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Prolog

Die Nadel surrte. Ihr Kopf pulsierte im Takt. Der Schmerz im Nacken durchfuhr ihren ganzen Körper. Ihr wurde übel von den stechenden Qualen, dem Schweißgeruch, der in der Luft lag und dem Alkohol, den sie zuvor getrunken hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Schmerz gegen Schmerz.

Plötzlich verstummte das Surren. Sie wusste, was das bedeutete. Sie musste sich beherrschen um nicht schon jetzt los zu brüllen. Ohne Vorwarnung brannte sich das Eisen in ihre Haut. Sie konnte den Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Die Nägel der einen Hand krallte sie in den Stoff der Liege, auf der sie lag, und die der anderen in Sylvias Handrücken, die ihr während der ganzen Prozedur nicht von der Seite gewichen war.

„Rosa, du hast es geschafft“, sagte eine Stimme stolz.

Doch sie nahm die Geräusche um sich herum gar nicht wahr. Sie war taub und gelähmt von dem Schmerz, den sie in jeder einzelnen Faser ihres Körpers spürte und dem Gestank verbrannter Haut, der sich durch ihre Schleimhäute fraß.

 

1. Kapitel

Ein Piepsen riss Rosa aus ihren Träumen, verwirrt schreckte sie hoch. Sie griff schlaftrunken nach ihrem Wecker, schaltete ihn aus und sank wieder in ihr weiches Kissen. Sie wälzte sich hin und her und gerade als sie sich überlegte doch aufzustehen, schlief sie ein. Eine halbe Stunde später wurde sie erneut geweckt, doch diesmal von der Sonne, die sanft durch ihre roten Gardinen schien und ihr Zimmer in ein leichtes rosa tauchte. Sie öffnete ihre Augen und blickte sich suchend nach ihrem Wecker um. Sie erschrak. In einer halben Stunde würde ihre Vorlesung beginnen und schon alleine um zur Universität zu gelangen brauchte sie mindestens zwanzig Minuten, sie musste halb Toulouse durchqueren. Sie sprang aus ihrem Bett, sprintete ins Bad und wusch sich den Geruch der letzten Nacht vom Körper. Ihr Anblick im Spiegel ließ sie erschaudern: ihre langen welligen Haare standen ihr zu Berge und ihre Augenringe verrieten die schlaflose Nacht, die sie hinter sich hatte. Ihr Spiegelbild glich einem Zombie aus einem schlechten Horrorfilm.

Bis halb sechs hatte sie im bistrot du coin hinter der Bar gestanden und um die Arbeit, beziehungsweise die Gäste dort, zu überstehen, hatte sie kräftig einen über den Durst getrunken. Hastig wurstelte sie ihre Haare zu einem Zopf zusammen und versuchte mit Abdeckcreme wenigsten etwas ihre Augenringe zu vertuschen. Natürlich würde ihr trotzdem jeder ansehen, dass sie in der vergangenen Nacht nicht friedlich in ihrem Bett schlummerte, doch für Eitelkeiten hatte sie jetzt keine Zeit. Schnell zog sie sich an, schnappte sich im Vorbeigehen ihre Tasche und hastete das Treppenhaus hinunter in den Innenhof, dort schwang sie sich auf ihr altes weißes Damenfahrrad und fuhr so schnell sie konnte zur Universität.

Als sie die Tür zum Hörsaal mit einem lauten knarren öffnete, drehte sich keiner ihrer Kommilitonen nach ihr um und auch der Professor ließ sich bei seiner Tafelanschrift nicht unterbrechen. Man hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Rosa zu spät kam. Doch sie wusste, dem Tadel des Professors Bruel konnte sie trotzdem nicht entkommen. Leise setzte sie sich auf einen Platz in der hintersten Reihe, zog ihren Block heraus und begann sich eifrig Notizen zu machen.

Wenngleich sie todmüde war und es bereute sich nicht die Zeit genommen zu haben, sich eine Zigarette und einen Kaffee zu gönnen, so folgte sie doch aufmerksam Professor Bruel. Ihr Studium war ihr überaus wichtig, dafür nahm sie auch in Kauf sich bis zum Morgengrauen von den schmierigen Trinkern im bistrot du coin anpöbeln zu lassen, denn deren Trinkgeld sicherte ihr einen vollen Kühlschrank. Obwohl sie sich aufgrund der Müdigkeit dazu zwingen musste nicht einzuschlafen, war sie doch froh über den Job, denn andernfalls konnte sie ihr Studium nicht finanzieren. Zwar hatte man ihr im Vorfeld gesagt, dass Literatur- und Sprachwissenschaften eine brotlose Kunst wären und sie es schwer haben würde nach dem Studium einen Job zu finden, doch Rosa hatte sich nicht beirren lassen und hatte alles daran gesetzt, sich ihren Kindheitstraum zu verwirklichen. Ihr war es egal, dass sie schon während des Studiums am Existenzminium lebte. Und selbst wenn sie nach dem Studium keinen Job finden würde, so würde sie sich eben weiterhin mit Kellnern über Wasser halten, bis sie einen Job fände, der sie voll und ganz ausfüllte, etwa bei einem Verlag oder einer Zeitung.

Denn schon als sie das Lesen gelernt hatte, verschlang sie dicke Schmöker binnen weniger Tage. Sie liebte es zu lesen, sich ganz auf die Geschichte eines Buches einzulassen. Wenn sie eine neues Buch in den Händen hielt, mit den Fingern über den Einband fuhr, es aufklappte und den Duft des feinen Papiers und der Druckerschwärze roch, die ungelesenen jungfräulichen Worte erblickte, so schlug ihr Herz schneller. Sobald sie dann zu lesen begann, tauchte sie in eine andere Welt ab. Die bloßen Worte wurden zu Bildern, zu Gerüchen, zu Geräuschen, zu Gefühlen. Das Ende eines jeden Buches war für sie wie ein Orgasmus: hatte sie das letzte Wort gelesen, so war ihr Körper voller Glückshormone, eine Art Wärme breitete sich in ihrem Körper aus und durchströhmte jede einzelne Faser, zufrieden aber auch erschöpft klappte sie es zu und war einfach glücklich. Jedoch nur solange, bis der Bann der Geschichte verflog, bis die Bilder in ihrem Kopf verblassten und sie sich kaum noch an die Handlung der Geschichte erinnern konnte. So gesehen war das Lesen für Rosa wie eine Droge - die Geschichte, die Fantasiewelt, war wie ein Rausch für sie.

Professor Bruel beendete die Vorlesung und warf Rosa einen Blick zu. Sie wusste, dass jetzt seine Maßregelung folgen würde. Kaum hatten alle Studenten den Hörsaal verlassen, wandte sich Bruel an sie. „Mademoiselle Ledoux, wie ich sehe tragen Sie da auch so ein tolles Ding am Arm, dass Ihnen die Uhrzeit verrät. Es wäre ratsam es auch zu benutzen.“, sagte er neckisch. Sie lächelte verlegen und hoffte, dass er es dabei beließ. Sie hatte sich schon zum Gehen umgedreht, da fasste er sie am Arm: „Rosa, ich weiß, dass du das Geld brauchst, aber das Zuspätkommen, die Müdigkeit, du kannst dich kaum noch konzentrieren... denkst du nicht, ein anderer Job wäre besser geeignet?“ Er sah sie eindringlich an. Sie schnaubte, genervt von immer der selben Diskussion.

Eigentlich wusste sie, dass er sich nur Sorgen machte, aber dieses Gespräch hatten sie so oft geführt.

Schon als sie sich das erste Mal außerhalb der Universität sahen, war das ein Thema. Eines Abends kam Professor Matteo Bruel ins bistrot du coin, zunächst traute sich Rosa kein Wort mit ihm zu wechseln, außer „Was möchten Sie trinken?“ und „Hier, bitte.“, doch desto später die Stunde, um so betrunkener wurden beide und Rosa verlor allmählich ihre Zurückhaltung. Sie legte ihre Scheu und ihre starre Vorstellung von dem Professor als unnahbare Autoritätsperson ab. Sie kamen ins Gespräch und eine hitzige Diskussion über Literatur entbrannte, bis zum Sonnenaufgang lieferten sie sich wilde Wortgefechte über den Inhalt jenes Buches, über den Schreibstil dieses Autors, über die Kritik zu diesem Werk von jenem Literaturkritiker und schließlich kamen sie auf Rosas Privatleben zu sprechen. Der aufgestaute Frust und die Verzweiflung über ihr Lage flossen nur so aus ihr heraus. Sie machte all ihren Ärger der letzten Monate Luft in Form von Tränen, die ihr wie ein unaufhörlicher Strom die, vom Alkohol geröteten, Wangen runter schossen. Der Professor hörte ihr aufmerksam zu und spendete ihr Trost. Er wusste nur zu gut, wie es war, in einer unbekannten Stadt zu leben und keinen Cent in der Tasche zu haben, denn er hatte als junger Student das gleiche Schicksal durchlebt. Von da an kam Matteo öfter ins bistrot du coin und über die Zeit hatte sich eine innige Freundschaft zwischen den beiden entwickelt. Rosa genoß zwar die Zeit, die sie mit Matteo verbrachte, ihre langen Gespräche, die Vertrautheit zwischen ihnen, aber seine väterliche Besorgnis nervte sie.

„Denkst du, ich weiß das nicht?“, fauchte sie ihn an. „Ich finde nun mal keinen anderen Job!“

„Mhm...“, er überlegte,“hör zu, ich habe einen Freund, ein gutmütiger Kerl, zugegeben etwas schrullig...“

Sie hasste es, wenn er in Gedanken war und nicht zum Punkt kam. „Ja?“, fragte sie gereizt.

„Nun“, fing er erneut an, „dieser Freund hat einen kleinen Buchladen, besser gesagt ein Antiquariat, und er ist nicht mehr der jüngste... das heißt, er könnte Hilfe gebrauchen. Ich habe mit ihm geredet und ihm von dir erzählt, er ist genauso ein Bücherwurm wie du“, er lachte, „jedenfalls sollst du dich bei ihm vorstellen, am besten noch heute.“ Er hielt ihr einen zusammengefalteten Zettel hin, auf dem die Adresse stand.

Rosa fiel ihm um den Hals. „Danke, Matteo!“ Und sie war ihm wirklich zutiefst dankbar. Dass sie jetzt die Chance bekam, dem bistrot du coin und dessen betrunkenen Gästen zu entfliehen und stattdessen ihr Geld mit etwas zu verdienen, das sie liebte, mit Büchern, konnte sie kaum fassen. Denn wochenlang hatte sie vergeblich nach einem Job gesucht, in ganz Toulouse hatte sie herum gefragt, bis sie endlich den Job als Kellnerin fand. Allerdings war dies nur ein notwendiges Übel für sie, ein Mittel zum Zweck. Sich ihr Studium mit ihrer Leidenschaft zu finanzieren, bedeutete ihr das größte Glück. Ganz abgesehen von den Erfahrungen, die sie dort machen würde; von den vielen Büchern dort, die nur darauf warteten, von ihr gelesen zu werden; von den tausenden Geschichten, die sie jedes Mal in eine neue Welt entführen würden; von den Millionen Worten, die in ihr unbeschreibliche Gefühle auslösen würden.

Sie nahm den Zettel, steckte ihn in ihre Tasche und lief freudestrahlend den Campus entlang.

2. Kapitel

Als Rosa aus dem Haus in die kühle Abendluft trat, war es schon kurz nach acht. Das dunkelblaue Himmelszelt war durchzogen von rosanen Rissen, durch die die letzten Sonnenstrahlen drangen. Es war, als lieferten sich das dunkle Blau, das wie ein trüber Schleier über Toulouse hing, und die untergehende Sonne einen erbitterten Kampf um die Herrschaft des Himmels. Die Risse verschmälerten sich zusehends, bis sich der Schleier schließlich vollends ausgebreitet hatte. Rosa atmete tief ein und betrachtete das Spektakel über ihr.

Eigentlich wollte sie sich gleich nach der Vorlesung auf den Weg zu Professor Bruels Freund machen, doch sie entschied sich, davor noch nach Hause zu gehen um sich frisch zu machen. Sie wollte schließlich einen guten Eindruck hinterlassen, man sollte ihr nicht die Strapazen der letzten Nacht ansehen. Doch zu Hause angekommen war ihre Freude wie verflogen, denn die Müdigkeit überfiel sie, jeder Schritt bedeutete pure Anstrengung, jede Faser ihres Körpers schrie nach Schlaf, ihre Lider waren schwer wie Blei. Sie beschloss, dass es nichts brächte in so einem Zustand bei Bruels Freund aufzutauchen und legte sich in voller Montur in ihr Bett. Sofort fiel sie in einen tiefen Schlaf.

Um halb acht erwachte sie zwar ausgeruht, doch voller Aufregung. Sie ärgerte sich über sich selbst. Wie dumm war sie gewesen, sich keinen Wecker zu stellen, wieder müsste sie sich beeilen und würde zu spät kommen. Zwar hatten sie keinen wirklichen Termin ausgemacht aber sie konnte auch nicht erwarten, dass Matteos Freund, dessen Namen sie nicht einmal wusste, bis spätabends auf sie warten würde.

Sie machte sich also fertig und wollte schon fast aufbrechen, bis ihr klar wurde, dass sie nicht wusste, wo sich der Buchladen überhaupt befand. Sie kramte den Zettel aus ihrer Tasche hervor und las die Adresse. Sie kannte sie nicht. Schnell gab sie die Adresse auf Google Maps ein: der Laden lag in einem älteren Stadtteil von Toulouse. Es erstaunte sie, dass sie noch nie dort gewesen war. Nach den paar Jahren die sie hier lebte, dachte sie eigentlich, sie kenne Toulouse in- und auswendig.

Als sie den Stadtteil erreicht hatte, war sie sprachlos. Vor ihr erstreckte sich ein endlos scheinendes Netz aus verwinkelten schmalen Gassen. Jedes Haus schloss direkt an das andere an. Alles wirkte so historisch, die gepflasterten Wege, die hohen Häuser mit ihren prunkvollen Verzierungen von denen schon der Putz abfiel, die weißen Schilder auf denen in schwarzen altertümlichen Lettern die Straßennamen und Hausnummer geschrieben standen. Gleichzeitig geriet sie etwas in Panik, wie sollte sie hier nur die richtige Adresse finden? Zur Beruhigung zündete sie sich eine Zigarette an. Sie fröstelte, doch der Rauch wärmte sie von innen.

Eine gute viertel Stunde später fand sie endlich die Gasse. Sie suchte die Häuser nach deren Nummern ab: dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig! Sie stand vor einem Backsteinhaus mit großen verdreckten Schaufenstern, umrahmt von grün gestrichenem Holz, in das goldene Verzierung geschnitzt waren. Über der kleinen Eingangstür hing ein hölzernes Schild, das den Namen des Buchladens in goldener Schrift verkündete: l'odeur des livres. Im Gegensatz zu den anderen Häusern war dieses schmuckloser und wirkte nicht so prächtig, doch es war größer und schmaler und hatte einen gewissen Charme. Der Anblick belustigte sie ein bisschen, das Haus wirkte wie als stünde es am falschen Fleck, wie als hätte es jemand aus einer anderen Gegend abgerissen und hier neu erbaut. Es bot wahrlich einen Kontrast zu den anderen Gebäuden.

Rosa versuchte durch die dreckigen Fenster etwas zu erkennen. Es brannte kein Licht im Inneren. Sie hoffte, der Freund des Professors war trotz der späten Stunde noch im Laden. Hätte sie diese Chance auf einen besseren Job verspielt, könnte sie sich das niemals verzeihen. Und das nur wegen ihrer mangelnden Disziplin. Sie hatte nachgelassen in den letzten Jahren, obwohl ihr das Studium so wichtig war, ließ es schleifen, die nächtliche Arbeit brachte sie einfach an ihre Grenzen. Sie verbot sich die Gedanken und besinnte sich wieder. Genug mit all den Selbstzweifeln und -vorwürfen.

Als sie die Tür aufzog, eine leise Glocke ertönte und sie in den Laden trat, waren alle die Sorgen, Ängste und Aufregung wie weggeblassen. Ihr offenbarte sich das Paradies. Sofort schlug ihr der altbekannte und innig geliebte Geruch von Papier und Druckerschwärze entgegen, gemischt mit dem Duft von Kräutertee und altem Leder. Hunderte, nein Tausende von Bücher erstreckten sich vor ihr, gestopft in meterhohe dunkelbraune Holzregale, die vom Boden bis zur Decke reichten. An einem lehnte eine kleine Leiter, die aussah, als würde sie jeden Moment auseinander brechen. Direkt links neben der Tür befand sich eine gemütliche Sitzecke die zum schmökern einlud, ein kleiner dunkelbrauner Tisch und eine große dunkelgrüne abgenutzte Couch mit zwei passenden Sesseln. Rechts hingegen befand sich eine Theke mit einer alten Kasse. Es wirkte, als wäre die Zeit in diesem Laden stehen geblieben. Mitten im Raum führte eine kleine Wendeltreppe nach oben. Sie stand schon mit einem Fuß auf der ersten Stufe und wollte erkunden was sie oben erwartete, da rief eine muntere Stimme von weiter hinten im Laden.

„Hallo? Hallo? Mademoiselle Ledoux? Momentchen ja, ich bin sofort bei Ihnen!“

Sie ging nach hinten um zu sehen, woher diese Stimme kam. An den Raum schloss sich ein kleiner Flur an, an dessen Ende sich eine Treppe befand, die wahrscheinlich in das Gewölbe des alten Gebäudes führte, und eine weitere Tür, die einen Spalt weit offen stand und aus der der Kräuterteeduft kam.

Mit einem Mal öffnete sich die Tür ganz und ein kleiner älterer Herr trat heraus. Er hatte längere graue Haare, die er nach hinten kämmte und ein von Falten durchzogenes Gesicht, das Rosa freundlich anlächelte. Er trug braune Pantoffeln, eine ausgebeulte Jeans und einen braunen schmuddeligen Pullover mit V-Ausschnitt, darunter ein hellblaues Hemd.

„Entschuldigen Sie, ich habe gerade Tee aufgesetzt, möchten Sie auch ein Tässchen? Aber, oh, wo bleiben denn meine Manieren? Richard Laval.“, schwallte es aus ihm heraus und schüttelte dabei Rosa überschwenglich die Hand.

Rosa war erleichtert. Matteo hatte zwar Recht behalten, Richard war etwas schrullig, aber er hatte eine so liebevolle und gutmütige Art an sich, dass sie ihn sofort in ihr Herz schloss.

„Rosa Ledoux“, entgegnete sie mit schüchterner Stimme.

„Aber ja, aber ja, Kindchen. Das weiß ich doch! Welch eine Freude! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie selten sich dem Laden so eine junge Schönheit wie die Ihre darbietet. Kommen Sie, trinken wir einen Tee zusammen, es gibt viel zu bereden... welch eine Freude!“, quaselte er, während Rosa nur verlegen lächelte und von ihm in den kleinen Raum geschoben wurde.

Es war eine kleine Küche, mit einer Essecke, einer Küchenzeile inklusive Herd und Spüle und einem überdimensionalen Kühlschrank. Im Gegensatz zu dem vorherigen Raum war dieser modern eingerichtet und hell erleuchtet. Richard bedeutete ihr Platz zu nehmen, also setzte sie sich auf einen der Stühle, die um einen runden dunkelbraunen Tisch standen, in dessen Mitte sich ein Aschenbecher befand, der vor Kippen schon überquellte.

„Den Tee mit Zucker? Und ein Stück Torte dazu?“, fragte Richard sie.

„Mit Honig und ja, bitte!“. Sie war am verhungern. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Bei dem Gedanken an eine köstliche Torte, die sie gleich verspeisen würde, lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

„Monsieur Laval, es tut mir leid, dass ich jetzt erst zu Ihnen gekommen bin, aber ich...“, er unterbrach sie mitten im Satz: „Nur keine Sorge, ich bin oft bis spät in die Nacht hier, Kindchen. Hier, bitte. Lassen Sie es sich schmecken!“. Er stellte den Tee und ein großes Stück Schokoladentorte vor ihr auf den Tisch. Sofort begann sie zu essen.

Er hingegen fing an zu erzählen: „Wissen Sie, ich bin Matteo wirklich sehr dankbar, dass er sie mir als Hilfe geschickt hat. Sie sind zwar noch jung, aber Sie werden verstehen, dass einem alten Mann wie mir die Arbeit oft schwer fällt. Schwere Bücher schleppen, milimeterkleine Schriften entziffern, jeden Winkel und jedes Buch hier entstauben... all das bedeutet für mich große Anstrengung. Oh, Sie hätten mich mal früher sehen sollen, als ich den Laden hier gerade eröffnet habe... Ich bin hier rumgewirbelt wie ein Tornado, ha! Nun ja, aber mit dem Alter ändert sich eben einiges...“, er stoppte, schien an frühere Zeiten zurück zu denken.

Sie wollte nicht unhöflich sein und ihn aus seinen Gedanken reißen, also blickte sie ihn nur wartend an.

Er bemerkte ihren Blick und fuhr fort. „Äh... Ich will Ihnen zu erst Ihre Aufgaben erläutern. Sind Sie mit diesem Gewerbe vertraut, Kindchen?“

Langsam nervte sie das ständige „Kindchen“, aber sie ließ sich nichts anmerken, dafür war sie viel zu höflich. Sie beantwortete seine Frage mit einem sanften Kopfschütteln.

„Aber ein Buch haben sie schon mal gelesen, nicht wahr?“, er grinste spitzbübisch.

„Nur ein Scherz, meine Teuerste. Matteo hat durchaus erwähnt wie belesen sie sind. Zurück zu Ihren Aufgaben. Wie der gute Bruel Ihnen wahrscheinlich schon erzählt hat, ist das hier nicht bloß ein Buchladen, sondern ein Antiquariat. Das heißt, Sie werden hier seltene, antike Bücher, Zeichnungen, Karten, Zeitungen und andere Schriften verkaufen, natürlich sind diese mit einer gewissen Sorgfalt zu behandeln, daher sind Sie auch dafür verantwortlich, dass diese schützend gelagert und in einem einwandfreien Zustand sind. Weiter werden sie Suchaufträge unserer Kunden entgegen nehmen. Sie müssen wissen, ich habe sehr gute Beziehungen zu den bedeutendsten Verlagen, zu anderen Antiquaren und sogar zu manchen Autoren, natürlich nur, wenn diese noch leben. Sucht ein Kunde also ein besonderes Exemplar, so werden Sie, beziehungsweise wir, Ihm dieses besorgen, scheint es auch noch so Unmöglich. Das gehört zu unserem besonderen Service. Außerdem bieten uns oft Privatpersonen ihre Bücher zum Verkauf an oder möchten diese schätzen lassen, auch dafür sind sie zuständig. Die neu erworbenen Bücher müssen dann natürlich auch katalogisiert werden. Ach ja, Ihre Bezahlung wird den Aufgaben angemessen sein. 10,50 pro Stunde. Die Arbeitszeit wird sich nach Ihren Vorlesungen richten. Nun, haben Sie noch Fragen?“, fordernd lächelte er sie an.

Rosa war wie geplättet. Nie hätte sie gedacht, dass ihr vermeintlicher Traumjob mit so vielen Aufgaben und so viel Verantwortung verbunden war. Suchaufträge? Schätzungen? Katalogisieren? Zweifellos hatte sie tausende Bücher in ihrem Leben gelesen, doch von Preisen, Verlagen, antiken Schriften und all diesen Dingen hatte sie keine Ahnung. Für sie genügte ein einfacher Gang zur Bibliothek um sich neuen Lesestoff zu beschaffen. Erneut überfielen sie Selbstzweifel. Und Richards Art machte das Ganze nicht besser. Anscheinend hatte er zwei Gesichter, denn während seiner anmaßenden Ansprache über ihre Aufgaben, war nichts mehr von seiner anfänglichen Gutmütigkeit zu spüren. Der einzige Lichtblick war ihr Gehalt. 10,50 waren eine Menge in Toulouse. Da hier fast ausschließlich arbeitswillige Studenten lebten und es eh zu wenig Jobangebote gab, waren die meisten Berufe ziemlich unterbezahlt. Im bistrot du coin hatte sie nur 6 die Stunde verdient plus Trinkgeld.

Richard kam nicht umhin Rosas geschockten Gesichtsausdruck zu bemerken.

Er legte seine Hand auf ihre. „Selbstredend werde ich dich, ich darf doch Du sagen, Rosa? Schließlich wirst du ab jetzt mit meinen teuersten Schätzen arbeiten und wir werden viel Zeit gemeinsam verbringen.“, sagte er sanft.

Rosa nickte zaghaft.

„Wunderbar! Also, zweifelsohne werde ich dich einarbeiten und dir alles genau erklären. Keine Sorge, binnen weniger Tage wirst du die Aufgaben meistern wie ein uralter Antiquar.“

Seine Worte beruhigten sie etwas. Doch ihre Unsicherheit über seinen Charakter blieb. Im ersten Moment großspurig und blasiert, im Nächsten warmherzig und sanftmütig. Der Umstand, dass Matteo genau solche Charakterzüge aufwies, genau so facettenreich war wie Richard und sich dennoch zwischen den beiden eine innige Freundschaft entwickelt hatte, beschwichtigte sie. Rosa nahm sich vor, sich weniger Gedanken zu machen. Sie und Richard würden bestimmt ganz prima miteinander auskommen und wie er selbst sagte, würde sie sich schon bald in dem Gewerbe zurecht finden.

Sie schenkte ihm ein freudiges Lächeln und er erwiderte es: „Na fein! Es ist doch schon recht spät,“, er warf einen blick auf seine vergoldete Armbanduhr, „ich würde sagen, wir machen Schluss für heute. Morgen werde ich dich dann in Orden der Antiquare einführen.“ Er lachte.

„Ich freue mich schon“, entgegnete sie.

„Am besten kommst du gleich nach deiner Vorlesung. Gute Nacht, meine Liebe. Geb' Acht auf deinem Nachhauseweg.“

Sie verabschiedeten sich mit einem Kuss auf die Wange.

3. Kapitel

Mit dem Kaffeepappbecher in der linken, dem großen Eisenschlüssel in der rechten Hand und der Zeitung im Mund schloss sie den Laden auf. Sie legte alles auf der Theke neben der Tür ab und machte sich an die Arbeit.

Es war Samstag und das hieß zum einen, dass sie bis zum Nachmittag alleine das Geschäft führen musste, denn samstags hatte Richard irgendwelche wichtigen Termine mit anderen Antiquaren, und zum anderen, dass eine Menge Kundschaft kommen würde. Doch diese Umstände beflügelten sie viel eher, als dass sie sie in Panik gerieten ließen, wie es noch vor ein paar Tagen gewesen war. Denn Richard hatte Recht behalten als er gesagt hatte, dass sie binnen weniger Tagen das Geschäft schmeißen würde wie ein Antiquarurgestein.

Nachdem er ihr zunächst seine ganze Büchersammlung offenbarte, die sich nicht nur über das Erdgeschoss und den ersten Stock erstreckte, sondern auch drei riesige Kellerräume füllte und einen beachtlichen Teil seiner Privatwohnung, die gleich über dem Laden lag, in Beschlag nahm, führte er sie in die Gepflogenheiten dieses Metiers ein.

Angefangen bei dem Putzen und der Instandhaltung aller Bücher, Schriften, Karten und Zeitungen. Diese Aufgabe nahm Rosa ganze zwei Tage und Nächte in Anspruch, doch es war nicht nur Arbeit für sie, denn Richard half ihr dabei und hatte zu jedem einzelnen Exemplar eine Geschichte parat. Bei vielen Flaschen Rotwein und einigen Zigarettenschachteln, berichtete er ihr von den kuriosesten Geschichten, über die Entstehung jedes Buches, über dessen Autor, wie es in sein Antiquariat gelangte und welchen Weg es wohl hinter sich hatte. Das Wissen, dass er über Bücher, Verlage, Autoren und der gleichen verfügte, schien unermesslich und sie sah sich als wahrer Glückspilz, daran teilhaben zu können. Wenngleich es einige Werke gab, die er unter Verschluss hielt und so auch sein Wissen darüber. Eingeschlossen in einen kleinen Raum in seiner Wohnung, hütete er das Geheimnis dieser Bücher.

Natürlich wurde sie auch in die Bücherschätzungen und -ankäufe einbezogen. Sie lauschte gespannt den Geschichten der Kunden, woher sie die oft seltenen Schrift hatten und warum sie sie verkaufen wollten. Mit Faszination beobachtete sie Richard, wie er mit seinem geschulten Auge den Preis eines jeden Buches ermittelte. Jedoch erstaunte es sie, dass er anscheinend seltene und wertvolle Schriften ablehnte und diese abschätzig kommentierte: „Ganz davon abgesehen, dass diese Schrift nur ein törichter Gehirnauswurf eines einfältigen Dummkopfes ist, ist sie keinen Pfennig wert. Einzig die Entsorgung dieses Buches wäre ihm gerecht!“

Auch lernte Rosa einige Stammkunden kennen. Die meisten kamen einige Male in der Woche, manchmal sogar zwei Mal an einem Tag und manche warteten schon am frühen Morgen vor der Tür, bis der Laden endlich aufmachte. Sie waren auf der Jagd nach neuen Schätzen, neuen Trophäen, dessen Geschichten und Erkenntnisse sich nur ihnen erschließen sollten. Sie wirkten wie von einem Dämon besessen, wenn sie zwischen den Regalen umher schlichen, das Exemplar ihrer Begierde in die Hand nahmen und sich verstohlen umblickten, als hätten sie Angst ein anderer Schatzsucher könnte sich auf sie stürzen und ihnen das kostbare Gut gewaltsam entreißen. Auch wenn Rosa diese Passion nur zu gut verstand, so belustigte sie dieses Schauspiel doch.

Andere Kunden hingegen kamen oft nur zum Plaudern, so erzählten ihr betuchte Damen und versierte Herren von diesem und jenem. Außerdem veranstaltete Richard jeden Freitagabend so etwas wie einen „Buchclub“. Einige Privatsammler, andere Antiquare und Leute von Verlagen saßen gemütlich zusammen und diskutierten über Neuerscheinungen, aktuelle Bestseller und historische Schriften, so schilderte Richard es jedenfalls. Obwohl Rosa ihm ihre Hilfe bei den Vorbereitungen zu diesen Treffen angeboten hatte, kam sie doch bis jetzt nie in deren Genuss. Sie dachte, Richard würde sie schon einladen, wenn er sie für würdig genug befand.

Besonders deswegen freute sie sich auf diese Samstagvormittage, denn so bekam sie die Gelegenheit sich zu beweisen.

Doch eins bereitete ihr immer noch Sorge: das Katalogisieren und Erfassen jedes Buches. Denn Richard hatte seine tausenden Bücher nicht etwa in einer Datenbank in einem Computer gespeichert, nein, stattdessen hatte er ein Dutzend Ordner in dem jedes einzelne Buch, dessen Zustand, Preis, Verkäufer, Verlag, Autor und jedwede Information verzeichnet waren. Jedes verkaufte Buch in diesem Wirrwarr zu finden, durchzustreichen und den Käufer zu notieren und natürlich auch andersherum, jedes neue Buch einzutragen, war eine Heidenarbeit. Aber was konnte man schon erwarten, schließlich gab es nicht mal eine elektronische Kasse. Rosa nahm sich fest vor, Richard zu überreden einen Computer anzuschaffen. Selbst er musste doch einsehen, dass das die Effizienz des Geschäfts beträchtlich steigern würde.

Das Glöckchen über der Türe ertönte und eine hübsche Frau, Rosa schätzte sie auf Anfang Zwanzig, betrat den Laden. Ihre langen blonden Locken reichten ihr bis zur Hüfte und unter der transparenten geblümten Tunika, die sie trug, zeichneten sich ihre Kurven ab. Sie war gut einen Kopf größer als Rosa, was zwar an ihren Pumps lag, doch Rosa verblüffte nicht nur ihre Größe, sondern auch ihre elegante Schönheit, trotz der sie nicht anmaßend wirkte. Galant schritt sie weiter in den Raum hinein und lächelte Rosa an.

„Rosa, richtig? Ich bin Sylvia Delacroix“, sie streckte ihr die Hand entgegen.

„Delacroix? Sebastián ist dein Vater, nicht wahr?“, fragte Rosa und schüttelte Sylvia die Hand. Sie kannte ihren Vater gut, er kam oft hier her, jedoch mehr um Richard zu besuchen, als ein Buch zu kaufen. Zwar hatte sie sich auch schon mit ihm unterhalten, aber sie hatte bisher nicht herausgefunden woher sich die beiden kannten, in welchen Verhältnis sie standen, noch was er beruflich tat. Aus seinen häufigen Besuchen schloss sie einfach, dass sie wohl gute Freunde waren und er auch irgendwas mit Büchern zu tun hatte.

„Ja, das ist er.“, bestätigte Sylvia und schien bei dem Gedanken an ihren Vater zu lächeln.

„Richard hat auf unseren Treffen erwähnt, dass er eine neue Angestellte hat und die wohl auch so eine große Begeisterung für Bücher zeigt.“ Sie ging an den Regalen entlang und schaute sich um, als wäre sie noch nie hier gewesen. Rosa war etwas verärgert, dass Sylvia wohl auch Mitglied des vermeintlichen Buchclubs war. Sie hatte das für etwas gehalten, das man sich erarbeiten musste und nicht für etwas, das einem wie selbstverständlich zustünde nur weil man in dieses Gewerbe hinein geboren wurde.

Abrupt drehte sie sich um und fuhr fort: „Ich wollte dich in unseren Reihen Willkommen heißen! Vielleicht gehen wir ja mal zusammen was trinken? Die Straße runter ist ein ganz bezauberndes Café.“

Rosa hielt demonstrativ ihren Kaffeebecher hoch. „Kenne ich. Zurzeit habe ich aber sehr viel zu tun, ich muss mich hier erst noch einfinden.“

„Quatsch! Wie ich gehört habe, kommst du hier sehr gut zurecht. Also, ich hole dich nach der Arbeit hier ab. Bis dann, Rosa!“, sagte Sylvia, als sie schon fast zur Tür hinaus war.

Rosa wusste nicht was sie davon halten sollte, nicht von Sylvia und nicht von der ganzen Situation hier. Ihr kam es vor, als wäre dieser Laden das Tor zu einer anderen Welt. Eine Welt, die sich um Bücher und Schriften drehte; eine Welt, deren gesellschaftliches Ideal sich aus Intellekt und Belesenheit zusammensetzte; eine Welt, die nur aus Menschen bestand, die in irgendeiner Form mit Literatur zu tun hatten; eine Welt, dessen Bewohner sich als eine große Familie sahen und in der jeder mit jedem vernetzt war. Auf der einen Seite fühlte sie sich geschmeichelt, dass sie akzeptiert und aufgenommen wurde in dieser Welt, auf der anderen Seite hatte sie Zweifel, ob diese Welt nicht bloß aus alten Spinnern bestand, deren Leben ihnen nichts mehr bot und die sich deswegen in dieses Paralleluniversum flüchteten. Aber zählte sie dann nicht auch zu diesen Spinnern? Oder steckte hinter all dem doch mehr? Denn warum redeten Richard und Sylvia von „dem Orden der Antiquare“ und „ihren Reihen“? Liefen hier alle Fäden der Verlage und Autoren zusammen? War die Welt der Bücher doch nicht das, was sie vorgab zu sein? Rosa beschloss es bald heraus zu finden. Doch nicht heute. Sie musste ihre Gedanken verschieben und sich wieder der Arbeit widmen, da mittlerweile erste Kunden den Laden betraten.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.03.2013

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