabschiedete sich von ihr. Anjali legte den Hörer wieder auf die Gabel, als sie nur noch das Tuten am anderen Ende der Leitung vernahm.

Immer noch im Morgenmantel setzte sie sich auf die Couch. Was sollte sie mit einem ganzen Monat Urlaub anfangen? Ihr fiel nichts ein. Sie grübelte fast eine Stunde, doch sie kam zu keinem Ergebnis. Sie entschied sich, den heutigen Tag in aller Ruhe zu gestalten. Anjali ging zu ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen sollte. Da es sich Dank des Regens etwas abgekühlt hatte, entschied sie sich für eine schwarze Jeans und eine genauso schwarze Bluse. Während sie sich zurecht machte, fiel ihr auf, dass sie fast nur noch schwarze Kleidung besaß. Aber irgendwie passte das auch zu ihrer allgemeinen Verfassung. Außerdem fand sie, dass sie in Schwarz richtig gut aussah und schaute ihr Spiegelbild beinahe herausfordernd an, als wenn sie eine Zustimmung ihres Spiegelbildes erwartete.

Während sie sich die langen schwarzen Haare bürstete, dachte sie an ihren Chef. Saif Singh war schon etwas in die Jahre gekommen und hatte Anjali vor über einem Jahr von Indien nach London geholt. Er leitete eine der größten Werbeagenturen Englands und war in Indien auf der Suche nach neuen frischen Talenten. Als er auf Anjali traf, war diese ein Schatten ihrer selbst und wollte nur raus aus Indien. Sie erinnerte Saif Singh an seine Tochter, die an einer schweren Lungenentzündung starb, als sie in etwa demselben Alter war wie Anjali damals. Er erfuhr, dass Anjalis Verlobter Rahul bei einem schweren Verkehrsunfall tödlich verletzt worden war. Anjali hatte diesen Verlust nie verkraftet, auch weil sie sich nie von ihm verabschieden durfte. Sie machte sich die größten Vorwürfe, weil sie sich kurz vor seinem Unfall heftig gestritten hatten. Sie waren gerade in den Hochzeitsvorbereitungen und konnten sich einfach nicht einigen, was es denn nun zu essen geben sollte. Ihr Verlobter war daraufhin stinksauer auf sein Motorrad gestiegen und davon gerast. Anjali hatte ihn nie wieder gesehen. Als ein Polizist ihr die Nachricht vom Tod ihres Verlobten brachte und ihr sagte, dass sie ihn nicht sehen durfte, da seine Leiche übel entstellt war, brach für Anjali eine Welt zusammen. Sie fühlte sich wegen des Streites schuldig an seinem Tod. Sie tat es immer noch. Es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte und die Tatsache, dass sich sein Tod bald zum zweiten Mal jährte, machte es nicht besser.

Ein Scheppern aus der Wohnung über ihr riss sie aus ihren trüben Gedanken. Wie aus einem Traum erwacht, schaute Anjali sich um. Sie stand noch immer mit der Bürste in der Hand vor ihrem Spiegel. Während sie diese beiseite legte, schepperte es oben schon wieder gefolgt von dem üblichen Fluchen. Anjali musste laut lachen, obwohl sie gar nicht genau wusste, weshalb. Sie hatte den Mieter aus der Wohnung über ihr noch nie gesehen, aber dennoch war er ihr irgendwie sympathisch und ein wenig leid tat er ihr auch. Sie wischte den Gedanken mit einem amüsierten Kopfschütteln wieder weg und warf einen letzten Blick in den Spiegel.

Kapitel 2


London war erwacht. Überall war buntes, lautes Treiben in den Straßen. Die Sonne wärmte nicht mehr ganz so stark wie die Wochen zuvor, doch Anjali empfand das als angenehm. Sie hatte sich eine ganze Weile von dem Treiben mitreißen lassen und jetzt machte sich ihr Magen mit einem lauten Knurren bemerkbar. Anjali schaute auf die Uhr. Es war inzwischen Mittag geworden und sie hatte heute noch nichts gegessen. Sie schaute sich in der Straße um und entdeckte ein kleines Bistro, was sehr gemütlich aussah. Sie entschloss sich, dort zu Mittag zu essen und die Sonne zu genießen. Das Bistro war tatsächlich so gemütlich wie es aussah. Anjali setzte sich an einen kleinen Tisch der unter einem Sonnenschirm stand. Neben ihrem Tisch waren große Kübel mit Koniferen aufgestellt. Sie schaute sich um und sah, dass das Bistro links und rechts so eingefasst war. Es gefiel ihr, so saß sie wenigstens nicht so auf dem Präsentierteller und konnte dennoch mühelos das Treiben auf der Straße beobachten. Ihr Essen kam schnell und Anjali stürzte sich ausgehungert darauf. Das verwunderte sie selber, sie hatte schon lange keinen so großen Appetit gehabt. Als der erste Hunger gestillt war, schaute sich Anjali im Bistro um. Zwei Tische weiter saß ein älteres Ehepaar, welches schweigend auf sein Essen wartete. In der Ecke gegenüber saß ein junger Mann. Anjali vermutete, dass er ein Student war. Er war völlig vertieft in einen dicken Hefter. Der junge Mann musste ihren Blick gespürt haben, denn er hob plötzlich den Kopf und schaute Anjali geradewegs in die Augen. Anjali erschrak und errötete. Es war nicht ihre Art, Fremde einfach so anzustarren. Doch der junge Mann schien ihr das nicht zu verübeln, lächelte sie an und war im nächsten Augenblick wieder in seinen Unterlagen vertieft.

Nachdem sie ihren Teller leer hatte, bestellte Anjali sich einen großen Milchkaffee, holte ihr Buch aus der übergroßen Handtasche und vertiefte sich darin. Sie musste bald schon eine Stunde so gelesen haben, als sie von einer Stimme hoch geschreckt wurde, die ihr nur allzu vertraut vorkam.

Sie schaute sich um, konnte aber beim besten Willen den Besitzer dieser Stimme nicht ausmachen. Dann hörte sie hinter der Konifere eine Frauenstimme. “Aman, Du bist unmöglich! Ich habe dir doch gesagt, dass meine Eltern dich unbedingt kennen lernen wollen! Und schau, wie Du wieder rumläufst! Ich muss mich ja bald schämen für dich!” Die Frauenstimme klang verärgert und Anjali musste unwillkürlich schmunzeln. “Entschuldige mein Schatz! Du weißt doch, wie vergesslich ich bin. Hättest Du mich doch heute morgen noch einmal erinnert, dann hätte ich mir noch einen passenden Anzug gekauft.” Die Männerstimme klang geknickt und Anjali drehte sich der Magen um. Das konnte doch nicht sein! Sie sprang auf und wollte über die Konifere schauen, aber die Haustür des Nachbarhauses fiel schon ins Schloss und Anjali erhaschte nur noch einen Blick auf zwei Schatten hinter dem Milchglas der Tür.

Anjali sank langsam auf ihren Stuhl zurück. Ihr Herz und ihre Gedanken rasten. Diese Stimme! Das konnte einfach nicht sein, das konnte nicht Rahul sein. Rahul war tot! Auch wenn sie ihn nicht noch einmal gesehen hatte, aber sie hatte sein Motorrad gesehen. So wie das aussah, konnte er das nie und nimmer überlebt haben. Außerdem hatte die Frau ihn mit Aman angesprochen. Aber sie klang so verdammt nach ihm. Sie würde seine Stimme doch unter Tausenden wieder erkennen! “Fräulein! Heh, Fräulein!” Die Stimme der Kellnerin holte sie in die Wirklichkeit zurück. “Entschuldigen Sie, aber ich muss kassieren. Meine Schicht endet gleich.” hörte Anjali die Kellnerin sagen. “Oh, kein Problem. Was bekommen Sie?” erwiderte Anjali und legte einen Geldschein auf Tisch, schnappte ihr Buch und verließ wie von der Tarantel gestochen das Bistro. “He Fräulein, das ist aber viel zu viel!” hörte sie noch die Stimme der Kellnerin, während sie die Straße hinuntereilte.

Sollte es möglich sein? Sie war in einem kleinen Park angekommen und ließ sich auf eine Bank fallen. Anjali steckte sich eine Zigarette an und zog nervös an dieser. Nach Rahuls Tod hatte sie das Rauchen angefangen. Vielleicht auch, weil der Duft des Zigarettenqualms Anjali an Rahul erinnerte und sie so seine Nähe spüren konnte. Nein, sie musste sich getäuscht haben. Wahrscheinlich hatte dieser Aman nur eine ähnlich klingende Stimme. Wahrscheinlich glaubte sie nur Rahuls Stimme gehört zu haben, weil nun sein Todestag näher rückte und sie noch intensiver als sonst an ihn dachte. Das musste es sein, versuchte Anjali sich zu beruhigen. Doch ihr Herz schlug noch immer heftig. Anjali saß noch lange nachdenklich auf der Bank und versuchte sich zu sagen, dass es nur eine Täuschung gewesen sein kann. Sie musste sich verhört haben! Anders konnte es nicht sein. Es dämmerte schon, als sie sich langsam auf den Heimweg machte und immer noch an Rahul und diese Stimme, die sie heute gehört hatte, dachte.

Kapitel 3


In dieser Nacht träumte Anjali das erste Mal seit Monaten wieder. Sie saß in diesem kleinen Bistro und hörte wieder diese Stimme. Doch so oft sie auch versuchte, einen Blick auf die Person zu erhaschen, zu der die Stimme gehörte, es gelang ihr einfach nicht. Das laute Poltern aus der Wohnung über ihr ließ sie hochfahren. Für einen Moment musste Anjali sich orientieren, wo sie war. Sie hatte sehr unruhig geschlafen und noch immer hallte diese Stimme in ihrem Kopf nach. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass es schon fast Mittag war, aber ausgeschlafen fühlte Anjali sich trotzdem nicht. Sie war wie erschlagen und kam überhaupt nicht in Gang. Oben fluchte es lautstark. Entweder hatte der Mann zu viel Geld oder eine verdammt gute Haftpflichtversicherung dachte Anjali und zum ersten Mal nervte sie es. Sie musste wohl doch mal mit ihm reden, denn so konnte das nicht weitergehen. Irgendwann verletzt der sich noch mal! Anjali saß noch immer in ihrem Bett und konnte sich nicht aufraffen aufzustehen. Am liebsten hätte sie sich die Decke über den Kopf gezogen und wäre den ganzen Monat im Bett geblieben.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich Anjali dann doch mit einem tiefen Seufzer aus dem Bett und tapste Richtung Küche. Einen Kaffee hatte sie jetzt mehr als nötig. Doch irgendwie schien der Tag sie heute nicht zu mögen. Mehr als ein paar Krümel waren in ihrer Kaffeedose nicht übrig geblieben und ein neues Paket Kaffee hatte sie natürlich auch nicht mehr, was ein Blick in ihren Vorratsschrank bestätigte. Grummelnd schlurfte Anjali ins Bad. Dann brauchte sie jetzt wenigstens eine ausgiebige und heiße Dusche. Das heiße Wasser prasselte wohltuend über ihren Körper und Anjali fühlte sich bald etwas besser. Auf ihren Kaffee wollte sie aber dennoch nicht verzichten und entschloss sich, im Laden gegenüber rasch welchen zu kaufen. Sie hatte heute nicht wirklich Lust, großartig unter Menschen zu gehen. Ihr war vielmehr nach einigeln auf dem heimischen Sofa. Sie zog sich rasch ihren bequemen Hausanzug an, sie würde ja eh gleich wieder zu Hause sein, schlüpfte in ihre Pantoffeln, schnappte sich ihren Geldbeutel und flitzte in den Laden.
Sie hatte sich gleich mehrere Pakete Kaffee auf Vorrat gekauft und war nun mit den ganzen Paketen auf dem Arm auf dem Rückweg in ihre Wohnung. Im Treppenhaus hörte sie es schon wieder poltern, dann schlug eine Wohnungstür zu und sie hörte Schritte auf der Treppe. Eh Anjali wusste, wie ihr geschah, prallte sie unsanft mit jemanden zusammen und verlor fast den Halt. Sie wollte sich schon beschweren, als sie ein gemurmeltes “Entschuldigung!” vernahm und eine Hand sie reflexartig am Fallen hinderte.

Anjali erstarrte. Da war sie wieder, diese Stimme! Sie starrte wie gebannt auf die Hand, die sie aufgefangen hatte, doch die war unter einem Handschuh versteckt. Sekundenlang stand sie wie gebannt auf dem Treppenabsatz und getraute sich nicht ihr Gegenüber anzuschauen. Die Hand ließ sie los und Anjali schaute endlich hoch, aber in dem Moment war die Hand samt dem dazugehörigen Besitzer schon aus der Haustür.

Sicher eine kleine Ewigkeit starrte sie auf die Haustür. Vielleicht hoffte sie, dass sie aufginge. Doch es rührte sich nichts. Vollkommen verwirrt ging Anjali hoch in ihre Wohnung.

Diese Stimme! Halluzinierte sie? Wahrscheinlich hatte sie in den letzten Wochen zuviel gearbeitet. Der Auftrag hatte sie viel an Konzentration, Nerven und auch Zeit gekostet, nur um dann zu platzen.

Und außerdem war übermorgen Rahuls Todestag. Wahrscheinlich hörte sie deshalb überall seine Stimme, weil sie sich so sehr wünschte, dass er hier bei ihr wäre und nicht weit weg in Indien seine letzte Ruhestätte gefunden hätte. Oder lag es daran, dass sie sich nie von ihm verabschiedet hatte? Sie brachte es nicht fertig, am Tag seiner Beisetzung zu ihm zu gehen. Sie wollte nicht sehen, wie ihr geliebter Rahul den Flammen übergeben wurde. Auch danach hatte sie sich nie überwinden können, an seinem Grab Abschied von ihm zu nehmen. Sie war zu sehr davon überzeugt, die Schuld an seinem Tod zu tragen, denn ohne ihre Sturheit wäre es nie zu diesem Streit gekommen. Sie fühlte sich schuldig, ihn auf seinem letzten Weg allein gelassen zu haben.

Anjali brachte den Kaffee in die Küche. Der Appetit darauf war ihr nun gründlich vergangen. Sie stand einen Moment lang regungslos vor der Spüle und schaute mit leerem Blick durch das darüber liegende Küchenfenster hinaus. Übermorgen war der dritte September. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass dieser Tag in diesem Jahr nicht im Kalender stünde. Doch diesen Wunsch konnte ihr natürlich keine Gottheit dieser Welt erfüllen.

Vor dem Fenster flatterte eine Taube hoch und holte Anjali für einen Moment aus ihren Gedanken. Doch immer wieder schlich sich diese Stimme in ihren Kopf und ließ ihr keine Ruhe.

Anjali fühlte sich mit einem Mal unendlich müde und erschlagen und beschloss, ein kurzes Nickerchen auf der Couch zu machen. Während sie die Wolldecke über sich zog und schon in den Schlaf hinüber glitt, stellte sie noch leicht verwundert fest, dass sie seit Stunden kein Geräusch mehr aus der Wohnung über ihr vernommen hatte. Doch noch bevor sie sich hierüber wirklich wundern konnte, war sie schon eingeschlafen.

Kapitel 4


Anjali schlief tief und traumlos. Als sie wieder aufwachte, dämmerte bereits der neue Morgen. Sie setzte sich noch etwas verschlafen auf. Von der unbequemen Position auf der Couch taten ihr Rücken und Nacken weh. Eine heiße Dusche würde ihr gut tun und die verspannten Muskeln lockern.

Kurze Zeit darauf konnte man in ihrem Bad kaum noch die Hand vor Augen sehen, so heiß ließ sie das Wasser auf ihren Körper prasseln. Anjali fühlte sich munter und war auch ein wenig fröhlich gestimmt. Sie wusste zwar nicht warum, aber sie musste schmunzeln, als sie aus der Dusche trat und feststellte, dass man in ihrem Bad bald Nebelscheinwerfer brauchte.

Mit einem Kaffee und ihrer Morgenzigarette setzte sich Anjali auf den kleinen Balkon, der von der Küche aus zugänglich war und beobachtete wie die Sonne langsam über den Häusern Londons aufging. Es war noch kühl und die ersten Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg über die Dächer. Der Geruch der Zigarette erinnerte sie wieder an Rahul und in derselben Sekunde fiel ihr wieder diese Stimme ein. So sehr sie auch nachdachte, sie kam zu keinem logischen Ergebnis. Rahul war tot, definitiv. Wenn er diesen Unfall überlebt hätte, wäre er doch zu ihr zurückgekommen. Dessen war sie sich sicher. Nein, außerdem wurde er den Flammen übergeben. Es konnte also überhaupt nicht sein.

Um sich abzulenken, ging Anjali an der Themse spazieren. Das machte sie immer so, wenn sie ihre Gedanken ordnen wollte. Sie war einige Stunden unterwegs, rätselte immer noch hin und her und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass sie sich wohl wirklich getäuscht haben musste.

Irgendwann fand sie sich vor ihrer Wohnungstür wieder, doch aus irgendeinem Grund passte ihr Schlüssel nicht. Sie probierte und probierte, aber die Tür blieb zu. Anjali war das ein Rätsel, bis die Wohnungstür mit einem Schlag aufgerissen wurde und sie in zwei braune Augen blickte, die sie argwöhnisch anschauten.

“Wer zum Henker sind Sie denn? Und was wollen Sie in meiner Wohnung?” fragte der Mann die ihn völlig entgeistert anstarrende Anjali. Irgendwo hatte sie ihn schon mal gesehen, aber das wollte ihr gerade nicht einfallen. Anjali schaute sich auf dem Hausflur um. Sie musste in Gedanken eine Etage zu weit gegangen sein und stand jetzt vor dem Mieter der Wohnung über ihr. “Hallo? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Was wollen Sie in meiner Wohnung?” Der Mann klang immer noch etwas verärgert. Anjali schaute ihn an und stammelte “Ent… Entschuldigen Sie bitte vielmals! Ich… ich habe mich wohl in der Etage geirrt und hab Ihre Wohnung für die meine gehalten!” “Na, dann passen Sie eben nächstes Mal auf, wo Sie hingehen!” grummelte der Mann und machte ihr die Tür vor der Nase zu. Anjali stand einen Moment lang wie ein begossener Pudel vor der geschlossenen Tür, bevor sie die Treppen hinab stieg und in ihre Wohnung ging.

Sie setzte sich auf ihr Couch und grübelte, wo sie diesen Mann schon mal gesehen hatte, aber es fiel ihr beim besten Willen nicht ein. Oben schepperte es mal wieder und das Fluchen ließ auch nicht lange auf sich warten.

Einen Moment später klingelte es an ihrer Tür. Wer war das denn jetzt? Sie hatte doch gar keinen Besuch erwartet. Anjali schlich zur Tür und spähte durch den Spion. Der Mieter von oben. Was wollte der denn? Etwas unsicher öffnete Anjali die Tür und steckte ihren Kopf durch den Spalt. “Ja, bitte?” Der Mann lächelte verlegen “Bitte entschuldigen Sie mein Verhalten eben. Ich wollte Sie nicht so anfahren. Es war nur… ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich hatte Sie im ersten Moment tatsächlich für einen Einbrecher gehalten. Können Sie mir verzeihen?” Er schaute Anjali fragend und immer noch verlegen grinsend an. Anjali fiel innerlich ein Stein vom Herzen, sie hatte schon das Schlimmste befürchtet. “Oh, das muss Ihnen nicht leid tun.” erwiderte sie lächelnd. “Ich hätte wahrscheinlich genauso reagiert und womöglich gleich die Polizei gerufen.” Der Mann lächelte dankend und wollte sich schon wieder auf den Weg in seine Wohnung machen, als Anjali ihn fragte “Möchten Sie vielleicht einen Tee oder Kaffee mit mir trinken?”

Verdutzt blieb er stehen und schaute Anjali an. Er lächelte “Gerne! Ich bin übrigens Rohan!” stellte er sich vor. “Anjali. Freut mich, Sie kennen zu lernen!” Anjali öffnete die Tür nun so weit, dass Rohan ihre Wohnung betreten konnte. “Nehmen Sie doch bitte Platz. Möchten Sie einen Tee oder einen Kaffee?” Rohan setzte sich auf Anjalis Couch und schaute sie an “Gegen einen Kaffee hätte ich nichts einzuwenden.” antwortete er auf ihre Frage und Anjali verschwand in der Küche, um den Kaffee anzusetzen. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie ihn eingeladen hatte. Aber er stand so geknickt vor ihrer Tür, dass er ihr fast leid tat. Außerdem war sie neugierig, was es mit der Polterei auf sich hatte.

Die Zeit, die Anjali in der Küche war, nutzte Rohan, um sich in ihrem Wohnzimmer umzuschauen. Sie hatte es sehr gemütlich. Er stand sichtlich beeindruckt vor dem riesigen Bücherregal. An den Wänden hingen Bilder von Indien. Auf einem kleinen Tischchen am Fenster standen ein Strauß roter Rosen und davor ein gerahmtes Bild. Neben dem Bild brannten zwei Kerzen und davor lag eine Schatulle. Rohan stutzte, als er das Bild sah und ging näher, um es sich genau anzusehen. Er kannte die Person auf dem Bild. Aber woher kannte Anjali ihn? Und warum hatte sie dieses Bild wie auf einer Art Altar stehen?

Er hatte sich gerade wieder hingesetzt und überlegte, wie er Anjali unauffällig nach dem Bild fragen konnte, als diese auch schon mit zwei dampfenden Tassen Kaffee zu ihm ins Wohnzimmer kam.

“Hier, bitte.” lächelte Anjali ihren Besucher an. “Brauchen Sie noch Milch und Zucker?” Rohan nahm ihr eine Tasse ab und schüttelte den Kopf. “Nein danke, ich trinke meinen Kaffee immer schwarz.”

Anjali setzte sich in den Sessel gegenüber. Einen Moment lang herrschte Stille zwischen den Beiden, da jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Obwohl sie sich gerade erst kennen gelernt hatten, empfanden sie diese Stille nicht als peinlich.

Anjali war schließlich die Erste, die das Wort ergriff. “Entschuldigen Sie meine vielleicht etwas indiskrete Frage, Rohan. Aber wie kommt es, dass ich Sie hier im Haus noch nie zuvor gesehen habe?” Rohan schaute sie an und Anjali bereute ihre Frage beinahe schon, als dieser lächelte. “Wissen Sie, ich studiere. Und am besten kann ich lernen, wenn ich draußen bin. Ich kann einfach nicht in der Wohnung hocken und über Büchern brüten. Mir fällt dann spätestens nach einer Stunde die Decke auf den Kopf.” Rohan war also Student mit einem ausgeprägtem Freiheitsdrang. Aber wenn er so selten zu Hause war, wer randalierte dann in seiner Wohnung?

In diesem Moment schepperte es oben wieder fürchterlich und Anjali und Rohan sprangen gleichzeitig hoch. Rohans Blick verfinsterte sich und er blickte mit zusammen gekniffenen Augen zur Decke. “Ooooh dieser verfluchte…!” presste er kaum hörbar durch seine Zähne. Er blickte kurz zu Anjali. “Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment? Ich bin gleich wieder da, wenn ich darf.” Mit diesen Worten ließ Rohan die völlig verdutzt nickende Anjali stehen und eilte hinauf in seine Wohnung. Kurz darauf hörte sie ihn schon fluchen. Was hatte das denn nun zu bedeuten? Wenn Rohan nicht der Tollpatsch war, für den Anjali ihn bisher gehalten hatte, wer oder was veranstaltete dann immer diesen Lärm? Anjali verstand nun gar nichts mehr und ihr blieb nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass Rohan zurückkam. Vielleicht würde er es ihr ja erklären.

Kapitel 5


Anjali setzte sich wieder in ihren Sessel und dachte an das Gespräch von vorhin. Rohan studierte also und in diesem Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Jetzt wusste sie, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Er war vor ein paar Tagen in dem kleinen Bistro, in dem Anjali zu Mittag gegessen hatte und wo sie Rahuls Stimme zu hören glaubte. Ach Rahul. Ihr Blick wanderte zu seinem Foto und sie spürte die Tränen in ihr hochsteigen. Sie wischte sich mit der Hand über die Augen, schließlich sollte Rohan nicht sehen, dass sie geweint hatte. Hoffentlich hatte er Anjali nicht wieder erkannt. Das wäre ihr außerordentlich peinlich, wo sie ihn doch unbewusst so angestarrt hatte in dem Bistro.

Doch ehe sich Anjali weitere Gedanken darüber machen konnte, klingelte es wieder an ihrer Tür. “Darf ich vorstellen? Das ist Dev, mein hauseigenes Abrisskommando!” sagte Rohan zu Anjali, die völlig hingerissen in zwei schwarze Kulleraugen schaute, die zu einem kleinen Labrador gehörten. Dev schaute Anjali freudig mit seinem kleinen Schwanz wedelnd an und versuchte, sich aus Rohans Armen zu befreien, was ihm leider nicht gelang.

Anjali hatte sich auf der Stelle in diesen kleinen Racker verliebt und schaute ihn so fasziniert an, dass sie völlig vergaß, Rohan wieder herein zu bitten. “Dürfen wir beide reinkommen?” fragte Rohan mit einem amüsierten Unterton in der Stimme. Er hatte Anjali einen Moment lang beobachtet, wie sie fasziniert auf den kleinen Dev geschaut hatte. “Ähm… ja, natürlich. Kommt rein!” sagte Anjali verlegen. “Entschuldigen Sie, Rohan, aber der Kleine ist ja zum anbeißen.” Rohan lachte kurz auf und meinte nur “Ich bezweifle, dass Sie ihn noch so süß fänden, wenn Sie das Chaos sehen könnten, was er anstellt.” Dev lag mittlerweile auf Anjalis Couch und schaute ganz unschuldig drein. Anjali musste lachen und Dev hob den Kopf in ihre Richtung und wedelte wieder freudig mit seinem Schwanz. “Er scheint sie zu mögen, Anjali. Das ist ungewöhnlich. Er geht sonst immer sehr auf Abstand und lässt niemand Fremden an sich heran. Dev scheint zu spüren, dass Sie ein gutes Herz haben.” Anjali wurde rot und wollte protestieren, doch da sprang Dev von der Couch und sprintete regelrecht auf Anjali zu und sprang an ihr hoch. Anjali glitt die Tasse aus der Hand, welche mit einem lauten Knall auf dem Boden zerschellte.

“DEV!” schimpfte Rohan, doch Dev reagierte nicht. Anjali musste laut lachen, als sie Rohans Blick sah. “Jetzt schauen Sie doch nicht so böse! Es ist doch nichts passiert. Es war doch nur eine Tasse.” Rohan entspannte sich, als er sah, dass Anjali das wirklich nicht schlimm zu finden schien. Er seufzte “Wissen Sie, Anjali, ich habe Dev von einer Studienkollegin bekommen, die völlig überfordert mit ihm war. Und da ich sie sehr mag, habe ich den Hund genommen. Ich dachte, so habe ich vielleicht eine Chance bei ihr. Aber…” Anjali hatte ihn aufmerksam angesehen. Sie merkte, dass er für diese Studienkollegin mehr als nur reine Freundschaft empfinden musste. Vor allem, wenn er sich so einen kleinen Teufel wie Dev andrehen ließ. “Aber was?” fragte Anjali nach, während sie die Scherben wegräumte und ihm und sich Kaffee nachschenkte. Dann setzte sie sich wieder in ihren Sessel und hob Dev auf ihren Schoß, er ganz ruhig liegen blieb und mit geschlossenen Augen ihre Streicheleinheiten zu genießen schien.

Rohan konnte kaum es kaum glauben. Dev hatte sich nie zuvor Fremden genähert und nun lag er bei Anjali auf dem Schoß und ließ sich kraulen. Hund müsste man sein, schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf.

“Aber was?” hakte Anjali noch einmal nach. Rohan schaute aus dem Fenster in die Ferne. “Sanjana war mir gleich am ersten Tag auf dem College aufgefallen. Sie war so anders wie die Londoner Mädchen. Eben eine echte Inderin. Ein Mädchen, so, wie ich es mir immer erträumt hatte. Leider bin ich ihr nie aufgefallen.” Rohan machte eine Pause. Er wusste nicht, warum er Anjali das alles erzählte, aber es tat gut und Anjali hörte ihm still zu. Er nahm einen Schluck Kaffee. “Irgendwann bekam ich mit, dass sie einen Hund geschenkt bekommen hatte. Sie kam mit ihm wohl nicht klar. Also bot ich ihr an, den Hund in meine Obhut zu nehmen. Sie könne ihn besuchen, wann immer sie wolle.” Er schaute Dev an, der noch immer die Streicheleinheiten auf Anjalis Schoß genoss. “Das ist jetzt ein halbes Jahr her und Sanjana hat Dev nicht einmal besucht. Statt dessen hat sie angefangen, in einer Bar zu kellnern und hat dort diesen Typen kennen gelernt.” Rohan schaute traurig zu Anjali. “Vor ein paar Tagen hat sie mir dann erzählt, dass sie diesen Typen heiraten wird. Und ich soll ihr Trauzeuge sein.”
Anjali schaute auf den Hund, der jetzt in ihrem Schoß eingeschlafen war. “Das tut mir sehr leid für Sie, Rohan.” sagte Anjali leise. Sie wusste nur zu gut, wie es ist, einem geliebten Menschen nicht nahe sein zu können.

Sie saßen noch einen Moment lang schweigend da und hingen jeder ihren eigenen Gedanken hinterher. Irgendwann stand Rohan auf und nahm den immer noch schlafenden Dev auf seinen Arm. “Ich werde Sie jetzt mal wieder alleine lassen. Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht mit meinen Problemen belasten.” Er glaubte, Anjalis plötzliche Traurigkeit hatte mit seiner Geschichte zu tun. Anjali begleitete ihn zur Tür. “Rohan, das muss Ihnen nicht leid tun. Ich habe mich sehr über ihre Gesellschaft gefreut.” Anjali lächelte, als sie ihm die Hand zum Abschied gab. Einen Moment lang schaute sie hinter Rohan hinterher.

Er war schon halb zur Treppe hinauf, als sie plötzlich einen Schritt hinterher ging und rief “Rohan…!” Rohan stoppte, drehte sich um und schaute Anjali fragend an. “Was gibt es denn?” Anjali überlegte einen Moment bevor sie antwortete. “Wenn Sie möchten, kann ich mich um Dev kümmern, wenn Sie nicht zu Hause sind. Dem Kleinen ist bestimmt langweilig, wenn Sie nicht da sind. Und ich habe gerade einen Monat lang frei und würde mich freuen, wenn ich nicht ganz so allein bin.” Anjali schaute auf Dev, der inzwischen wieder wach geworden war und erfolglos versuchte, sich aus Rohans Griff zu befreien. “Anjali, das ist sehr nett… Aber Sie wissen ja gar nicht, was für ein kleiner Teufel Dev sein kann. Das möchte ich Ihnen wirklich nicht zumuten.” Anjali lachte. “Das ist kein Problem. Ich denke, wir zwei werden schon miteinander auskommen. Lassen Sie es doch einfach auf einen Versuch ankommen. Wenn es nicht klappt, ziehe ich mein Angebot wieder zurück.” Rohan überlegte kurz und lächelte dann erleichtert “Gerne, wann darf ich Ihnen Dev denn bringen?” “Am Besten morgen früh, wenn Sie das Haus verlassen. Dann kann ich mit ihm auch gleich spazieren gehen.” antwortete Anjali. “Gut, dann bis morgen früh.” antwortete Rohan und ging in seine Wohnung.

Als Anjali wieder in ihrer Wohnung war, ging sie zu Rahuls Foto. Sie entfernte die zwei Kerzen, die mittlerweile runter gebrannt waren und stellte zwei neue auf den Tisch. Während sie die Kerzen anzündete, fiel ihr plötzlich wieder ein, dass morgen Rahuls Todestag war. Durch Rohans Besuch hatte sie für ein paar Stunden nicht daran gedacht. Sie hoffte, dass Dev ihr morgen keinen Strich durch die Rechnung machte und nicht ganz so chaotisch war. Aber vielleicht konnte er sie ja ein wenig von ihrem Schmerz ablenken.

Es war mittlerweile dunkel geworden und Anjali beschloss, einmal früher ins Bett zu gehen, schließlich würde der Tag morgen viel Kraft von ihr abverlangen.

Kapitel 6


Der nächste Morgen kam für Anjalis Begriffe viel zu früh und zu allem Überfluss auch noch mit strahlenden Sonnenschein. Kein Wölkchen trübte den Himmel und die Vögel sangen als gäbe es kein Morgen mehr.

Anjali hatte mehr als schlecht geschlafen und auch der Kaffee und die heiße Dusche konnten ihre Laune nicht heben. Sie hatte sich für einen schlichten weißen Sari entschieden und ging zu Rahuls Foto. Anjali nahm es in die Hand und strich mit der anderen zärtlich über das Fotos. Die ersten Tränen bahnten sich einen Weg aus ihren Augenwinkeln. “Ach Rahul, weißt Du eigentlich, wie sehr Du mir fehlst? Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke und daran, wie wir uns unser gemeinsames Leben ausgemalt haben!” Anjali schluchzte. “Ich weiß nicht, wie es schaffe, jeden Morgen aufzustehen, jeden Tag auf Arbeit zu sein und am Abend in ein leeres Heim zurück zu kehren. Du fehlst in jeder Sekunde eines Tages.” Anjali wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. “Bitte, verzeih mir. Verzeih mir, dass wir uns gestritten haben. Verzeih mir, dass ich es nicht über mich gebracht habe, dich auf deinem letzten Weg zu begleiten. Verzeih mir!” Die letzten Worte flüsterte Anjali nur noch und sank weinend auf ihre Knie, das Foto fest an ihre Brust gedrückt. “Verzeih mir!” Anjali betete weinend als es plötzlich klingelte.

Anjali fuhr erschrocken hoch. Rohan - an ihn hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht. Schnell stellte sie das Foto wieder zurück und flitzte “Moment noch!” rufend ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen und einen Morgenmantel über den Sari zu ziehen. Rohan sollte nicht sehen, dass sie geweint hatte und dass sie trauerte. Eilig lief sie zur Tür und öffnete sie. “Guten Morgen! Habe ich Sie geweckt? Das tut mir leid.” fragte Rohan, als er sah, dass Anjali im Morgenmantel vor ihm stand. “Nein, nein, ich habe wohl meinen Wecker nicht gehört.” entgegnete Anjali. “Kommen Sie doch rein.”

Dev sauste sofort auf Anjalis Sofa zu und machte es sich auf ihrer flauschigen Kuscheldecke bequem. “Hier ist etwas Futter. Das sollte für den Tag reichen. Und seine Leine. Gehen Sie bloß nicht ohne die Leine aus dem Haus. Sie würden Dev nicht wieder finden.” sagte Rohan. “Kein Problem, ich werde schon gut auf den kleinen Racker aufpassen.” entgegnete Anjali und bemühte sich um ein Lächeln. “Gut, ich denke, ich werde ihn gegen acht heute Abend wieder holen. Ich hab heute irre viel zu tun. Ich danke dir noch mal.” sagte Rohan und war schon zur Tür hinaus. Anjali war erstaunt. Sie konnte sich nicht entsinnen, schon beim Du mit Rohan angekommen zu sein. Aber er hatte es ja auch eilig, da war es ihm sicher nur aus Versehen raus gerutscht.

Anjali zog ihren Morgenmantel wieder aus und setzte sich neben Dev. Der kleine Labrador schien ihre Traurigkeit zu spüren, denn er legte sofort seinen Kopf in ihren Schoß und schaute sie mit seinen großen Augen beinahe fragend an. Anjali streichelte gedankenverloren Devs Kopf und dachte wieder an Rahul. Wieder rollten ihr die Tränen über das Gesicht. Sie merkte nicht, dass einige davon auf Devs Nasenspitze tropften, der das gar nicht toll fand und niesen musste. Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als Dev anfing, an ihr zu ziehen, weil er Gassi gehen wollte. “Entschuldige, dich hatte ich ganz vergessen.” murmelte Anjali und zog sich an, um mit Dev in den kleinen Park zu gehen, den sie so mochte.

Der Park war direkt an der Themse gelegen und Anjali hatte immer das Gefühl, als würde sie einen Märchenwald betreten. Kleine verzweigte Wege, überall große Bäume und Sträucher. Anjali liebte diesen Park, auch weil er immer so gut wie menschenleer war. So war es auch heute. Anjali genoss sichtlich die Ruhe und setzte sich auf eine Bank im Schatten von der sie einen tollen Blick über eine ruhige Wiese auf den Fluss hatte. Sie machte Dev von der Leine los, damit er rumtollen konnte und versank wieder in ihren Gedanken.

Ein Windhauch ließ Anjali frösteln und riss sie aus ihren Gedanken. Sie musste eine ganze Weile so gesessen haben, denn mittlerweile war es nachmittags geworden. Sie wollte Dev rufen, doch der war nirgends zu sehen. Die Leine - Anjali hatte völlig vergessen, dass Rohan ihr noch eingeschärft hatte, ihn nicht von der Leine zu lassen. Anjali rief immer wieder nach Dev, doch der tauchte nicht auf. Was sollte sie jetzt nur tun? Schließlich konnte sie ohne den Hund nicht nach Hause gehen. Sie wusste ja, was der Hund Rohan bedeutete. Sie musste ihn unbedingt finden. Aber wie? Und wo sollte sie anfangen?

Verzweifelt lief Anjali durch den Park immer wieder nach Dev rufend, doch der Hund blieb verschwunden. Anjali bekam Panik, Tränen stiegen in ihr hoch. Hoffentlich war er nicht in das kalte Flusswasser gestürzt. Sie lief zum Ufer, beinahe schon blind vor Tränen. “DEV, DEV! Wo bist Du?” rief sie immer wieder. Jeden Passanten, den sie traf, fragte sie nach Dev. Doch niemand hatte ihn gesehen. Es war, als wäre dieser kleine Hund wie vom Erdboden verschluckt. Anjali lief stundenlang ziellos durch den Park. Es dämmerte bereits, als sie plötzlich mit jemanden zusammenstieß und ein Hundebellen vernahm.

“DEV!” rief sie freudig aus. “Wo hast Du dich denn rumgetrieben? Ich bin vor Angst schon fast gestorben!” Anjali spürte, wie ihr ein ganzer Felsbrocken vom Herzen fiel und nahm Dev auf ihren Arm. “Vielen Dank! Wo haben Sie ihn denn gefunden?” fragte sie den Finder von Dev und schaute ihn zum ersten Mal an.

Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. “Er rannte gerade Richtung Straße und als ich sah, dass er ohne Leine und Herrchen war, habe ich ihn geschnappt. Ich habe nach seinem Besitzer gesucht, denn ich war mir fast sicher, dass diesen süßen Racker jemand vermissen würde!” bekam Anjali zur Antwort. Anjali stand immer noch wie vom Donner gerührt und starrte ihr Gegenüber an. “Miss? Geht es Ihnen nicht gut?” fragte dieser besorgt. “Dem Kleinen hier ist nichts passiert, machen Sie sich keine Sorgen!” Anjali stotterte “Rahul!” Ihr Gegenüber sah sie skeptisch an. “Wer ist Rahul?” fragte er. “Sie müssen mich verwechseln. Ich bin Aman. Und mit wem habe ich die Ehre?” Plötzlich kam wieder Leben in Anjali und sie rannte wie vom Teufel verfolgt mit dem kleinen Dev auf dem Arm davon. “Miss?” rief ihr Aman noch hinterher und ging dann schulterzuckend seines Wegs.

Anjali rannte als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her. Ihre Gedanken rasten. Sie konnte nicht glauben, dass sie eben tatsächlich vor Rahul gestanden hatte. Aber er war doch beim dem Unfall ums Leben gekommen. Wie konnte das nur angehen? Und warum nannte er sich Aman? Und wieso schien er sie nicht zu kennen? Anjali konnte sich hierauf keinen Reim machen. Irgendwas konnte hier nicht stimmen. Aber warum traf sie ausgerechnet hier in London auf ihn? Sie war sich mehr wie sicher, dass das tatsächlich Rahul war, der dort im Park vor ihr gestanden hatte.

“Hey, Anjali! Was ist denn los? Warum rennst Du so?” Abrupt blieb Anjali stehen. Sie schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam. Sie gehörte Rohan. Rohan kam auf die völlig aufgelöste Anjali zu. “Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als wenn irgendwas passiert wäre!” schaute er sie besorgt an und nahm ihr Dev aus dem Arm. “Anjali? He! So sag doch was!” Anjali stand immer noch da und schaute Rohan an oder besser gesagt durch ihn hindurch. Sie merkte nicht, dass es gerade anfing zu regnen. “Anjali!” Endlich schien sie zu sich zu kommen und schaute Rohan völlig verwirrt an. Wo kam der denn jetzt her? “Rohan…” weiter kam sie nicht.

Nein, sie konnte ihm nicht sagen, was passiert war. Er würde sie wahrscheinlich für völlig verrückt erklären. “Ja?” fragte dieser. Doch Anjali schaute ihn nur und ging weiter. “Anjali! Bleib stehen!” rief Rohan, der sich überhaupt nicht erklären konnte, was in seine Nachbarin gefahren war. Wieso rannte sie bei dem Wetter wie eine Besengte durch die Stadt und schaute ihn an, als wenn sie einen Geist gesehen hätte. Er wollte gerade hinter ihr her gehen, als er sie aber auch schon aus den Augen verloren hatte. Hoffentlich würde ihr nichts geschehen, dachte Rohan noch bevor er das Haus betrat.

Anjali ging stundenlang ziellos durch London. Sie war mittlerweile völlig durchnässt und nicht mehr in der Lage, noch irgendeinen Gedanken zu fassen. Der einzige Gedanke, der ihr immer wieder durch den Kopf schoss, war “Rahul lebt!”. Irgendwann verließen Anjali die Kräfte und sie sank in einem Hauseingang zusammen. Noch bevor sie noch wusste, was geschah, wurde um sie herum alles schwarz.

Kapitel 7


Anjali hatte schlimme Kopfschmerzen als sie wieder wach wurde. Müde streckte sie sich in den weichen Kissen und kuschelte sich wieder tief in die Decke. Mit geschlossenen Augen döste sie noch eine Weile vor sich hin. Doch die Kopfschmerzen zwangen sie, die Augen zu öffnen und sich aufzusetzen. Anjali schaute sich in dem Zimmer um und erschrak. Das war nicht ihr Schlafzimmer! Aber wo war sie dann? Langsam kamen die Erinnerungen wieder. Sie war an Rahuls Todestag mit Dev in den Park gegangen und er war ihr weggelaufen. Als sie ihn nicht finden konnte, war sie mit jemanden zusammengestoßen, der Dev gefunden hatte. Sie hatte Rahul erkannt, doch der stellte sich als Aman vor.

Anjali griff sich an die schmerzende Stirn. Sie war davongelaufen, Rohan hatte sie auch noch getroffen und was danach geschah, sie wusste es nicht mehr.

Ihr Blick fiel auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett. Dort standen in weiser Voraussicht ein Glas, eine Flasche Wasser und daneben lagen ein paar Schmerztabletten. Anjali nahm eine davon ein und sank wieder in die Kissen zurück. Sie konnte sich noch dunkel erinnern, dass sie irgendwo zusammengesackt war. Aber wer hatte sie gefunden und wo war sie jetzt? Die Tablette zeigte Wirkung und Anjali wurde munterer. Leise schlug sie die Bettdecke zurück und schlich zu einer der beiden Türen, die aus dem Zimmer führten.

Sie öffnete sie vorsichtig und stand in einem Bad. Dort lagen frische Handtücher für sie bereit und ein Morgenmantel hing an der Tür. Anjali schaute kurz zurück in das Schlafzimmer und ging ins Bad. Nachdem sie die Tür abgeschlossen hatte, stellte sie sich unter die Dusche. Das heiße Wasser tat ihr gut und sie fühlte ihre Lebensgeister zurückkehren, auch wenn sie sich immer noch nicht erklären konnte, wo sie hier gelandet war. Als sie im Morgenmantel wieder das Schlafzimmer betrat, sah sie, dass ihr jemand einen bequemen Hausanzug hingelegt hatte. Anjali schlüpfte hinein und setzte sich auf das Bett.

An der Kleiderschranktür sah sie ihren Sari hängen, der frisch aus der Reinigung zu kommen schien. Einen Moment lang saß sie noch auf dem Bett und überlegte, ob sie das Zimmer verlassen sollte, um nachzuschauen, wo sie hier gelandet war. In diesem Moment ging die Zimmertür auch schon auf.

Anjali schaute gespannt auf die sich öffnende Tür und war erleichtert, als sie ihren Chef erkannte.

“Anjali! Kindchen, Sie sind ja endlich wach! Ich dachte schon, ich müsste noch einmal den Doktor holen!” sagte er erfreut, als er Anjali frisch geduscht auf dem Bett sitzend vorfand. “Haben Sie Hunger?” Anjali nickte. Sie hatte tatsächlich einen Bärenhunger. Es kam ihr vor, als hätte sie seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen. “Na, dann kommen Sie, Anjali! Schauen wir mal, was der Kühlschrank hergibt!” lächelte ihr Chef und ging vor Anjali her in die Küche. Anjali folgte staunend. Sie war bisher noch nie im Hause ihres Chefs gewesen und es war ganz anders als sie es sich vorgestellt hätte. Das Haus war riesig und sehr hell. Überall gab es große Fenster, die meist mit dem Fußboden abschlossen. In der Mitte des Hauses war ein riesiger Lichthof eingelassen, so dass das ganze Haus lichtdurchflutet schien. Alles war sehr modern und hell eingerichtet, aber dennoch sehr gemütlich. Das hatte sie Mr. Singh gar nicht zugetraut. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass er in einem kleineren traditionell eingerichtetem Haus leben würde. Hier erinnerte nicht viel an Indien, bis auf den Gebetsraum der im hinteren Teil des Lichthofs lag und nur durch eine große Glastür abgetrennt war.

In der Küche angekommen bedeutete Mr. Singh Anjali sich zu setzen. Sie setzte sich an den großen Esstisch, der direkt an eine, in der Mitte des Raumes befindliche Kochinsel anschloss. Aus der Speisekammer kam gerade eine vor sich hin pfeifende ältere etwas rundliche Dame und erschrak, als sie die beiden sah. “Mr. Singh, Sir, ich habe Sie gar nicht bemerkt!” sagte sie entschuldigend zu Anjalis Chef. Der lachte “Das ist doch nicht so tragisch, Emma. Ich weiß, dass Sie gleich Feierabend haben. Aber könnten Sie Anjali und mir noch rasch eine Kleinigkeit zu essen zaubern?” Mr. Singh hatte bittend seine Hände vor der Brust zusammengelegt und schaute seine Küchenfee an. Jetzt musste diese lachen “Mr. Singh, natürlich. Ich kann Sie beide ja schlecht verhungern lassen. Dann würde ich ja arbeitslos!” Emma schien eine sehr humorvolle und herzliche Person zu sein. Sie machte sich sofort an die Arbeit und kaum eine halbe Stunde später stand ein leckeres Essen vor den beiden. “So, das wär’s. Lassen Sie es sich schmecken. Wenn das dann alles wäre, würde ich jetzt gehen. Sie wissen doch, mein wöchentlicher Bridge-Abend. Und ich will die Damen nur ungern warten lassen, die schummeln nämlich immer so gern.” Mr. Singh lachte “Na, gehen Sie schon Emma. Viel Spaß wünsch ich Ihnen.” “Danke, dann bis morgen.” verabschiedete sie sich und war auch schon weg.

“So! Dann wollen wir es uns mal schmecken lassen!” wandte sich Mr. Singh wieder an Anjali. “Und nachher erzählen Sie mir, was da passiert ist. Sie waren ja in einem schrecklichen Zustand, als James Sie gefunden hat!” Anjali nickte und machte sich hungrig über ihren Teller her. Sie hatte wahnsinnigen Hunger und war schon bei der zweiten Portion, als ein weiterer Hausangestellter die Küche betrat. “Sir, ich störe Sie nur ungern, aber da wäre ein wichtiges Telefongespräch für Sie!” Mr. Singh schaute auf “Danke James! Stellen Sie es in mein Arbeitszimmer!” Anjali anschauend sagte er “Sie entschuldigen mich? Wenn Sie fertig sind, machen Sie es sich doch bitte im Wohnzimmer gemütlich. James wird Sie hinführen. Ich werde mich beeilen.” Anjali nickte kauend und Mr. Singh verließ schnellen Schrittes die Küche, jedoch nicht, ohne James zuvor die Anweisung zu geben, Anjali ins Wohnzimmer zu geleiten.

Anjali aß schweigend weiter, als ihr auffiel, dass ihr Chef das erste Mal, seit sie für ihn arbeitete, mit ihrem Vornamen anredete. Außerdem hatte sie noch nicht ein Wort gesprochen, seit sie hier war. Anjali räusperte sich. “Miss?” kam es von James. Anjali schaute ihn erschrocken an. Sie hatte James schon vollkommen vergessen. “Äh… ich wäre dann soweit. Würden Sie mir bitte zeigen, wo das Wohnzimmer ist?” James nickte “Natürlich Miss. Wenn Sie mir bitte folgen würden!”

James brachte Anjali ins Wohnzimmer, wo er ihr bedeutete, sich auf die große cremefarbene Ledercouch zu setzen. “Kann ich Ihnen noch etwas bringen Miss?” fragte James. “Nein, danke James.” James verbeugte sich leicht und war im Begriff, das Wohnzimmer wieder zu verlassen. “Ach, James?” rief Anjali ihm hinterher. James blieb stehen und schaute Anjali fragend an. “Ja, Miss? Haben Sie noch einen Wunsch?” fragte er Anjali. Anjali lächelte “Den habe ich allerdings, James. Ich bitte Sie, mich Anjali zu nennen und nicht Miss!” James schaute sie irritiert an und lächelte dann. “Gewiss doch Miss… ähm Anjali!” erwiderte er und verließ schmunzelnd das Wohnzimmer.

Anjali ging zu der großen Fensterfront, hinter der sich eine große Terrasse befand. Sie öffnete kurzerhand die Tür und trat hinaus ins Freie. Sie genoss die frische Luft und die wärmenden Sonnenstrahlen. Von der Terrasse aus konnte man einen großen Garten betreten durch den sich ein kleiner Bach schlängelte, der über einen kleinen Wasserfall in einem Badeteich mündete. Jemand hatte sich mit diesem Garten sehr viel Mühe gegeben. Er sah ganz natürlich aus. Nur auf den zweiten Blick konnte man sehen, dass hier regelmäßig jemand am Werk war.

“Ach, Sie haben mein kleines Paradies gefunden!” Anjali fuhr herum. Sie hatte ihren Chef nicht kommen hören. “Entschuldigen Sie! Ich wollte nicht so einfach Ihren Garten betreten.” Mr. Singh lachte “Wenn er nicht dafür geschaffen worden wäre, wofür denn dann? Ich habe selber viel zu selten Zeit, mich hier zu entspannen.” Mr. Singh trat von der Terrasse auf den Rasen und schaute mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf den kleinen Teich. Er drehte sich zu Anjali um “Wollen wir ein Stück gehen? Nur, wenn es Sie noch nicht zu sehr anstrengt!” Anjali nickte “Gerne. Ein wenig Bewegung tut mir sicher ganz gut.” Gemeinsam gingen sie langsam durch den riesigen Garten. Auf einer kleinen Lichtung, die vom Haus aus nicht zu sehen war, stand eine gemütliche Sitzgruppe. Sie setzten sich und Anjali sah, dass man von hier aus einen schönen Blick auf den Wasserfall hatte. Das Geräusch des plätschernden Wasser war sehr beruhigend.

Kapitel 8


Mr. Singh hatte Anjali eine Weile still beobachtet, als er das Gespräch begann. “So, jetzt erzählen Sie mir mal, was passiert ist.” Anjali schaute immer noch auf den Wasserfall. “Ich weiß gar nicht, wo ich überhaupt anfangen soll.” sagte sie. “Wo haben Sie mich denn überhaupt gefunden?” schaute sie fragend ihren Chef an. “Sie sind direkt vor meiner Haustür zusammengebrochen. Wir wissen nicht, wie lange Sie dort schon gelegen haben, Anjali, bevor James Sie gefunden und ins Haus gebracht hat.” Mr. Singh schaute Anjali an. “Sie waren völlig durchnässt. Ich habe den Arzt holen lassen, weil sie fieberten. Der sagte uns dann, dass Sie einen schweren Schwächeanfall hatten, der wohl psychisch bedingt gewesen ist.” Nun schaute Anjali vom Wasserfall auf und ihren Chef an. “Anjali, was ist passiert, dass Ihr Körper so gestreikt hat?” Anjali sah wieder zum Wasserfall und knetete ihre Hände im Schoß.

Sie stand auf, bevor sie anfing zu sprechen. “Sie wissen doch von dem Unfall.” Mr. Singh nickte. “Der, bei dem Ihr Verlobter verstorben ist?” Anjali schaute zu Mr. Singh “Genau. Und Sie wissen auch, dass ich mich nie von Rahul verabschiedet habe. Das ich es nicht konnte.” Bei den letzten Worten sah Anjali zu Boden. “Ja, Sie haben es mir damals erzählt. Aber was hat das alles mit Ihrem Zusammenbruch zu tun?” Mr. Singh konnte sich noch keinen Reim darauf machen.

“Rahul lebt!” Anjali sah wieder zum Wasserfall und war auf die Reaktion ihres Chefs gespannt. Mr. Singh traute seinen Ohren nicht. “WAS?” Er war nun ebenfalls aufgestanden und neben Anjali getreten. Er schaute sie ungläubig an. “Wie… wie sollte das möglich sein? Sind Sie sicher Anjali?” Anjali nickte. “Ja, ich bin mir ziemlich sicher.” Sie setzte sich auf den Rasen und schaute zu ihrem Chef, der sich nun ebenfalls neben sie setzte. “Woher wissen Sie das Anjali? Was macht Sie so sicher, dass Rahul lebt?” Mr. Singh konnte nicht glauben, was Anjali ihm da erzählte.

Anjali schaute ihren Chef an. “Ich habe vor ihm gestanden und mit ihm gesprochen.” Mr. Singh schaute Anjali erstaunt an. “Und was hat er gesagt? Wie hat er reagiert, Sie wieder zu sehen?” “Gar nicht. Er schien mich nicht zu erkennen.” Anjali schaute zu Boden. Sie erzählte ihrem Chef von dem kleinen Bistro, wo sie seine Stimme zum ersten Mal gehört hatte. Von dem Zusammenstoß im Treppenhaus, wo sie wieder seine Stimme hörte. Sie erzählte Mr. Singh von Rohan und Dev, der ihr an Rahuls Todestag im Park weggelaufen war. Und dass sie bei der Suche nach dem Hund mit Rahul zusammengestoßen war, der Dev gefunden hatte. Und der sich als Aman bei ihr vorstellte und sich an Anjali überhaupt nicht zu erinnern schien. Sie erzählte ihrem Chef, dass sie dann wie von Sinnen weggelaufen war und anscheinend vor Mr. Singhs Haus zusammengebrochen sein musste.

Mr. Singh hörte Anjali die gesamte Zeit aufmerksam zu. Er schaute Anjali an. “Halten Sie mich jetzt für verrückt?” fragte sie unsicher ihren Chef. Der schaute sie erstaunt an “Wieso sollte ich? Nach allem, was Sie mir erzählt haben, glaube ich Ihnen, dass es tatsächlich Ihr Verlobter sein muss.” Anjali wurde wieder traurig. “Aber wie kommt es, dass er mich dann nicht erkennt? Und wie kommt er nach London? Ich weiß nicht mal, wie ich ihn wieder finden soll.” Anjali seufzte. “Haben Sie nicht gesagt, dass Sie Rahul oder Aman, wie er sich nennt, in Ihrem Treppenhaus getroffen haben? Vielleicht ist er öfter bei Ihnen im Haus.” Anjali nickte “Ich kann mich ja mal auf die Lauer legen. Aber wenn er nicht tot ist, wer ist dann damals bestattet worden? Ich versteh das alles nicht!” Anjali schaute hilflos zu ihrem Chef. Der grübelte eine Weile und sagte schließlich “Mir ist da was eingefallen! Ich habe in Indien jede Menge Kontakte, die mir noch den einen oder anderen Gefallen schulden. Ich werde mal Nachforschungen anstellen lassen!” Anjali war erstaunt “Sie meinen, dass Sie mir helfen?” “Ja sicher!” schmunzelte ihr Chef. “Sie sind doch meine beste Mitarbeiterin und für mich wie eine zweite Tochter geworden. Natürlich werde ich Ihnen helfen, wo ich kann!” Anjali lächelte erfreut “Danke!” Mr. Singh umarmte Anjali freundschaftlich. “Nicht dafür!” sagte er. “Sie können mir danken, wenn ich erfolgreich in den Nachforschungen war. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange das dauern wird. Sie wissen ja, Indien ist groß!” “Ich kann Ihnen gar nicht genug danken!” sagte Anjali. Mr. Singh schaute Anjali besorgt an. “Sie gefallen mir gar nicht! Sie legen sich jetzt am besten wieder hin, bevor Sie mir noch einmal umkippen! Sie sind mein Gast, bis Sie wieder ganz fit sind. Vorher lass ich Sie hier nicht weg!” sagte er bestimmt und begleitete Anjali wieder in das Gästezimmer.

Als Anjali sich hinlegte, merkte sie, wie schwach sie sich eigentlich noch fühlte. Doch sie war sehr erleichtert, dass sie alles von der Seele reden konnte. Erschöpft schlief sie ein, nicht jedoch, ohne vorher noch daran zu denken, dass sie am nächsten Tag Rohan Bescheid geben musste, dass sie noch lebte. Der musste sich mittlerweile auch Sorgen machen.

Mr. Singh war indessen jedoch nicht untätig. Nach dem, was er von Anjali erfahren hatte, wunderte es ihn gar nicht, dass sie zusammengebrochen war. Was für eine Last auf dem Mädchen liegen musste, konnte er sich nur zu gut vorstellen.

Er rief James und bat ihn, ihm eine Kanne Kaffee ins Arbeitszimmer zu bringen und wies ihn an, sich um Anjali zu kümmern. Er wollte nicht gestört werden, es sei denn, Anjali wünschte ihn zu sprechen. James nickte und beeilte sich, seinem Chef die Kanne Kaffee zu bringen. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass man ihn jetzt besser nicht stören würde und das es sicher wieder die ganze Nacht dauern würde.

Als Anjali am nächsten Morgen erwachte fühlte sie sich viel besser. Der Stress der letzten Tage war von ihr abgefallen. Es tat ihr gut, dass ihr jemand glaubte und ihr helfen konnte. Nach einer erfrischenden Dusche ging sie hinunter in die Küche, wo Emma schon mit dem Frühstück auf sie wartete. “Guten Morgen Miss! Ich hoffe, Sie haben ordentlich Hunger!” wurde sie von Emma fröhlich empfangen. “Haben Sie gut geschlafen?” Anjali setzte sich und lächelte Emma an. “Danke Emma. Ich habe sehr gut geschlafen. Und ordentlich Hunger habe ich auch. Aber nennen Sie mich doch bitte Anjali.” Emma grinste “Na gut, Anjali. Dann langen Sie mal richtig zu!” Anjali machte sich über das Frühstück her. Es war einfach zu lecker. Emma kochte aber auch zu gut. “Wo ist eigentlich Mr. Singh?” fragte sie, nachdem sie ihren ersten Hunger gestillt hatte. “Ach, der ist schon die ganze Nacht in seinem Arbeitszimmer. Scheint wichtig zu sein. James hat Anweisung, dass niemand stören dürfte.” Emma schälte weiter Kartoffeln. “Mit Ausnahme von Ihnen.” fügte sie noch hinzu.

Nach dem Frühstück ging Anjali wieder in ihr Gästezimmer zurück und griff zum Telefon. Sie musste jetzt erstmal Rohan anrufen. Es läutete eine ganze Weile. Anjali wollte schon wieder auflegen, weil sie dachte, dass Rohan wieder unterwegs wäre, als sie am anderen Ende ein “Ja? Hallo?” vernahm. “Rohan? Hier ist Anjali.” “Anjali!” hörte sie Rohans erleichterte Stimme. “Wo hast Du denn gesteckt? Ich habe mir schon Sorgen gemacht!” Anjali musste schmunzeln. Waren sie also wieder beim Du angekommen. “Danke Rohan. Aber mir geht es gut. Ich hatte einen kleinen Schwächeanfall und bin bei meinem Chef im Haus. Ich werde aber heute wieder nach Hause kommen.” sagte sie. Rohan brauchte die genauen Umstände ihres Zusammenbruchs nicht erfahren. Noch nicht jedenfalls. “Oh, und es geht dir wirklich wieder gut?” Anjali lachte “Ja, Rohan. Mach dir keine Gedanken. Ich werde heute Nachmittag wieder daheim sein. Und auf Dev freue ich mich auch schon!” “In Ordnung. Ich hoffe nur, Du übernimmst dich mit ihm nicht! Klingel einfach bei mir, ich bin heute mal zu Hause!” “Nein, ich übernehm mich bestimmt nicht. Es geht mir gut. Ich melde mich nachher bei dir.” sagte Anjali bevor sie wieder auflegte.

Kapitel 9


Sie hatte sich gerade wieder ihren Sari angezogen, als es an ihrer Zimmertür klopfte. “Ja bitte?” sagte Anjali und James betrat das Zimmer. “Mr. Singh wünscht Sie zu sprechen. Ich soll Sie in sein Arbeitszimmer geleiten, Anjali.” Anjali nickte und folgte James zum Arbeitszimmer ihres Chefs. Sie war sehr gespannt, ob und was er inzwischen herausgefunden hatte. Etwas nervös klopfte sie an seine Tür und trat ein. “Ah, Anjali! Schön, Sie zu sehen. Wie ich sehe, geht es Ihnen wieder gut?” kam Mr. Singh auf sie zu. Anjali lächelte “Ja, danke Mr. Singh. Ich werde heute wieder nach Hause zurückfahren.” Ihr Chef führte sie zu einer Ledercouch und Anjali nahm ihrem Chef gegenüber Platz. “Das ist schön zu hören. Aber nun lassen mich mal erzählen, was ich herausgefunden habe.” Anjali platzte nun fast vor Neugierde.

Mr. Singh schaute Anjali an und begann zu sprechen. “Ich habe, wie versprochen, meine Kontakte in Indien bemüht. Und ich habe die ersten Informationen erhalten.” Anjali schaute ihn gespannt an und Mr. Singh erzählte weiter. “An dem Tag, an dem Rahul den Unfall hatte, gab es weiteren Motorradunfall. Beide Verletzten wurden in dasselbe Krankenhaus eingeliefert.” Er machte eine Pause.

Anjali begriff langsam, was ihr Chef da sagte. “Soll das heißen, dass nicht Rahul sondern dieser andere Motorradfahrer gestorben ist?” Mr. Singh nickte. “Ja, es sieht ganz danach aus. Mir fehlen noch die letzten Informationen, die diese Vermutung hundertprozentig bestätigen. Aber anscheinend hat Rahul diesen Unfall tatsächlich überlebt.”

Anjali war aufgestanden und durch das Zimmer getigert. Sie konnte es nicht glauben. Wenn das stimmte, hätte sie zwei Jahre umsonst getrauert. “Was machen wir denn nun? Warum kann er sich denn nicht an mich erinnern?” sah Anjali fragend ihren Chef an. Der zuckte mit den Schultern. “Vielleicht hat er bei dem Unfall sein Gedächtnis verloren. Genaues wissen erst, wenn sich meine Kontakte wieder melden. Aber das kann dauern.” Anjali nickte, diese Geduld musste sie jetzt noch aufbringen. “Gehen Sie erst einmal nach Hause. Sobald ich etwas höre, melde ich mich bei Ihnen. James wird Sie nach Hause fahren.” Mr. Singh war nun ebenfalls aufgestanden und vor Anjali getreten. Aus einem Impuls heraus umarmte sie ihn. “Danke, danke für alles was Sie bisher für mich getan haben!” sagte sie zu ihrem Chef. “Das habe ich gerne gemacht. Ich hoffe, dass wir noch positive Informationen erhalten werden.” erwiderte dieser. Anjali nickte lächelnd. “Das hoffe ich auch. Ich werde jetzt gehen. James braucht mich nicht zu fahren. Ich muss ein wenig spazieren. Vielleicht bekommt dann die ganze Sache mehr Sinn für mich.” Mr. Singh lächelte. “In Ordnung. Aber es ist kühl geworden. Ich bestehe darauf, dass Sie einen Mantel anziehen. Ich schicke James, Ihnen einen Mantel meiner Tochter zu bringen. Sie hatte in etwa ihre Statur. Er sollte Ihnen passen.” Er rief nach James, der kurze Zeit später mit einem Mantel zurückkam, der Anjali wie angegossen passte. Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedete sie sich von ihrem Chef und trat den Heimweg an.

Anjali genoss die Sonne, während sie langsam nach Hause schlenderte. Sie dachte darüber nach, was Mr. Singh herausgefunden hatte. Wenn Rahul tatsächlich noch lebte, musste sie ihn unbedingt finden. Sie musste herausbekommen, warum er sie nicht erkannte. Sie hoffte, dass er ihr nicht vorgemacht hatte, sie nicht zu kennen. Aber wo sollte sie dann anfangen zu suchen? Wahrscheinlich war es nur Zufall, dass sie damals in ihrem Treppenhaus zusammengestoßen waren.

Anjali war inzwischen zu Hause angekommen. Sie betrat ihre Wohnung und ging zu dem Tisch, auf dem Rahuls Foto stand. Wenn er noch lebte, brauchte sie diesen Altar nicht mehr. Kurz entschlossen entsorgte sie die verwelkten Rosen und die Kerzen. Das Foto nahm sie und brachte es in ihr Schlafzimmer, wo sie es auf ihren Nachttisch stellte. Da passte es jetzt besser hin. Das Tischchen stellte sie jetzt neben die Couch und legte ein kleines Deckchen darauf. Jetzt hatte sie endlich einen Platz für ihre Fernbedienungen und das Telefon. Diese Sachen hatte sie immer suchen müssen.

Danach ging sie ins Schlafzimmer um sich umzuziehen. Sie entschied sich für eine bequeme schwarze Jeans und ein leichtes langärmeliges T-Shirt. Sie schaute sich ihre Sachen im Kleiderschrank an. Da musste unbedingt wieder Farbe rein. So beschloss sie, am nächsten Tag in die Stadt shoppen zu gehen. Ihre langen schwarzen Haare band sie im Nacken zu einem Zopf zusammen, während sie wieder ins Wohnzimmer zurückging. Sie schaute sich ihre kleine Umgestaltung an, nickte zufrieden und griff nach ihrem Schlüssel.

Während sie zu Rohan hochging, überlegte sie, was sie ihm erzählen sollte. Anlügen wollte sie ihn eigentlich nicht, aber sie kannten sich auch noch nicht so gut, dass sie ihm diese Geschichte erzählen wollte. Vor seiner Wohnung angekommen atmete Anjali noch einmal tief durch bevor sie klingelte. Gleich danach hörte sie Dev hinter der Tür bellen. Anjali musste lachen. Dev schien sie schon erwartet zu haben. “Dev, geh doch mal aus dem Weg!” hörte sie Rohan schimpfen, bevor die Tür aufging. “Hey Anjali, da bist Du ja endlich!” sagte er erfreut. “Komm doch rein! Dev hat dich auch schon vermisst!” Wie auf Kommando kam dieser auch schon um die Ecke geschossen und sprang schwanzwedelnd an ihr hoch. Anjali ging in die Knie und knuddelte den kleinen Kerl erstmal ordentlich durch, der das sichtlich genoss.

Rohan beobachtete das Ganze eine Weile lang amüsiert. “Also wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der Hund gehört dir und nicht mir.” Anjali schaute Rohan lachend an. “Oh je, ich wollte ihn dir nicht abspenstig machen. Aber Dev ist auch einfach zu süß.” Rohan lachte “Kein Problem. Jetzt kommt aber mal rein! Oder wollt ihr hier draußen im Flur bleiben?” Anjali setzte Dev ab, dem das gar nicht passte und betrat jetzt die Wohnung.

Sie war einfach eingerichtet. Im Wohnzimmer standen eine alte Couch und zwei noch ältere Sessel um einen wackligen Couchtisch herum. An der Wand neben dem Fenster stand ein großer Arbeitstisch, der unter Büchern und Aufzeichnungen bald zusammenzubrechen schien. Die Wand gegenüber war mit Bücherregalen voll. Auf einem kleinen Schränkchen stand ein alter Fernseher. Alles war irgendwie zusammengewürfelt und schien nicht zusammen zu passen, aber dennoch versprühte der Raum einen gewissen Charme. Außerdem fand Anjali es sehr gemütlich.

Rohan, der sah, wie Anjali sich im Wohnzimmer umsah, griff sich verlegen an den Hinterkopf und sagte beinahe entschuldigend “Naja, es ist fast alles vom Flohmarkt. Mehr ist als Student einfach nicht drin.” Anjali setzte sich auf einen Sessel. “Warum? Ich finde es sehr gemütlich bei dir. Und wenn Dev eh so viel in Schutt und Asche legt musst Du dich nicht ärgern, dass es teure Sachen gewesen wären.” “Da hast Du auch wieder Recht!” erwiderte er erleichtert. “Möchtest Du einen Kaffee?” Anjali schaute Rohan an. “Was hältst Du davon, wenn wir rausgehen und uns ein gemütliches Café suchen? Ich lad dich ein!” “Das kann ich doch nicht annehmen!” wehrte Rohan ab. “Doch kannst Du. Ich freue mich, dass ich endlich einen Freund in London gefunden habe!” Anjali war aufgestanden und zu Rohan getreten. “Wir sind doch Freunde?” fragte sie ihn. “Schließlich sind wir ja auch schon beim Du.“ Rohan sah Anjali erstaunt an, dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. “Gerne, wenn Du willst!” Anjali reichte ihm die Hand, die er lächelnd ergriff. “Dann lass uns mal gehen. Dev komm! Wir gehen Gassi!” rief Anjali nach dem Hund und ging zur Tür. “Kommst Du?” drehte sie sich fragend zu Rohan um, der ihr nickend folgte.

Währenddessen erhielt Mr. Singh ein Päckchen aus Indien. James brachte es seinem Chef, der sich damit sofort in sein Arbeitszimmer zurückzog. Nachdem er den Inhalt des Päckchens genau studiert hatte, beschloss er, dass er noch unbedingt heute mit Anjali sprechen musste. Also wies er James an, seinen Wagen vorzufahren und machte sich umgehend auf den Weg zu Anjali. Er brauchte sehr lange, da er mitten in den Berufsverkehr von London geraten war. Als er endlich bei Anjali ankam, klingelte er vergebens. Niemand öffnete ihm. Er konnte ja nicht wissen, dass Anjali mit ihrem Nachbarn unterwegs war. Mr. Singh ging wieder zu seinem Wagen und versuchte Anjali telefonisch zu erreichen. Aber an ihrem Mobiltelefon ging nur der Anrufbeantworter ran. Mr. Singh schnaufte. Ausgerechnet jetzt, wo er so wichtige Neuigkeiten für Anjali hatte, war sie nicht zu erreichen. “Anjali! Hier ist Mr. Singh! Wenn Sie das abhören, rufen Sie mich doch umgehend zurück! Oder besser noch, kommen Sie gleich bei mir vorbei!” Er hoffte, dass Anjali die Nachricht so schnell wie möglich abhören würde und fuhr schließlich unverrichteter Dinge wieder nach Hause.

Kapitel 10


Rohan und Anjali waren wieder in dem kleinen Bistro gelandet, wo Anjali zum ersten Mal Rahuls Stimme gehört hatte. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch, der im Halbschatten stand. Dev legte sich wie selbstverständlich zu Anjalis Füßen nieder und schloss die Augen. “Was kann ich Ihnen bringen?” kam sofort eine Kellnerin auf die beiden zu. “Oh, ähm, ich hab noch gar nicht richtig geschaut. Also ich nehme einen großen Latte Macchiato! Und was willst Du Rohan?” Anjali schaute fragend zu Rohan. “Also ich würde dann einen schwarzen großen Kaffee nehmen.” Die Kellnerin stellte einen Aschenbecher auf den Tisch. “Kommt sofort!” Anjali kramte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Hosentasche. “Stört es dich, wenn ich rauche?” fragte sie Rohan. Der schüttelte mit dem Kopf. “Nein, mach nur!” antwortete er, während Anjali sich eine Zigarette ansteckte. Rohan grübelte. Irgendwo hatte er diese Zigarettenmarke schon einmal gesehen. Aber er konnte sich nicht erinnern, wo das gewesen war. Die Kellnerin brachte den beiden ihre Getränke und stellte Dev eine Schüssel mit Wasser vor die Nase. “Vielen Dank!” lächelte Anjali die Kellnerin an, die schon wieder davon eilte.

“He, Rohan! Was ist los? Wo bist Du mit deinen Gedanken?” fragte Anjali den völlig in Gedanken versunkenen Rohan. Dieser schaute erschreckt zu Anjali. “Ach, bei Sanjana.” sagte er leise. “Sie hat mich heute wieder gefragt, ob ich ihr den Trauzeugen gebe. Aber… ich kann das nicht, Anjali!” schaute er sie traurig an. “Was soll ich denn nur machen?” Anjali wusste sich auch keinen Rat. “Hast Du denn schon einmal versucht, ihr zu sagen, was Du für sie empfindest?” Rohan schüttelte mit dem Kopf. “Nein. Und was soll das denn auch bringen. Sie wird ja doch diesen Aman heiraten!” Er guckte grimmig und nahm sich auch eine von Anjalis Zigaretten. Jetzt wusste er wieder, wo er diese Sorte schon einmal gesehen hatte.

Anjali zuckte unmerklich zusammen, als sie den Namen Aman hörte. Könnte es sein? Sie wischte diesen Gedanken jedoch gleich wieder zur Seite. Es gibt so viele Amans in London. Das wäre ja schon ein starker Zufall, wenn es der gleiche sein sollte. Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee. “Was hältst Du davon, wenn wir mit Sanjana und Aman zusammen ausgehen?” fragte sie Rohan, der sie skeptisch anschaute. “Wozu soll das denn gut sein?” fragte er. “Ganz einfach. Du kannst einen ganzen Abend in Sanjanas Nähe sein und deinen Charme spielen lassen. Und ich werde mir diesen Aman vornehmen. Wäre doch gelacht, wenn sich da nichts machen ließe.” erklärte Anjali. “Und Du meinst, das funktioniert?” fragte Rohan Anjali noch immer skeptisch. “Wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nie wissen. Oder?” Rohan nickte. “Gut. Also Du siehst zu, dass Du für dieses Wochenende einen Abend mit den beiden verabredest und den Rest überlass mir.” Anjali schaute Rohan an. “Ach ja, und neu einkleiden müssen wir dich vorher auch noch.” Rohan schaute Anjali entsetzt an. “Aber… ich kann mir keine neuen Sachen leisten.” sagte er leise und starrte in seinen Kaffee. Anjali musste lächeln und legte eine Hand auf seinen Arm. “He, wozu sind denn Freunde da? Lässt Du mich dir helfen?” fragte sie Rohan. Der nickte strahlend. “Ja gerne.” Anjali nickte zufrieden. “Gut, dann werden wir morgen shoppen gehen. Ich brauch nämlich auch ein paar neue Klamotten. Und jetzt lass uns mit Dev noch ein wenig spazieren gehen.” sagte sie. Anjali rief die Kellnerin und bezahlte. Dev stand schon aufgeregt neben Anjali und konnte kaum erwarten, dass es endlich losging. Anjali und Rohan gingen in den kleinen Park, den Anjali so liebte. Sie ließen Dev herumtollen, der diesmal in der Nähe blieb und unterhielten sich über Gott und die Welt. Es dämmerte schon, als sie endlich den Heimweg antraten.

Vor Anjalis Wohnung angekommen, verabschiedeten sie sich von einander. “Ich hole dich morgen früh um zehn Uhr ab. Und Du klärst das mit Sanjana noch ab. Okay?” Rohan nickte. “Alles klar. Schlaf schön!” sagte er bevor er zu seiner Wohnung ging. “Du auch.” antwortete Anjali bevor sie ihre Wohnung betrat.

Anjali ließ sich auf ihre Couch fallen, sie war reichlich erledigt. Auf dem Tisch sah sie ihr Telefon liegen. Das musste sie total vergessen haben. Sie nahm es, um zu sehen, ob jemand was von ihr gewollt hatte. Das Display zeigte ‘Ein Anruf in Abwesenheit - Mailboxnachricht’. Wer konnte das gewesen sein. Anjali drückte die Taste, die sie mit der Mailbox verband. Sie sprang auf, als sie die Stimme ihres Chefs hörte und war schon zur Tür raus, bevor die Ansage vorbei war. Sie lief durch die Stadt zum Haus ihres Chefs. Was hatte er herausbekommen? Was war so dringend? Anjali hielt die Anspannung kaum noch aus, als sie endlich bei ihrem Chef angekommen war und an der Tür klingelte. James öffnete und führte Anjali in das Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch setzen sollte. “Einen Moment. Ich hole den Herrn.” sagte er und begab sich zu Mr. Singhs Arbeitszimmer. Kurz darauf brachte Emma zwei große Tassen Tee und lächelte Anjali an. “Der Herr kommt gleich. Nur Geduld.” Anjali nickte dankend und griff nach einer Tasse. Sie zitterte, so nervös war sie. Wann kam denn endlich Mr. Singh?
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam dieser endlich ins Wohnzimmer. Anjali sprang auf und lief auf ihn zu. “Mr. Singh! Was wollten Sie mir so wichtiges sagen?” Anjali schaute ihren Chef fragend an. Dieser lächelte sie an. “Ganz ruhig Anjali. Setzen Sie sich bitte wieder. Sonst kippen Sie mir ja gleich wieder um.” Er setzte sich Anjali gegenüber, die ihn gespannt ansah. Er legte einen Packen Akten auf den Wohnzimmertisch und nahm sich die andere Tasse Tee.

Anjali war nervös und knetete ihre Hände. Was waren das für Akten? Was mochte da nur so Interessantes drin stehen? Anjali konnte kaum noch an sich halten. Am liebsten hätte sie ihren Chef bei den Schulten gepackt und geschüttelt, denn dieser schien die Ruhe selbst zu sein. Mr. Singh stellte die Tasse gemächlich wieder ab und legte eine Hand auf den Stapel Akten. Er schaute auf die Akten als er sagte “Diese Akten habe ich heute aus Indien bekommen. Deswegen bin ich sofort zu Ihnen gefahren, aber Sie waren leider nicht zu Hause.” Mr. Singh machte eine Pause. “Was sind das für Akten?” fragte Anjali neugierig. Sie musste jetzt unbedingt wissen, was ihr Chef herausgefunden hatte. Mr. Singh sprach weiter “Das sind Kopien der Krankenhausakten der beiden Unfallopfer Rahul Malhotra und Aman Kumar. Meine Kontakte in Indien haben es irgendwie geschafft, an diese Unterlagen heranzukommen.” Er machte eine Pause und sah Anjali an, die ihre Teetasse so fest in den Händen hielt, dass er befürchtete, dass sie die Tasse bald zerdrückte. Er holte tief Luft und sprach dann weiter “Unsere Vermutungen haben sich bestätigt. Rahul hat den Unfall überlebt!” Er schaute Anjali an, die vor lauter Schreck beinahe ihre Tasse hätte fallen lassen. Sie schaute ihren Chef an und konnte nichts sagen. Hatte er tatsächlich gesagt, dass Rahul lebte?

Kapitel 11


Wie durch Watte hörte sie ihren Chef weiter sprechen. “Es gab eine Verwechslung im Krankenhaus. Beide Unfallopfer kamen zeitgleich in der Notaufnahme an und hatten zu allem Überfluss auch noch exakt die gleiche Motorradmontur an. Beide Opfer hatten ziemlich starke Kopfverletzungen, so dass die Gesichter nicht mehr richtig zu erkennen waren.” Mr. Singh war mittlerweile aufgestanden und zum Fenster gegangen. “Als bei einem die Reanimationsversuche erfolglos blieben und der Totenschein ausgestellt werden sollte, suchte man in den Sachen nach einem Ausweis. Vermutlich hatte man die Sachen vertauscht. Es waren an diesem Abend viele Lernschwestern im Einsatz. Wahrscheinlich hat eine von denen in der Aufregung die Sachen dem jeweils anderen zugeordnet. So kam es, dass Rahul für tot erklärt wurde.” Er drehte sich zu Anjali um, die ihn ungläubig anschaute. Sie nahm eine großen Schluck aus ihrer Tasse. “Gibt es eine Erklärung, warum man später die Verwechslung nicht erkannt hat?” fragte sie ihren Chef.

Der kam zurück zur Couch und nickte. “Ja, die gibt es. Als man den anderen Ausweis hatte, um nachzuschauen, wer denn der zweite Patient war, konnte man auf dem Foto nicht mehr viel erkennen. Es war durch den Unfall ziemlich stark beschädigt worden. Rahul lag drei Monate im Koma. Es sah nicht gut aus. Die Ärzte hatten ihn schon fast aufgegeben, da wachte er dann doch wieder auf.” Anjali hörte gebannt zu. “Als ihn die Ärzte nach seinem Namen fragten und seinem Geburtstag, konnte er ihnen keine Antwort geben. Die Ärzte haben viele neurologische Tests mit ihm gemacht. Aufgrund der schweren Kopfverletzung hat er sein komplettes Gedächtnis verloren.” Er schaute Anjali an. “Er konnte Sie im Park nicht erkennen. Seine Erinnerungen sind bis heute nicht zurück gekehrt. Da er nur diesen Ausweis hatte, ging auch er davon aus, dass er Aman Kumar sei und eigentlich in London lebte.” Anjali saß immer noch regungslos auf der Couch. “Warum ist es Amans Familie nicht aufgefallen, dass er der Falsche ist?” fragte sie. Mr. Singh schlug eine Akte auf als suche er nach der Antwort. “Nun, das Problem daran ist, dass dieser Aman keine Familie mehr hatte. Seine Eltern waren schon vor langer Zeit gestorben und Geschwister hatte er auch keine.” Anjali nickte. Dann schaute sie Mr. Singh an. “Wird Rahul sich jemals an sein früheres Leben erinnern können? Wird er sich wieder an mich erinnern?” fragte sie. Mr. Singh atmete tief ein. “Anjali, die Ärzte haben keine gute Prognose gestellt. Es ist wahrscheinlich, dass er sich nicht wieder an sein Leben vor dem Unfall erinnern wird.” Anjali nickte und ihr liefen Tränen übers Gesicht. Ihr Rahul lebte, aber er würde sie nie wieder erkennen. Was sollte sie jetzt nur machen?

“Geht es Ihnen gut?” fragte ihr Chef besorgt. Anjali nickte. “Ja, aber ich würde jetzt gern nach Hause gehen.” Mr. Singh rief James. “Sie fahren Anjali bitte nach Hause. So lass ich sie jetzt nicht allein raus. Die Akten können Sie mitnehmen. Lesen Sie es in Ruhe.” Er nahm Anjali in den Arm und sagte “Nichts ist so hoffnungslos, wie es uns manchmal scheint.” Anjali lächelte schwach. “Danke für alles.” sagte sie und stieg in den Wagen, den James zwischenzeitlich vorgefahren hatte.

Mr. Singh schaute dem Auto noch eine Weile hinterher. Hoffentlich ging es Anjali wirklich gut. Er wollte nicht, dass sie wieder einen Zusammenbruch erlitt. Er hatte James instruiert, ein Auge auf sie zu werfen und sie notfalls wieder mitzubringen, sollte er den Eindruck haben, Anjali nicht alleine lassen zu können. Mr. Singh ging in sein Arbeitszimmer zurück, er hatte noch eine Menge zu tun.

Anjali saß in der Zwischenzeit im Auto und hatte das Paket mit den Akten auf dem Schoß. Sie trommelte mit den Fingern darauf herum. Warum fuhr James so langsam oder kam ihr das nur so vor? Sie wollte endlich nach Hause und sich die Akten anschauen. Sie musste selber sehen und lesen, dass es tatsächlich eine Verwechslung war. Endlich waren sie vor Anjalis Haus angekommen. James stieg auf und öffnete Anjali die Autotür. “Wir sind da, Anjali.” sagte er. Anjali stieg aus und nahm das Paket vom Sitz. “Soll ich Ihnen das Paket hochtragen?” fragte James und schaute Anjali an. Er musste sichergehen, dass es ihr gut ging, sonst bekäme er Ärger mit seinem Chef. Anjali jedoch lächelte ihn an und er sah, dass es ihr tatsächlich gut ging. “Danke James, aber so schwer ist das Paket nicht. Bestellen Sie Mr. Singh liebe Grüße und vielen Dank.” James nickte und stieg wieder in den Wagen. “Gute Nacht James!” rief Anjali noch bevor sie eilig im Haus verschwand und in ihre Wohnung lief.

Dort angekommen brachte Anjali das Paket in ihr Schlafzimmer und zog sich rasch ihren Schlafanzug an. Sie band ihre Haare zu einem lockeren Knoten im Nacken zusammen und eilte in die Küche, um sich Teewasser aufzusetzen. Kaffee brauchte sie heute nicht, sie war aufgekratzt genug. Während der Tee in der Kanne zog, setzte Anjali sich auf den Balkon, um noch eine Zigarette zu rauchen. Vielleicht sollte sie sich das Rauchen wieder abgewöhnen, jetzt wo sie den Zigarettenduft nicht mehr brauchte, um sich Rahul nahe zu fühlen. Aber noch nicht heute, dachte sie lächelnd. Sie sog noch einmal die kühle Abendluft ein, schnappte sich eine Tasse und die Teekanne und eilte zurück ins Schlafzimmer. Sie setzte sich auf ihr Bett, breitete die Akten vor sich aus, setzte ihre Lesebrille auf und begann zu lesen. Anjali war wie gefesselt. Jedes Wort, was ihr Chef gesagt hatte, stimmte. Rahul lebte tatsächlich. In einer der Akten fand sie seinen Ausweis. Sie nahm ihn und legte ihn auf ihren Nachttisch. Vielleicht konnte sie ihn noch gebrauchen.

Rahuls Krankenakte studierte sie regelrecht. Sie las sie mehrfach, vor allem die Berichte aus der Reha-Klinik und des neurologischen Facharztes. ‘Irreparable Amnesie - Patient erinnert sich nicht an eigenen Namen, Geburtstag, Herkunft - kann sich nicht an Eltern, Geschwister und andere Menschen aus seinem persönlichen Umfeld erinnern - Patient kann sich nur ab dem Zeitpunkt des Aufwachens nach dem Koma erinnern - keine Erinnerungen an den Unfall - erlernte Kenntnisse sind noch vorhanden - Patient kann lesen, schreiben, rechnen - liest viel - Patient kann keiner Gegenüberstellung von Familie zugeführt werden - hat keine Familie mehr - Heilungschancen unter 1% - es ist zu 99 % wahrscheinlich, dass Patient seine Vergangenheit nicht wiederbekommt ’

Anjali konnte es kaum glauben. Da hatte sie endlich die Gewissheit, dass Rahul noch lebte, wenn auch als Aman Kumar, und dann sollte er sich nie wieder an sie erinnern können. Das war unfair. Anjali fand das mehr als unfair. Es musste doch einen Weg geben. Anjali las weiter und stieß dabei auf die Adresse von Aman Kumar. Anjali sah wie elektrisiert auf das Papier mit der Adresse. Aman Kumar, 26, Sussex Place, London W2 2TH. Die Adresse kam ihr bekannt vor. Sie angelte ihren Laptop vom Nachtisch und gab die Adresse ein. Noorjahan 2 bekam sie als Ergebnis. Das kannte sie doch. Das war die Adresse eines indischen Restaurants in der Nähe vom Hyde Park.

Anjali gähnte. Sie war müde geworden. Ein Blick auf den Wecker ließ sie erschrecken. Es war fünf Uhr morgens. Um zehn würde Rohan auf der Matte stehen. Was sollte sie jetzt machen, schlafen gehen oder wach bleiben? Sie konnte zur Not ja noch am Nachmittag schlafen, bevor sie zu diesem Treffen gingen. Ja, so würde sie es machen. Anjali stand auf und streckte sich. Sie riss das Fenster ihres Schlafzimmers auf und atmete tief ein. Es war schon ziemlich kalt, also griff sie nach ihrem Morgenmantel und schlich zur Küche rüber. Dort setzte Anjali sich eine Kanne Kaffee an. Den brauchte sie jetzt. In den Tiefen ihres Tiefkühlschranks fand sie noch eine Pizza, die sie jetzt in Ofen schob. So langsam hatte sie richtig Hunger. Anjali ging ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Ein schönes Bad würde ihr jetzt gut tun. Sie holte ihre Pizza, den Kaffee und ließ sich in das warme Wasser gleiten. Während sie gemütlich badete und Musik hörte, verspeiste sie die Pizza und trank ihren Kaffee. Sie genoss das heiße Badewasser und der Duft, der von ihrem neuen Schaumbad ausging. Sie liebte Vanille. Nachdem Anjali mit baden und frühstücken fertig war, trocknete sie sich ab und zog sich ihren bequemen Hausanzug an. Noch brauchte sie sich für ihre Shoppingtour mir Rohan nicht fertig machen, es waren noch über drei Stunden bis dahin. Anjali holte ihre Zeitung aus dem Briefkasten und machte es sich mit dieser und einer weiteren Tasse Kaffee auf ihrem Sofa gemütlich. Vorsichtshalber stellte sie an ihrem Handy den Wecker. Sie kannte sich. Irgendwie würde sie die Zeit wieder verpassen, sich fertigzumachen.

Kapitel 12


Zur gleichen Zeit tigerte Rohan in der Wohnung über ihr hin und her. Er hatte kaum geschlafen. Auf Anjalis Wunsch hin hatte er gestern Sanjana angerufen, um sie zu fragen, ob man nicht am nächsten Abend etwas zu viert unternehmen wolle. Er hatte gefühlte tausend Mal den Telefonhörer in die Hand genommen, Sanjanas Nummer gewählt und sofort wieder aufgelegt. Irgendwann hatte er einen Moment zu lange gezögert und Sanjana war ans Telefon gegangen. Sie war erstaunt, Rohans Stimme zu hören und nach einigem belanglosen Geplaudere hatte er endlich gefragt. Sanjana sagte sofort zu und sie verabredeten sich für den nächsten Abend im Noorjahan 2. Eventuell wollten sie anschließend noch in einen Club zum Tanzen gehen.

Nach dem Gespräch war Rohan regelrecht schlecht. Er zitterte und konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Worüber sollte er sich nur mit Sanjana unterhalten? Und wenn dieser Aman ihn völlig ausstach? Was sollte er dann machen? Hoffentlich konnte Anjali ihm irgendwie helfen. Er freute sich schon auf den Einkaufstrip mit ihr. Sie hatte einen guten Geschmack fand er und würde ihn sicher gut beraten. Er wünschte der Abend wäre schon vorbei. Er ließ sich auf seine Couch fallen und schaute zu Devs Hundekörbchen. Dev lag zusammengerollt und schlummerte friedlich. Hoffentlich würde er heute Abend die Wohnung nicht zerlegen. Rohan trank seinen Kaffee aus und ging ins Bad um zu duschen. Er hoffte, dass er am Nachmittag noch ein wenig Schlaf bekommen würde, sonst würde er abends wie ein Zombie aussehen.

Anjalis Wecker piepte schon ein ganze Weile bevor sie ihn ausstellte. Sie rieb sich die Augen und blinzelte. Sie war tatsächlich noch mal eingeschlafen. Sie rappelte sich hoch und ging ins Bad, um sich das Gesicht frisch zu machen. Im Schlafzimmer räumte sie rasch die Akten vom Bett und zog sich eine einfache Jeans und einen passenden Pulli an. Die Haare band sie nach dem Bürsten zu einem Zopf zusammen. Nach einem Blick in den Spiegel beschloss sie, sich noch etwas dezent zu schminken, damit man nicht sah, dass sie eigentlich nicht geschlafen hatte.

Im Wohnzimmer trank sie noch einen Schluck von ihrem inzwischen kalt gewordenen Kaffee als es an der Tür klingelte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass Rohan pünktlich auf die Zehntel Sekunde war. Anjali riss die Tür auf und trällerte dem völlig verblüfften Rohan ein fröhliches “Guten Morgen!” entgegen. Anjali schnappte sich eine leichte Jacke und ihre Handtasche und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Sie schaute den immer noch verblüfften Rohan fragend an “Können wir dann?” Rohan nickte. “Ja sicher. Ich bin bereit.” Anjali hakte sich bei Rohan unter und dirigierte ihn von einem Geschäft zum anderen. Rohan wusste schon gar nicht mehr, wo ihm der Kopf stand, soviel Hemden, Hosen, Jacketts und Schuhe hatte er anprobiert bis Anjali endlich zufrieden war. In einer für seine Begriffe zu teuren Boutique hatte Anjali ihn in einen schwarzen Anzug gesteckt, der mit einem schimmernden Jacquardmuster durchzogen war. Dazu hatte er ein bordeauxfarbenes Hemd anprobiert. Anjali klatschte vor Begeisterung in Hände. “Du siehst zum anbeißen aus!” rief sie. “Wenn das Sanjana nicht überzeugt, dann weiß ich auch nicht mehr!” Rohan stand vor dem Spiegel und beäugte sich skeptisch von allen Seiten. Sein Spiegelbild gefiel ihm und er hoffte, dass das Sanjana auch so sah. “So, das nehmen wir.” hörte er Anjali sagen. “Und zum Friseur gehen wir auch noch. Aber erst brauch ich noch was zum anziehen.” Rohan stöhnte innerlich auf. Unwillkürlich musste er an die Männer denken, die in den Geschäften gelangweilt auf ihre einkaufswütigen Frauen warteten und die er immer nur belächelt hatte. Und nun hatte Anjali aus ihm auch einen von ihnen gemacht. Aber Geschmack hatte sie, das musste er zugeben.

Anjali hatte sich entgegen Rohans Befürchtungen schnell entschieden und war nun mit ihm zum Friseur marschiert. “Hallo Jimmy! Da sind wir!” rief Anjali, als sie den Laden betraten und weit und breit niemand zu sehen war. Hinter einem Vorhang kam Jimmy hervor und eilte auf Anjali zu, um sie dann überschwänglich zu begrüßen. “Anjali, Schatz! Schön, dass Du mich mal wieder mit deiner Anwesenheit beehrst!” Er küsste Anjali auf die Wangen und musterte Rohan dann von unten bis oben. “Und wer ist dieser schöne Mann hier?” Rohan schaute Hilfe suchend zu Anjali, die lachend antwortete. “Das ist Rohan, ein guter Freund und ich hab ihn mitgebracht, damit Du ihn für sein Date heute Abend mal wieder in einen Menschen verwandelst. Und mich auch bitte.” Jimmy war die Enttäuschung sichtlich anzusehen und führte die beiden zu den Friseurstühlen. “Was für eine Verschwendung!” seufzte Jimmy. Rohan wusste nicht, was er davon halten sollte und schaute fast verzweifelt zu Anjali. “Lass Rohan etwas Luft, Jimmy, sonst ist er schneller weg, als wir schauen können.” Jimmy fuhr Rohan durch die Haare und grinste ihn an. “Na gut. Ich hätte ja mal Glück haben können. Wollt ihr einen Kaffee?” Die beiden nickten und Jimmy verschwand hinter dem Vorhang. Rohan beugte sich zu Anjali rüber und sagte leise “Hättest du mir nicht sagen können, dass Jimmy… naja, vom anderen Ufer ist?” Anjali schaute Rohan amüsiert an. “Wärst Du dann mitgekommen? Keine Angst, er beißt nicht. Außerdem hat er einen Freund. Und ich verspreche dir, einen besseren Friseur findest Du in ganz London nicht.” Jimmy kam mit dem Kaffee zurück. “Na, wenn Du meinst.” seufzte Rohan und ergab sich in sein Schicksal.

Während Jimmy und sein Assistent sich um Anjalis und Rohans Haare kümmerten, wollte Anjali wissen, wo sie denn am Abend hingingen. “Ich habe einen Tisch im Noorjahan 2 reserviert und danach mal schauen. In einen Club vielleicht noch. Je nachdem wie es läuft.“ Schon wieder dieses Restaurant. Irgendwie schien sie das zu verfolgen. Aber vielleicht konnte sie ja dort zufällig auf Rahul treffen. Rohan entspannte sich langsam, nachdem er merkte, dass Jimmy wirklich nichts von ihm wollte. Anjali hatte recht, er war ein super Friseur. Nach zwei Stunden waren die beiden fertig und verabschiedeten sich von Jimmy.

“Wann treffen wir uns eigentlich mit Sanjana und Aman?” wollte Anjali wissen, denn inzwischen war es schon drei Uhr geworden. “Ich habe den Tisch zu um acht bestellt. Du hast also noch genügend Zeit, um dich aufzuhübschen!” schmunzelte Rohan. Anjali knuffte ihn in die Seite. “Als wenn ich das nötig hätte! Ich wollt noch ein wenig schlafen, hab irgendwie die Nacht kaum geschlafen!” Rohan hielt sich theatralisch die Seite. “Willst Du, dass ich nicht mitkommen kann heute Abend?” Anjali schaute ihn gespielt böse an. “Das hättest Du wohl gerne! Kneifen ist nicht! Und wenn ich dich hin tragen muss!” Rohan hob beschwichtigend beide Hände. “Ist ja schon gut. Ich komm doch mit. Und jetzt lass uns noch einen Happen essen. Sonst bin ich heute Abend verhungert.” Anjali nickte. “Oh ja, ich bin auch schon am verhungern! Wollen wir wieder in das kleine Bistro gehen? Liegt ja quasi auf dem Weg!” Sie packte Rohan am Arm und zog ihn mit sich. Rohan lachte still in sich hinein. Da hatte er sich ja was eingefangen mit ihr. Aber er war froh, Anjali heute Abend an seiner Seite zu wissen. Sie gab ihm ein großes Stück Selbstvertrauen. Hoffentlich ging alles gut.

Im Bistro ergatterten sie gerade noch einen kleinen Tisch in einer Ecke und bestellten sich etwas zu essen und zu trinken. Während sie auf ihr Essen warteten, hingen sie einen Moment ihren Gedanken hinterher. Anjali war aus ihr völlig unerfindlichen Gründen nervös und kramte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Handtasche und steckte sich eine Zigarette an. “Darf ich auch eine haben?” fragte Rohan und Anjali schob ihm die Zigaretten über den Tisch. Rohan zog nervös an seiner Zigarette. “Mensch Anjali, ich kann kaum noch klar denken. Mir ist regelrecht schlecht! Was, wenn Sanjana mich wirklich nicht mag?” Die Kellnerin stellte das Essen auf den Tisch und verschwand wieder, bevor Anjali antwortete. “Mach dich nicht verrückt. Das wird schon klappen. Außerdem hast Du mich doch dabei!” Rohan schaute Anjali dankbar an. “Zum Glück. Sonst würde ich wahrscheinlich wirklich nicht hingehen.”

Kapitel 13


Nach dem Mittag schlenderten die beiden langsam nach Hause und verabschiedeten sich vor Anjalis Wohnung. “Ich hole dich halb acht ab. Das sollte reichen!” Anjali nickte. “Ist in Ordnung. Ich werde fertig sein.” Sie umarmte Rohan kurz und verschwand dann in ihrer Wohnung. Sie ging ins Schlafzimmer und legte ihre Einkaufstüten aufs Bett und zog ihren Pyjama an. Nachdem sie ihren Wecker gestellt hatte, kuschelte sie sich in ihre Kissen und war auch schon eingeschlafen.

Rohan dagegen wurde immer nervöser. Er hatte den Anzug und das Hemd aufgehängt und die neuen Schuhe dazu gestellt. Dev war heute erstaunlich ruhig geblieben. Lediglich seine Futterschale hatte er quer durch die ganze Wohnung geschleppt. Jetzt lag er auf dem Sofa und beäugte sein Herrchen argwöhnisch. Schließlich ließ sich Rohan neben Dev fallen und fing an, ihn zu streicheln. Dev legte seinen Kopf in Rohans Schoß und knurrte leicht vor sich hin. Langsam beruhigte sich Rohan und auch er beschloss, noch ein kurzes Nickerchen zu machen. Schließlich wollte er am Abend nicht ständig gähnen müssen.

Anjali wurde lange vor dem Weckerklingeln wach und fühlte sich erstaunlich ausgeschlafen. Sie streckte sich noch einen Moment und sprang dann aus dem Bett. Sie hatte noch knapp zwei Stunden Zeit bis Rohan kam, also brauchte sie sich nicht zu hetzen. Anjali ging in die Küche und setzte Kaffee an. Mit ihrem Kaffee und einer Zigarette setzte sie sich an den Küchentisch und blätterte ein paar Zeitschriften durch. Doch konzentrieren konnte sie sich nicht. Sie war nervös und wusste nicht, warum. Sie hatte ein wenig Angst vor dem bevorstehenden Abend, dabei hatte sie doch gar nichts zu befürchten.

Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatte ging Anjali ins Bad um zu duschen. Sie steckte sich die Haare hoch und schminkte sich noch ab, dann stand sie auch schon unter der heißen Dusche. Sie war schnell fertig und schlüpfte nach dem Abtrocknen in ihren Morgenmantel.
Im Schlafzimmer setzte sich Anjali vor ihre Schminkkommode und schaute in den Spiegel. Sie begann sich sorgfältig zu schminken und ihre Haare zu bürsten. Sie flocht ihre Haare zu einem langen dicken Zopf und suchte passende Ohrringe raus, die sie dann anzog. Nach einer guten halben Stunde war sie fertig und betrachtete zufrieden ihr Spiegelbild. Sie stand auf und ging zum Bett, wo sie ihre Einkaufstüten hingeworfen hatte und zog sich an.

Anjali war gerade fertig, als es klingelte. Sie ging zur Tür und ließ Rohan rein. “Ich muss mir nur noch die Schuhe anziehen, dann können wir los.” sagte sie. “Mach nur. Das Taxi kommt auch gleich.” antwortete Rohan und blieb an der Tür stehen. Anjali kam auf einem Bein hüpfend aus dem Schlafzimmer und hielt sich an Rohans Schulter fest, um sich den Schuh zuzumachen. “So, ich bin fertig.” sagte sie und angelte nach ihrer Handtasche. “Schick siehst Du aus.” sagte sie anerkennend zu Rohan, der sich verlegen am Kopf kratzte. “Du auch.” gab er verlegen zurück. Anjali lachte und ging vor Rohan die Treppe runter zum Taxi. Die Fahrt verlief recht ruhig und sie waren kurz vor acht am Restaurant angekommen. Rohan bezahlte das Taxi und half Anjali aus dem Wagen. Einen Moment lang standen sie unschlüssig vor dem Lokal. “Ob wir schon reingehen sollen?” fragte Rohan. “Willst Du hier draußen Wurzeln schlagen?” gab Anjali zurück und zog ihn Richtung Tür.

Sie betraten das Restaurant und wurden sofort von einer Bedienung begrüßt. “Namaste, was kann ich für Sie tun?” fragte das junge Mädchen die Neuankömmlinge. “Namaste! Wir haben zu um acht einen Tisch bestellt!” antwortete Rohan. Das Mädchen schaute in ihr Buch. “Auf welchen Namen bitte?” fragte sie. “Rai.” antwortete Rohan und die Bedienung nickte. “Folgen Sie mir bitte.” Sie führte Anjali und Rohan an einen gemütlichen Vierer-Tisch in einer ruhigen Ecke. Sanjana und Aman waren noch nicht da, so setzten sich die beiden erst einmal und schauten schon mal in die Speisekarten.

“Schau Schatz, da sitzen die beiden.” hörte Anjali eine Frauenstimme hinter sich. Sie konnte sie nicht gleich entdecken, da sie mit dem Rücken zum Eingang saß und Rohan schon aufgestanden war, um Sanjana und Aman entgegen zu gehen. Sie stand auf und lächelte die junge Frau an, die auf sie zukam. “Hallo, ich bin Sanjana und Du musst Anjali sein! Rohan hat mir schon einiges von dir erzählt!” plapperte Sanjana los. “Und das ist mein Verlobter Aman!” Aman stand bis eben hinter einer Säule, so dass Anjali ihn nicht sehen konnte und hatte mit Rohan gesprochen. Als er jetzt hinter der Säule hervorkam, um Anjali zu begrüßen, erstarrte diese förmlich. “Hey, ich bin Aman.” lächelte dieser Anjali an, die kein Wort sagen konnte. “Haben wir uns nicht schon einmal irgendwo gesehen? Ach, jetzt weiß ich es. Wir haben uns vor kurzem in diesem kleinen Park getroffen. Als Ihnen der Hund weggelaufen war.” Rohan horchte auf. “Dir ist Dev weggelaufen? Davon hast Du mir ja gar nichts erzählt!” sagte er. Anjali schaute ihn fast verzweifelt an. Sie setzten sich an den Tisch. Anjali gegenüber nahm ausgerechnet Aman Platz. “Sag mal Rohan, hat es Anjali die Sprache verschlagen?” fragte Sanjana amüsiert, weil Anjali immer noch keinen Ton von sich gegeben hatte. Anjali fing sich wieder. “Entschuldige, ich war gerade in Gedanken.” lächelte sie Sanjana an. “Na dann bin ich ja beruhigt. Nicht, dass ich hier Alleinunterhalterin spielen muss!” erwiderte diese.

Der Abend im Restaurant verlief sehr harmonisch. Anjali vermied es, Aman anzusehen oder mit ihm zu reden. Sie hatte Angst, dass sie ihn mit Rahul ansprechen würde. Wie sollte sie das denn auch erklären? Sie lachten viel und das Essen war ausgesprochen gut. Selbst Rohan hatte seine Scheu abgelegt und scherzte ausgelassen mit Sanjana, was dieser zu gefallen schien. Anjali war zufrieden. Nur das Aman sie die ganze Zeit zu beobachten schien, machte sie etwas nervös. Ob er sich doch erinnerte? Das wäre einfach zu schön. Aber sie glaubte nicht daran. Sie schaute ihn vorsichtig an und ihre Blicke trafen sich. Anjali war drauf und dran, sich wieder in seinen samtig braunen Augen zu verlieren. Aman lächelte sie leicht an. “Was haltet ihr davon, wenn wir noch eine Runde tanzen gehen?” fragte er in die Runde. “Hier in der Nähe ist ein toller Club mit super Musik.” Alle waren begeistert und so bezahlten sie und bestellten sich ein Taxi, dass sie in den Club bringen sollte. Anjali war das nur Recht, so konnte sie sich etwas freier bewegen und war nicht gezwungen, die ganze Zeit Aman direkt gegenüber zu sitzen. Die Stimmung im Taxi war gut, auch wenn Anjali sich etwas unwohl fühlte, da sie direkt neben Aman gelandet war. Aber die Fahrt zum Club verging ruckzuck und sie konnte aussteigen.

Im Club fanden sie eine kuschelige Ecke mit großen Sofas und vielen Kissen, in der sie sich niederließen. Sanjana holte für alle eine Runde Cocktails und die Stimmung wurde immer ausgelassener. Sie tanzten und lachten viel. Und immer wieder spürte Anjali Amans Blicke auf sich ruhen. Wie sollte sie das nur einordnen? Es freute sie auf der einen Seite, dass sie ihm auch zu gefallen schien, wenn er sie eigentlich nicht kannte, aber es machte sie auch traurig, weil er ja mit Sanjana verlobt war. “Darf ich bitten?” Anjali hatte sich gerade wieder hingesetzt und trank von ihrem Cocktail. Sie schaute nach oben und sah Aman an, der ihr eine Hand entgegenstreckte. Sie verschluckte sich fast und griff zögerlich nach seiner Hand. Ob das so eine gute Idee war? Aman führte sie zur Tanzfläche und legte einen Arm um ihre Taille und zog Anjali näher an sich heran. Anjali stand wie unter Strom. Sie wollte fliehen, doch sie genoss die Nähe, auf die sie so lange verzichten musste. Anjali legte ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Ihr Herz raste und sie hoffte, dass Aman es nicht merkte. Die Zeit stand für einen Moment still. Er roch immer noch genauso wie sie es in Erinnerung hatte und seine Arme gaben immer noch dieselbe Geborgenheit.

Das Lied war vorbei und die beiden standen noch einen Moment lang regungslos auf der Tanzfläche, bevor Anjali sich von ihm lösen konnte. Aman schaute sie lächelnd an. “Danke.” sagte er und ging wieder zu der Sitzecke zurück. Anjali ging zur Bar. Sie brauchte jetzt noch einen Drink. Sie beobachtete aus sicherer Entfernung die Sitzecke und sah, dass sich Rohan und Sanjana prächtig zu amüsieren schienen. Und Aman schien überhaupt nichts dagegen zu haben. Sie gab sich einen Ruck und ging wieder zu den anderen. Nach einer Weile stand Sanjana auf und zog Rohan mit sich auf die Tanzfläche. Rohan strahlte über das ganze Gesicht. Anjali überlegte, wie sie aus der für sie unangenehmen Situation mit Aman allein zu sein, heraus kam. “Ich geh mal raus, eine rauchen.” sagte sie und stand auf. “Warte. Ich komme mit. Eine Zigarette kann ich jetzt auch gebrauchen.” Aman stand schon neben ihr. Na toll, dachte Anjali. So hatte sie das aber nicht geplant. Aber was sollte sie machen, also gingen sie gemeinsam vor die Tür und setzten sich auf eine kleine Bank in der Nähe des Clubs. Aman gab Anjali eine Zigarette und gab ihr Feuer. Sie saßen eine Weile stumm nebeneinander und rauchten ihre Zigaretten. Anjali war die Nähe von Aman beinahe unangenehm. Sie konnte ihn ja schlecht mit Rahul ansprechen. Das hätte er sicher nicht verstanden.

Kapitel 14


“Willst Du nicht langsam mal wieder reingehen? Nicht, dass Rohan dir noch Sanjana ausspannt.” sagte Anjali irgendwann, um dieses Schweigen zu durchbrechen. Aman sah sie erstaunt an und lachte. “Soll er nur!” sagte er. Anjali sah ihn fragend an. “Wie meinst Du das denn? Ihr seid doch verlobt!” Aman schüttelte den Kopf. “Nein, sind wir nicht.” antwortete er. Anjali verstand nun gar nichts mehr, aber ihr Herz machte einen Hüpfer. “Alles nur Show, um Rohan aus der Reserve zu locken. Und anscheinend hat es ja geklappt.” Bei Anjali fiel langsam der Groschen. “Soll das heißen, dass Sanjana… dass sie Rohan liebt?” Aman nickte. “Aber warum hat sie ihm das denn nicht gesagt? Wozu diese Verlobung?” Aman zuckte die Schultern. “Sanjana hatte gehofft, dass sie Rohan öfter sehen könnte, wenn er sich um Dev kümmert. Darum hat sie ihn zu Rohan gegeben. Nur hat sie sich dann nicht wieder hin getraut. Die Gute ist zu schüchtern.” Anjali musste lachen. “Sanjana und schüchtern? Das glaube wer will!” Anjali war aufgestanden und lachte herzhaft. “Doch. Also habe ich ihr den Vorschlag mit der Verlobung gemacht und sie hat dann Rohan gefragt, ob er nicht ihr Trauzeuge werden will. Sie hatte gehofft, dass sie ihn eifersüchtig machen könnte. Aber das hat irgendwie auch nicht funktioniert. Um so aufgeregter war sie, als Rohan angerufen hat und nach einer Verabredung für heute Abend gefragt hat.” Anjali stand kopfschüttelnd vor Aman. “Da brat mir einer 'nen Storch. Und Rohan sitzt bei mir und heult sich aus, weil Sanjana heiraten will. Mann, wie blind sind die beiden denn?” Sie wurde regelrecht wütend und ihre Augen funkelten böse. “Sie sollen doch froh sein, wenn sie zusammen sein können!“ Aman war nun auch aufgestanden und vor Anjali getreten. Sie sah toll aus in ihrem dunkelgrünen Sari, fand er. Sie kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen. “Reg dich ab. Lass uns lieber wieder rein gehen und nach den beiden schauen.” sagte er und nahm Anjalis Hand, um sie hinter sich her in den Club zu ziehen. Anjali starrte wie gebannt auf seine Hand, die ihre hielt und hatte das Gefühl als würde Strom durch ihren Körper fließen. Im Club angekommen ließ sie sofort Amans Hand los, was dieser mit einem Stirnrunzeln quittierte.

Sie suchte Rohan und Sanjana. Die saßen turtelnd in der Sitzecke und schienen um sich herum nichts weiter wahrzunehmen. Anjali nickte zufrieden. “Ich werde jetzt nach Hause fahren.” sagte sie zu Aman und verließ den Club wieder. “Ich bringe dich. Um die Zeit kannst Du doch nicht alleine gehen.” Anjali wollte protestieren, doch Aman hatte sie schon in ein Taxi bugsiert und sich neben sie gesetzt. Während der Fahrt saßen sie schweigend nebeneinander. Vor ihrem Haus angekommen stiegen sie aus und Anjali bezahlte den Fahrer. Sie standen kurz etwas hilflos vor dem Haus bevor Aman sich von ihr verabschieden wollte. “Willst Du noch einen Kaffee?” hörte sich Anjali fragen. Verdammt, was war das denn jetzt? Aman blieb stehen und schaute Anjali lächelnd an. “Ja gerne.” Sie gingen zusammen hoch in Anjalis Wohnung. Anjali verschwand in der Küche und setzte Kaffee an. Sie ging auf ihren Balkon. Sie stand auf das Geländer gestützt und überlegte, warum sie ihn zu sich eingeladen hatte. Tränen rollten ihr über das Gesicht. So sehr hatte sie sich nach Rahul gesehnt und jetzt saß er in ihrem Wohnzimmer und wusste nicht, wer sie war.

“Ach da bist Du!” hörte sie auf einmal seine Stimme hinter sich. Anjali drehte sich um und schaute Aman an, während sie sich über das nasse Gesicht wischte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Aman trat auf den Balkon. “He Anjali! Ist alles in Ordnung?” fragte er besorgt und wischte ihr eine Träne von der Wange. Anjali zitterte und die sanfte Berührung von Aman machte es nicht besser. Unaufhörlich liefen ihr die Tränen über das Gesicht. “Anjali! Was ist denn los? Ist es wegen Rohan?” Aman nahm sie in den Arm und hielt sie fest. Sie hörte sein Herz schlagen, etwas schneller als normal. Was hatte das denn zu bedeuten? Anjali schluchzte und Amans Umarmung wurde etwas fester. Sie spürte, dass er ihr einen Kuss auf den Scheitel gab. Anjali erschauerte unter dieser Berührung. Anjali löste sich schweren Herzens aus seiner Umarmung und stand etwas hilflos vor ihm. “Der Kaffee…” sagte sie leise und senkte ihren Blick. Sie ging an Aman vorbei in die Küche und schenkte zwei Tassen Kaffee ein. Sie gab eine davon Aman. “Hier bitte. Drei Stück Zucker und etwas Milch.” Aman sah sie erstaunt an. “Woher weißt Du, wie ich meinen Kaffee trinke?” Anjali zuckte unwillkürlich zusammen. “Ähm… Eingebung würde ich sagen.” Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Aman folgte ihr und nahm neben ihr Platz. Anjali hatte den Fernseher angemacht und sie schauten schweigend auf das Geschehen auf dem Bildschirm.

Anjali konnte sich nicht entsinnen, eingeschlafen zu sein. Sie schaute sich blinzelnd um und setzte sich gerade auf. Sie erschrak, als sie sah, dass ihr Rahul immer noch da war. Er war mit dem Kopf in ihrem Schoß eingeschlafen. Wieso lag sein Kopf in ihrem Schoß? Wann ist das denn passiert? Anjali hatte einen leichten Kater. Vorsichtig beugte sie sich vor, um ihre Tasse vom Tisch zu nehmen und einen Schluck kalten Kaffee zu trinken. Sie betrachtete den schlafenden Rahul. Er hatte sich überhaupt nicht verändert in den zwei Jahren. Ein paar Haarsträhnen waren ihm in die Stirn gefallen und Anjali hob die Hand, um sie ihm vorsichtig aus der Stirn zu streichen. Kaum hatte sie ihn berührt, schlug er die Augen auf und schaute sie an. Anjali zuckte zurück. “Guten Morgen Aman!” lächelte Anjali ihn an. “Hast Du gut geschlafen?” Aman erhob sich und schaute sie entschuldigend an. “Ich muss eingeschlafen sein. Entschuldige bitte.” Aman fuhr sich verlegen durch die Haare.

Er stand auf und ging auf den Balkon, um eine zu rauchen. Warum war er so durcheinander? Wieso kam sie ihm so bekannt vor? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass ihm Anjali gefiel. Aber sie war anscheinend in Rohan verliebt, so wie sie letzte Nacht geweint hatte. Anders konnte er sich Anjalis Gefühlsausbruch nicht erklären. Er musste sie sich aus dem Kopf schlagen. Anjali war inzwischen neben ihn getreten und hielt ihm eine Tasse heißen Kaffee unter die Nase und steckte sich ebenfalls eine Zigarette an. Anjali fröstelte und Aman legte im Reflex seinen Arm um sie. So standen sie beide nebeneinander auf dem Balkon und beobachteten den Sonnenaufgang.

Aman betrachtete Anjali aus dem Augenwinkel. Sie sah traurig aus. Ob das wohl wegen Rohan war? Er war sich ziemlich sicher, das würde auch erklären, warum sie gestern so schnell aus dem Club abgehauen war. Aber der war ja nun mit Sanjana zusammen. Ihr trauriges Gesicht versetzte ihm einen Stich im Herzen. Er wusste immer noch nicht, wo er Anjali schon einmal gesehen hatte. Sie kam ihm so seltsam vertraut vor. Anjali löste sich von Aman. Sie spürte seine verstohlenen Blicke und wurde zusehends nervöser. Sie genoss seine Nähe, aber das er sie nicht erkannte, machte sie traurig. “Möchtest Du noch einen Kaffee?” fragte sie Aman um die für sie als peinlich empfundene Stille zu durchbrechen. Aman schüttelte den Kopf und trat vom Balkon wieder in die Küche. “Ich werde dich jetzt auch mal wieder allein lassen. Außerdem brauch ich noch ein paar Stündchen Schlaf.” sagte er und grinste, als er daran dachte, wo er gerade aufgewacht war. Anjali nickte und brachte ihn noch zur Tür. “Na dann, schlaf gut.” sagte Anjali und reichte ihm die Hand zum Abschied. Aber Aman umarmte sie kurz und erwiderte “Du auch und träum was Süßes!” In dem Moment kam Rohan pfeifend die Treppe hochgesprungen. Anjali erschrak und ließ Aman los, was dieser irritiert registrierte. Aman murmelte noch ein “Ciao!” und eilte an dem verblüfften Rohan vorbei.

Kapitel 15


Rohan lehnte sich neben Anjali an den Türpfosten und sah sie fragend an. “Was war das denn? Hab ich was verpasst?” Er verstummte als er Anjalis traurigen Blick sah. “Was ist denn los?” Anjali schüttelte mit dem Kopf und sagte leise “Nichts…” und machte dem völlig fassungslosen Rohan die Tür vor der Nase zu. Er verstand gar nichts mehr. Er wollte Anjali doch gerade erzählen, dass Sanjana ihn auch liebte. Aber was machte Aman hier? Nachdenklich ging Rohan hoch in seine Wohnung. Plötzlich fiel ihm das Foto wieder ein, was bei Anjali gestanden hatte und eindeutig Aman zeigte. Er nahm sich fest vor, am Nachmittag mit Anjali zu reden. Er wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Vielleicht konnte er ihr ja helfen. Schließlich hatte sie ihm ja auch geholfen, mit Sanjana zusammen zu kommen. Anjali musste sich einfach helfen lassen, dafür waren Freunde doch da. Mit diesem Gedanken und dem Gedanken an Sanjana schlief Rohan seit langem mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

Anjali ging in ihr Schlafzimmer und setzte sich an ihre Schminkkommode. Nachdenklich schaute sie in den Spiegel und schminkte sich ab. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Rahul, wie er auf ihrem Schoß gelegen und geschlafen hatte. Wie sie zusammen getanzt hatten und er sie getröstet hatte, als sie in der Nacht geweint hatte. Wie geborgen sie sich in seinen Armen gefühlt hatte.

Sie nahm die Ohrringe ab und legte sie zurück in ihr Schmuckkästchen. Dabei fiel ihr Blick auf den Verlobungsring, den sie immer noch aufbewahrte. Anjali nahm ihn heraus und steckte ihn sich auf den Finger. Er passte immer noch wie abgegossen. Was würde sie darum geben, diesen Ring wieder tragen zu können. Seufzend zog sie den Ring wieder vom Finger, hauchte einen Kuss darauf und legte ihn zurück in das Schmuckkästchen.

Anjali zog ihren Pyjama an und löste den Zopf. Nachdem sie sich die Haare gebürstet hatte, ging sie zu Bett. Sie kuschelte sich in ihre Kissen und ihr Blick fiel auf das Bild von Rahul. Ihr stiegen wieder die Tränen in die Augen und sie weinte sich in den Schlaf.

Aman lag zur selben Zeit in seinem Bett und konnte nicht schlafen. Immer wieder hatte er das Bild von Anjali vor Augen. Er bekam sie nicht aus seinem Kopf, obwohl er das doch musste. Er durfte sich nicht in sie verlieben, schließlich hatte sie sein Herz an Rohan verloren. Aber dafür war es eigentlich schon zu spät. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett hin und her. Er kramte in seinen Erinnerungen, wo er Anjali schon einmal gesehen hatte. Ob er sie vor seinem Unfall kennen gelernt hatte? Immerhin hatte er daran überhaupt keine Erinnerungen mehr. Doch Anjali hatte nicht so gewirkt, als wenn sie ihn kennen würde. Aber wieso sollte er sie dann kennen? Die Ärzte hatten ihm doch aber gesagt und mehrfach bestätigt, dass er seine Erinnerungen nie wieder erlangen würde. Sollten sich die ganzen Spezialisten etwa geirrt haben? Aber selbst wenn, was würde das an der Situation jetzt ändern? Immerhin liebte sie einen anderen. Er war sich dessen sicher. Irgendwann schlief auch er ein und hatte dabei Anjalis Gesicht vor Augen.

Anjali wurde vom Klingeln an ihrer Tür unsanft aus dem Schlaf gerissen. Sie wollte niemanden sehen und zog sich die Decke über den Kopf. Doch das Klingeln hörte nicht auf und so stand Anjali missmutig auf.

Während sie ihren Morgenmantel anzog und zur Tür schlurfte klingelte es wieder. “JA, verdammt noch mal! Ich komm ja schon!” rief sie ärgerlich und riss die Tür auf. Rohan schaute sie irritiert an. “Na Du hast ja eine super Laune! Ich glaub, Du brauchst einen Kaffee!” sagte er und schob sich an Anjali vorbei und marschierte Richtung Küche. Anjali trottete hinterher. “Hab ich dich rein gebeten?” fragte sie mürrisch. “Nö! Du hast aber auch nicht gesagt, dass ich wieder gehen soll!” lachte Rohan und gab Anjali einen Kuss auf die Stirn. “Und nun - marsch unter die Dusche! So gewinnst Du keinen Blumentopf!” sagte er zu der völlig verblüfften Anjali. Die musste nun lachen und knuffte Rohan in die Rippen. “So ist das also, mit mir kann man keinen Blumentopf gewinnen? Na warte, Du wirst schon sehen!” sagte sie gespielt drohend und verschwand daraufhin tatsächlich im Bad. Kurz darauf hörte Rohan das Wasser von der Dusche rauschen.

Er nutzte die Zeit und schaute sich im Wohnzimmer um und suchte das Foto. Er wollte sicher sein, dass er sich nicht getäuscht hatte und das Foto tatsächlich Aman zeigte. Aber der kleine Altar, der vor kurzem noch im Wohnzimmer stand war weg. Was sollte das denn nun schon wieder bedeuten? Wo konnte sie das Foto nur haben? Vorsichtig öffnete Rohan die Schlafzimmertür einen Spalt und lugte hinein. Auf dem Nachttischchen entdeckte er schließlich das Foto. Leise schloss er wieder die Tür und verschwand schnell in der Küche.

Kurz darauf erschien Anjali und war erheblich besser gelaunt. “Mmh… hier duftet es aber lecker nach Kaffee!” sagte sie und schnappte sich eine Tasse. Sie setzte sich zu Rohan auf den Balkon und steckte sich eine Zigarette an. Sie grinste Rohan an, der sie etwas irritiert anschaute. “Was ist?” “Nun erzähl schon! Wie ist es mit Sanjana gelaufen?” fragte sie. Rohan wurde leicht rot und grinste verlegen. Anjali lachte “Aman hat mir erzählt, dass die Verlobung nur gespielt war. Du hast aber auch lange gebraucht, um zu merken, dass Sanjana dich liebt.” Rohan nickte und strahlte über das ganze Gesicht. Er umarmte Anjali herzlich “Das hab ich nur dir zu verdanken. Wenn Du mir nicht in den Hintern getreten hättest, würde ich immer noch hier sitzen und heulen!” “Apropos hier sitzen.” sagte Anjali. “Was machst Du eigentlich hier? Warum bist Du nicht bei Sanjana?” “Sanjana ist noch arbeiten. Ich hole sie heute Abend nach Feierabend ab.” antwortete Rohan und strahlte immer noch. “Ich freu mich für dich.” sagte Anjali lächelnd und drückte seine Hand.

Rohan wagte einen Vorstoß. “Jetzt erzähl mir aber mal, warum Aman heute in aller Frühe deine Wohnung verlassen hat?” Anjali verschluckte sich fast an ihrem Kaffee. “Äh…ach das. Da war nichts. Er hat mich nur nach Hause gebracht.” wich Anjali ihm aus. “Aha! Und das soll ich glauben? Ihr seid doch aber schon Stunden zuvor aus dem Club verschwunden. Seid ihr in ein Zeitloch gefallen unterwegs?” Anjali musste bei der Vorstellung lachen. Einen Zeitsprung, den würde sie auch gern machen und zwei Jahre zurück gehen. Rohan ging noch einen Schritt weiter. “Was hat es mit dem Foto auf sich, dass Du von Aman hast?”

Anjali sah Rohan erschrocken an. “Woher weißt Du von dem Foto?” fragte sie. “Das stand bis vor kurzem in deinem Wohnzimmer. Was hat es damit auf sich?” erwiderte Rohan und schaute Anjali erwartungsvoll an. Anjali nahm einen großen Schluck Kaffee. “Das ist nicht so einfach und eine längere Geschichte ist auch!” sagte sie. Rohan schaute auf seine Uhr. “Also, ich hab noch knapp fünf Stunden Zeit. Meinst Du, das reicht?” Anjali lächelte schwach und schaute Rohan an. “Du lässt mir keine andere Wahl, oder?” Rohan schüttelte mit dem Kopf. “Einen Moment!” Anjali stand auf und holte sich noch einen Kaffee. Sie setzte sich wieder auf den Balkon und steckte sich noch eine Zigarette an. Anjali war sehr nervös. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.

Kapitel 16


Sie holte tief Luft. “Aman Kumar heißt nicht Aman Kumar! Er heißt Rahul Malhotra und lebt eigentlich in Indien und ist mit mir verlobt!” So, jetzt war es raus. Anjali schaute unsicher zu Rohan, der sie mit offenem Mund anstarrte. “Wie meinst Du das?” fragte er. “Ich hab doch gesagt, dass das eine längere Geschichte ist.” Anjali schaute angestrengt in ihre Kaffeetasse. “Rahul hatte vor zwei Jahren einen Unfall und kann sich seitdem an nichts mehr erinnern. Auch nicht an mich!” erzählte Anjali. “Ich habe nicht gewusst, dass Rahul hier in London lebt. Mir wurde damals gesagt, dass er bei dem Unfall ums Leben gekommen war.” Anjali liefen wieder Tränen über das Gesicht. Rohan nahm sie in den Arm. Anjali erzählte ihm nach und nach die ganze Geschichte. Wie sie nach London gekommen war, seine Stimme gehört hatte und auf ihn getroffen war.

Sie erzählte davon, wie sie zusammen gebrochen war und was ihr Chef Mr. Singh herausgefunden hatte. “Am meisten erschrocken war ich, als ich ihn gestern Abend mit Sanjana zusammen gesehen habe. Umso erleichterter war ich, als er mir erzählte, dass er nicht mit ihr verlobt war.” Anjali weinte noch immer, aber sie hatte sich schon ein wenig beruhigt. “Und was hat er hier gemacht? Hat er sich doch an dich erinnert?” fragte Rohan vorsichtig nach. Anjali schüttelte den Kopf. “Ich wünschte, es wäre so. Nein, er hat mich tatsächlich nur nach Hause gebracht. Ich hab ihm noch einen Kaffee gemacht, aber irgendwie sind wir auf der Couch eingeschlafen. Er wollte gerade gehen, als Du nach Hause gekommen bist.” Anjali saß wie ein Häufchen Elend auf ihrem Balkon. Rohan wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte Anjali helfen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte.

Anjali war inzwischen aufgestanden und ins Wohnzimmer gegangen. Rohan folgte ihr und setzte sich auf die Couch. “Kannst Du mir mal verraten, wie ich ihn davon überzeugen soll, dass er Rahul ist? Ohne, dass er den absoluten Schock kriegt?” Anjali schaute hilflos zu Rohan, der nur mit den Schultern zuckte. “Ich weiß es nicht. Ehrlich nicht. Tut mir leid.” Rohan schaute auf die Uhr. “Oh Mann, so spät schon. Ich muss Sanjana abholen. Kann ich dich allein lassen oder willst Du mitkommen? Sanjana hat sicher nichts dagegen.” Anjali schob Rohan zur Tür raus. “Nein, geh Du nur zu Sanjana. Ich komm schon klar.” Rohan umarmte Anjali noch einmal bevor er ging. “Grüß Sanjana von mir!” rief Anjali ihm noch hinterher bevor sie sich wieder in ihre Wohnung zurückzog.

Zur gleichen Zeit zog sich Aman seine Motorradkleidung an. Er hatte schlecht geschlafen und die ganze Zeit komische Sachen aus Indien geträumt. Hin und wieder war auch Anjali aufgetaucht. Er musste jetzt irgendwie den Kopf freikriegen. Aman verließ seine Wohnung, stieg auf seine Maschine und rauschte davon. Er wusste nicht, was diese Träume bedeuten sollten. Hatten sie vielleicht etwas mit seiner Vergangenheit zu tun? Doch wo sollte er anfangen zu suchen? Wo sollte er Anhaltspunkte finden? Er fuhr stundenlang durch London und dachte nach. Stundenlang fuhr er planlos durch London. In einem kleinen Park machte er Halt und setzte sich an das Ufer der Themse. Nach dem Unfall und der ganzen Zeit in der Reha war er wieder nach London gekommen, doch er hatte sich hier nie wirklich zu Hause gefühlt. Und dann hatte er Anjali kennen gelernt, die ihm so vertraut vorkam. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.

Anjali hatte eine zeitlang auf der Couch gesessen und über das Gespräch mit Rohan nachgedacht. Wie sollte sie Aman nur davon überzeugen, dass er Rahul war? Sie hatte zwar seinen Ausweis, aber wie würde er das aufnehmen? Und konnte sie ihm sagen, dass sie verlobt waren? Was würde er dazu wohl sagen? Wahrscheinlich würde er ihr ja doch nicht glauben. Er war überzeugt davon, Aman zu sein und nach London zu gehören.

Anjali war aufgestanden und hatte ihre Wohnung verlassen. Sie brauchte jetzt dringend frische Luft. Vielleicht konnte sie so ihren Kopf wieder freikriegen. Sie lief langsam am Ufer der Themse entlang und gelangte so in den kleinen Park, den sie so liebte. Sie ging gemächlich auf die große Wiese, um sich direkt ans Ufer zu setzen, als sie stoppte. Am Ufer saß schon jemand. Rahul! Anjali wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sollte sie hingehen oder leise wieder verschwinden? Anjali wollte sich gerade wieder umdrehen um zu gehen, als er sie auch schon entdeckt hatte. “Anjali, was machst Du denn hier?” Aman kam auf sie zu und lächelte sie an. Anjali schaute verlegen an ihm vorbei. “Ich…ähm… ich wollte nur ein wenig nachdenken. Ich komme immer hierher, wenn ich nachdenken will.” Aman nickte. “Ja, das kann ich verstehen. Es ist wunderbar ruhig hier.” Er schaute Anjali an, die angestrengt an ihm vorbei schaute. “Darf ich dir beim Nachdenken Gesellschaft leisten?” fragte er schließlich. “Vielleicht denkt es sich zu zweit ja besser.” Anjali antwortete nicht und ging ein Stück weiter, um sich dort auf eine Bank zu setzen. Aman blieb unschlüssig an seinem Platz stehen. Irgendwann sah Anjali ihn fragend an. “Willst Du mir von dort hinten Gesellschaft leisten oder warum kommst Du nicht her?” Aman kam auf sie zu und setzte sich neben sie.

Schweigend saßen sie nebeneinander, bis Anjali das Schweigen brach. “Was hat dich eigentlich nach London verschlagen?” Aman schaute sie an und zuckte mit den Schultern. “Wenn ich das so genau wüsste…” antwortete er und schaute Anjali traurig an. “Wie meinst Du das?” Anjali schaute ihn fragend an. “Ich kann mich nicht erinnern. Ich hatte vor einiger Zeit einen Unfall. An alles, was vorher war kann ich mich nicht mehr erinnern.” Aman stützte seinen Kopf auf seine Hände und klopfte sich immer wieder gegen die Schläfen. “Es ist alles da drin, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern!” sagte er verzweifelt. Anjali tat es weh, ihn so zu sehen. Doch sie konnte sich auch nicht durchringen, ihm die Wahrheit zu sagen. Statt dessen hockte sie sich vor ihn und nahm seine Hände. “Irgendwann wirst Du dich wieder erinnern können!” sagte sie sanft zu ihm. Aman schaute sie verzweifelt an. “Eben nicht! Die Ärzte haben gesagt, dass ich mich nie wieder erinnern werde!” Anjali konnte kaum noch ihre Tränen zurückhalten. “Ärzte können sich irren!” sagte sie und umarmte Aman, der nun selber vor lauter Verzweiflung weinte.

Aman hatte sich regelrecht an Anjali geklammert und ließ seiner Verzweiflung freien Lauf. Nach einer Weile löste er sich von ihr und sah sie verlegen an. “Entschuldige bitte! Das ist mir jetzt etwas peinlich.” sagte er und fuhr sich verlegen durch das dichte schwarze Haar. Anjali schüttelte den Kopf. “Ist doch in Ordnung. Ich würde mich wahrscheinlich genauso fühlen.” Sie setzte sich wieder neben ihn auf die Bank. “Kannst Du dich denn wirklich an gar nichts mehr erinnern?” wollte sie wissen. Aman schüttelte traurig den Kopf. “Nein, an absolut gar nichts.”

Eine Weile saßen sie noch schweigend auf der Bank. Schließlich stand Aman auf und ging zu seinem Motorrad. Er blieb einen Moment nachdenklich stehen bevor er sich umdrehte und Anjali ansah. “Soll ich dich noch nach Hause bringen?” Anjali rang einen Moment mit sich. Sollte sie zu ihm aufs Motorrad steigen? “Nein, lass nur. Ich werde laufen. Ich muss mich noch ein wenig bewegen.” antwortete sie ihm. Aman nickte und setzte seinen Helm auf. “Ich hoffe, wir sehen uns bald mal wieder.” sagte er und fuhr davon. Er musste jetzt wirklich allein sein. Zu peinlich war ihm der Gefühlsausbruch vor Anjali. Hoffentlich hielt sie ihn jetzt nicht für ein Weichei.

Kapitel 17


Anjali schaute dem davonbrausenden Aman hinterher bis sie seine Maschine nicht mehr sehen konnte. Zu gerne hätte sie hinter ihm auf dem Motorrad gesessen, aber sie befürchtete, dass sie sich dann nicht wieder von ihm trennen könnte. Langsam machte Anjali sich auf den Heimweg. Sie war total zerrissen und fühlte sich schlecht, weil sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Er war so verzweifelt. Konnte sie ihm da seine Vergangenheit vorenthalten? Aber wie würde er reagieren? Wahrscheinlich wäre er jetzt sauer auf sie, weil sie ihm nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt hatte. Vor allem jetzt, wo er ihr von dem Unfall erzählt hatte. Sie könnte nicht ertragen, wenn er sich von ihr abwenden würde. Sie wollte ihn nicht wieder verlieren, nicht noch einmal. Das würde sie nicht verkraften.

Vor ihrem Haus traf sie auf Sanjana und Rohan, die turtelnd im Hauseingang standen. Sie gönnte den Beiden ihr Glück und war doch ein wenig neidisch. Sanjana hatte sie als erstes entdeckt und umarmte sie herzlich. “Anjali! Schön dich zu sehen. Wie geht es dir? Du warst so schnell aus dem Club verschwunden!” Anjali musste lachen. “Na, ihr schient mir auch ganz gut alleine klar zu kommen.” Sanjana lächelte Rohan glücklich an. “Na ja, wenn Du Rohan nicht ‘genötigt’ hättest, mich anzurufen, hätte ich Aman vielleicht doch noch heiraten müssen.” Rohan sah Anjalis traurigen Blick und sagte schnell zu Sanjana. “Das brauchst Du ja jetzt nicht mehr! Oder hast Du es dir noch anders überlegt?” Lachend schüttelte Sanjana den Kopf und legte eine Hand auf Rohans Brust. “Wenn Du glaubst, mich wieder loswerden zu können, dann hast Du dich aber gewaltig geschnitten!” Rohan umarmte Sanjana und zog Anjali mit seinem freien Arm auch zu sich.

“So meine Damen!” sagte er schließlich. “Ich hätte jetzt Hunger. Was haltet ihr davon, wenn wir uns eine Pizza bestellen und einen gemütlichen DVD-Abend machen?” Sanjana nickte sofort begeistert. “Au ja, das wird sicher lustig.” Anjali schüttelte mit dem Kopf. “Nein, macht ihr euch nur einen gemütlichen Abend. Ich werde schlafen gehen!” Anjali wollte ins Haus gehen, als sie merkte wie sie festgehalten wurde. Sie drehte sich um und sah, dass Rohan ihren Arm festhielt. “Nichts da. Du wirst dich heute Abend nicht einigeln. Du wirst dich mit uns amüsieren. Verstanden?” Sanjana sah fragend zwischen den Beiden hin und her. “Was ist denn los?” wollte sie wissen. Rohan sah sie an. “Das muss dir Anjali schon selber erzählen. Aber nicht jetzt.” sagte er und gab Sanjana einen Kuss auf die Stirn.

Sanjana war zwar neugierig, beschloss aber, erstmal nicht weiter nachzuhaken. Vielleicht würde Anjali es ihr wirklich von allein erzählen. Und von Rohan würde sie nichts erfahren, das wusste sie. Also musste sie sich wohl oder übel gedulden.

“Wenn ich euch schon den Abend zu zweit ruiniere, dann lad ich euch wenigstens auf die Pizza ein. Und meine Wohnung stell ich auch zur Verfügung.” sagte Anjali zu den Beiden. “Keine Widerrede!” Rohan und Sanjana lachten. “Na gut! Ehe wir uns schlagen lassen!” Nun musste auch Anjali lachen. “So weit wollte ich eigentlich nicht gehen! Aber jetzt lasst uns endlich hochgehen. Oder soll ich den Fernseher runterholen?” “Wir kommen ja schon!” lachte Sanjana. Gemeinsam gingen sie in Anjalis Wohnung und machten es sich auf der Couch bequem. Kurz darauf kamen auch die Pizzen und eine extra große Packung Eis, die Rohan mitbestellt hatte.

Sie schauten sich alte englische Komödien an. Anjali genoss die ausgelassene Stimmung. Sie hatte sich schon länger nicht mehr so frei gefühlt. “Ich verschwinde mal kurz. Ich muss doch mal nach Dev schauen.” sagte Sanjana zu späterer Stunde und verabschiedete sich mit einem Kuss von Rohan. “Bis gleich!” sagte sie und war auch schon verschwunden. Anjali und Rohan schauten weiter Filme und aßen ihre Pizzen. Irgendwann lehnte sich Anjali zurück. “Puh, jetzt bin vielleicht voll gefuttert. Ich kann mich überhaupt nicht mehr rühren.” Anjali strich sich demonstrativ über ihren Bauch. Rohan kugelte sich vor Lachen. “Wir haben aber noch Eis!” Anjali war aufgestanden um Löffel aus der Küche zu holen, als es klingelte. “Ich mach auf. Ist bestimmt Sanjana!” sagte Rohan und ging zur Tür. Er öffnete die Tür und war erstaunt, nicht Sanjana zu sehen.

“Aman! Was machst Du denn hier?” fragte er den ebenso erstaunten Aman. Dieser hatte damit gerechnet, dass Anjali ihm die Tür öffnete. Umso überraschter war er, Rohan hier zu sehen. In dem Moment kam Anjali aus der Küche zurück. “Hier sind die Löffel! Und nun lass uns die Schlacht auf das Eis eröffnen!” rief sie lachend. Als sie Aman entdeckte verstummte sie. “Aman! Was machst Du denn hier?” fragte sie und freute sich innerlich, dass er hier war. Doch Amans Blick hatte sich verfinstert. “Schon gut! Hat sich erledigt!” sagte er grimmig und ging, ohne die Beiden noch eines Blickes zu würdigen. Anjali und Rohan sahen sich verwundert an. Dann ging ein Ruck durch Anjali und sie lief Aman hinterher. Sie kam gerade aus der Haustür als sie nur noch das Rücklicht seines Motorrades am Ende der Straße sah.

“Verdammt!” fluchte Anjali und ging wieder hoch in ihre Wohnung. Mittlerweile war auch Sanjana wieder da. Sie und Rohan sahen Anjali neugierig an. “Und?” fragten sie wie aus einem Mund. Anjali ließ sich hilflos aufs Sofa fallen. “Nichts und! Er war weg ehe ich unten war!” Anjali war wütend. Sie wusste nicht warum, aber sie war wütend. Was wollte Aman so spät noch von ihr? Rohan setzte sich zu ihr und umarmte sie. Sanjana setzte sich auf den Boden vor Anjali. “Jetzt sag schon, was los ist!” sagte sie. Sie wollte jetzt endlich wissen, was es mit Anjali und Aman auf sich hatte. Anjali schaute zu Rohan, der ihr aufmunternd zunickte. Sie holte tief Luft und begann auch Sanjana die ganze Geschichte zu erzählen. Sanjana hörte ihr aufmerksam zu und unterbrach Anjali entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit nicht ein einziges Mal.
“Könnt ihr mir mal sagen, was ich jetzt machen soll? Oder was ich von seinem Auftritt eben halten soll?” fragte Anjali nachdem sie fertig war mit erzählen.

“Und wenn Du es ihm einfach sagst?” fragte Sanjana. “Und dann? Ist er sauer, weil ich es ihm nicht sofort gesagt habe! Vor allem nach der Sache heute im Park!” gab Anjali gereizt zurück. “He, schon gut. War doch nur ein Vorschlag!” erwiderte Sanjana und hob beschwichtigend die Hände. “Entschuldige bitte Sanjana. Ich wollt dich nicht so angehen. Aber… ach, ich weiß doch auch nicht.” sagte Anjali und war schon wieder den Tränen nah. “Wenn ich es ihm sage, ist er sauer, weil ich so lange gewartet habe. Erinnert er sich, ist er sauer, weil ich es ihm nicht gesagt habe.” Anjali saß wie ein Häufchen Elend auf der Couch. “Wie ich es auch drehe und wende. Er wird in jedem Fall sauer auf mich sein.” Anjali war aufgestanden und wanderte hilflos durch ihre Wohnung. Rohan und Sanjana sahen sich an und wussten auch keinen Rat. Anjali hatte Recht, egal auf welche Art Aman erfahren würde, dass er Rahul ist, er würde sicher nicht verstehen, warum er es so spät erfährt.

Anjali ging auf den Balkon und steckte sich eine Zigarette an. Was sollte sie nur tun? Zu gern würde sie ihm alles sagen. Aber sie traute sich nicht. Sie hatte zu viel Angst vor seiner Reaktion. Plötzlich stand Sanjana neben ihr. “Hat Rahul nicht noch Freunde in Indien? Vielleicht können die dir helfen?” wollte sie wissen. Rohan war nun auch auf den Balkon getreten. Anjali sah die beiden an. “Da gäbe es schon jemanden. Seinen besten Freund.” sagte sie und wurde im selben Augenblick wieder traurig. “Aber der wird nicht mit mir reden wollen.” Rohan sah Anjali fragend an. “Warum das denn?” “Er hat mir nie verziehen, dass ich nicht zur Beisetzung gekommen bin.” erklärte Anjali. “Aber jetzt sieht die Sache doch anders aus. Immerhin lebt Rahul noch!” sagte Sanjana. Anjali nickte. “Ja, aber ich weiß nicht, wo ich ihn finden kann. Er ist damals umgezogen und ich kenne seine neue Adresse nicht.” Anjali schaute in den sternenklaren Himmel, als ihr eine Idee kam. “Ich werde morgen meinen Chef fragen, ob er ihn ausfindig machen kann. Immerhin hat er auch rausbekommen, dass Rahul noch lebt.”

Kapitel 18


In der Zwischenzeit war Aman wieder zu Hause angekommen. Er war stinksauer und konnte sich nicht recht erklären, warum. Was hatte er sich nur dabei gedacht, um diese Zeit zu Anjali zu fahren? Was wollte er überhaupt dort? Er kam sich vor wie der letzte Depp. Wütend trat er gegen eine herunter gefallene Flasche, nur um gleich darauf fluchend und sich den Zeh haltend durch die Wohnung zu hüpfen. Verdammt! Das konnte auch nur ihm passieren, barfuss gegen eine Glasflasche zu treten. Selbst schuld, sagte er sich und zündete sich eine Zigarette an. Was wollte Rohan bei Anjali? Und wo war Sanjana? Waren die beiden denn nicht zusammen? Und Anjali schien die Gesellschaft von Rohan ja sehr zu genießen! Er verfluchte sich innerlich, weil er nicht begreifen konnte, warum er auf einmal so eifersüchtig war. Er kannte Anjali doch eigentlich gar nicht. Was hatten also diese Gefühle für sie zu bedeuten?

Am nächsten Morgen kam Anjali nur sehr schwer aus dem Bett. Sie hatte sehr schlecht geschlafen. Immer wieder hatte sie das Bild von Aman vor ihren Augen, wie er vor ihrer Tür gestanden hatte. Was hatte er nur gewollt? Das würde sie nun wohl nicht erfahren. Nachdem sie sich einigermaßen hergerichtet hatte und sich nicht mehr fühlte, als hätte sie ein Panzer überrollt, griff sie zum Telefon. Sie wählte die Nummer ihres Chefs. “James? Hallo, hier ist Anjali!” sagte sie, als der Hörer am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde. “Ist Mr. Singh zufällig zu sprechen?” “Einen Moment Anjali. Ich verbinde Sie!” sagte James und schon hörte sie die Musik der Warteschleife. “Anjali? Singh hier!” rief ihr Chef ins Telefon, so das Anjali den Hörer unwillkürlich ein Stück vom Ohr nahm. “Was gibt es denn?”

Ein paar Stunden später saß Anjali in Mr. Singhs Arbeitszimmer. Er hatte sie herbestellt, um ihr etwas mitzuteilen. Nun wartete sie gespannt darauf, dass er endlich sein Telefonat beendete. Ein paar Minuten später war es dann soweit. Mr. Singh legte den Hörer auf die Gabel und lächelte Anjali an. “Da haben Sie mir ja wieder eine knifflige Aufgabe gestellt.” Er machte eine kurze Pause. “Aber sie war zu lösen. Ich habe Ihren Freund ausfindig machen können.” Anjali fiel ein Stein vom Herzen. “Wo ist er? Kann ich mit ihm sprechen?” “Hrithik ist von Mumbai in einen 140 km nördlich gelegenen Ort namens Dahanu an der Indischen Küste gezogen. Wir konnten ihn nicht persönlich erreichen. Er hat kein Telefon und seine genaue Adresse ist uns auch nicht bekannt. Es ist aber sicher, das er in Dahanu lebt.” Anjalis Freude war nun ein wenig getrübt. “Und wie soll ich dann mit ihm Kontakt aufnehmen?” fragte sie.

Mr. Singh war jetzt aufgestanden und um seinen Schreibtisch gegangen und setzte sich vor Anjali auf die Tischkante. “Keine Sorge. Dafür habe ich schon längst gesorgt.” antwortete er der fragend schauenden Anjali. “Ich habe Ihnen einen Flug nach Mumbai gebucht. Von dort werden Sie von einem meiner Kontakte abgeholt und nach Dahanu gebracht. Dort habe ich Ihnen ein kleines Häuschen gemietet, was Sie so lange bewohnen können, wie Sie es brauchen.” Anjali schaute ihren Chef ungläubig an. “Aber Sie wissen doch, dass ich nicht nach Indien zurück will?” Ihr Chef winkte ab. “So ein Blödsinn! Am Besten Sie fahren jetzt mit James nach Hause und packen. Ihr Flug geht in fünf Stunden!” sagte er zu der völlig überrumpelten Anjali, die nun nicht mal mehr protestieren konnte. Ihr Chef schob sie sanft aber bestimmt zur Tür hinaus. “Viel Glück Anjali! Melden Sie sich mal! Ach und mein Kontakt in Indien heißt Amir. Er wird die ganze Zeit über zu Ihrer Verfügung stehen!”

Immer noch völlig von den Socken kam Anjali zu Hause an. Sie ging als erstes zu Rohan und Sanjana und erzählte ihnen, was ihr Chef heraus bekommen hatte. Sanjana half Anjali, ihre Sachen zusammenzupacken. James wartete im Wagen vor dem Haus und lud Anjalis Gepäck ein. “Wir kommen mit zum Flughafen!” sagte Rohan. James nickte. “Sie können im Wagen mitfahren. Ich bringe Sie dann auch wieder her!” bot er an. Rohan nickte und so fuhren sie zum Flughafen. Anjali war nervös. “Ich kann das nicht. Was, wenn Hrithik nicht mit mir sprechen will? Oder ich ihn gar nicht erst finde?” Rohan versuchte Anjali zu beruhigen. “Du wirst ihn schon finden. Und er wird auch mit dir sprechen! Aber melde dich, wenn Du angekommen bist!” sagte er noch und umarmte Anjali zum Abschied. Auch Sanjana umarmte sie herzlich. “Das wird schon klappen!” sprach sie Anjali Mut zu.

Anjalis Flug wurde aufgerufen und so musste sie wohl oder übel in den Flieger nach Indien steigen. Ihr Chef hatte ihr einen Platz in der ersten Klasse gebucht. Aber auch das konnte ihr das Unbehagen nicht nehmen. So lange war sie nicht in Indien gewesen. Mit so viel Zorn hatte sie Indien verlassen. Und doch freute sie sich ein wenig auf ihre Heimat.

Nach fast zehn Stunden Flug landete der Flieger sicher in Mumbai. Anjali saß noch einen Moment auf ihrem Platz und konnte sich kaum durchringen, auszusteigen. “Miss? Bitte steigen Sie jetzt aus! Der Reinigungstrupp muss in den Flieger bevor wir wieder starten.” Eine junge Stewardess stand vor ihr und riss Anjali aus ihren Gedanken. “Was? Oh…ja natürlich! Entschuldigen Sie. Ich war in Gedanken.” erwiderte Anjali und erhob. “Kein Problem.” Die Stewardess lächelte. “Willkommen zu Hause!” Anjali lächelte. Zu Hause. Ja, das würde sie hier wieder gern sein. “Danke.” sagte sie und verließ das Flugzeug. Sofort schlug ihr die Wärme entgegen, die für Indien so typisch war. Anjali brauchte einen Moment, um sich daran zu gewöhnen. Das Wetter in London war so völlig anders. Anjali holte ihr Gepäck und schaute sich im Terminal um. Irgendwo musste doch dieser Amir sein.

Da ertönte eine Durchsage: *Miss Anjali Kapoor! Bitte melden Sie sich an der Information! Miss Anjali Kapoor! Bitte melden Sie sich an der Information!* Anjali nahm ihr Gepäck und machte sich auf den Weg zur Information. “Namaste! Ich bin Anjali Kapoor. Sie haben mich ausrufen lassen?” Die Dame hinter dem Tresen nickte. “Ich soll Ihnen von einem Amir ausrichten, dass er sich um eine halbe Stunde verspäten wird. Er steckt im Stau. Mumbais Berufsverkehr, Sie wissen ja.” Anjali nickte. “Danke. Wenn er sich hier meldet, sagen Sie ihm bitte, dass er mich dort vorn in dem Café findet.” Die Dame nickte. “Natürlich. Einen schönen Tag wünsch Ihnen noch.”

Anjali saß keine halbe Stunde im Café und trank einen Kaffee, als jemand sie ansprach. “Namaste! Sind Sie Anjali Kapoor?” Anjali schaute hoch und sah in das Gesicht eines älteren Mannes. Sie schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Sie nickte. “Ja, das bin ich.” Der Mann lächelte sie an. “Ich bin Amir. Bitte entschuldigen Sie die Verspätung! Aber nachdem der Stau vorbei war, hatte sich auch noch eine Kuh in den Weg gelegt.” Anjali musste lachen. “Oh ja, ich kann mich nur zu gut daran erinnern. Möchten Sie auch einen Kaffee bevor wir losfahren?” Amir schüttelte den Kopf. “Nein danke. Wir sollten so langsam aufbrechen. Sonst stehen wir wieder ewig im Stau.” Anjali nickte und gemeinsam gingen zu Amirs Wagen. Nachdem sie Anjalis Gepäck eingeladen hatten, fuhren sie los. Allerdings kamen sie nicht sehr weit, da in Mumbai mal wieder Stau war. Anjali bekam von alldem nicht viel mit. Sie war zu erschöpft und war eingeschlafen, sobald sie im Wagen gesessen hatte.

Nach knapp vier Stunden waren sie dann doch endlich in Dahanu angekommen. Amir weckte Anjali vorsichtig. “Miss? Wir sind da!” Verschlafen rieb Anjali sich die Augen und schaute sich um. Sie waren an einem kleinen Häuschen angekommen, was sehr gemütlich aussah. Amir half Anjali, ihr Gepäck ins Haus zu bringen. “Ich habe Ihnen ein paar Lebensmittel und Getränke in den Kühlschrank gestellt. So müssten Sie ein zwei Tage überstehen. Meine Telefonnummer habe ich Ihnen neben das Telefon gelegt. Sie können mich zu jeder Tag- und Nachtzeit anrufen.” “Danke, das ist sehr nett von Ihnen.” bedankte sich Anjali und begleitete Amir zu seinem Wagen. Nachdem er gefahren war ging Anjali zurück ins Haus. Es war sehr gemütlich eingerichtet. Mr. Singh hatte Geschmack. Nachdem sie Mr. Singh und Rohan angerufen hatte ging sie auf die Terrasse, die man vom Wohnzimmer aus betreten konnte. Das Grundstück endete direkt am Meer. Anjali genoss die Aussicht auf die offene See. So langsam merkte sie, wie erledigt sie nach dem Flug war. Sie beschloss kurz zu duschen und dann ins Bett zu gehen. Morgen würde sie anfangen, nach Hrithik zu suchen.

Kapitel 19


In London saß Aman wieder in dem kleinen Park am Ufer der Themse. Neuerdings zog es ihn immer wieder dort hin. Diese Ruhe, die er ausstrahlte war so unglaublich beruhigend. Und ein wenig hoffte er auch, Anjali wieder zu treffen. Immerhin waren sie sich hier schon zweimal begegnet. Wie hieß es so schön? Aller guten Dinge sind drei. Doch er hatte sie jetzt schon ein paar Tage nicht gesehen. Genau so wie er Rohan oder Sanjana nicht mehr gesehen hatte. Er lachte bitter auf. Anjali vergnügte sich wahrscheinlich gerade irgendwo mit Rohan. Und Sanjana? Die wird sich wohl hinter ihren Büchern vergraben haben. Aman schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war eifersüchtig, dabei kannte er Anjali nicht. Dennoch kam sie ihm so vertraut vor.

Dazu kamen diese Träume, die er seit Kurzem hatte und die immer in Indien spielten. Außerdem fühlte er sich in London nicht besonders wohl. Vielleicht sollte er doch mal nach Indien fliegen. Vielleicht konnte er dort Anhaltspunkte für seine Vergangenheit finden. Er warf nachdenklich kleine Steine in den Fluss. Ja, er würde nach Indien fliegen. Er würde nach seinen Wurzeln suchen. Er hatte sich jetzt entschieden. Sollte er jemanden von seinen Reiseplänen erzählen? Aman warf einen weiteren Stein ins Wasser und beobachtete, wie dieser einige Male über die Wasseroberfläche sprang bevor er unterging. Nein, er würde einfach fahren. Es hatte sich auch sonst keiner weiter für ihn interessiert seit der Sache mit dem gemeinsamen Abend zu viert.

Währenddessen saßen Rohan und Sanjana im Noorjahan 2 und aßen zu Mittag. „Meinst Du, Anjali wird fündig?“ fragte Sanjana. Rohan zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe es für sie.“ Sanjana nickte während sie einen Schluck Rotwein trank. „Es wäre toll, wenn Aman sich wenigstens an seinen Freund erinnern könnte. Aber ich kann auch Anjalis Angst verstehen. Denn dann würde er sich auch an sie erinnern. Was meinst Du, wie er da reagieren würde?“ „Keine Ahnung. Aber ich wäre an seiner Stelle wohl auch nicht begeistert. Was hältst Du davon, wenn wir Aman einen kleinen Besuch abstatten? Wir haben ihn ja seit dem Abend im Club nicht mehr gesehen.“ Sanjana nickte begeistert. „Lass uns nach dem Essen gleich hinfahren. Mich würde nämlich auch brennend interessieren, was er den einen Abend von Anjali gewollt hat.“ Rohan musste lachen. „Neugierig bist Du ja wohl gar nicht?“ Sanjana steckte ihm frech die Zunge raus. „Nö, nicht neugierig. Ich weiß nur gern alles!“

Anjali war schon den ganzen Tag unterwegs und versuchte herauszufinden, wo Hrithik sich aufhielt. Doch wen sie in dem kleinen Ort auch fragte, niemand kannte einen Hrithik. Anjali war mittlerweile ziemlich genervt. In einem kleinen Straßencafé ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und ohrfeigte sich innerlich, nach Indien geflogen zu sein. Was für eine Schnapsidee das doch gewesen ist. “Kann ich Ihnen etwas bringen?” fragte sie ein junger Kellner. Anjali schaute den Kellner an. “Hrithik!” Der sah Anjali völlig entsetzt an. “Anjali! Was willst Du denn?” fragte er abweisend.

Hrithik und Anjali hatten sich das letzte Mal kurz vor Rahuls Unfall gesehen. Er hatte ihr bis heute nicht verziehen, dass sie nicht zu seiner Beisetzung gekommen war, auch wenn er ihre Beweggründe ein wenig nachvollziehen konnte. Und dann war sie auch noch aus Indien verschwunden. Was also wollte sie hier? Er hatte absolut keine Lust, sich mit ihr auseinanderzusetzen. “Ich muss mit dir reden!” sagte Anjali. Sie wusste, dass er nicht freiwillig mit ihr reden wollen würde. “Ich wüsste nicht, was wir miteinander zu bereden hätten.” gab er zurück. “Also willst Du was bestellen oder kann ich wieder an meine Arbeit gehen?”

Er hatte sich schon umgedreht und wollte wieder gehen als Anjali leise sagte. “Rahul lebt!” Anjali hatte so leise gesprochen, dass Hrithik sich nicht sicher war, ob er sie tatsächlich richtig verstanden hatte. “Was hast Du da gesagt?” fragte er nach. Anjali sah ihn an und Tränen liefen ihr über das Gesicht. “Rahul lebt!” Hrithik wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. “Bist Du dir sicher?” Anjali nickte. “Wo ist er? Ist er hier?” Anjali schüttelte den Kopf. “Nein. Er ist zur Zeit in London. Das alles ist eine längere Geschichte.” Hrithik nickte. “Okay. Lass uns heute Abend treffen. Wo wohnst Du?” Anjali wischte sich über das nasse Gesicht. “Unten in dem kleinen Haus direkt am Strand.” sagte sie bevor aufstand und den Heimweg antrat. “Ach Hrithik?” Hrithik drehte sich um und sah sie fragend an. “Danke!” Anjali lächelte ihn vorsichtig an. Hrithik nickte und lächelte zurück. “Bis heute Abend!” sagte er und ging wieder an seine Arbeit.

Zur selben Zeit saß Aman im Flieger nach Mumbai. Er war total nervös, weil er nicht wusste, was ihn dort erwartete. Außerdem wusste er nicht, wo er anfangen sollte zu suchen. Aber noch hatte er einen langen Flug vor sich und so beschloss er, ein wenig zu schlafen. Er schloss die Augen und kurz darauf war er auch schon im Reich der Träume.

Während Aman Indien immer näher kam, war Hrithik auf dem Weg zu Anjali. Er hatte sich nach ihrem Auftauchen heute kaum noch auf die Arbeit konzentrieren können. Es kam ihm vor, als würde er vor lauter Neugier bald platzen. Anjali hatte ihn vom Fenster aus kommen sehen und öffnete ihm schon die Tür bevor er überhaupt klingeln konnte. “Hallo Hrithik. Schön, dass Du gekommen bist. Lass uns raus auf die Terrasse setzen.” Hrithik folgte Anjali auf die Terrasse und setzte sich in einen der Sessel. “Möchtest Du auch einen Wein?” fragte Anjali. Hrithik nickte. “Ja gerne.” Anjali verschwand in der Küche und kam mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern zurück. Hrithik sah Anjali fragend an. “Jetzt erzähl schon. Wie kommt es, dass Rahul lebt?” Anjali holte tief Luft und fing an, die ganze Geschichte zu erzählen. Hrithik konnte zwischendurch immer nur den Kopf schütteln. Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Aber er freute sich auch, dass sein bester Freund noch am Leben war. “Und warum bist Du nun hier?” fragte er Anjali, nachdem sie mit ihrer Geschichte fertig war.

Anjali trank einen Schluck Wein und steckte sich eine Zigarette an. “Seit wann rauchst Du denn?” fragte Hrithik völlig entsetzt. Anjali schaute auf die Zigarette. “Nach Rahuls Tod habe ich damit angefangen. Dumme Angewohnheit. Ich hab es mir noch nicht abgewöhnen können!” Hrithik nickte. “Rahuls Marke. Verstehe. Du hattest es sicher nicht leicht in den vergangenen zwei Jahren.” Anjali nickte. “Ja, das war auch der Grund, warum ich Indien verlassen hatte.” Nach einer Weile sprach Anjali weiter. “Warum ich dich gesucht habe…Du warst… Du bist Rahuls bester Freund. Ihr kennt euch seit Kindertagen. Kannst Du nicht mit mir nach London kommen? Vielleicht erinnert er sich ja an dich?” Hrithik überlegte einen Moment, dann antwortete er. “In Ordnung. Ich komme mit. Aber gib mir zwei Tage, damit ich alles organisieren kann.” Anjali und Hrithik standen auf und gingen zur Tür. “Danke Hrithik.” sagte Anjali. Hrithik lächelte. “Kein Problem. Ich melde mich bei dir.” sagte er und ging langsam die drei Stufen runter. Er drehte sich um und sah Anjali an. “Anjali. Es tut mir leid, dass ich damals so reagiert habe. Ich habe es einfach lange Zeit nicht verstehen können. Kannst Du mir verzeihen?” Anjali lächelte. “Hrithik, ich habe es dir nie verübelt. Ich hätte an deiner Stelle wahrscheinlich genauso reagiert.” Hrithik verabschiedete sich und Anjali ging ins Haus um mit ihrem Chef zu telefonieren.

Kapitel 20


Die Stimme der Stewardess weckte Aman kurz vor dem Landeanflug auf Mumbai. “Sir. Bitte legen Sie den Sicherheitsgurt an. Wir landen in Kürze.” Aman nickte und folgte dem Wunsch der Stewardess. Er schob das Rollo vom Fenster hoch, so dass er auf Mumbai hinabschauen konnte. Der Flughafen kam immer näher und mit jedem Meter, den die Maschine näher dem indischen Boden kam, umso aufgeregter wurde Aman. Der Flieger landete sicher und Aman wurde mit den anderen Passagieren aus dem Flugzeug geschoben. Nachdem er sein Gepäck abgeholt hatte, trat er aus dem Terminal, um sich ein Taxi zu nehmen. Sofort schlugen ihm Indiens Wärme und Gerüche entgegen. Selbst hier vor dem Flughafengebäude war ein Trubel der seinesgleichen sucht.

Aman erwischte gerade noch ein Taxi und sprang hinein. “Zum New Bengal bitte.” sagte er zum Fahrer, der sofort losfuhr. Aman schaute während der Fahrt aus dem Fenster. So viele Eindrücke stürzten auf ihn ein - die typisch indische Musik aus dem Autoradio, die Gerüche aus den vielen kleinen Restaurants und von den Gewürzmärkten, die bunten Farben, das Treiben in den Straßen. Aman fühlte sich überfordert und bekam Kopfschmerzen. Er konnte das alles nicht so schnell verarbeiten. Nach einer relativ kurzen Fahrt waren sie an dem Hotel angekommen. Der Fahrer half Aman noch die Koffer aus dem Wagen zu laden und verschwand sofort, nachdem Aman ihn bezahlt hatte.

Aman checkte in dem kleinen Zwei-Sterne Cityhotel ein. Sein Zimmer war extrem klein, aber das störte ihn nicht weiter. Er würde hier eh nur zum schlafen herkommen. Das Zimmer war günstig und die Einrichtung war zweckmäßig. Ein Bett, eine kleine Couch, ein Schreibtisch, Schrank, Fernseher und ein kleines Bad. Es reichte ihm vollkommen aus. Aman packte rasch seine Koffer aus, was bei ihm bedeutete, er riss den Schrank auf und schmiss seine Klamotten so wie sie kamen hinein. Anschließend ging er duschen. Das Wasser tat gut nach dem langen Flug und der Wärme. Aber an seiner Müdigkeit änderte das nicht viel und so fiel er erschöpft auf sein Bett und schlief sofort ein.

In London waren Sanjana und Rohan auf dem Weg zu Aman. Sie waren nach dem Mittagessen noch eine Weile spazieren und wollten nun Aman besuchen. Doch vor seiner Wohnung angekommen klingelten sie vergeblich. Niemand öffnete die Tür. “Das ist seltsam.” meinte Sanjana. “Um diese Zeit ist er sonst immer zu Hause.” Rohan klingelte noch einmal. “Was machen wir nun?” Sanjana zuckte mit den Schultern. “Ich weiß auch nicht.” In diesem Moment ging die Haustür auf und eine ältere Dame kam heraus. Rohan hielt die Tür auf und die beiden gingen ins Haus. Rohan klopfte an Amans Wohnungstür. Doch so sehr er auch lauschte, er konnte kein Geräusch aus der Wohnung vernehmen. Sanjana ging zu Amans Briefkasten und fingerte ein paar Briefe heraus. “Was machst Du denn?” wollte Rohan wissen. “Du kannst doch nicht einfach an seine Post gehen!” “Was sollen wir denn sonst machen? Ich will wissen, wo Aman steckt.” Sanjana ging die Briefe durch. “Hier schau mal! Post von einem Reisebüro!” Sanjana riss den Brief auf und wollte gerade anfangen zu lesen, als Rohan ihr den Brief wegnahm. “Bist Du wahnsinnig? Wenn uns hier jemand erwischt? Los tu die anderen Briefe zurück und dann lass uns in den Park gehen.” Sanjana nickte und zehn Minuten später saßen die beiden auf einer Bank im Park. “Na los, nun sag schon, was in dem Brief steht!” drängte Sanjana Rohan, der den Brief gerade las. “So ein Mist. Wir müssen Anjali Bescheid geben. Sie muss in Indien bleiben!” Sanjana schaute Rohan fragend an. “Häh? Wieso denn das?” “Aman ist in Indien! Das ist eine Buchungsbestätigung seines Hotels in Mumbai!” “Was macht er denn da?” fragte Sanjana. “Ich weiß es doch auch nicht!” gab Rohan zurück. “Wir müssen nach Hause und sofort Anjali Bescheid geben. Wann wollte sie zurück kommen?” Sanjana überlegte kurz. “Morgen früh geht ihr Flieger. Oh Mann, das wird knapp.” Jetzt war es an Rohan, fragend zu schauen. Sanjana musste lachen. “Wegen der Zeitverschiebung! Die sind uns in Indien fast sechs Stunden voraus!”

Aman schlief tief und traumlos aber unruhig. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Nachdem er wach geworden war, brauchte er einen Moment, um sich zu orientieren, wo er war. Dann fiel es ihm wieder ein. Er war in einem kleinen Hotelzimmer in Mumbai. Er setzte sich im Bett auf und merkte, wie sich sein Magen Gehör verschaffte. Seit er in London los geflogen war, hatte er nichts mehr gegessen. Zu nervös war er gewesen. Er tapste ins Bad und schaute in den Spiegel und musste lachen.

Sein dichtes schwarzes Haar sah aus, als hätte er neben einer Steckdose geschlafen. Er hätte doch nicht mit nassen Haaren ins Bett gehen sollen. Der Versuch, seine Haare mit dem Kamm wieder zu bändigen, scheiterte kläglich. Und so würde er im Leben nicht aus dem Haus gehen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sie beim Duschen gleich noch einmal zu waschen. Nach einer geschlagenen Stunde war Aman dann endlich mit seinem Spiegelbild zufrieden. Aber nun brauchte er dringend etwas zu essen. Im hoteleigenen Restaurant aß er zu Mittag und überlegte, wo er mit seiner Suche beginnen sollte.

Zur selben Zeit packte Anjali ihre Sachen wieder zusammen. Wenn sie gewusst hätte, dass sie Hrithik soll schnell finden würde, hätte sie gar nicht erst alles auspacken brauchen. Sie ging das Haus noch mal ab und vergewisserte sich, dass alle Fenster geschlossen waren. Es hupte. Hrithik war mehr als pünktlich. Das musste er auch, wenn sie rechtzeitig zum Flughafen kommen wollten. Sie schloss die Tür ab und Hrithik lud ihr Gepäck in seinen Wagen. Da sie es eilig hatten, fuhren sie ohne große Verzögerungen los. Anjali hörte nicht mehr, dass im Haus das Telefon klingelte.

Rohan ließ das Telefon gefühlte tausend Mal klingeln, doch niemand nahm ab. “Oh Mann, das darf doch nicht wahr sein!” sagte er und schaute Sanjana an, die gespannt neben ihm stand. “Was machen wir denn jetzt?” “Ruf mal ihren Chef an. Vielleicht weiß der ja, wie wir Anjali noch erreichen können.” Rohan nickte und wählte die Nummer von Mr. Singh. Nachdem er ihm kurz geschildert hatte, worum es ging, versprach dieser zu versuchen, Anjali zu erreichen. Rohan und Sanjana konnten jetzt nur warten.

Unterdessen rief Mr. Singh bei Amir an, dass er bei Anjali vorbeischauen sollte. Eine Stunde später rief Amir bei Mr. Singh an und teilte ihm mit, dass Anjali abgereist war. Sofort rief Mr. Singh bei Rohan an und teilte ihm die Neuigkeiten mit. “Danke Mr. Singh!” verabschiedete sich Rohan und schaute Sanjana an. “Was ist? Haben sie Anjali gefunden?” Rohan schüttelte den Kopf. “Nein, sie ist schon abgereist! Was machen wir denn jetzt? Anjali kommt mit Hrithik nach London! Was glaubst Du, wie sie reagiert, wenn wir ihr sagen, dass Aman… ich meine Rahul in Mumbai ist?” Sanjana setzte sich auf das Sofa und streichelte Dev. “Lass mich einen Moment nachdenken. Mir wird schon was einfallen.”

Aman lief derweil durch Mumbais Straßen. Er war auf dem Weg zum Zivilstandesamt, um etwas über seine Familie herauszufinden. Er wartete fast drei Stunden, nur um die Auskunft zu bekommen, dass er keine Familie mehr hatte. Aman kam etwas genervt aus dem Gebäude und setzte sich auf die Treppe. Er musste sich erstmal eine Zigarette anstecken.

Super! Nun war er wieder genau da, wo er angefangen hatte. Nämlich bei null. Wo sollte er jetzt weiter suchen? Es war ja nicht so, dass Mumbai ein überschaubares Städtchen gewesen wäre. Aber für heute hatte er die Nase voll. Aman hatte es nicht eilig, zum Hotel zurückzukommen und so schlenderte er durch die ganzen kleinen Gassen und blieb auf den vielen kleinen und großen Märkten hängen. Er hatte wieder richtig gute Laune und fühlte sich wohl. Aman lächelte vor sich hin. Ja, so musste es sich anfühlen, wenn man heim kam.

Kapitel 21


Anjali und Hrithik waren noch gerade rechtzeitig am Flughafen angekommen. Schnell luden sie ihr Gepäck aus und eilten zum Check-In. Die Dame am Tresen schaute etwas pikiert. “Also jetzt beeilen Sie sich bitte! Wir werden wegen Ihnen das Flugzeug nicht aufhalten!” Die beiden nickten und eilten zum Flugzeug. Völlig außer Atem liefen sie die Gangway hinunter und eilten an der Stewardess vorbei in den Flieger. “Setzen Sie sich bitte gleich und schnallen Sie sich an!“ sagte die Stewardess freundlich aber bestimmt und schloss hinter ihnen die Tür. Schnell verstauten sie ihr Handgepäck und ließen sich auf die Sitze fallen. “Puh…” schnaufte Anjali. “Das war knapp! Aber jetzt kann es ja losgehen!” Hrithik nickte. “Ich freue mich tierisch darauf, Rahul wieder zu sehen.” Das Flugzeug setzte sich langsam in Bewegung und rollte auf die Startbahn.

Sanjana sprang von der Couch auf. “Ich hab’s!” rief sie und schaute Rohan. “Was? Was hast Du?” fragte er. “Ich weiß, wie wir sie erreichen können!” Rohan verdrehte die Augen. “Das war mir klar! Ich meinte, was ist dir eingefallen?” Sanjana spang im Zimmer umher. “Wir rufen am Flughafen an!” Rohan sah sie fragend an. “Und wie soll uns der Flughafen in London weiterhelfen können?” Sanjana blieb stehen und fing an zu lachen. “Was ist?” Rohan verstand gar nichts mehr. “Mann, Du Dummerchen! Ich meinte den Flughafen in Mumbai natürlich!” Jetzt musste auch Rohan lachen und eilte zum Telefon. “Vermittlung? … Ja, verbinden Sie mich bitte mit dem Flughafen in Mumbai. Bitte? Ja, jetzt natürlich. Danke!” Rohan schaute zu Sanjana, die ganz dicht neben ihm stand und ihr Ohr mit an den Hörer presste.

Rohan wartete ungeduldig darauf, dass er mit dem Flughafen in Mumbai verbunden wurde. “Hallo? Ja, Rai hier! Hören Sie, ich muss ganz dringend mit Anjali Kapoor sprechen! Sie wollte heute mit dem Flieger nach London! Es ist sehr dringend! Können Sie sie bitte ausrufen lassen?” Rohan wartete einen Moment, da die Dame am anderen Ende in ihrem Computer nachschauen musste. “Ja, ich bin noch dran! Bitte? Das Flugzeug ist schon auf dem Rollfeld und sie hat auch eingecheckt?” Sanjana riss ihm den Telefonhörer aus der Hand. “Hallo? Ja, hören Sie! Sie müssen das Flugzeug aufhalten. Es geht hier um Leben oder Tod!” Die Frau am anderen Ende erwiderte etwas. Sanjana stampfte mit dem Fuß auf. “Ja, ich weiß auch, dass das nicht so einfach geht. Aber ich verspreche Ihnen, wenn Sie das Flugzeug nicht aufhalten, wird es Ihnen noch leid tun!”

Wieder verging ein Moment und Sanjanas Gesicht entspannte sich etwas. “Danke, vielen Dank! Sie haben jemanden das Leben gerettet! Sagen Sie Miss Kapoor, dass sie umgehend bei Rohan Rai anrufen soll!” Sanjana legte den Hörer auf und drehte sich langsam zu Rohan um, der sie gespannt ansah. Mit einem Aufschrei der Erleichterung sprang sie ihm in die Arme. “Geschafft! Sie halten das Flugzeug an und holen Anjali da raus!” Rohan schüttelte fassungslos den Kopf. “Mit dir habe ich ja einen Fang gemacht!” lachte er. “Was, wenn die Anjali fragen, um was es ging? Mensch, sie wird Strafe zahlen müssen!” Sanjana winkte lachend ab. “Teurer wie die Flugtickets kann’s nicht werden. Jetzt müssen wir nur noch warten, dass sie anruft.” Erleichtert ließen die beiden sich auf das Sofa fallen und hatten das Telefon fest im Blick.

Anjali und Hrithik saßen nichts ahnend im Flugzeug, als die Stewardess eine Durchsage machte. “Sehr geehrte Fluggäste! Aufgrund einer wichtigen Angelegenheit wird sich der Start um einige Minuten verzögern.” Anjali und Hrithik schauten sich an und zuckten beide mit den Schultern. Das Flugzeug rollte wieder zur Gangway zurück und die Stewardess kam auf die beiden zu. “Miss Kapoor?” Anjali nickte. “Ja?” “Wir haben einen Anruf erhalten, dass Sie unbedingt am Boden bleiben sollen. Ein Herr Rohan Rai hat angerufen und gesagt, es ginge um Leben oder Tod. Sie möchten ihn nach dem Aussteigen bitte umgehend anrufen!” Anjali schaute die Stewardess fragend an. “Tut mir leid. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen!” fügte diese hinzu. “Bitte nehmen Sie jetzt Ihr Gepäck und verlassen das Flugzeug, damit sich der Start nicht zu weit verschiebt.” Anjali nickte und sie und Hrithik nahmen ihre Sachen und verließen das Flugzeug.

Sie sagten beide kein Wort und verließen so schnell und unauffällig wie möglich das Flughafengebäude. Draußen suchte Anjali nach einem Telefon, konnte aber keines finden. “Hier nimm meins!” sagte Hrithik und hielt ihr sein Handy hin. “Los ruf an! Es muss ja mehr als dringend sein!” Anjali nickte und tippte zitternd Rohans Nummer ein. Was konnte bloß passiert sein? Hatte Aman sich erinnert, dass er Rahul war? Oder war ihm vielleicht etwas zugestoßen?
Nach einem kurzen Klingeln hatte Anjali Rohan am Telefon. “Rohan! Was ist denn los? Was ist passiert?” rief Anjali aufgeregt in den Telefonhörer. Rohan musste sich ein Lachen verkneifen. “Ganz ruhig Anjali! Beruhig dich. Es ist nichts Schlimmes passiert!” Anjali schaute irritiert zu Hrithik, der nur die Schultern zuckte, weil er nicht wusste, um was es ging. “Aman… ich meine Rahul! Er ist in Indien! Er ist in Mumbai im New Bengal Hotel!” Anjali traute ihren Ohren nicht. “Er ist hier? Hier in Mumbai? Oh mein Gott! Danke Rohan!” Sie legte auf und gab Hrithik das Handy zurück. “Was ist los?” wollte dieser wissen. Anjali zuckte mit den Schultern. “Rahul, er ist hier in Mumbai! Ich weiß nur nicht, warum!” Anjali war so geplättet, dass sie sich auf ihren Koffer sinken ließ. “Das war ja dann mehr als knapp!” sagte sie zu Hrithik.

“Was machen wir jetzt?” wollte Hrithik von Anjali wissen. Anjali überlegte. “Rohan sagte, dass Rahul im New Bengal oder so ähnlich abgestiegen ist.” Hrithik nickte. “Das kenne ich. Ist nicht allzu weit von hier! Wollen wir hinfahren? Dann hole ich das Auto.” Anjali nickte und Hrithik machte sich auf den Weg, sein Auto zu holen. Anjali saß im Auto und war angespannt. Was sollte sie Rahul sagen, was sie hier in Indien und dann noch ausgerechnet in seinem Hotel machte? Dass das kein Zufall sein konnte, würde er doch sofort merken. Kurz darauf waren sie auch schon am Hotel angekommen. Hrithik wollte gerade aussteigen, als Anjali ihn am Arm festhielt.

Auf seinen fragenden Blick antwortete sie “Ich kann nicht.” Hrithik setzte sich wieder richtig hin und schaute Anjali an. “Was kannst Du nicht?” Anjali schaute aus dem Fenster. “Ich kann nicht in dieses Hotel gehen. Was soll ich denn sagen, wenn wir auf Rahul treffen?” Hrithik atmete tief ein. “Und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt machen?” wollte er von Anjali wissen. Die sah beinah verzweifelt Hrithik an. “Ich weiß es nicht!” sagte sie traurig. “Ich hab so eine Angst vor seiner Reaktion!” Sie sah in den Seitenspiegel und rutschte plötzlich in ihrem Sitz tiefer und drehte sich weg. Hrithik sah sie verwirrt an. “Was ist denn jetzt los?” “Da ist er! Er läuft dort hinten!” Hrithik drehte sich um und sah Rahul auf das Hotel zukommen. Kurz entschlossen stieg er aus und ließ die völlig entsetzte Anjali im Auto zurück. Anjali blieb fast das Herz stehen, als sie sah, dass Hrithik genau auf Rahul zusteuerte.

Kapitel 22


Während Hrithik langsam auf Rahul zuging, wusste er nicht, wie er ihn ansprechen sollte. Rahul betrat das Hotel und Hrithik folgte ihm. Im Foyer sah er Rahul in Richtung des Restaurants gehen. Er überlegte, was er machen sollte und entschied sich, ein Zimmer in diesem Hotel zu nehmen. Anjali würde er im Hotel gegenüber einquartieren. Er checkte im Hotel ein und ging zurück zum Wagen, in dem Anjali wartete, deren Nerven zum Zerreißen gespannt war. Hrithik stieg in den Wagen. “Was ist passiert? Los, sag schon!” Anjali konnte die Spannung kaum aushalten.

Hrithik versuchte sie zu beruhigen. “Noch ist gar nichts passiert. Rahul ist in das Hotel-Restaurant gegangen. Ich habe mir ein Zimmer in dem Hotel genommen. Und Du nimmst dir eines in dem Hotel gegenüber. So läufst Du weniger Gefahr, ihm in die Arme zu laufen. Erstmal zumindest. Ich versuche, irgendwie Kontakt zu ihm aufzubauen.” Anjali schaute skeptisch, sah aber ein, dass das momentan die beste Idee war. Auch um Rahul nicht ganz so zu überfahren. Sie nickte. “Gut, dann machen wir das so.” Sie stiegen aus und bevor Anjali in das andere Hotel ging, gab Hrithik ihr noch die Telefonnummer seines Zimmers. “Damit wir uns austauschen können. Wir treffen uns morgen wieder. Ruh dich ein bisschen aus.” sagte er. Anjali nickte und verschwand im Hotel. Hrithik stand noch einen Moment am Auto und überlegte, wie er am geschicktesten Kontakt zu Rahul herstellen konnte. Aber erstmal hatte er Hunger und so begab er sich ebenfalls ins Hotel-Restaurant.

Anjali war mittlerweile in ihrem Hotelzimmer angekommen. Sie setzte sich aufs Bett und dachte nach. Ob es wirklich so eine gute Idee war, Hrithik vorzuschicken? Sie bekam langsam Zweifel an dem Plan. Wenn er sich an Hrithik erinnern würde, würde er sich sicher auch an sie erinnern. Und dann? Ihre Gedanken kreisten immer um den Moment, an dem er sich erinnern würde. Wenn er sich denn erinnern würde. Was sollte sie tun, wenn er sich nicht erinnern würde? Ob er sich trotzdem wieder in sie verlieben würde? Anjali wanderte unruhig im Zimmer auf ab und betrat schließlich den Balkon.

Sie konnte genau auf das Hotel blicken, in dem Rahul und Hrithik abgestiegen waren. Warum hatte Hrithik sich noch nicht gemeldet? Ach richtig, er kannte die Nummer ja noch gar nicht. Anjali lief wieder ins Zimmer zurück und wählte Hrithiks Nummer. Doch niemand ging ans Telefon. Verdammt! Wo war er nur? Anjali ging wieder auf den Balkon zurück, doch sie hatte keine Ruhe. Sie musste raus und so beschloss sie, ein wenig spazieren zu gehen. Nicht weit von hier war ein Park. Vielleicht konnte sie dort ein wenig abschalten.

Hrithik war inzwischen im Restaurant angekommen und sah sich nach einem freien Platz um. Das Restaurant war ziemlich voll und er konnte nur noch einen freien Platz ausmachen. Hrithik ging zu dem Tisch. “Ist hier noch frei?” fragte er. Aman sah nach oben und Hrithik an. “Ja sicher. Setzen Sie sich!” “Danke!” Hrithik setzte sich und bestellte sich etwas zu essen. Rahul schien ihn nicht weiter zu beachten, er war vertieft in einen Zeitungsartikel. Hrithik sah auf die Zeitung und bemerkte, dass die schon zwei Jahre alt war. “Lesen Sie immer die Zeitungen von vor zwei Jahren?” fragte er Rahul. “Bitte? Ach so. Nein, ich versuche nur, etwas zu recherchieren.” Hrithik nickte. “Darf man fragen, was Sie recherchieren?” wollte er nun wissen. Rahul schaute ihn an und Hrithik konnte seinen Blick nicht wirklich deuten. “Ist was persönliches.” Damit war das Gespräch für Rahul beendet und kurz darauf ging er auch schon. Hrithik seufzte. Das war ja super gelaufen. Er musste Rahul auf dem völlig falschen Fuß erwischt haben.

Aman war in seinem Zimmer angekommen und schmiss die Zeitung in die Ecke. Die hatte ihm auch nicht weitergeholfen. Er hatte gehofft, irgendwo einen Hinweis auf den Unfall zu finden. Aber Fehlanzeige. Er schmiss sich aufs Bett und starrte an die Decke. Und was war das für ein Typ eben im Restaurant gewesen? Neugierig war der ja wohl gar nicht. Aber irgendwie kam ihm das Gesicht auch bekannt vor. Ob er ihn wohl mal fragen sollte, ob sie sich kennen? Er wischte den Gedanken beiseite. Was sollte er ihm denn sagen? Aman setzte sich auf und fuhr sich durchs Haar. Er brauchte jetzt dringend frische Luft. War da nicht ein Park ein oder zwei Straßen weiter? Er machte sich auf den Weg. Nach ein paar Minuten war er auch im Park angekommen. Wie ruhig es hier doch war. Man konnte sich nicht vorstellen, dass nebenan eine Millionenstadt pulsierte. Langsam schlenderte er durch den Park. Die frische Luft tat ihm gut. Er fühlte sich schon viel besser. Er war an einem kleinen See angekommen, der etwas versteckt hinter hohen Büschen lag. Er stand einen Moment lang unter einem schattigen Baum und sein Blick ruhte auf dem Wasser. Sein Blick wanderte weiter über das Ufer und plötzlich blieb sein Blick hängen. Das konnte doch nicht sein! Er musste sich irren! Langsam ging er vorwärts und blieb wieder stehen. Nein, er hatte sich nicht geirrt!

Anjali genoss die Ruhe, die der Park ausstrahlte und saß am Ufer des kleines Sees. Immer noch grübelte sie, wie sie Rahul gegenübertreten sollte. Sie hatte einfach nur Angst. Auch, weil sie ihm nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt hatte. Sie merkte nicht, dass jemand hinter sie getreten war.

“Anjali?” Sie schrak auf und fuhr herum. Da stand er und schaute sie fragend an. Sie war aufgesprungen und stand nun direkt vor ihm. “Was machst Du hier in Mumbai?” wollte Rahul wissen. Anjali konnte direkt in seine Augen sehen. Sie schauten sie fragend an, aber sie konnte auch Freude in ihnen erkennen. Sie senkte den Blick, sie wusste, dass sie ihm jetzt alles sagen musste. “Ich habe dich gesucht.” sagte sie leise und starrte immer noch den Boden an. Rahul wusste nicht, was er davon halten sollte, aber sein Herz machte einen freudigen Hüpfer. Anjali hingegen konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fühlte sich so mies. Rahul sah sie bestürzt an. Was war nur mit ihr? Es zerriss ihm das Herz. Er konnte sie nicht leiden sehen. “Anjali! Was hast Du?” er legte seine Hände auf ihre Oberarme. Anjali schaute ihn mit tränengefüllten Augen an. “Ich…ich…” stotterte sie. “Sh…” machte Rahul und legte ihr einen Finger auf die Lippen. Sie schaute ihn fragend an. Sie musste ihm doch sagen, was los war. Warum ließ er sie nicht?

Rahul war ihrem Gesicht jetzt gefährlich nahe gekommen und legte seine Stirn an ihre und schaute ihr in die Augen. Anjali weinte noch immer, aber sie war schon wieder dabei, in seinen braunen Augen zu versinken, die sie so liebevoll ansahen. Sie spürte seinen Atem auf ihren Lippen und schloss automatisch die Augen. Rahul lächelte, als er sah, wie sie ihre Augen schloss. Er zog Anjali näher an sich heran und legte seine Lippen sanft auf ihre. Sie schmeckten von Anjalis Tränen etwas salzig, aber sie erwiderte seinen Kuss. Anjali wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Sie hatte sich so lange nach ihm gesehnt und doch fühlte sie sich mies.

Plötzlich löste sich Rahul von ihr und schaute sie komisch an. Anjali konnte seinen Blick nicht deuten. Was hatte das zu bedeuten? Rahul drehte sich um und in seinem Kopf raste es. Anjali! Jetzt wusste er, warum sie ihm so bekannt vorkam. Warum er sich so schnell in sie verliebt hatte. Und dieser Typ heute im Restaurant! Das war Hrithik, sein bester Freund. Ihm fiel alles wieder ein. Doch eine Frage lies ihn nicht los. Er drehte sich wieder zu Anjali. Die stand vor ihm und schaute ihn immer noch fragend an. “Aman…” fing sie unsicher an. Doch Rahul hob die Hand und drehte seinen Kopf zur Seite. Anjali verstummte. Sie fing jetzt an zu zittern. Was hatte das zu bedeuten? Wieder liefen ihr Tränen über das Gesicht. Rahul schaute sie nicht an und versuchte krampfhaft, seine Beherrschung nicht zu verlieren.

Anjali machte unsicher einen Schritt auf ihn zu. Doch als sie seinen Blick sah, blieb sie abrupt stehen. Rahul schaute ihr fest in die Augen. Sein Blick war kalt und undurchdringlich. Sie konnte nichts mehr von der Liebe in ihnen entdecken, die sie noch vor ein paar Minuten in seinen Augen gesehen hatte. Rahul sah die Angst in ihren Augen, doch leid tat sie ihm im Augenblick nicht.

“Geh!” sagte er. Anjali schaute ihn geschockt an. Was war denn los? Seine Stimme war eiskalt. Wieder versuchte sie, auf ihn zuzugehen, doch er sah sie nur kalt an. “Geh! Hau ab!” schrie er ihr beinahe entgegen. Anjali zuckte zusammen und rannte los. Ihr liefen die Tränen wie Sturzbäche über das Gesicht. Sie hatte begriffen, dass er sich wieder erinnerte. Und ihr größte Angst hatte sich bestätigt. Was hatte sie nur getan? Sie lief wie von Sinnen, als sie mit jemanden zusammenprallte. Sie sackte weinend zusammen.

Kapitel 23


“Anjali! Heh! Was ist denn los?” Anjali schaute auf und sah Sanjana, die sich besorgt vor sie hin gehockt hatte. Anjali konnte nichts sagen und fiel Sanjana weinend um Hals. Sanjana hielt sie fest. Was war nur passiert? Aber hier konnten sie nicht hocken bleiben. Mitten auf der Straße. Vorsichtig zog sie Anjali hoch und sah Rohan an, der auf die beiden zukam. “Was ist denn passiert? Anjali?” Anjali reagierte nicht und Sanjana konnte nur mit den Schultern zucken. “Keine Ahnung. Sie hat mich umgerannt und ist dann zusammengebrochen. Bringen wir sie ins Hotel.” Rohan nickte und hob Anjali auf seine Arme, da ihr ständig die Beine nachgaben. Anjali klammerte sich sofort an seinem Hals fest und weinte hemmungslos. Bestürzt schaute Rohan zu Sanjana, die neben ihm herging. In ihrem Zimmer legte er Anjali aufs Bett und legte eine leichte Decke über sie. Anjali war eingeschlafen, aber immer noch liefen ihr Tränen übers Gesicht. Sanjana und Rohan standen auf dem Balkon und unterhielten sich leise. Sie waren beide sehr betroffen, hatten sie sich doch so darauf gefreut, Anjali zu besuchen. Sanjana schmiegte sich an Rohan, der seine Arme fest um sie legte. Ihr wurde bewusst, was für ein unglaubliches Glück sie hatte, dass Rohan sie liebte.

Rahul stand immer noch auf der selben Stelle und starrte auf das Wasser. Seine Hände waren zur Faust geballt und sein Gesicht war wie versteinert. In seinem Kopf raste es! Anjali war seine Verlobte! Er bekam eine Gänsehaut bei diesem Gedanken und seine Augen füllten sich mit Tränen. Doch warum hatte sie ihm nicht gesagt, was los war? Liebte sie ihn denn nicht mehr? Ihm fiel ein, dass er Rohan bei ihr angetroffen hatte! Eifersucht stieg in ihm auf. Und was machte sie in Indien? Was machte Hrithik hier? Das konnte doch kein Zufall sein, dass beide zusammen in Mumbai waren. Was wurde hier gespielt? Wahrscheinlich lachten die sich jetzt ins Fäustchen, dass sie ihn so lange an der Nase herumgeführt hatten! Ach was, verarscht hatten sie ihn. Alle miteinander! Rohan, Sanjana, Hrithik und allen voran Anjali!

Er lachte bitter auf. Na klar, in London hatte sie was mit Rohan laufen und hier in Indien mit Hrithik! Und ihn wollte sie wahrscheinlich nur für zwischendurch. Frei nach dem Motto, der Trottel weiß ja eh von nichts mehr. Mit dem kann man es ja machen. Aber nicht mit ihm! Er ballte seine Faust so sehr, dass die Knöchel weiß hervortraten und schlug mit einem Aufschrei gegen den Baum. Immer und immer wieder. Er war wie von Sinnen und merkte nicht, dass seine Knöchel mittlerweile bluteten. Er war wütend und enttäuscht. Die Tränen liefen ihm nur so übers Gesicht. Warum? Warum hatte sie ihm das angetan? Diese Frage schoss ihm wieder und wieder durch den Kopf. Doch er bekam keine Antwort. Irgendwann sank er erschöpft auf die Knie und stützte sich mit den Händen am Boden ab. Er wollte schreien, doch es kam kein Ton über seine Lippen. Es wurde schon dunkel, als Rahul langsam den Park wieder verließ.

Hrithik machte sich Sorgen um Anjali. Er hatte den ganzen Tag nichts von ihr gehört, obwohl sie ihn anrufen wollte. Er ging in ihr Hotel und klopfte an ihre Zimmertür. Sanjana öffnete die Tür und sah ihn an. Hrithik war etwas irritiert. “Entschuldigung! Ich muss mich im Zimmer geirrt haben.” “Du musst Hrithik sein!” sagte Sanjana und lachte den sie verdutzt schauenden Hrithik an. “Ähm…ja, der bin ich. Kennen wir uns denn?” Sanjana legte den Finger auf die Lippen. ”Psst…nicht so laut.” sagte sie und zog Hrithik in das Zimmer. Er sah Anjali, die völlig verweint auf dem Bett lag und schlief. “Aber was…?” wollte er anfangen, als Sanjana wieder “Psst!” machte und ihn auf den Balkon schob. Sanjana schloss die Tür hinter sich.

“Was ist denn los mit Anjali? Und wer seid ihr?” Hrithik setzte sich auf einen Stuhl und schaute Rohan und Sanjana fragend an. “Wir sind Rohan und Sanjana. Freunde von Anjali und Rahul aus London.” Hrithik nickte. “Wir wissen auch nicht, was Anjali hat. Sie hat mich auf der Straße völlig aufgelöst umgerannt und ist dann regelrecht zusammengebrochen. Rohan hat sie dann hergetragen und sie sofort eingeschlafen. Wir hatten gedacht, dass Du vielleicht wüsstest, was vorgefallen ist.” Hrithik schüttelte mit dem Kopf. “Nein, ich kann euch leider auch nicht weiterhelfen.”

Rahul war inzwischen im Hotel angekommen. Immer noch wollte nicht in seinen Kopf, warum ihm niemand etwas gesagt hatte. Warum hatte ihn alle in dem Glauben gelassen, dass er Aman wäre? Er verstand die Welt nicht mehr. Er ging unter die Dusche und ließ lange das heiße Wasser über seinen Körper laufen. Er dachte an den Kuss. Anjali hatte ihn doch erwidert und er hatte eigentlich das Gefühl gehabt, dass sie es ernst gemeint hatte. Konnte er sich so getäuscht haben? Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüfte und ging zum Schrank. Er konnte nicht in dem Zimmer sitzen bleiben. Er würde wahnsinnig werden. Er griff eine enge blaue Jeans und ein schwarzes Hemd und zog die Sachen an. Er schaute noch mal prüfend in den Spiegel, nickte zufrieden und verließ das Zimmer.

Als Anjali aufwachte, war es bereits dunkel. Sie schaute sich um. Wie war sie wieder in ihr Zimmer gekommen? Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierher gekommen war. Plötzlich hörte sie leise Stimmen. Sie sah in die Richtung, aus der sie kamen. Sie sah, dass Rohan, Sanjana und Hrithik auf dem Balkon saßen und unterhielten sich. Anjali stand auf und ging zur Balkontür. Hrithik hatte sie schon entdeckt und riss die Tür auf. “Anjali! Wie geht es dir? Was ist passiert?” Sanjana war aufgestanden und hatte Anjali auf den Stuhl gesetzt und gab ihr ein Glas Wein. Anjali standen schon wieder Tränen in den Augen. “Es ist vorbei! Alles aus und vorbei!” schluchzte sie. Die anderen schauten sich fragend an. “Süße, was ist denn nur passiert?” fragte Sanjana besorgt. “Rahul kann sich wieder erinnern!” brachte Anjali unter Tränen hervor. Langsam erzählte sie den anderen, was im Park passiert war. “Scheiße…!” war alles was Hrithik sagen konnte. Anjali nickte. “Das kannst Du laut sagen! Was machen wir denn jetzt?” Wieder kamen ihr die Tränen und die anderen schauten sich ratlos an.

Rahul war in einem der vielen Clubs in Mumbai gelandet. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu Anjali und dem Kuss. Und an den Moment, in dem ihm alles wieder einfiel. Als ihm wieder einfiel, dass er mit Anjali verlobt war. Das sie sich gestritten hatten, weil sie sich nicht auf ein Essen für die Hochzeit einigen konnten. Wie er aus dem Haus gestürmt, auf seine Maschine gestiegen und wie ein Irrer davon gerast war. Er erinnerte sich, dass auf einmal dieser Wagen vor ihm scharf bremste und er keine Chance mehr zum ausweichen hatte. Wie er ungebremst auf den Wagen aufprallte und alles um ihn schwarz wurde.

Er saß an der Bar und trank einen Whiskey nach dem anderen. Er wollte einfach nur für einen Moment seinen Schmerz und die Enttäuschung vergessen. Er schaute sich um. Überall saßen und tanzten Pärchen. Es war wie verflucht. Er nahm sich eine Zigarette und wollte sie sich gerade anstecken, als ihm jemand Feuer hinhielt. Er schaute auf die Hand, die ihm das Feuer anbot. Sie gehörte zu einer Frau. Er zündete sich die Zigarette an und schaute sie an.

Eine zierliche Frau mit langen gelockten Haaren lächelte ihn an. “Hi, ich bin Seema.” stellte sie sich ungefragt vor. Rahul schaute sie an. Sie hatte ein viel zu kurzes Kleid mit viel zu tiefem Dekollete an, was mehr zeigte als verdeckte. Er drehte sich wieder zur Bar. Auf so was hatte er ja nun überhaupt keine Lust. Er trank einen weiteren Whiskey und zog an seiner Zigarette. Seema hatte sich dicht neben ihn gesetzt. “Schwerer Tag?” fragte sie ihn mit einem Blick auf die vielen Whiskeygläser, die vor ihm auf dem Tresen standen. Rahul nickte und zog wieder an seiner Zigarette. “Scheiß Tag!” sagte er während er den Rauch langsam ausstieß. “Dann hast Du ja Glück, dass Du mich getroffen hast!” sagte Seema und schmiss sich in Pose. Rahul beachtete sie nicht weiter. Es war ihm ziemlich egal, ob sie da war oder nicht.

Kapitel 24


“Einen Whiskey noch!” sagte er zum Barkeeper. Der brachte ihm kopfschüttelnd einen und stellte eine volle Flasche daneben. “Hier! Geht einfacher!” sagte er und wandte sich wieder seinen anderen Kunden zu. Seema ließ nicht locker. “Wie heißt Du eigentlich?” wollte sie wissen. Er schaute sie an. Eigentlich war sie nicht sein Typ, aber egal, warum auch nicht. Er setzte ein Lächeln auf und sah sie an. “Aman! Ich heiße Aman!” sagte er und schaute ihr in die Augen. Seema lächelte verführerisch zurück. “Na siehst Du! War doch gar nicht so schwer!” gurrte sie ihn an. Rahul schaute sie an und zog sie mit einem Ruck auf die Tanzfläche. Was Anjali konnte, konnte er schon lange. Er zog Seema näher zu sich heran, die ihn anstrahlte. Sie tat ihm beinah ein wenig leid. Doch er hatte keine Lust auf ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen. Warum sollte es ihr besser gehen als ihm? Er lächelte Seema an. “Wohnst Du eigentlich weit weg von hier?”

Anjali, Rohan, Sanjana und Hrithik saßen noch immer auf dem Balkon. Sie ahnten nichts von dem, was Rahul gerade trieb. Sie hätten ihn wahrscheinlich nicht wieder erkannt. Anjali hatte bald eine Flasche Wein alleine getrunken und fühlte sich immer noch mies. “Wieso hab ich ihm nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt? Er wird mir das im Leben nicht verzeihen!” sagte sie verzweifelt. Anjali war aufgestanden und war an die Brüstung getreten. Sie stützte sich mit einer Hand ab und kramte mit der anderen nach ihren Zigaretten. Sie spürte jetzt die Wirkung des Weins, doch es war ihr egal. Sie wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als Sanjana neben ihr stand und ihr die Zigaretten wegnahm. “Es wird Zeit, damit aufzuhören!” sagte sie ruhig aber bestimmt. “La..lass misch. Isch ka…kann auf mihisch gaaaanz gut a…allein auf..aufpassen!” sagte sie mit schwerer Zunge.

Nun stand auch Hrithik neben ihr. “Ja, das sehen wir. Du gehst jetzt ins Bett deinen Rausch ausschlafen und zwar sofort!” sagte er fast schon böse. Anjali schaute ihn mit großen Augen an. “Sch…schau mihisch nischt so bö…böse an. Isch geh ja schon.” sagte sie und stolperte ins Zimmer zurück. Sanjana eilte Anjali hinterher und half ihr ins Bett zu gehen. “Wir sehen uns morgen früh! Schlaf gut!” sagte sie zu Anjali und streichelte ihr über das Haar. Sie wollte gerade aufstehen als Anjali sie am Arm festhielt. Sie schaute Anjali fragend an. “Wird er mir verzeihen? Wird er mich noch lieben?” fragte sie leise und war im selben Moment schon eingeschlafen. Sanjana seufzte und stand auf, dann ging auf den Balkon zurück. “Sie schläft jetzt. Ich denke, wir sollten für heute auch Schluss machen und uns morgen früh wieder treffen.” sagte sie. Hrithik und Rohan nickten und so verließen sie das Zimmer und gingen auch schlafen.

Rahul wurde langsam wach. Sein Kopf schmerzte, er hatte einen ausgewachsenen Kater. Er lag im Bett und hatte die Augen geschlossen. Plötzlich riss er die Augen auf. Es hatte sich etwas neben ihm bewegt. Er drehte seinen Kopf langsam in die Richtung aus der die Bewegung kam und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Da lag eine Frau neben ihm. Wer um Himmels Willen war das? Er versuchte sich an das zu erinnern, was am Abend zuvor geschehen war. Aber er hatte den totalen Filmriss. Die Frau wachte auf und schaute ihn an. Sie fing an zu lachen. Was sollte das denn nun? “Willst Du nicht mal was anziehen?” fragte sie lachend. Rahul schaute an sich herunter und schrie auf. Verdammt, er war vollkommen nackt.

Er griff ein Kissen, um es sich schützend vorzuhalten und sammelte eilig seine Sachen zusammen. “Wo ist das Bad?” fragte er fast panisch und lief in das Zimmer, auf das die Frau zeigte. Er schloss die Tür hinter sich zu und sank auf den Wannenrand. Was war letzte Nacht nur passiert? Er stellte sich unter die Dusche und ließ das heiße Wasser laufen. Hatte er etwa mit ihr…? Nein, das konnte nicht sein. Er liebte Anjali, egal was war. Auch wenn er ihr im Moment nicht verzeihen konnte, dass sie ihn so hintergangen hatte. Aber warum hatte er dann nackt im Bett gelegen? Er konnte sich an absolut gar nichts mehr von gestern erinnern. Er zog sich an und ging zurück ins Zimmer.

Die Frau saß mittlerweile auf dem Bettrand - nackt. Rahul drehte sich weg. “Kannst…kannst Du dir bitte etwas anziehen?” stotterte er. Die Frau lachte. “Letzte Nacht warst Du aber nicht so prüde.” sagte sie. Rahul sah sie erschrocken an. “Wie meinst Du das?” Jetzt war es an ihr, Rahul fragend anzuschauen. “Egal, es ist eh nichts gelaufen.” Rahul fragte noch mal nach, um sicher zu gehen. “Sicher? Aber wieso waren wir nackt?” Die Frau schaute ihn an. “Mann, musst Du einen Filmriss haben. Wir sind hier angekommen, wollten anfangen, aber in dem Moment, in dem Du in der Waagerechten warst, bist Du eingeschlafen! Also beruhige dich!” Rahul fiel ein Stein vom Herzen. “Danke!” sagte er. “Wofür?” fragte die Frau ihn. Er konnte sich immer noch nicht an ihren Namen erinnern, aber das war jetzt auch egal. “Ach nichts. Ich geh dann mal.” sagte Rahul und beeilte sich, die Wohnung zu verlassen.

Anjali hatte tief und traumlos geschlafen. Es war sehr früh, als sie wach wurde. Es dämmerte gerade erst. Sie setzte sich in ihrem Bett auf. Sie griff sich an die Stirn, ihr Kopf schmerzte. Hatte sie gestern wirklich so viel getrunken? Anjali stand langsam auf und ging ins Bad. Was sie jetzt dringend brauchte, war eine Dusche und ein Kaffee. Sie drehte das heiße Wasser auf und ließ es über Körper prasseln. Sie lehnte ihre Stirn an die Duschwand und dachte an den gestrigen Tag. Rahul hatte sich erinnert. Er hatte sich an sie erinnert und sie weggeschickt. Sie hatte seinen eiskalten Blick vor Augen, als er sie nach dem Kuss angesehen hatte. Es war das eingetreten, wovor sie so viel Angst gehabt hatte. Sie kämpfte wieder mit den Tränen. Sie war sich nach seiner Reaktion sicher, dass er ihr das nie verzeihen würde. Sie hatte ihn verloren und sie alleine trug die Schuld daran. Sie könnte sich ohrfeigen, dass sie ihm damals nicht gleich gesagt hatte, dass er Rahul war.

Anjali zog sich an und verließ ihr Zimmer. Sie verließ das Hotel und ging die Straße runter zu dem kleinen Coffee-Shop. Sie ging hinein, holte sich einen extra starken Kaffee und setzte sich an einen kleinen Tisch. Sie kramte ihre Zigaretten aus der Tasche und steckte sich eine an. Sie dachte an Sanjanas Worte, dass sie das Rauchen doch endlich aufgeben sollte. Sanjana hatte ja recht, aber Anjali konnte sich noch nicht dazu durchringen, aufzuhören. Sie trank ihren Kaffee, der langsam ihre Lebensgeister wieder weckte. Immer noch überlegte, was sie jetzt machen sollte. Wie sollte sie sich Rahul gegenüber verhalten, wenn sie mal wieder auf ihn treffen würde? Sie wusste keine Antwort und ging langsam zum Hotel zurück, ehe die anderen sie noch vermissen würden.

Rahul hatte die Wohnung der Frau verlassen und lief durch die Straßen zurück zu seinem Hotel. Immer noch konnte er sich nicht daran erinnern, was gestern Abend in dem Club geschehen war. Er war erleichtert, dass er nicht mit dieser Frau geschlafen hatte. Schließlich gehörte sein Herz nach wie vor Anjali. Anjali! Bei dem Gedanken an sie, wurde er traurig. Er verstand nicht, warum sie nicht gesagt, dass er Rahul war. Sie hatte so viele Gelegenheiten gehabt. Sie hätte es ihm doch an Abend sagen können, als er sie nach Hause gebracht und in ihrem Schoß eingeschlafen war. Warum nur hatte sie ihm nichts gesagt?

Nachdenklich bog er in die Straße seines Hotels ein und steuerte direkt auf ein Hotel zu. Er war schon fast an seinem Hotel angekommen, als er plötzlich stehen blieb. Er sah auf die andere Straßenseite und sah, wie Anjali gerade wieder in ihr Hotel ging. Sie war im Hotel gegenüber abgestiegen? Wo kam sie denn jetzt um diese Uhrzeit her? Leise beschlich ihn schon wieder Eifersucht. Sicherlich kam sie gerade aus seinem Hotel, in dem auch Hrithik abgestiegen war. Da hatte sie nach gestern ja nicht lange gefackelt. Anscheinend hatte er sich doch getäuscht, als er sie gestern geküsst hatte. Rasend vor Eifersucht ging er in sein Hotel. Auf seinem Flur angekommen, kam im Hrithik entgegen. “Guten Morgen Rahul! Schön, dass Du dich wieder erinnern kannst!” sagte dieser freudestrahlend. Doch Rahul hörte überhaupt nicht zu. Er sah rot und eh er sich versah, war seine Faust auch schon mitten in Hrithiks Gesicht gelandet. Hrithik ging überrascht zu Boden und hielt sich die blutende Lippe. Er sah Rahul entsetzt an, der ihn keines Blickes mehr würdigte und in seinem Zimmer verschwand.

Kapitel 25


Sanjana und Rohan waren ebenfalls beizeiten aufgewacht. Sanjana kuschelte sich an Rohan. “Wie es Anjali heute wohl geht?” fragte sie ihn. Rohan zog Sanjana noch ein Stück näher an sich heran und legte seinen Arm um sie. “Ich weiß es nicht. Es hat sie gestern schon sehr getroffen, wie Rahul reagiert hat!” Sanjana setzte sich im Bett auf und sah Rohan an. “Ich kann Rahul in gewisser Weise ja verstehen, dass er sauer ist. Aber musste er so hart zu ihr sein?” Sie sah Rohan fragend an. Der zuckte mit den Schultern. “Ich weiß nicht. Wahrscheinlich haben beide sich nicht optimal verhalten. Anjali hat nichts gesagt, weil sie Angst hatte und Rahul hat so reagiert, weil er sich veralbert vorkam. Wie würdest Du denn an seiner Stelle reagieren?” Sanjana seufzte und stand auf. “Ich weiß doch auch nicht. Aber irgendwie müssen wir den beiden doch helfen können!”

Sanjana stand vor dem Bett und schaute etwas hilflos zu Rohan. Rohan war inzwischen zum Bettrand vorgerutscht und legte seine Arme um Sanjana. “Mach dir nicht so viele Gedanken. Es wird sich schon eine Lösung finden.” Rohan wollte Sanjana wieder zu sich ins Bett ziehen, aber Sanjana entwischte ihm. “Na na na, mal nicht so stürmisch!” lachte sie und ging in Richtung Bad. “Ich werde jetzt unter die Dusche hüpfen. Die hättest Du im Übrigen auch nötig! Und dann hab ich einen Bärenhunger!” Schnell schloss sie die Tür hinter sich ab, da Rohan vom Bett gesprungen war und sie greifen wollte. Eine halbe Stunde später waren beide fertig und waren auf dem Weg zu Anjalis Zimmer, um sie zum Frühstück abzuholen. Anjali sah immer noch sehr traurig aus, aber sie bemühte sich, es sich nicht ganz so sehr anmerken zu lassen.

Gemeinsam gingen die drei zum Frühstück. “Kommt Hrithik auch rüber zum Frühstück?” wollte Anjali wissen. Rohan nickte. “Ja, er wollte so gegen neun hier sein. Lasst uns doch einfach schon mal anfangen. Ich habe nämlich einen Bärenhunger.” sagte er und stürmte an beiden Frauen vorbei ins Restaurant. Anjali und Sanjana sahen sich nur kopfschüttelnd an und folgten ihm. Sie saßen schon eine ganze Weile und Hrithik war immer noch nicht aufgetaucht. “Sagt mal, so viel hat er doch gestern gar nicht getrunken oder irre ich mich? Wo bleibt er nur?” wollte Sanjana wissen, als Anjali zur Tür zeigte. Hrithik kam langsam auf den Tisch zu und ließ sich auf den noch freien Stuhl fallen. Die drei schauten ihn völlig entgeistert an. Anjali fand als erstes ihre Sprache wieder. “Was ist denn passiert? Wer war das?” fragte sie und schaute auf Hrithiks aufgeplatzte Lippe und die geschwollene Wange. Hrithik schaute sie an. “Dreimal darfst Du raten!” sagte er. “Rahul?” fragte Anjali entsetzt. Hrithik nickte. “Aber warum macht er denn so was? Das versteh ich nicht. Ich meine, wenn er auf mich sauer sein will bitte! Aber warum schlägt er dich?” Hrithik zuckte mit den Schultern. “Wenn ich das wüsste! Ich hatte nicht mal den Hauch einer Chance auszuweichen. Hat eine ganz schöne Rechte der Gute.” sagte Hrithik und versuchte zu Lächeln, was allerdings mehr zu einer Fratze mutierte, da seine Lippe und Wange doch ziemlich schmerzten. “Aber jetzt habe ich auch erst einmal Hunger.” sagte er und schaute in die Runde. “Nun schaut nicht so betreten. Ich lebe ja noch.”

Rahul packte zur selben Zeit seine Sachen und verließ das Hotel. Er rief sich ein Taxi und fuhr zum Flughafen. Er hatte Glück, eine Stunde später ging ein Flug nach London und es waren noch Plätze frei. Rahul wartete ungeduldig darauf, dass er endlich in das Flugzeug steigen konnte. Er wollte im Moment nur weg aus Mumbai, weg aus Indien. Endlich konnte er einsteigen und kurz danach war die Maschine auch schon in der Luft auf dem Weg nach London. Was Anjali jetzt wohl machte, nachdem sie gesehen hatte, wie Hrithik aussah? Wahrscheinlich würde sie ihn jetzt trösten. An ihn verschwendete sie wohl keinen einzigen Gedanken. Wieder spürte er Eifersucht in sich aufsteigen. Er war fest entschlossen, in London Rohan aufzusuchen und ihn zur Rede zu stellen. Das der gerade mit Anjali, Sanjana und Hrithik in Mumbai beim Frühstück saß, wusste Rahul nicht. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück, setzte sich die Kopfhörer seines MP3-Players auf und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war.

Anjali war noch immer fassungslos, dass Rahul Hrithik geschlagen hatte. Den Rest des Frühstücks sagte sie kein Wort mehr. Sie musste mit Rahul sprechen. Wenn er auf sie sauer war, konnte sie das ja noch verstehen. Aber er hatte nicht das Recht, irgendwen zu schlagen und schon gar nicht seinen besten Freund. “Heh, warum guckst Du denn so grimmig?” fragte Sanjana, als sie Anjalis Blick sah. “Was? Ach… ich war gerade in Gedanken.” antwortete Anjali. “Ich werde mal mit Rahul reden!” fügte sie hinzu. “Das brauchst Du nicht. So schlimm war das doch nicht.” versuchte Hrithik Anjali zu beruhigen. “Nicht so schlimm? Dann verrate mir doch bitte mal, welchen Grund er hat, seinen besten Freund zu schlagen?” ereiferte sich Anjali. “Ich werde sofort rüber gehen und mit ihm reden. Das kann ich so nicht stehen lassen!” Sie stand auf und wollte gehen. “Wir werden mitkommen.” sagte Hrithik. Rohan und Sanjana nickten. “Genau! Wir lassen dich nicht alleine!” Anjali schüttelte mit dem Kopf. “Nein. Das muss ich alleine klären! Wir treffen uns nachher!” sagte sie. Rohan nickte. “Okay, aber wenn was sein sollte, kommst Du sofort wieder!” Anjali nickte und machte sich auf den Weg zu Rahul. Sie war sauer. So etwas konnte er nicht machen. Wenn er ein Problem hatte, dann musste er das mit ihr klären. Aber blind um sich schlagen konnte einfach keine Lösung sein.

Anjali war in seinem Hotel angekommen und ging zur Rezeption. “Ich würde gern zu Aman Kumar! Können Sie mir bitte sagen, in welchem Zimmer er wohnt?” fragte sie die Dame an der Rezeption. “Einen Moment bitte. Ich schaue nach.” sagte diese und ging zu ihrem Computer. Kurz darauf kam sie zurück. “Es tut mir leid, Miss. Aber Mr. Kumar ist heute früh abgereist.” Anjali war fassungslos. “Sind Sie sicher? Hat er gesagt, wo er hin wollte?” Die Dame an der Rezeption schüttelte den Kopf. “Tut mir leid. Es war eine ziemlich überstürzte Abreise.” Anjali hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. “Danke.” sagte sie und verließ das Hotel langsam. Sie verstand das alles nicht mehr. Warum hatte er Hrithik geschlagen und warum war er so plötzlich verschwunden?

Vor dem Hotel traf sie auf Sanjana, Rohan und Hrithik, die sie gespannt ansahen. “Was macht ihr denn hier?” fragte Anjali erstaunt. “Wir hatten einfach keine Ruhe!” sagte Sanjana entschuldigend. Die zwei Männer nickten. “Und? Was hat er gesagt?” wollte Rohan wissen. “Wer?” fragte Anjali. Rohan schaute Anjali verwirrt an. “Geht es dir gut? Du wolltest doch mit Rahul reden!” Anjali nickte. “Ja, wollte ich. Aber…” “Aber was?” unterbrach Hrithik sie ungeduldig. “Nichts. Rahul ist heute früh abgereist.” sagte Anjali und schaute ihre Freunde an. “Feigling! Erst zuschlagen, dann abhauen!” sagte Sanjana böse. “Beruhige dich wieder. Du weißt doch gar nicht, welchen Grund er hatte, abzureisen.” sagte Anjali leise. “Warum verteidigst Du ihn denn noch? Nach der Nummer!” fragte Sanjana böse. Anjali schaute traurig zu Boden. “Weil ich ihn trotz allem noch liebe!” sagte sie leise. Die vier waren mittlerweile im Park angekommen und setzten sich an den kleinen Teich. “Hast Du eine Ahnung, wo er hingefahren sein könnte?” fragte Hrithik. Anjali schüttelte den Kopf. “Nein. Vielleicht zurück nach London. Vielleicht auch ganz woanders hin. Ich habe wirklich keine Ahnung!”

Kapitel 26


Rahul war in London gelandet und zu seiner Wohnung gefahren. Er war ziemlich erledigt von dem Flug. Er brauchte jetzt erstmal eine Dusche und dann würde er zu Rohan fahren. Er wollte wissen, was zwischen ihm und Anjali lief. Rahul stellte sich unter die Dusche. Das heiße Wasser entspannte ihn ein wenig. Er dachte an den heutigen Morgen, als er Anjali in ihr Hotel zurückgehen sah. Und als er Hrithik auf dem Flur begegnet war. Warum hatte er ihn nur geschlagen? Hrithik war doch sein bester Freund. Er ärgerte sich, dass er sich so wenig unter Kontrolle hatte. Hrithik würde ihn doch nie hintergehen. Das konnte er sich nicht vorstellen. Aber was wenn doch? Rahul wusste nicht weiter und schlug in seiner Verzweiflung mit der Faust gegen die Duschtür. Er schrie auf und sah entsetzt auf seine Hand. Die Tür war aus Glas gewesen und er sah, wie sein Blut von seiner Hand in die Dusche tropfte und sich mit dem Wasser vermischte bevor es im Abfluss verschwand. Rahul biss sich auf die Lippe. Was hatte er da getan? Er kannte sich grad selber nicht mehr.

Anjali, Sanjana, Rohan und Hrithik saßen noch bis in den Abend hinein im Park und überlegten, was sie nun tun sollten. “Vielleicht sollten wir nach London zurück fliegen und versuchen mit Rahul zu reden. Es muss doch möglich sein, ihm zu erklären, was wirklich los ist.” sagte Rohan schließlich. “Meinst Du, er wird mir überhaupt zuhören wollen?” fragte Anjali. “Was heißt hier wollen? Er hat dir zuzuhören! Und wenn wir ihn persönlich anketten!” antwortete Sanjana. Anjali musste bei der Vorstellung eines angeketteten Rahuls lachen. Die anderen sahen sie verständnislos an. “Was ist daran jetzt so lustig?” wollte Hrithik wissen. Anjali musste immer noch lachen. “Ach… nichts. Schon gut.” gluckste Anjali und versuchte, sich wieder zu beruhigen. “Na, wenn Du meinst…” sagte Sanjana. “Also? Fliegen wir jetzt zurück?” wollte sie wissen. Anjali überlegte kurz, dann nickte sie. “Ja, lasst uns zurückfliegen. Wahrscheinlich finden wir Rahul ja tatsächlich in London.” “Gut. Dann lasst uns Tickets holen und unsere Sachen zusammenpacken.” sagte Rohan und stand auf. Die anderen folgten ihm.

“Kommst Du nun noch mit uns nach London?” wollte Anjali von Hrithik wissen, während sie auf dem Weg zurück ins Hotel waren. Hrithik schüttelte den Kopf. “Nein, ich kann nicht. Weißt Du, wenn ich nicht bald wieder auf Arbeit erscheine, bin ich meinen Job los.” sagte dieser und fügte hinzu. “Aber Du hast meine Nummer. Wenn etwas ist, ruf mich an und ich werde so schnell wie möglich nach London kommen.” Anjali nickte. Sie waren inzwischen am Hotel angekommen. “Ich begleite euch nachher noch zum Flughafen.” sagte er bevor jeder in sein Hotel ging um zu packen. Eine Stunde später trafen sich alle vier wieder vor dem Hotel. “Seit ihr startklar?” fragte Hrithik. Sanjana schaute die anderen an und nickte. “Also, ich denke schon.” “Gut, dann lasst uns mal fahren.” sagte Hrithik und lud die Koffer in den Wagen. Die Fahrt zum Flughafen verlief schweigend. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und versuchte, das Geschehene der letzten paar Tage noch einmal Revue passieren zu lassen.

Nach einer guten Stunde im Berufsverkehr von Mumbai waren sie schließlich am Flughafen angekommen. Hrithik begleitete die Anjali, Sanjana und Rohan noch bis ins Terminal, wo er sich dann verabschiedete. “Anjali, pass bitte auf dich auf. Und wenn etwas ist, dann ruf mich an! Verstanden?” Hrithik nahm Anjali in die Arme. “Danke für alles!” sagte sie und lächelte ihn an. “Wofür denn danke? Ich hab doch gar nichts getan!” erwiderte Hrithik. “Doch. Du hast mir verziehen und warst bereit, mit mir nach London zu kommen. Das werde ich dir nie vergessen.” sagte Anjali und umarmte Hrithik noch einmal. Dieser lächelte und verabschiedete sich auf von Sanjana und Rohan. “War schön, euch kennen gelernt zu haben. Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder. Ach… und gebt ein wenig auf Anjali acht.” Sanjana und Rohan nickten. “Das werden wir.” Kurz darauf wurde der Flug nach London auch schon aufgerufen und die drei begaben sich an Bord des Flugzeuges. Hrithik blieb noch einen Moment lang stehen, bis die Maschine sicher in der Luft war, dann machte er sich wieder auf den Weg nach Dahanu.

Rahul hatte sich inzwischen wieder etwas beruhigt. Er hatte seine verletzte Hand verbunden und auch seinen Fuß, denn er war zu allem Überfluss auch noch in die Glasscherben getreten. Er räumte die Scherben weg und wischte das Blut auf, das er durch die halbe Wohnung verteilt hatte. Dann zog er sich an und verließ seine Wohnung. Er war noch immer fest entschlossen, Rohan aufzusuchen. Er stieg auf seine Maschine und fuhr zu dessen Wohnung. Die Haustür stand offen und so konnte Rahul direkt zu Rohans Wohnung hochsteigen. Vor Anjalis Wohnung blieb er einen Moment lang stehen. Ob er klingeln sollte? Nein, besser nicht. Er ging noch ein Stockwerk höher und stand schließlich vor Rohans Wohnung. Er klingelte und klopfte, doch niemand öffnete ihm. Was sollte das? Wo war Rohan? Rahul stürmte zu Anjalis Wohnung, doch auch hier öffnete ihm niemand auf sein Klingeln und Hämmern. Rahul raste innerlich schon wieder und verließ wutentbrannt das Haus. Er raste mit seiner Maschine durch London. Irgendwann regte er sich wieder etwas ab. Was hatte er denn nur gedacht, als er bei Anjali geklingelt hatte? Das sie ihm öffnet oder gar Rohan? So ein Quatsch! Anjali war doch noch in Indien. Wahrscheinlich wusste sie noch nicht einmal, dass er schon wieder abgereist war. Und selbst wenn, würde es sie interessieren?

Anjali hatte einen Fensterplatz im Flugzeug und sah, wie Mumbai und Indien unter ihr immer kleiner wurden und bald gar nicht mehr zu sehen waren. So sehr sie sich auch gesträubt hatte, wieder nach Indien zurückzukehren, so traurig wurde sie auch, dass sie Indien wieder verlassen musste. Ihr war erst jetzt bewusst geworden, wie sehr sie Indien vermisst hatte und wie sehr sie sich wünschte, dort wieder leben zu können. Anjali dachte an London und an Rahul. Ob Rahul nach London zurückgekehrt war? Sie hoffte, dass es so war und das sie mit ihm reden konnte. Sie wollte ihm alles erklären. Er musste ihr einfach zuhören, ob er wollte oder nicht. Anjali lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. Sie wollte im Moment nichts hören oder sehen. Sie brauchte jetzt einfach nur ihre Ruhe. In der Reihe vor ihr hörte sie, dass sich Sanjana und Rohan leise unterhielten. Sie verstand nicht, um was es ging, aber sie konnte sich schon denken, um was es sich bei dem Gespräch drehte. Es gab ja auch seit Wochen kein anderes Thema mehr. Anjali zog die Kopfhörer auf und ließ leise Musik laufen.

Rohan drehte sich um und sah durch die Sitze hindurch Anjali mit geschlossenen Augen sitzen. “Ich glaube, sie schläft.” sagte er wieder zu Sanjana gewandt. Die nickte. “Soll sie nur. Sie wird Kraft brauchen, wenn wir wieder in London sind.” erwiderte sie. “Meinst Du, dass Rahul wirklich wieder nach London geflogen ist?” sah er Sanjana fragend an. Die zuckte mit den Schultern. “Ich hoffe es zumindest. Wo sollte er denn sonst hin? Ich weiß nur noch nicht, wie wir die beiden wieder zusammenbringen können.” “Du bist gut. Zusammenbringen. Im Moment redet Rahul ja noch nicht mal mit Anjali.” Sanjana seufzte. “Du hast ja Recht. Ich weiß doch auch nicht.” sagte sie und lehnte ihren Kopf an Rohans Schulter. “Es könnte alles so einfach sein.” Rohan legte einen Arm um sie. “Ja, das könnte es.”

Kapitel 27


Rahul war so lange durch London gefahren, bis seine Maschine keinen Sprit mehr hatte und stotternd zu stehen kam. “Na super!” fluchte Rahul und zog seinen Helm vom Kopf. Er fuhr sich ärgerlich durch die Haare. “Das kann auch nur mir passieren! Wo krieg ich jetzt Sprit her?” Er sah sich um. Er war in einem der vielen Vororte Londons gelandet. In der Nähe musste einer der Flughäfen sein, denn er sah und hörte jede Menge Flugzeuge starten und landen. Aber eine Tankstelle konnte er nirgends entdecken. Eine Gruppe Jugendlicher lief an ihm vorbei. “Heh ihr!” rief Rahul. “Könnt ihr mir sagen, wo die nächste Tankstelle ist?” Einer der Jungen blieb stehen. “Ungefähr 15 km von hier in Richtung London.” Rahul seufzte. “Na toll. Danke.” Er fluchte innerlich. Doch er hatte keine Wahl und so schnappte er seine Maschine und begann sie Richtung London zurückzuschieben.

Zur gleichen Zeit war das Flugzeug aus Indien in London gelandet. Anjali, Sanjana und Rohan stiegen aus und holten ihr Gepäck. Rohan stöhnte. “Wenn ich jetzt dran denke, wie voll die Metro um diese Zeit ist, wird mir jetzt schon schlecht.” Anjali lachte. “Wenn Du unbedingt Metro fahren willst - bitte. Ich fahr dann mit Sanjana mit James nach Hause.” Rohan guckte so verdutzt, dass die beiden Frauen sich nun regelrecht ausschütteten vor Lachen. Anjali schnappte nach Luft. “Jetzt guck nicht so. Ich hatte vor unserem Abflug Mr. Singh Bescheid gegeben. Er hat James mit dem Wagen geschickt.” Rohan entspannte sich wieder. “War ja klar, dass ich es wieder als Letztes erfahre.” sagte er gespielt beleidigt, was Sanjana sofort auf den Plan rief. Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. “Jetzt sei doch nicht böse.” sagte sie und sah Rohan an. “Wieder gut?” Rohan konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und umarmte Sanjana. “Du weißt doch, dass ich dir nicht böse sein kann.” Sie verließen das Terminal. James wartete schon auf sie und nahm ihnen das Gepäck ab. “Anjali, schön, Sie wieder zu sehen. Mr. Singh lädt Sie zum Dinner ein. Sie auch.” sagte er Rohan und Sanjana ansehend. Die drei nickten und stiegen in den Wagen. Sie hatten eine knappe Stunde Fahrt vor sich und auf ein Abendessen freuten sich jetzt alle. Das Essen im Flugzeug war nicht gerade ein Fünf-Sterne-Menü. Sie unterhielten sich angeregt mit James. Sie bemerkten nicht, dass sie einen Motorradfahrer überholten, der seine Maschine stadteinwärts schob.

Rahul fluchte. Die Straße war nicht sonderlich breit und der letzte Wagen, der ihn überholt hatte, hatte ihn fast gestreift. Er blieb einen Moment lang stehen und holte tief Luft. Seine Hand und sein Fuß schmerzten. Was musste er auch die Duschtür einschlagen und in die Scherben treten? Er stand zur Zeit dermaßen neben sich, dass er froh sein konnte, dass ihm bisher nichts schlimmeres passiert war. Wie lange war er jetzt wohl schon unterwegs? Er schaute zum Himmel, es dämmerte bereits. Rahul stöhnte, sicher hatte er noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Missmutig schob er seine Maschine weiter, als er am Ende der Straße die Neon-Reklame der Tankstelle sah. Rahul atmete innerlich auf und legte noch einen Zahn zu. Völlig fertig kam er an und musste erst einmal durchatmen, bevor er in der Lage war, zu tanken. Nachdem er bezahlt und noch einen Kaffee getrunken hatte, machte er sich schließlich auf den Heimweg. Rahul wollte nur noch in sein Bett und schlafen. Und einmal an nichts denken.

Anjali, Sanjana und Rohan war inzwischen bei Mr. Singh angekommen, der sie schon vor dem Haus erwartete. Lächelnd kam er mit ausgestreckten Armen auf Anjali zu. “Anjali, mein Kind. Schön, dass Sie wieder in London sind! Wie war der Flug?” Er umarmte Anjali und begrüßte danach Sanjana und Rohan. “Sie müssen Sanjana und Rohan sein!” stellte er fest. “Ich hoffe, Sie haben Hunger mitgebracht?” Sanjana nickte und wie zur Bestätigung knurrte im selben Moment ihr Magen. “Entschuldigung.” sagte sie leise, aber Mr. Singh lachte nur und bat seine Gäste ins Haus. Im Wohnzimmer bat er sie Platz zu nehmen. “Das Essen wird noch einen Moment dauern. Möchten Sie etwas trinken?” James brachte allen Getränke und zog sich wieder zurück. Anjali war aufgestanden und ging zur Terrasse. “Haben Sie etwas dagegen, wenn ich vor dem Essen noch eine rauche?” fragte sie Mr. Singh. Der schüttelte mit dem Kopf. “Nein, machen Sie nur.” Sanjana ging Anjali hinterher.

“Was soll das?” fragte sie Anjali böse. “Wieso rauchst Du immer noch? Hör endlich auf damit!” Anjali zog an ihrer Zigarette. Sanjana hatte ja Recht, dass wusste sie, aber aufhören war auch nicht so einfach. “Ich weiß Sanjana. Aber immerhin ist das seit vorgestern die erste Zigarette. Lass es mich doch langsam angehen.” Entschuldigend sah sie Sanjana an, die sie jetzt nicht mehr ganz so böse ansah. “Ja, ist ja gut. Aber versprich mir, dass Du aufhören wirst.” Anjali umarmte Sanjana. “Ich verspreche es dir. Aber es geht nun mal nicht von jetzt auf gleich.” Sanjana nickte. “Ist in Ordnung. Und jetzt lass uns wieder reingehen.” sagte sie und zog Anjali hinter sich her zurück ins Wohnzimmer. Mr. Singh und Rohan schauten die Frauen an. “Das Essen wird jetzt serviert. Wir können ins Esszimmer rüber gehen.” sagte Mr. Singh und ging voran.

Die Stimmung beim Essen war ausgelassen. Anjali dachte zum ersten Mal seit langer Zeit mal nicht an Rahul. Aber Mr. Singh brachte das Gespräch schnell wieder auf dieses Thema. “Jetzt erzählt doch mal. Habt ihr Rahul gefunden? Konntet ihr bzw. Hrithik mit Rahul reden?” Die drei verstummten und schauten sich an. Mr. Singh stutzte. Er sah in die Runde und ahnte, dass etwas nicht stimmen konnte. “Was ist los? Raus damit?” wollte er wissen, aber niemand antwortet ihm. “Anjali! Was ist los?” Anjali zuckte leicht zusammen. “Das ist nicht so einfach zu erklären.” sagte sie leise. Mr. Singh runzelte die Stirn und sah sie fragend an. “Kein Problem. Ich hab Zeit Anjali!” Anjali seufzte. Sie wusste, dass Mr. Singh ihr keine Wahl lassen würde. Dafür kannte sie ihn zu gut. Und er hatte ja auch einiges investiert für sie. “Ich erzähle Ihnen ja alles, aber können wir das im Wohnzimmer machen? Es ist da wesentlich bequemer.” Mr. Singh nickt. “Also gut, gehen wir wieder ins Wohnzimmer. Wir können das Dessert auch dort essen.” Gemeinsam gingen sie zurück und machten es sich dort bequem. Mr. Singh sah Anjali erwartungsvoll an. “Und?” Anjali holte noch mal tief Luft und erzählte, was in Mumbai passiert war. Sanjana und Rohan bestätigten ihre Geschichte. “Das wird ja immer komplizierter.” meinte Mr. Singh, nachdem die drei fertig waren mit erzählen. “Seid ihr sicher, dass Rahul wieder hier ist?” Anjali schüttelte den Kopf. “Nein, sicher sind wir nicht, aber wir werden es sicher bald erfahren. Aber ich denke, wir sollten für heute nach Hause fahren. Ich bin todmüde und brauch ein wenig Schlaf.” Mr. Singh nickte und wies James an, die drei nach Hause zu fahren. “Danke für die Einladung Mr. Singh. Sobald es was Neues gibt, lassen wir Sie es wissen.” Mr. Singh nickte. “Kommen Sie gut nach Hause und schlafen Sie gut.” sagte er zu Anjali und auch zu Sanjana und Rohan. Keine Stunde später lag Anjali in ihrem Bett und war tief und fest eingeschlafen.

Kapitel 28


Rahul wurde wach, weil seine Hand schmerzte. Er streckte sich im Bett und blinzelte gegen die Sonne, die durch sein Fenster direkt auf das Bett schien. Sein Blick wanderte zur Uhr. Er musste zweimal hinschauen, ehe er die Zahlen erkannte. Es war bereits früher Nachmittag. Rahul setzte sich auf und griff sich an den Kopf. Er hatte Kopfschmerzen und als er sich umsah, wusste er auch warum. Er hatte gestern Abend noch eine Flasche Whiskey klar gemacht. Langsam hievte er sich vom Bett hoch um ins Bad zu gehen. Er stöhnte auf und griff sich an die Beine. Verdammt hatte er Muskelkater. Das hatte ihm ja gerade noch gefehlt. Langsam humpelte Rahul in sein Bad. Innerlich fluchte er vor sich hin. Verdammter Muskelkater und verdammter Fuß, der ihn immer noch schmerzte, nachdem er in die Glasscherben getreten war.

Rahul betrachtete kopfschüttelnd die Duschtür, die er in Scherben gelegt hatte. Vorsichtig nahm er sie beiseite, damit er sich nicht noch einmal schnitt. Rahul stützte sich mit den Händen auf dem Waschbecken ab und sah in den Spiegel. Er bot ihm ein Bild des Grauens. Rahul hatte tiefe Augenringe, seine Haare bräuchten mal wieder einen Friseur und der Drei-Tage-Bart war bestimmt auch schon zwei Wochen alt. Er sah an sich herunter. Rahul hatte immer noch sein durchgeschwitztes T-Shirt und die dreckige Jeans vom Vortag an. Er zog sich das T-Shirt über den Kopf und griff nach dem Rasierer. Er musste jetzt erstmal seinem Bart zu Leibe rücken. Nach einer knappen Viertelstunde war er zufrieden, entledigte sich noch seiner letzten Klamotten und stieg unter die Dusche. Während er sich das heiße Wasser über seine schmerzenden Muskeln laufen ließ, angelte er nach seiner Zahnbürste. Er hatte zuviel getrunken und geraucht am Abend zuvor und hatte einfach einen scheußlichen Geschmack im Mund. Während er Zähne putzend unter der Dusche stand, ließ er den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren. Zumindest das, was er noch wusste nach der Flasche Whiskey.

Trotz der Pleite von gestern war er fest entschlossen, noch einmal Rohan aufzusuchen. Er musste Gewissheit haben, ob da wirklich was mit Anjali lief, eher würde er keine Ruhe haben. Rahul hob sein Gesicht genau in den Strahl, der aus der Brause kam und schloss die Augen. Er atmete tief durch und drehte mit einem Ruck das kalte Wasser auf. Er schnappte nach Luft, das kalte Wasser traf ihn wie ein Faustschlag. Rahul drehte das Wasser ab und schüttelte seinen Kopf, so dass die Wassertropfen aus seinen nassen Haaren nur so durch das Bad flogen. Jetzt war er wenigstens wieder wach. Rahul schlang sich ein Handtuch um seine Hüften und tapste nass wie er war zurück in sein Zimmer. Er rümpfte die Nase, der Aschenbecher quoll über. Rahul riss das Fenster auf. Er rauchte zwar, aber er konnte abgestandene Kippen und kalten Rauch auf den Tod nicht ausstehen. Rahul schmiss sein Handtuch aufs Bett und kramte in seinem Schrank nach Klamotten. Nachdem er sich angezogen hatte ging er zurück ins Bad und schaute wieder in den Spiegel. Er fuhr sich durch die noch nassen Haare. Was sollte er nur damit machen? Eigentlich gefiel ihm die Länge, aber wie würde Anjali diese Frisur gefallen? Immerhin waren seine Haare meist relativ kurz gewesen. Er beschloss sie erst einmal so zu lassen, schneiden lassen konnte er sie zur Not später auch immer noch.

Rahul ging in seine Küche. Er kochte sich einen Kaffee und setzte sich mit der Tasse und einer Zigarette ins offene Fenster. Er überlegte, wie er Rohan am besten gegenübertreten sollte. Er hatte Angst, dass Anjali tatsächlich etwas mit ihm haben könnte. Was sollte er dann nur machen? Er hatte keine Idee. Ihm war nie in den Sinn gekommen, dass Anjali je einen anderen Mann als ihn lieben könnte. Aber was, wenn doch? Er durfte gar nicht daran denken, sofort drehte sich ihm der Magen um. Aber hier rum zu sitzen brachte ihm auch keine Antwort. Rahul verließ die Wohnung und fuhr mit seiner Maschine zu Rohan. Vor dem Haus blieb er stehen und nahm seinen ab. Er schaute nach oben. Bei Rohan brannte Licht, also würde er heute Glück haben, aber bei Anjali war alles dunkel. Er hoffte inständig, dass das nichts zu bedeuten hatte und ging zur Haustür, die wie immer nur angelehnt war. Vor Rohans Wohnung angekommen zögerte Rahul einen Moment. Sollte er wirklich klingeln? Er hatte Angst vor dem, was da auf ihn zukommen würde. Rahul wusste, dass er keine Ruhe finden würde, eh er nicht mit Rohan gesprochen hatte, also nahm er all seinen Mut zusammen und klingelte.

Anjali schlief tief und fest. Sie war völlig erledigt von den Ereignissen der letzten Zeit. Viel zu früh klingelte ihr Wecker. Anjali streckte die Hand aus und schaltete den Wecker ab, doch es klingelte wieder und wieder. Anjali hob müde den Kopf und schaute auf ihren Wecker. Ihr fiel ein, dass sie den ja gar nicht gestellt hatte. Wo kam dann das Klingeln her? Während Anjali noch überlegte, klingelte es wieder. Jetzt hörte sie es. Es war jemand an der Tür. Anjali schälte sich aus ihrem Bett, griff im Vorbeigehen ihren Morgenmantel und schlurfte zur Tür. Wer war das denn? Anjali öffnete die Tür. Sanjana schmetterte ihr ein fröhliches “Guten Morgen Schlafmütze!” entgegen. Anjali schaute etwas verdutzt und ließ Sanjana herein. “Morgen! Was machst Du denn schon hier?” fragte Anjali und ließ sich herzhaft gähnend auf ihre Couch fallen. Sanjana stand kopfschüttelnd vor ihr. “Schon? Hast Du heute schon mal auf die Uhr geschaut?” wollte sie wissen. Anjali gähnte wieder. “Wieso?” Sanjana musste lachen. “Weil es schon Mittag durch ist Du Schlafmütze!” Anjali sprang auf. “Was? Schon so spät? Oh Mann, so lange wollte ich doch gar nicht schlafen!” Sanjana versuchte Anjali zu beruhigen. “Heh! Ist doch nicht so schlimm!” Anjali rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Wohnung. “Aber ich war doch mit euch zum Mittag verabredet!” sagte sie und wollte sich bei Sanjana entschuldigen. Sanjana lachte. “Heh! Ist doch halb so schlimm. Machen wir eben ein Abendessen daraus.” Anjali schaute unsicher zu Sanjana. “Sicher? Ihr seid mir nicht böse?” Sanjana schüttelte den Kopf. “Nö. Warum auch?” Sanjana ging Richtung Anjalis Küche. “Ich würde sagen, Du gehst jetzt duschen und ich koche uns einen Kaffee. Was hältst Du davon?” Anjali nickte lächelnd. “Au ja. Ich beeil mich.” “Immer mit der Ruhe. Nicht, dass Du mir unter der Dusche noch ausrutschst!”

Anjali eilte ins Bad. Auf die Dusche freute sie schon sehr. Normalerweise wäre sie gestern Abend noch duschen gegangen, aber sie war einfach zu müde gewesen. Anjali stellte sich genau unter die Brause und drehte das heiße Wasser auf. Sie genoss das prasselnde Wasser und langsam wurde sie auch wach und ihre Lebensgeister kehrten wieder. Während sie unter der Dusche stand, dachte sie daran, was in Indien alles passiert war. Sie konnte Rahul verstehen, dass er auf sie böse war. Aber sie konnte immer noch nicht nachvollziehen, warum er Hrithik geschlagen hatte. Er hatte damit doch überhaupt nichts zu tun. Anjali konnte sich das Verhalten überhaupt nicht erklären. Anjali drehte die Dusche ab und trocknete sich nachdenklich ab. Sie wickelte sich das Handtuch um und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Sie stand vor dem Kleiderschrank und grübelte immer noch, was da in Rahul gefahren war, als sie aus der Küche Geräusche hörte. Anjali zuckte zusammen. Sanjana! Anjali hatte sie schon wieder völlig vergessen. Anjali griff sich wahllos eine Hose und ein T-Shirt und zog es an. Dann beeilte sie sich in die Küche zu Sanjana zu gehen.

Sanjana saß schon mit einer Tasse auf dem Balkon und wartete auf sie. “Na? Bist Du jetzt wieder wach?” Anjali nahm sich eine Tasse und setzte sich zu Sanjana. “Ja. Mir war gar nicht bewusst, dass ich so lange geschlafen habe! Aber jetzt bin ich ausgeschlafen und Hunger habe ich auch.” Sanjana lachte. “Dann lass uns unseren Kaffee trinken und hoch zu Rohan gehen. Der ist schon am kochen!” Anjali schaute etwas ungläubig. “Rohan kann kochen?” Sanjana musste bei Anjalis Gesichtsausdruck lachen. “Ja, vor allem sein Tandoori Chicken ist ein Traum!” Anjali lachte. “Na danke! Jetzt hab ich richtig Hunger!” Die beiden saßen noch eine ganze Weile auf dem Balkon und unterhielten sich über die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen. Es dämmerte bereits, als sie endlich hoch gingen.

Kapitel 29


Rohan wartete schon auf Sanjana und Anjali und spielte beleidigt. “Ja ja, zum Kochen bin ich gut genug. Und dann muss ich warten und alles wird kalt. Püh!” Sanjana konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und gab ihm einen Kuss. “Ach Schatz. Wir sind doch da!” Rohan lachte. “Schon gut. Jetzt setzt euch. Sonst gibt’s heut nix mehr!” Anjali protestierte. “Das kannst Du nicht machen. Sanjana hat so von deinem Tandoori Chicken geschwärmt.” Rohan grinste geschmeichelt. “Hat sie das wirklich?” Anjali nickte. “Ja doch und außerdem habe ich Hunger!” Jetzt musste Rohan lachen. “Na dann mal los.” Als sie gerade beim Essen waren, klingelte es. Dev wetzte zur Tür und bellte. Die drei schauten sich an. “Erwartet ihr noch jemanden?” wollte Anjali wissen. “Nein eigentlich nicht.” sagte Rohan schulterzuckend und ging zur Tür, um zu schauen, wer das war.

Rahul wollte sich gerade wieder umdrehen, um zu gehen, als die Tür aufgemacht wurde. Rohan schaute Rahul völlig entgeistert an. Mit ihm hatte er nun überhaupt nicht gerechnet. ”Rahul!” Der schaute etwas verlegen zu Rohan. “Hallo!” Anjali ließ die Gabel fallen, als sie Rahuls Stimme hörte. Sie sah Sanjana an, die aber genauso überfragt die Schultern zuckte. “Rahul!” Anjali sprang auf und lief nun ebenfalls zur Tür. “Was machst Du denn hier?” Rahul konnte Sanjana nicht sehen, da Rohan und Anjali beide in der Tür standen und den Blick versperrten. Sofort überschlug sich seine Phantasie wieder. Rahuls Mine verfinsterte sich. “War ja klar. Kaum bin ich weg, suchst Du dir schon den nächsten!” “Rahul?” Anjali sah ihn fragend an. “Spar dir das! Ich hab die Schnauze voll!” Rahul schaute die beiden an. Seine Augen waren vor Wut fast schwarz geworden. Er drehte sich um und wollte gehen, als Rohan ihm hinterher eilte. “Rahul! Warte!” Das war zu viel für Rahul. Er drehte sich um und holte aus. Rohan konnte so schnell überhaupt nicht reagieren und landete unsanft auf dem Boden. Anjali schrie auf. “Spinnst Du jetzt komplett? Was soll das?” Sanjana war nun auch aus der Wohnung gekommen und war entsetzt. “Rohan! Schatz!” rief sie und eilte zu dem am Boden liegenden Rohan. Sie hockte sich neben ihn. Seine Nase blutete.

Rahul sah entsetzt auf Sanjana, die sich um Rohan kümmerte. Langsam dämmerte ihm, dass er da was völlig falsch aufgefasst hatte. Er wollte gerade etwas sagen, als Sanjana wutentbrannt auf ihn zugestürmt kam und ihm eine knallte. “Sag mal, hast Du noch alle Steine auf der Schleuder?” schrie sie an. “Was fällt dir ein, wahllos Leute zusammenzuschlagen? Rohan hat dir nichts getan, genauso wenig wie Hrithik!” Rahul hielt sich die Wange, die Sanjana getroffen hatte und schaute betreten zu Boden. “War ja klar!” schimpfte Sanjana weiter. “Erst sinnlos schlagen und dann das Maul nicht aufbekommen! Mach dich bloß vom Acker! Hier kann dich heute nun wirklich keiner mehr gebrauchen!” Sanjana schaute Rahul drohend an. Anjali stand daneben, unfähig etwas zu tun oder zu sagen. Sie spürte, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Sie verstand nun überhaupt nichts mehr. Rahul sah ihren traurigen Blick. Er konnte sie nicht weinen sehen, das drehte ihm immer das Herz im Leibe um. Doch er hatte keine Chance, sich zu erklären. Erstens stand Sanjana immer noch wie eine Furie vor ihm und Zweitens würde ihm hier wahrscheinlich keiner mehr zuhören. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehen.

Nachdem Rahul weg war, kam auch in Anjali wieder Leben und sie half gemeinsam mit Sanjana Rohan auf und brachte ihn wieder in die Wohnung zurück. Sanjana half Rohan sich auf die Couch zu legen, während Anjali eine Schüssel mit kalten Wasser und einen Lappen holte. Sanjana säuberte vorsichtig Rohans Gesicht, der zusammenzuckte, als sie an seine Nase kam. Anjali konnte es immer noch nicht glauben, dass Rahul nun auch noch Rohan geschlagen hatte. “Es tut mir so leid.” sagte sie leise zu Rohan. Der winkte ab. “Was soll dir denn leid tun? Du kannst doch nichts dafür, dass Rahul sich nicht im Griff hat.” Sanjana schimpfte immer noch wie ein Rohrspatz vor sich hin. “Wenn ich den noch mal erwische…!” Rohan musste sich ein Lachen verkneifen. “Ganz ruhig. Ich lebe ja noch!” sagte er und zog Sanjana in seine Arme, die nun am weinen war. Anjali verabschiedete sich schließlich und ging in ihre Wohnung zurück.

Rahul hatte das Haus verlassen und sich auf seine Maschine gesetzt. Er saß so eine kleine Ewigkeit vor dem Haus. Er wusste nicht warum, aber insgeheim hoffte er, dass Anjali ihm folgen würde. Doch irgendwann sah Rahul, dass in Anjalis Wohnung das Licht anging und da wurde ihm klar, dass sie nicht kommen würde. Wahrscheinlich hatte er sie jetzt ganz verloren. Traurig setzte Rahul sich seinen Helm auf und fuhr nach Hause.

Anjali stand auf ihrem Balkon und sah dem davonfahrenden Motorrad hinterher. Immer noch liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Was war nur in Rahul gefahren? Wieso hatte er nun auch noch auf Rohan eingeschlagen? Und was hatte er gemeint, als er sagte, dass sie sich einen anderen gesucht hätte, als er nicht mehr da war? Er glaubte doch nicht allen Ernstes, dass sie etwas mit anderen gehabt hatte? Anjali schüttelte fassungslos den Kopf und wischte sich mit der Hand über das nasse Gesicht. Sie brauchte Abstand zu allem, sie konnte einfach nicht mehr und sie wollte auch nicht mehr. Ihr fiel wieder ein, dass Rahul und sie vor dem Unfall in der Nähe von Mumbai ein Haus gekauft hatten, in dem sie nach der Hochzeit leben wollten. Sie hatte es nach seinem vermeintlichen Tod nicht wieder betreten, aber sie hatte es auch nicht verkaufen können. Dorthin wollte sie jetzt und alles hinter sich lassen. Anjali ging in ihr Schlafzimmer und packte ihre Sachen. Sie setzte sich auf ihr Bett und nahm Rahuls Foto vom Nachttisch. Sie sah es lange an, bevor sie auch das Foto in ihre Tasche steckte. Aber so einfach gehen ohne etwas zu sagen konnte sie auch nicht.

Anjali ging in die Küche, kochte sich einen Kaffee und setzte sich mit Briefpapier an den Küchentisch. Sie schrieb drei Briefe. Einen an Rohan und Sanjana, einen an Mr. Singh und zuletzt einen an Rahul. Nachdem sie damit fertig war, rief sie sich ein Taxi, dass ein paar Minuten später vor ihrer Tür stand. Anjali löschte das Licht in ihrer Wohnung und verließ sie zum letzten Mal. Unten im Haus steckte sie den Brief an Rohan und Sanjana in deren Briefkasten und ging zum Taxi. Sie wies den Taxifahrer an, zu Mr. Singh und Rahul zu fahren. Dort hinterließ sie die Briefe und ließ sich dann zum Flughafen fahren.

Anjali hatte Glück, dass schon zwei Stunden später ein Flieger nach Indien ging. Anjali gab ihr Gepäck auf und tigerte nervös im Terminal umher. Jetzt hätte sie eine Zigarette gebrauchen können, aber sie hatte Sanjana ja versprochen aufzuhören und daran hielt sie sich. Sie hoffte, dass sie schon Indien angekommen war, wenn die anderen ihre Briefe finden würden. Sie hatte jetzt keine Kraft mehr, um sich noch persönlich zu erklären. Schließlich wurde ihr Flug aufgerufen und Anjali begab sich an Bord der Maschine. Kurze Zeit später war das Flugzeug in der Luft und Anjali hatte von ihrem Fensterplatz aus einen letzten Blick auf das nächtliche London. Anjali verschlief wie immer den Flug und wurde erst kurz vor der Landung in Mumbai wieder wach. Nachdem sie gelandet waren und Anjali ihr Gepäck geholt hatte, rief sie sich ein Taxi, um sich nach Vasai fahren. Dort stand in der Nähe vom Vasai Beach ihr Haus, welches sie seit 2 Jahren nicht betreten hatte. Nach etwa eineinhalb Stunden hatte das Taxi die gewünschte Adresse erreicht und Anjali stieg aus.

Kapitel 30


Sie stand etwas unsicher vor dem Haus. Es sah noch genauso aus, wie es in ihrer Erinnerung hatte. Nur der Garten war mittlerweile ziemlich verwildert. Anjali nahm ihren Koffer und stieg langsam die Stufen zur Haustür hinauf. Zu ihrer Erleichterung war das Schloss unversehrt. Der Schlüssel ging ein wenig schwer, aber die Tür ließ dennoch leicht öffnen. Anjali holte tief Luft und trat in das Innere des Hauses. Es war dunkel, da alle Fensterläden geschlossen waren. Sie tastete nach dem Lichtschalter und Sekunden später erhellte sich der Raum. Anjali stellte ihren Koffer ab und ging in die Mitte des Eingangsbereiches von dem aus mehrere Zimmer abgingen und eine große Freitreppe in den oberen Stock führte. All die ganzen Gefühle der letzten zwei Jahre brachen über Anjali herein und sie sank weinend auf ihre Knie. Sie spürte, dass sie hier endlich Ruhe finden würde. Während sie auf dem kühlem schwarz-weißen Marmorboden saß, dachte sie kurz an Rahul. Ob der ihren Brief schon gefunden und gelesen hatte? Langsam stand sie auf und ging in den oberen Stock. Nichts hatte sich hier verändert. Alles war noch genau so, wie sie es eingerichtet hatten. Anjali blieb vor einer großen Tür am Ende des Ganges stehen. Langsam öffnete sie die Tür und betrat das dahinter liegende Zimmer. Es war das gemeinsame Schlafzimmer, zumindest sollte es das einmal werden. Langsam ging sie durch den großen Raum auf die angrenzende Terrasse. Sie stützte sich auf der Brüstung ab. Was jetzt wohl in London los war?

In London war Anjalis Weggang noch nicht bemerkt worden. Der Morgen erhob sich langsam über die Stadt und verbannte die Nacht, die für einige in London sehr unruhig gewesen war.

Rahul hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Die ganze Zeit musste er daran denken, dass er Mist gebaut hatte. Aber richtig Mist. Wie hatte er auch nur auf die Idee kommen können, dass Anjali was mit einem anderen gehabt haben könnte? Er war sauer, aber diesmal auf sich. Wie sollte er das je im Leben wieder gerade biegen? Er musste mit ihr reden. Aber wie? Sicher wollte sie nach seinem Auftritt von gestern nichts mehr von ihm wissen. Rahul lag in seinem Bett und starrte die Decke an. Sollte er einfach zu ihr fahren und klingeln? Und dann? Was sollte er dann sagen? Rahul setzte sich auf und griff sich eine Zigarette vom Nachttisch. Während er sie anzündete, fragte er sich, wie er nur so blind hatte sein können und so blöd, dass er sich durch seine Eifersucht hatte völlig aus dem Konzept bringen lassen.

Auch Rohan und Sanjana waren nach einer mehr oder wenigen ruhigen Nacht wach geworden. Rohans Kopf brummte und Sanjana hatte vor lauter Aufregung kaum schlafen können. Sie lagen noch eine Weile zusammengekuschelt im Bett und genossen die Nähe des jeweils anderen. “Was meinst Du, wie es Anjali heute Morgen geht?” fragte Sanjana leise und schaute Rohan an. Der hatte die Augen noch geschlossen, sein linkes Auge war von einem dicken Veilchen umrahmt, und antwortete genauso leise. “Keine Ahnung. Aber gut geht es ihr sicher nicht. Wir sollten sie zum Frühstück hoch holen und sie heute nicht ganz alleine lassen.” Sanjana kuschelte sich wieder an Rohan und nickte. “Okay, aber ein Stündchen haben wir noch, ja?” Rohan zog Sanjana noch näher an sich heran. “Aber nur ein Stündchen.” So schliefen beide noch einmal ein.
Doch lange hatten sie keine Ruhe, da Dev sein Recht verlangte. Schweren Herzens quälte Sanjana sich aus dem Bett und gab Rohan einen Kuss. “Also, ich geh eine Runde mit Dev und bring anschießend Frühstücksbrötchen und Anjali mit.” sagte sie zu Rohan, der sich die Decke über den Kopf zog. “Und Du machst Frühstück.” Mit diesen Worten riss Sanjana ihm die Decke weg und ließ den protestierenden Rohan allein zurück.

Als Sanjana schließlich von ihrer Runde zurückkam, hatte Rohan das Frühstück tatsächlich schon fertig. Er nahm ihr die Brötchentüte ab und schaute sie fragend an. “Wo ist Anjali?” Sanjana zuckte mit den Schultern. “Keine Ahnung. Aber schau mal, hier war ein Brief im Briefkasten.” Rohan nahm den Brief und las ihn sich durch. Er war völlig entsetzt und gab ihn ohne ein Wort an Sanjana weiter. “Was?” rief diese, nachdem sie fertig gelesen hatte. “Das darf doch wohl nicht wahr sein!” Rohan schaute finster. “Los, wir fahren zu Rahul!” Sanjana nickte und so machten sie sich auf den Weg zu Rahul, der bis jetzt noch nicht ahnte, was auf ihn zukommen würde.

Rahul kam gerade aus der Dusche, als es klingelte. Wer konnte das denn sein? Um diese nachtschlafende Zeit vor allem? Rahul wickelte sich ein Handtuch um die Hüften und tapste tropfend vor Nässe zur Tür, um sie zu öffnen. Er schaute durch den Spion und erkannte Rohan und Sanjana. Was wollten die denn hier? Rohan drückte schon wieder auf Klingel. “Rahul! Mach auf! Sofort!” rief und klopfte es gegen die Tür. Rahul war irritiert. Was sollte das denn? Er öffnete die Tür und Rohan konnte gerade noch seine Hand bremsen, sonst hätte er Rahul erwischt. “Was… was macht ihr denn hier?” fragte Rahul verwundert, während sich Rohan und Sanjana wortlos an ihm vorbei in die Wohnung drängten. Rahul folgte den beiden irritiert und sah sie fragend an.

“Was ist denn los?” wollte er wissen, als Sanjana auch schon auf ihn zukam. “Das hast Du ja echt super hinbekommen! Bist Du jetzt zufrieden?” schrie sie Rahul an. Der kapierte gar nichts mehr. “Wegen gestern? Das… das tut mir leid, ehrlich! Ich habe wohl überreagiert!” sagte er. Sanjana schüttelte den Kopf. “Bist Du so blöd oder tust Du nur so?” fragte sie ihn. Rahul sah sie fragend an und dann Rohan. “Was… was ist denn los? Ich verstehe nicht…” sagte er irritiert. Rohan sah ihn an. “Du hast ihren Brief noch nicht gelesen?” Rahul war nun vollends überfragt. “Was für einen Brief denn?” Rohan seufzte. “Anjali ist weg! Sie hat uns einen Brief geschrieben und auch geschrieben, dass sie dir ebenfalls einen Brief geschrieben hat.” “Wie weg? Wo ist sie hin?” Sanjana meldete sich nun wieder zu Wort. “Wenn wir das wüssten, wären wir ja nicht hier, Du… Du… Ach vergiss es. Such den Brief!”

Rahul hob beschwichtigend die Hände. “Sofort! Lass mich nur rasch eine Hose anziehen!” Sanjana nickte. “Aber beweg dich! Ich will wissen, was mit Anjali ist und wo sie ist!” Rahul flitzte ins Bad und zog sich schnell eine Hose an und eilte dann ins Treppenhaus zu den Briefkästen. Als er den Briefkasten öffnete, fiel ihm auch schon Anjalis Brief entgegen. Rahul fing ihn auf und ging zurück in seine Wohnung. “Und hast Du ihn?” fragte Sanjana ungeduldig. Rahul nickte. “Dann mach schon und lies ihn!” Sanjana konnte sich kaum noch beruhigen. Rahul setzte sich auf sein Bett und sah auf den Brief. Er hatte ein seltsames Gefühl im Bauch und auch Angst davor, was Anjali ihm wohl geschrieben haben konnte. “Hallo! Nun mach schon!” Sanjana schrie ihn beinahe an. Rohan kam auf sie zu und nahm sie in seine Arme. “Beruhig dich. Wir gehen in die Küche Rahul und kochen einen Kaffee. Lass dir Zeit!” sagte er ruhig und zog Sanjana mit sich, die sich wehrte. Rahul öffnete vorsichtig den Brief und nahm in heraus. Dabei fiel etwas aus dem Brief auf den Fußboden. Rahul hob es auf und sah, dass es sein Ausweis war. Er war irritiert. Was hatte das zu bedeuten? Mit klopfendem Herzen begann er den Brief zu lesen.

Der Brief


Mein geliebter Rahul,

Ich weiß, Du bist sauer auf mich, aber bitte zerreiß diesen Brief nicht gleich. Das kannst Du tun, wenn Du ihn gelesen hast. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

Als Du damals nach unserem Streit weggefahren bist und die Polizei mir die Nachricht von deinem Tod überbracht hat, ist meine Welt zusammengebrochen. Ich durfte dich nicht noch einmal sehen, dann wäre sicher einiges anders verlaufen. Ich war wie betäubt. Ich konnte nicht einmal zur Beisetzung gehen. Das hatte Hrithik mir nie verziehen. Als ich das Angebot bekam, in London zu arbeiten, habe ich es angenommen. Ich hatte gehofft, den Schmerz hier vergessen zu können. Doch es verging nicht ein einziger Tag, an dem nicht an dich gedacht habe, an dem ich dich nicht vermisst habe. Ich habe sogar angefangen zu rauchen. Deine Marke, dann hatte ich immer das Gefühl, dir ein bisschen näher zu sein.

Kurz vor deinem vermeintlich zweiten Todestag habe ich auf einmal in einem Café deine Stimme gehört. Und später bei mir Treppenhaus. Ich dachte schon, dass ich langsam den Verstand verliere, aber dann habe ich dich im Park getroffen. Weißt Du noch, als mir Dev weggelaufen war. Ich habe dich mit deinem Namen angesprochen, aber Du hast gesagt, Du würdest Aman heißen. Mein Chef hat für mich Recherchen in Indien anstellen lassen und dabei herausgefunden, dass es im Krankenhaus eine folgenschwere Verwechslung gegeben hatte. Das zur selben Zeit ein anderer Motorradfahrer verunglückt war. Ihr seid zeitgleich ins Krankenhaus gekommen und hattet beide schwere Gesichtsverletzungen. Das Krankenhauspersonal muss euch verwechselt haben. Und da Du dich an nichts mehr erinnern konntest und der andere keine Familie mehr hatte, fiel es auch keinem auf.

Ich war so glücklich, zu wissen, dass Du noch lebst. Aber dann hieß es, Du seiest mit Sanjana verlobt. Ich konnte es nicht glauben. Aber Du schienst dich an mich nicht mal ein wenig erinnern zu können. Und je öfter wir uns gesehen hatten, um so schwieriger wurde es für mich, dir zu sagen, wer Du wirklich bist. Ich hatte erst Angst, dass Du mir nicht glauben würdest. Dann hatte ich Angst, dass Du dich wieder erinnern würdest und damit auch an mich. Ich hatte Angst, dass Du dann sauer auf mich sein würdest. Darum hatte ich die Idee, Hrithik aufzusuchen und mit ihm zu sprechen. Er sollte mit dir reden. Ich hoffte, dass Du wenigstens ihn, deinen besten Freund, erkennen würdest. Aber die Ereignisse in Mumbai überschlugen sich so.

Rahul, ich weiß, dass Du mir nie das nie verzeihen wirst. Aber ohne dich kann und will ich nicht leben. Ich will nur, dass Du weißt, dass ich immer nur dich geliebt habe und immer lieben werde. Es gab und gibt keinen anderen in meinem Leben.

Rahul, ich hoffe, Du kannst mir eines Tages verzeihen, denn wenn Du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr da sein. Ohne dich hat mein Leben keinen Sinn. Ich hoffe, dass wir in einem anderen Leben mehr Zeit miteinander haben werden.

Ich bitte dich nur um eines. Verzeih mir, wenn Du kannst.

In Liebe Anjali


Kapitel 31


Während Rahul den Brief las, saßen Sanjana und Rohan in der Küche und warteten. Nach ein paar Minuten hatte Sanjana genug. “Ich will jetzt endlich wissen, was los ist! Ich geh jetzt rüber!” sagte sie und stand auf. Rohan konnte sie nicht aufhalten, also folgte er ihr. Weit kamen sie allerdings nicht, denn schon im Flur prallten sie mit einem völlig aufgelösten Rahul zusammen. “Heh! Was ist? Was hat sie geschrieben?” wollte Sanjana wissen. “Ich muss in ihre Wohnung, sofort!” bekam sie zur Antwort und konnte nur noch dem davonrennenden Rahul hinterher sehen, der wie angestochen aus der Wohnung lief. Rohan zog Sanjana hinter sich her, aber vor dem Haus angekommen, sahen sie nur noch das Rücklicht seines Motorrades. “Los, lass uns nach Hause fahren. Da treffen wir ihn auf jeden Fall.” sagte Rohan und zog Sanjana ins Auto. Kurz darauf kamen sie vor Anjalis Wohnung an und sahen, dass Rahul verzweifelt versuchte, das Schloss aufzubrechen. “Warte! Ich habe einen Schlüssel zur Wohnung!” rief Rohan und eilte in seine Wohnung hoch, um den Schlüssel zu suchen. Zwei Minuten später war er wieder da und schloss die Wohnung auf. Rahul stürmte sofort hinein und fing an, auf dem Schreibtisch etwas zu suchen. “Rahul! Was tust Du denn? Was suchst Du?” fragte Sanjana, denn noch immer hatte Rahul nicht gesagt, was in dem Brief gestanden hatte. “Hrithiks Telefonnummer. Ich weiß, dass sie sie hat.” Rohan und Sanjana schauten sich irritiert an. “Warum denn das?” wollte Rohan wissen. Rahul hielt kurz inne und kramte Anjalis Brief aus seiner Hosentasche und gab ihn Rohan.

Während Sanjana und Rohan den Brief lasen, fand Rahul was er gesucht hatte. Er eilte zum Telefon und wählte mit zitternden Fingern Hrithiks Nummer. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er Hrithiks Stimme am anderen Ende hörte. “Ja, bitte?” “Hrithik, hier ist Rahul!” Am anderen Ende war Stille, dann hörte er. “Rahul… Was für eine Überraschung. Was gibt es?” “Ich hab jetzt keine Zeit für Smalltalk! Ist Anjali zufällig bei dir?” Hrithik klang irritiert. “Nein, wieso?” “Hat sie sich bei dir gemeldet?” “Nein! Rahul, was ist denn los?” “Ich muss sie finden! Ich glaube, sie tut sich was an!” Wieder war am anderen Ende Stille. “Bist Du dir sicher?” “Ich weiß es nicht, aber es klang verdammt danach.” Rahul versagte fast die Stimme vor Angst. “Hat sie dir erzählt, ob sie das Haus verkauft hat?” Rohan und Sanjana waren mittlerweile zu Rahul getreten und sahen sich irritiert an. Anjali hatte ihnen gegenüber nie etwas von einem Haus erwähnt. “Nein. Glaubst Du, sie könnte dorthin zurück gekehrt sein?” “Ich weiß es nicht, Hrithik. Tust Du mir einen Gefallen? Du weißt doch noch, wo es steht. Fahr hin und sieh nach. Bitte!” Rahul flüsterte mittlerweile nur noch. Die Angst um Anjali schnürte ihm fast die Kehle zu. “Ja, natürlich! Ich fahre sofort hin!” Rahul liefen mittlerweile die Tränen. “Danke. Ich werde so schnell wie möglich nach Indien kommen.” Er gab Hrithik noch seine Handy-Nummer und legte dann auf. Bevor Sanjana oder Rohan etwas sagen konnten, hatte er das Telefon schon wieder in der Hand und rief beim Flughafen an.

Nachdem auch dieses Gespräch beendet war, sackte Rahul in sich zusammen. Rohan konnte ihn gerade noch abfangen und führte ihn zur Couch. “Sie ist tatsächlich nach Indien geflogen. Oh, Anjali, was hast Du nur vor?” Rahul hatte sein Gesicht hinter den Händen verborgen und war völlig verzweifelt. “Dann fliegen wir eben sofort hinterher.” sagte Sanjana. Rahul sah sie mit verweinten Augen an und schüttelte den Kopf. “Der nächste Flug geht erst morgen früh. Bis dahin kann sie…” Er stockte. Er wollte es nicht aussprechen. “Ihr fliegt gleich!” Die drei sahen irritiert in die Richtung, aus der die Stimme kam. “Mr. Singh!” Rohan ging auf Anjalis Chef zu. “Woher…?” “Ich habe auch einen Brief von Anjali erhalten. Ihr nehmt meinen Privat-Jet und fliegt hin.” Rahul war aufgestanden und vor ihn getreten. “Danke Mr. Singh: Aber warum tun sie das?” Mr. Singh setzte sich bevor er antwortete. “Anjali ist für mich wie eine Tochter geworden in den letzten zwei Jahren. Ich habe schon eine Tochter verloren. Sie will ich nicht auch noch verlieren. Ich habe gesehen, wie sehr sie darunter gelitten hat, dass Sie - naja, dass Sie tot waren. Ich will sie wieder glücklich sehen.” Rahul liefen immer noch die Tränen über das Gesicht. Mr. Singh war wieder aufgestanden. “Und jetzt macht, dass ihr zum Flughafen kommt. Mein Flieger steht schon für euch bereit.”

Während Rahul, Sanjana, Rohan und Mr. Singh von James zum Flughafen gefahren wurden, machte sich Hrithik auf den Weg zum Haus von Anjali und Rahul. Er hoffte, dass sich Rahuls Vermutung nicht bestätigen würde und er Anjali gesund und munter vorfinden würde. Wenn sie denn überhaupt dorthin gefahren war. Es waren nur knapp siebzig Kilometer, doch irgendwie kamen sie Hrithik vor wie tausend. Und die Kühe schienen sich an dem Tag auch gegen ihn verschworen zu haben. Jetzt blockierte ihm schon die dritte Kuh den Weg. Wären sie nicht so heilig, hätte er sie am liebsten verflucht. Nach zwei Stunden kam er endlich an dem Haus an. Er stieg aus und sah sich um. Es sah unbewohnt aus. Der Garten war verwildert und alle Fensterläden waren geschlossen. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemand war. Er ging um das Haus herum, doch er konnte nichts entdecken, was auf Anjalis Anwesenheit hinwies. Ratlos setzte er sich auf die Treppe der Veranda und überlegte, ob er das Schloss aufbrechen sollte, um sich im Haus umsehen zu können.

Kapitel 32


Rahul, Sanjana und Rohan saßen mittlerweile im Flugzeug und waren auf den Weg nach Mumbai. Mr. Singh hatte ihnen vor dem Abflug noch gesagt, dass Amir sie vom Flughafen abholen und direkt zum Haus bringen würde. Während Sanjana und Rohan schliefen, fand Rahul keine Ruhe. Immer wieder las er Anjalis Brief. Hoffentlich würde Hrithik sie finden. Er hatte wahnsinnig Angst und der Flug verging ihm nicht schnell genug. Er fluchte innerlich, dass die Entfernung zwischen England und Indien so riesig war. Hoffentlich war noch nicht alles verloren. Rahul machte sich die größten Vorwürfe. Wenn sie sich tatsächlich etwas antat, wäre er schuld. Das könnte er nicht ertragen. Rahul tigerte im Flugzeug auf und ab. Immer wieder sah er auf sein Telefon, aber Hrithik hatte immer noch nicht angerufen. Er getraute sich aber auch nicht, ihn anzurufen. Rohan war wach geworden und zu ihm getreten. Er legte Rahul mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Rahul sah ihn an und schon wieder füllten sich seine Augen mit Tränen. Er konnte einfach nicht mehr. Ihn beschlich ein leises Gefühl der Panik, doch er war hier oben zwischen Himmel und Erde machtlos und gefangen wie ein Tiger im Käfig. Er konnte nichts tun als zu warten.

Anjali war wieder ins Schlafzimmer zurückgegangen und hatte sich auf das Bett gesetzt. Sie öffnete ihre Tasche und holte Rahuls Foto heraus. Sie schaute es lange an bevor sie auf den Nachttisch stellte. Sie holte eine kleine Schachtel aus der Tasche und öffnete sie. Darin lag der Verlobungsring, den sie nun heraus nahm und sich an den Finger steckte. Eine Weile tigerte sie im Schlafzimmer umher. Sie war nervös, aber entschlossen. Anjali schloss die Fensterläden und ging zurück zum Bett. Sie öffnete eine Flasche Whiskey, die sie in der Küche gefunden hatte und nahm ein Fläschchen mit Schlaftabletten aus ihrer Tasche. Sie schüttete sich die Tabletten in die Hand und schluckte sie nach und nach mit dem Whiskey herunter. Während sie darauf wartete, dass die Wirkung der Tabletten einsetzte, rauchte sie noch eine letzte Zigarette. Sie wurde schläfrig und so legte sie sich auf das Bett und schloss die Augen, bevor sie langsam wegdämmerte. Sie hörte von Weitem eine Stimme ihren Namen rufen. Ob das ein Engel war, der sie zu sich rief? Mit diesem letzten Gedanken schlief Anjali schließlich richtig ein.

Nachdem er ewig auf der Veranda gesessen hatte, hatte Hrithik sich entschlossen, doch zu versuchen, in das Haus zu kommen. Er stand auf und ging zur Tür. Er drehte den Türknauf und war erstaunt, dass sie sich die entgegen seiner Vermutung doch öffnen ließ. Er betrat das Haus und suchte den Lichtschalter. Nachdem er das Licht angeschaltet hatte, sah er sich um. Sein Blick streifte durch die Eingangshalle, als dieser an einer Stelle auf dem Fußboden hängen. Der Mamorboden war staubig, doch diese eine Stelle nicht. Hrithik ging dorthin und sah es sich genau an. Der Staub war verwischt, gerade so, als hätte hier etwas gestanden und wäre wieder hochgenommen worden. Hrithik schaute sich um. “Anjali?” rief er, doch er erhielt keine Antwort. “Anjali!” rief er jetzt etwas energischer. Instinktiv ging er die Treppe hinauf und blieb stehen. Er schaute den Flur rechts und links hinunter und rief wieder “Anjali!” Er ging langsam den Gang links hinunter und blieb vor einer Tür stehen. Langsam öffnete er sie und schaute hinein. Er konnte nichts sehen, da auch hier die Fensterläden geschlossen waren. Aber er roch etwas. Zigarettengeruch. Hier musste jemand sein. Hrithik machte einen Schritt in das Zimmer und lauschte. Er konnte nichts hören und suchte erstmal den Lichtschalter. Als er ihn gefunden hatte und das Licht angeschalten war, drehte er sich um.

Sein Blick fiel auf das Bett und er sah Anjali dort liegen. Sein Blick blieb am Nachttisch hängen und er sah die Flasche Whiskey und das Tablettenfläschchen. “Scheiße! Anjali!” schrie er und rannte zum Bett. Er schüttelte sie, aber sie reagierte nicht. “Verdammt! Was hast Du getan?” schnell suchte Hrithik ihren Puls. Es dauerte eine Weile, aber dann fand er ihn. Er ging langsam und flach. “Mist!” Hrithik kramte nach seinem Handy und rief einen Notarzt. Dann sah er wieder zu Anjali. Irgendwie musste er sie wach bekommen. Er zog Anjali hoch und brachte sie Bad. Dort setzte er sie in die Wanne und drehte das kalte Wasser auf. Er hoffte, dass sie dadurch wach werden würde. Es dauerte eine Weile, dann kam langsam Bewegung in Anjali. “Anjali! Heh Anjali, hörst Du mich?” rief Hrithik, bekam aber keine Antwort. Anjali würgte und erbrach sich schließlich. Hrithik konnte so schnell gar nicht reagieren, aber mehr als ihr den Kopf halten konnte er nicht. Wenigstens schien das meiste jetzt wieder aus ihrem Körper raus zu sein. Aber das sie immer noch nicht wach war, machte ihm Sorgen. Immer noch duschte er sie kalt ab. Kurz darauf traf auch schon der Notarzt mit dem Krankenwagen ein und nahm Anjali mit. Hrithik ließ sich nun selber erstmal kaltes Wasser über das Gesicht laufen. Da durchzuckte ihn ein Gedanke. Rahul! Mist, den hatte er ja noch gar nicht angerufen. Schnell kramte er nach seinem Handy und wählte Rahuls Nummer.

Rahul tigerte immer noch im Flugzeug herum. “Warum hat Hrithik noch nicht angerufen?” fragte er völlig verzweifelt Rohan. “Keine Ahnung, aber es muss nichts heißen.” versuchte der Rahul zu beruhigen. Die Stimme des Piloten unterbrach die beiden und teilte ihnen mit, dass sie bald landen würden und sie sich hinsetzen und anschnallen sollten. Rahul hatte sich gerade angeschnallt, als sein Telefon klingelte. Er sah aufs Display. Hrithik. Er schaute panisch zu Sanjana und Rohan, die ihn jetzt beide gespannt ansahen. “Ich kann nicht…” sagte Rahul leise und gab sein Telefon zu Rohan. Der schaute kurz zu Sanjana, holte tief Luft und ging schließlich ran. “Hallo Hrithik. Hier ist Rohan.” Ängstlich sah Rahul zu Rohan. Dessen Gesicht ließ nichts Gutes erahnen. “Okay, danke Hrithik. Wir landen gleich und kommen dann sofort.” Er legte auf und sah zu Sanjana und Rahul. Der getraute sich nun gar nichts mehr zu sagen. Rohan holte tief Luft und sah Rahul an. “Rahul… reg dich jetzt bitte nicht auf…” Weiter kam er nicht, da Rahul völlig zusammenbrach und von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Sanjana und Rohan sahen sich hilflos an und wussten nicht, was sie jetzt tun sollten. Sanjana legte Rahul behutsam eine Hand auf die Schulter. Auch ihr liefen jetzt Tränen über das Gesicht. Sie zog Rahul zu sich, der jetzt hilflos weinend seinen Kopf in ihrem Schoß vergraben hatte. Behutsam strich sie ihm immer wieder über die Haare.

Kurz darauf war das Flugzeug gelandet. Rahul hatte es mit viel Mühe geschafft, sich etwas zusammenzureißen. Auch wenn ihm immer noch Tränen über das Gesicht liefen. Vor dem Flughafengebäude kam ihnen auch schon Amir entgegen und nahm ihnen das Gepäck ab. Rahul verdrückte sich nach hinten ins Auto. Sanjana setzte sich zu ihm, während Rohan neben Amir Platz nahm. Nachdem Rohan ihm gesagt hatte, wo es hingehen sollte, fuhr Amir auch sofort los. Rahul saß im Auto und starrte nach draußen. So hatte er nicht nach Indien zurückkehren wollen. Seine Gedanken kreisten nur um Anjali. Keiner im Auto wusste, wie es Anjali im Moment ging oder ob sie überhaupt noch lebte. Rahul war regelrecht schlecht. Es kam ihm vor, als würde Amir nur in Schrittgeschwindigkeit fahren. “Geht das nicht was schneller?” fuhr er Amir an, der überhaupt nicht wusste, wie ihm geschah. “Tschuldigung…” murmelte Rahul und sank wieder in den Sitz zurück. Er schloss die Augen und sah Anjali vor sich. Was sollte er nur tun, wenn sie starb? Das würde er nicht verkraften. Damit könnte er nicht leben. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und dachte immer wieder an Anjalis Brief. Unaufhörlich liefen ihm Tränen über das Gesicht. Er konnte sie einfach nicht stoppen.

Kapitel 33


Sanjana sah Rahul besorgt an. Er schien kurz vorm Zusammenbruch zu sein. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seine, sie wollte ihn nicht erschrecken. Rahul reagierte nicht und drehte seinen Kopf nur zum Fenster. Am liebsten wäre er jetzt allein. Allein irgendwo mit Anjali. Seine Hand ballte sich zur Faust, er war so sauer auf sich selbst. Wieso hatte er ihr nicht zugehört? Warum hatte er sich nur so von seiner Eifersucht lenken lassen? Wieso nur war er so blind gewesen? Statt sich zu freuen, dass Anjali immer noch da war - für ihn da war, hatte er wild um sich geschlagen.

Nach zwei Stunden Fahrt hielt das Auto endlich vor dem Krankenhaus. Rahul war ausgestiegen und stand unschlüssig davor. Rohan und Sanjana standen schweigend daneben und sahen abwechselnd sich und Rahul an.

Der stand wie angewachsen und starrte auf den Eingang. Sollte er reingehen? Was würde er erfahren, wie es Anjali ging? Wollte er das überhaupt wissen wollen? Langsam und unsicher setzte er schließlich einen Fuß vor den anderen und ging auf das Krankenhaus zu. In einiger Entfernung folgten ihm Sanjana und Rohan. Vor der Tür stockte er kurz, ging dann aber hinein und sah sich suchend um. Schließlich entdeckte er Hrithik, der gerade vor einem Kaffeeautomaten stand und mit diesem kämpfte. Er beobachtete ihn eine Weile. Hrithik sah mitgenommen aus. Rahul wusste nicht, wie er das deuten sollte und wollte schon auf ihn zugehen, als Sanjana ihm zuvor kam und zu Hrithik hinüberging.

“Hey Hrithik!” begrüßte Sanjana ihn. Hrithik drehte sich um und umarmte Sanjana. “Hallo! Schön, dass ihr es so schnell geschafft habt.” Sanjana nickte. “Wie… wie… was ist mit Anjali?” fragte sie zögerlich, während sie zu Rahul und Rohan zurück gingen. “Sie lebt!” sagte er und sah Rahul an. “Wo ist sie? Kann ich zu ihr?” fragte Rahul. Hrithik schüttelte den Kopf. “Ich fürchte, das geht noch nicht. Anjali liegt auf der Intensivstation. Sie ist noch nicht wieder aufgewacht.” Langsam gingen sie zur Intensivstation. “Hrithik…” leise hielt Rahul Hrithik an der Schulter fest, während sich Sanjana und Rohan auf die Stühle vor der Station setzten. Hrithik blieb stehen und sah Rahul fragend an. “Es… es tut mir leid.” setzte Rahul an. “Das wollte ich nicht.” Hrithik nickte und umarmte Rahul. “Ist schon vergessen. Ich bin froh, dass mein bester Freund noch lebt!” Rahul liefen schon wieder die Tränen. “Danke.” flüsterte er und löste sich von Hrithik. “Aber was mach ich, wenn Anjali nicht wieder…” “Heh!” unterbrach Hrithik ihn. “Sie wird wieder gesund. Ganz bestimmt.” versuchte er Rahul zu beruhigen. “Lass uns setzen, sonst kippst Du mir auch noch aus den Latschen.” sagte Hrithik und drückte Rahul sanft aber bestimmt auf einen der Stühle.

Nach etlichen Stunden Warterei kam endlich ein Arzt auf die vier zu. “Wer von Ihnen ist Rahul Malhotra?” Rahul stand auf und ging auf den Arzt zu. “Das bin ich!” Der Arzt nickte. “Also wir haben Ihre Verlobte stabilisieren können, aber ganz außer Lebensgefahr ist sie noch nicht.” Rahul sah erschrocken zwischen dem Arzt und den anderen hin und her. “Was… heißt das?” wollte nun Sanjana wissen. “Das heißt, dass wir die Nacht abwarten müssen. Wenn sie die übersteht, stehen die Chancen sehr gut, dass sie wieder aufwacht.” Rahul nickte und fuhr sich nervös durch die Haare. “Kann ich… kann ich zu ihr?” fragte er den Arzt. “Ja, aber nur Sie und seien Sie leise.” Rahul nickte. “Danke…” Eine Weile stand er noch auf dem Flur und starrte die Tür an, hinter der Anjali lag. Hrithik trat schließlich zu ihm. “Na los, geh schon. Sie wird sich sicher freuen, wenn Du da bist. Wir kommen morgen wieder.” Rahul nickte und umarmte alle, bevor er endlich zu Anjali ging.

Langsam öffnete Rahul die Tür und betrat das Krankenzimmer. Eine Schwester stand gerade bei Anjali und stellte den Tropf ein. Als sie Rahul sah, nickte sie und verließ das Zimmer. Rahul stand immer noch an der Zimmertür und sah zu Anjali. Überall waren Schläuche und Drähte, neben dem Bett standen Geräte, deren Piepen ihn fast wahnsinnig machten. Vorsichtig näherte er sich dem Bett. Er sah sich kurz um und zog einen Stuhl heran, auf den er sich setzte. Er nahm vorsichtig Anjalis Hand und strich über sie. Sie lag hier so blass und ohne Leben. Er bekam Angst. Was, wenn sie die Nacht nicht überstehen würde? “Anjali!” sagte er leise. “Bitte verlass mich nicht! Es tut mir alles so leid!” Wieder liefen ihm die Tränen. Was sollte er nur machen? Irgendwann überkam ihn Müdigkeit und er schlief ein. Die Schwester, die nach einer Weile kam, um Anjalis Werte zu überprüfen, musste lächeln, als sie Rahul mit dem Kopf auf Anjalis Bett liegend, schlafen sah. Leise holte sie von einem anderen Bett eine Decke und legte sie über ihn, bevor sie leise das Zimmer wieder verließ.

Anjali wurde langsam wach. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr Kopf in Watte gepackt. Alles war sehr schwummerig und von irgendwo her hörte sie ein monotones Piepen. Was war das denn? Vorsichtig öffnete sie die Augen und schloss sie sofort wieder. Das Licht blendete sie und schmerzte sie. Wo war sie? Was war passiert? Langsam kamen ihre Erinnerung wieder. Sie dachte an Rahul und was alles passiert war. Ihr fiel wieder ein, dass sie in ihr Haus zurück gekehrt war und Schlaftabletten genommen hatte. Aber wo war sie hier? Langsam öffnete Anjali blinzelnd ihre Augen, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatte. Sie drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der das Piepen kam und sah das EKG-Gerät. Sie musste in einem Krankenhaus sein. Plötzlich hörte sie ein gleichmäßiges Atmen.

Anjali hob den Kopf leicht an und sah auf Rahul, der an ihrem Bett saß und schlief. Er sah schlecht aus und verweint. Hatte er etwa um sie geweint? Ein leichtes Lächeln flog über ihre Lippen. Sie merkte, dass seine Hand ihre festhielt. Sie hob langsam die andere Hand und legte sie vorsichtig auf Rahuls Kopf. Langsam strich sie ihm über die Haare. “Rahul!” flüsternd sprach sie an. Doch er reagierte nicht. Er musste ziemlich fertig sein. “Rahul!” sagte Anjali jetzt etwas lauter. Rahul zuckte zusammen und riss die Augen auf. Er brauchte eine Sekunde, um sich zu orientieren, dann fiel ihm ein, wo er war. Er setzte sich mit einem Ruck auf und starrte Anjali an. Er war unfähig, etwas zu sagen. Anjali musste schmunzeln. “Hey!” sagte sie zu ihm. Rahul lächelte unsicher. “Anjali!” Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. “Anjali… ich… Verdammt! Warum hast Du gemacht?”

Kapitel 34


Rahul war aufgesprungen und wanderte nun durch das Zimmer. “Ich weiß, ich habe Mist gebaut, großen Mist sogar! Aber das gibt dir doch noch lange nicht das Recht, mich zu verlassen!” Verzweifelt sah er sie an. “Verdammt Anjali. Ich brauche dich doch. Verstehst Du das nicht?” Er stützte sich mit den Händen am Bettende ab. “Anjali! Ich liebe dich! Das kannst Du mir nicht antun!” Anjali hatte ihn die ganze Zeit über still beobachtet. Er schien sich tatsächlich die größten Sorgen gemacht zu haben. Sie musste lächeln. Sie hatte ihm schon längst verziehen. “Ich liebe dich auch!” sagte sie schließlich. “Nein, Anjali! Das war nicht… Du… Du… tust was?” Rahul war stehen geblieben und sah sie ungläubig an. Anjali lächelte ihn immer noch an und streckte ihre Hand nach ihm aus. Rahul ging auf sie zu und setzte sich zu ihr. “Sag das noch mal!” sagte er leise. Anjali grinste noch immer. “Ich sagte, ich liebe dich auch!” Rahul sah ihr in die Augen und schon wieder liefen ihm die Tränen. “Hier, schau!” sagte Anjali und hielt ihm ihre Hand vor das Gesicht. Irritiert sah Rahul auf ihre Hand und fing dann an, zu strahlen. “Du hast meinen Ring noch?” Anjali nickte. “Immerhin sind wir doch verlobt, oder nicht?” fragte Anjali. Rahul nickte und zog Anjali glücklich in seine Arme. Er legte seine Stirn an ihre und schaute ihr tief in die Augen. “Wehe, Du jagst mir jemals wieder einen solchen Schrecken ein!” Anjali schüttelte mit dem Kopf. “Nie wieder! Versprochen!” sagte sie noch, bevor sie in einem nicht enden wollenden Kuss versanken.

Ein Räuspern ließ die beiden wieder auseinander fahren. Irritiert sahen sie in die Richtung, aus der das Räuspern kam und erblickten Sanjana, Rohan und Hrithik mit einem fetten Grinsen im Gesicht in der Tür stehen. Sanjana war die Erste, die auf die beiden zu stürmte und Anjali umarmte. “Mensch Anjali. Gott, bin ich froh, dass es dir wieder gut geht!” Anjali lächelte. “Aber es kann sein, dass das nicht lange so bleibt!” Erschrocken ließ Sanjana sie los und sah sie fragend an. “Wieso denn das?” Anjali musste sich ein Lachen verkneifen. “Na, weil ich Angst haben muss, dass Du mich erdrückst.” “Och Mensch! Ich bin doch nur froh, dass Du wieder bei uns bist!” erwiderte Sanjana und umarmte sie wieder. Rahul war zu den anderen gegangen, die ihn freudig begrüßten. Verlegen sah er Rohan und Hrithik an. “Es tut mir leid, dass ich so ausgerastet war. Ich hoffe, ihr könnt mir irgendwann verzeihen.” Rohan und Hrithik sahen sich an. “Aber nur unter einer Bedingung!” Rahul schaute Rohan fragend an. “Nur, wenn Du uns auch zu deiner Hochzeit einlädst und ihr auch zu Sanjanas und meiner kommt!” Rahul lächelte und umarmte Rohan. “Darauf kannst Du Gift nehmen!”

Dann wandte er sich an Hrithik. “Danke, dass Du Anjali gerettet hast. Ich weiß nicht, was ohne dich passiert wäre.” Hrithik winkte ab. “Ich wollte dich eben kein zweites Mal verlieren.” sagte er und grinste Rahul an. Schließlich gingen die drei Männer nun auch zu Anjali und Sanjana. Anjali lächelte und sah Hrithik an. “Danke. Ich weiß gar nicht, wie ich dir das jemals danken soll.” Hrithik umarmte Anjali und erwiderte. “Tu mir nur einen Gefallen!” Anjali nickte. “Jeden.” Hrithik lachte. “Mach so einen Blödsinn nie wieder!” Er umarmte Anjali noch einmal und flüsterte ihr ins Ohr. “Rahul würde das nicht noch mal durchstehen. Er war fast wahnsinnig vor Angst!” Anjali nickte. “Versprochen. Nie wieder.” “Heh ihr zwei. Was habt ihr denn da zu tuscheln?” Rahul kam auf Anjali zu und nahm sie in den Arm. “Nichts.” sagte sie lächelnd und zwinkerte Hrithik zu. Nach ein paar Tagen durfte Anjali wieder nach Hause. Rahul holte sie ab und fuhr mit ihr zu ihrem Haus. Sanjana, Rohan und Hrithik erwarteten sie schon. “Was ist denn hier los?” wollte Anjali angesichts der vielen Menschen wissen. Rahul grinste. “Die drei haben unsere Hochzeit vorbereitet!” sagte er und sah in Anjalis erstauntes Gesicht. “Wenn… wenn Du mich denn noch willst!” fügte er leise hinzu. Anjali strahlte und fiel ihm um den Hals. “Natürlich will ich noch!” sagte sie. Mr. Singh war ebenfalls angereist und führte Anjali zum Altar. Anjali konnte ihr Glück kaum fassen. Die letzten zweieinhalb Jahre lagen wie ein böser Alptraum hinter ihr.

Fünf Jahre später


Anjali und Rahul standen auf dem Friedhof in Mumbai vor einem Grab. Sie hatten es reichlich mit Blumen geschmückt. Rahul hatte einen kleinen Jungen an der Hand. Es war das Grab von Aman Kumar und es war der dritte September. Rahul hatte den Grabstein ändern lassen und sie besuchten es regelmäßig, denn irgendwie spürten beide, dass sein Schicksal das ihrige wieder zusammengeführt hatte.

Anjali und Rahul waren nach der Hochzeit wieder in ihr Haus gezogen und bald danach hatten auch Sanjana und Rohan geheiratet. Beinahe gleichzeitig wurden Anjali und Sanjana schwanger. Anjali bekam einen kleinen Sohn, den sie Aman nannten. Rahul und Anjali fanden das nur passend. Sanjana und Rohan wurden Eltern einer kleinen Tochter und waren mittlerweile in die Nähe von Anjali und Rahul gezogen. Und auch von Hrithik bekamen sie nun regelmäßig Besuch. Mr. Singh hatte eine Zweigstelle seiner Firma in Mumbai eröffnet und Anjali deren Leitung übertragen.

Anjali und Rahul saßen oft Abends auf der Terrasse, nachdem Aman schon im Bett lag und konnten ihr Glück kaum fassen. Aber sie waren sich sicher, dass sie es nie wieder loslassen würden.


Ende


Impressum

Texte: Patrick Klink
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2013

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