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Der Schwur der Wächter

 

 

 

 

Aus freiem Willen trete ich hier und heute derGemeinschaft der Wächter bei.

Ich gelobe dem Königshaus Treue und meine uneingeschränkte Loyalität.

Die Sicherheit der Königsfamilie soll von nun an immer oberste Priorität meines Handelns sein.

Mit meinem Leben will ich die der mir anvertrauten Menschen beschützen.

Das schwöre ich hiermit voller Stolz und bei allem, was mir wichtig ist.

 

 

 

 

 

 

 

...

 

Hallo,

 

Vielen Dank für deinen Brief! Ich habe mich sehr gefreut, von dir zu hören, wo wir doch so lange Zeit kaum Kontakt zueinander hatten. Wie geht es dir? Mit meiner Arbeit bin ich sehr zufrieden, danke der Nachfrage. Die Menschen hier sind alle nett und ich habe einige Freunde hier. Momentan bekleide ich für kurze Zeit einen wichtigen Posten. Ich bin einigermaßen überrascht gewesen, dass ich eingesetzt wurde, aber es macht mich auch ziemlich stolz. Abgesehen davon gibt es andere hier, die nicht viel älter sind als ich und schon sehr hohe und anspruchsvolle Posten bekleiden, vielleicht ist das ja auch eine Art Test für mich, ob ich auch zu Höherem geeignet bin. Ich bin sicher, dass ich diese Aufgabe zur allgemeinen Zufriedenheit meistern werde. Was machst du gerade so? Bist du demnächst mal wieder in der Nähe?

 

Liebe Grüße,

 dein Bruder

Kapitel 1


Sie wachte auf, weil sie jemanden dicht bei sich spürte. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen einen Spalt und erkannte ein schemenhaftes Gesicht direkt über ihrem. Sofort war sie hellwach. Ihr ge­samter Körper spannte sich an und im nächsten Moment schoss sie aus dem Bett auf ihren potenti­ellen Angreifer zu, schloss die Hände um seine Kehle, stürzte vor und warf ihn mit all ihrem Ge­wicht an die gegenüberliegende Zimmerwand. Dort verharrte sie schließlich, beide Hände noch im­mer fest um den Hals ihres Gegenübers geschlossen.

„Glrk!", machte dieser, starrte sie erschrocken an und versuchte vergeblich, sich aus seiner missli­chen Lage zu befreien. Jetzt erst erkannte sie ihn und ließ augenblicklich von ihm ab.

Er beugte sich vor, rang nach Luft und rieb sich die schmerzende Kehle sowie den Hinterkopf, der bei seiner Gefangennahme offensichtlich ziemlich hart gegen die steinerne Wand geknallt war.

„Mann, Naria!", stieß er keuchend hervor und blickte sie aus seinen dunkelbraunen Augen vor­wurfsvoll an. „Musste das sein?"

„Entschuldige, Yonah!" Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und fuhr sich mit der linken Hand durch ihre goldblonden Haare. „Alles klar?" Entschuldigend schaute sie zu ihm herüber, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen.

„Mhm, alles bestens", gab er zurück und lehnte sich gegen die Wand. Aufmerksam beobachtete er sie und sie blickte zurück, geradewegs in seine dunklen Augen, die von dichten Wimpern umrandet waren, dunkelbraun, genau wie sein Haar. Selbiges war mehr oder weniger kunstvoll zerzaust und stand in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Eine lange Strähne fiel ihm ins Auge. Geistesabwe­send pustete er sie nach oben, doch hartnäckig fiel sie sofort wieder zurück.

Naria musste lachen. „Ich verstehe einfach nicht, warum sie dich hier so rumlaufen lassen! Immer­hin gehörst du mit zum Gefolge des Königshauses und repräsentierst es damit auch!", sagte sie kopfschüttelnd. Yonah zuckte gelassen mit den Schultern.

„Künstlerische Freiheit." „Ja, klar."

Ein paar Sekunden war es still in dem kleinen Zimmer und entfernt hallten Geräusche aus anderen Teilen des Palastes herüber.

„Was willst du eigentlich hier?", fragte Naria schließlich.

„Ich wollte zu dir." Ein schiefes Grinsen zog sich von einem Mundwinkel zum andern über sein Ge­sicht.

„Ach was." Naria warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Sei nicht so unfreundlich! Da kümmert man sich und was ist der Dank dafür? Ich -"

„Man kümmert sich?", gab sie zurück und zog beide Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. „Um was denn bitte?"

Sie nahm eine Haarbürste vom Nachttisch und begann, ihre zerzausten Haare zu entwirren. Yonah, der immer noch an der gegenüberliegenden Wand lehnte, setzte gerade zum Sprechen an, als Naria plötzlich innehielt und stirnrunzelnd zu ihm aufblickte. „Wie spät ist es eigentlich?"

„Deshalb bin ich ja - " begann er, konnte seinen Satz aber auch diesmal nicht beenden, weil Naria einen entsetzten Schrei ausstieß und mit großen Augen auf ihre Uhr starrte.

„Zwanzig vor acht?!" rief sie panisch, sprang auf und riss ihre Bürste geradezu durch ihre Haare. „Zwanzig vor acht und du sagst mir nichts?!"

„Aber ich – "

„Stattdessen spazierst du hier rein und machst es dir in meinem Zimmer gemütlich!"

Sie stürzte zum Kleiderschrank, der am Fußende ihres Bettes stand und öffnete ruckartig die Tür.

„Umdrehen!", befahl sie und zog sich ihr Oberteil über den Kopf. Yonah, der sich keinen Millimeter bewegt hatte, grinste und betrachtete amüsiert Narias Bemühungen, sich das Kleidungsstück über den Kopf zu ziehen, was daran scheiterte, dass sie noch immer die Haarbürste in der linken Hand hielt, welche nicht durch den engen Ärmel passte.

Yonah musste unwillkürlich lachen, wodurch Naria sein Zusehen bemerkte.

„Ich sagte: Umdrehen!", rief sie, warf über ihre Schulter die Haarbürste in seine Richtung und be­kam endlich ihr Uniformoberteil vernünftig angezogen.

„Aua!", beschwerte sich Yonah, obwohl es ihm gelungen war, dem Wurfgeschoss auszuweichen. Naria ignorierte ihn und stieg in ihre Uniformhose und die Stiefel. Während sie sich ihr Jackett an­zog und zuknöpfte, durchquerte sie den Raum und steckte sich dann vor dem Spiegel über ihrer Kommode die langen Haare zu einem hohen Dutt zusammen. Dann öffnete sie die oberste Schubla­de der Kommode und nahm ihre Waffen heraus.

Ein kleines Messer mit schmaler Klinge steckte sie in ihren linken Stiefel, ein längeres und breiteres verschwand unter ihrem Jackett, genauso wie ein kleiner, gebogener Dolch. In die Kammern unter den Stickereien auf den gepolsterten Schulterteilen ihres Jacketts steckte sie je einen kleinen Wurfs­tern. Zuletzt schob sie sich noch zwei sehr spitze, dünne Stäbe über Kreuz in ihren Dutt.

„Na also, geht doch!", kommentierte Yonah das Ganze und wurde von Naria unsanft aus der  Tür geschoben.

 „Danke!", sagte Naria, als sie beide draußen auf dem Gang standen und sie ihre Tür sorgfältig ver­riegelte.

„Was?", fragte er erstaunt. Sie blickte ihn an, wofür sie den Kopf in den Nacken legen musste, da er sie um fast fünfundzwanzig Zentimeter überragte.

„Du hast mich schon gehört!", antwortete sie, streckte sich, gab ihm einen Kuss auf die Wange und eilte dann davon, allerdings ohne zu rennen, denn das gehörte sich nicht und war der Palastwache nur im absoluten Notfall gestattet.

Kapitel 2

 

Als Naria die Türen zu den Gemächern der Kronprinzessin erreichte, war es bereits fünf vor acht. Ihre heutige Schicht hätte um halb acht begonnen. Sie begrüßte die Wachposten, die zu beiden Sei­ten der großen Flügeltür standen und klopfte an. Kurze Zeit später wurde die rechte Tür geöffnet und Naria stand Cleva gegenüber, der Zofe der Kronprinzessin.

„Gott sei Dank bist du endlich hier!", stieß Cleva erleichtert hervor und blickte Naria drängend, aber dennoch respektvoll an. „Ich komme hier nicht weiter und wir sind schon zu spät!"

„Was ist denn los?", fragte Naria und folgte Cleva durch den geschmackvoll eingerichteten, kleinen Vorraum in die Wohnräume der Prinzessin.

„Sie will nicht aufstehen!", erklärte Cleva verzweifelt und sah Naria über ihre Schulter hinweg an, während sie das Wohnzimmer durchquerten.

Cleva war eine hübsche, etwas unscheinbare junge Frau mit olivfarbener Haut und braunen, welli­gen Haaren, die sie stets zu einem Zopf geflochten hatte. Sie war etwas über dreißig Jahre alt und die Zofe der Prinzessin, seit diese ein Kind war.

„Ich hab wirklich alles versucht", redete sie weiter, „aber du kennst sie ja, sie ist so stur, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat und ich weiß nicht, was ich noch machen soll!"

Die beiden waren vor der Tür zum Schlafzimmer der Prinzessin angelangt.

„Lass mich das mal machen!", antwortete Naria und öffnete die Tür.

 

Der große Raum war hell und lichtdurchflutet, da die Vorhänge vor den großen Fenstern an der lin­ken Wand geöffnet waren, sodass der Blick in den hinteren Palastgarten frei war. Auf der anderen Seite des Raumes stand ein großer Frisiertisch mit einem Spiegel darüber und an der Wand gegen­über der Tür befanden sich zwei weitere Türen, die zum Bade- und Ankleidezimmer der Prinzessin führten. Zwischen den Türen stand ein riesiges, hellgrünes Himmelbett, bestickt mit hunderten Schnörkeln und Ornamenten in Gold, hell und dunkelblau.

In dem Bett lag eine große Decke und unter der Decke lag Kronprinzessin Ileanna.

„Alles Gute zum Geburtstag!", rief Naria und betrat, gefolgt von Cleva, den Raum.

„Hau ab!", knurrte es aus dem Bett.

„Stell dich nicht so an!" Energisch schritt Naria auf das Bett zu, blieb am Kopfende stehen und blickte auf die Prinzessin herunter. Diese zog sich die Decke über den Kopf.

„Hör auf der Stelle auf, dich so kindisch zu benehmen, du bist jetzt einundzwanzig!", rief Naria ge­nervt. „Jetzt steh verdammt noch mal auf und lass Cleva ihre Arbeit machen."

„Du darfst überhaupt nicht so mit mir reden", tönte Ileannas Stimme gedämpft durch die dicke De­cke. „Du bist nicht meine Mutter."

„Ich kann sie gerne herholen", drohte Naria. Königin Maidred  billigte solch kindisches Verhalten keineswegs und hätte ihre älteste Tochter schon längst unsanft aus dem Bett befördert.

„Grrk!", machte Ileanna unter der Decke.

„Wenn Ihre königliche Hoheit nun ihren königlichen Hintern aus dem königlichen Bett bewegen könnte, wäre das außerordentlich freundlich und würde die Situation ungemein erleichtern."

Cleva kicherte und Ileanna beantwortete Narias Kommentar, indem sie diese mit einem ihrer vielen Kissen bewarf.

„Jetzt mach schon, so schlimm ist das nun auch wieder nicht." Langsam wurde Naria ungeduldig.

Ruckartig schlug die Prinzessin die Decke zurück und funkelte ihre Wächterin zornig an. Ihr hell­braunes Haar lag wie ein Heiligenschein um ihren Kopf verteilt und schimmerte golden im Licht der hereinscheinenden Sonne.

„Ist es nicht?! Ich muss mit JEDEM Vollidioten dieses Landes Bekanntschaft machen, den meine lieben Eltern als würdig erachten, mein Ehemann zu werden. Sie alle werden sich aufs Widerlichste einschleimen und mich ständig umschwärmen und ich muss immer zu allen nett und freundlich und prinzessinnenhaft sein. Und das Schlimmste ist, dass ich dann auch noch einen von ihnen als mei­nen zukünftigen Mann aussuchen muss!"

„Wenigstens kannst du dir einen aussuchen", hielt Naria dagegen. „Den meisten Kronprinzessinnen ist das nicht vergönnt."

„Ich will KEINEN von ihnen!", rief Ileanna aus. "Sie sind alle ekelig und humorlos und machtgeil und alt und angeberisch!"

„Wie Männer im Allgemeinen halt so sind", antwortete Naria trocken. Sie standen inzwischen ziem­lich unter Zeitdruck und sie war das Diskutieren leid. „Aber du musst dir eben einen davon aussu­chen und Schluss!"

„Du bist auch einundzwanzig und du musst das nicht!", entgegnete Ileanna,

Naria verdrehte die Augen. „Ich bin auch zufälligerweise nicht die zukünftige Königin, in die das Land all seine Hoffnungen setzt. Und jetzt RAUS DA!" Und damit zog sie der Prinzessin die Decke weg und schaute die mit einem Blick an, der keinen Widerspruch duldete.

„Ist ja GUT!" Endlich setzte Ileanna sich auf, streckte sich, stand auf und schlurfte ins Bad. Eilig folgte ihr Cleva. Im Vorbeigehen warf sie Naria einen dankbaren Blick zu, dann verschwand sie im Badezimmer.

 

Naria schlenderte zu den Fenstern und blickte hinaus. Nichts regte sich in diesem Teil des Palastgar­tens. Auch sonst, auf dem Weg zu den Gemächern der Prinzessin, war sie niemandem begegnet, der nicht dort hätte sein sollen oder der sich merkwürdig verhalten hatte.

In den letzten Monaten war alles sehr ruhig gewesen und auch davor hatte es eigentlich keine ge­fährlichen oder bedenklichen Situationen im Hinblick auf die Sicherheit der Königsfamilie gegeben. Diese und die Wächter hatten momentan keinen Grund zur Sorge und trotzdem durften Naria und die anderen Wächter keinen Moment lang abgelenkt oder unaufmerksam sein.

Ein Fehltritt, ein kurzer Augenblick der Unaufmerksamkeit, und es könnte zu spät sein.

Mit der Bewachung der Kronprinzessin, der Ersten in der Thronfolge, kam Naria eine besonders wichtige Aufgabe zu. Sollte Ileanna etwas zustoßen, wäre Catalanien seine zukünftige Königin los und es würde Chaos ausbrechen, wie schon vor ein paar Jahrhunderten, als fanatische Rebellen einen Angriff auf den König verübt und anschließend die Bevölkerung so sehr gegeneinander aufgebracht hatten, dass sich seit Jahren friedlich nebeneinander lebende Menschen auf einmal gegenseitig ab­schlachteten. Unruhen und Aufstände würden angezettelt werden und die  Menschen würden sich untereinander bekämpfen. Im schlimmsten Fall wäre wieder ein Bürgerkrieg mit entsetzlichem Aus­maß die Folge. Der Sohn des getöteten Königs, dem es schließlich mit aller Macht gelungen war, die Kämpfe zu beenden und seine Stellung als König von Catalanien anzunehmen, hatte anschlie­ßend für eine umfangreiche Verbesserung der Sicherheitsmaßnahmen rund um die Königsfamilie gesorgt und die Akademie gegründet, wo die zukünftigen Wächter vier Jahre lang ausgebildet wur­den, bevor sie ihre Stelle als Stadt- , Palast- oder Personenwächter antraten.

König Arik und Königin Maidred hatten noch zwei weitere Töchter, die achtzehnjährige Siara und die sechzehnjährige Melva, doch keine von beiden, da war man sich einig, käme als Regentin infra­ge.

Siara war freundlich, ruhig und gerecht, aber sehr introvertiert und mied große Gesellschaften, wann immer sie konnte. Sollte die Thronfolge aus irgendeinem Grund auf sie übergehen, würde sie auf der Stelle ablehnen und dann wäre Melva an der Reihe, was um jeden Preis verhindert werden musste.

Melva liebte Feste, Feiern und jede Art von Geselligkeit und konnte Stunden damit zubringen, sich zu pflegen und anzukleiden, Stoffe für teure und aufwendig gearbeitete Kleider auszuwählen, sich zu frisieren und zu schminken, doch von Staatsgeschäften und Diplomatie verstand sie ungefähr so viel wie Naria von Handarbeit. Melva war eine überaus offene und extrovertierte Person und zum Leidwesen ihrer Eltern liebte sie es, mit jungen Männern anzubandeln. Außerdem war sie ziemlich direkt und hatte ein loses Mundwerk, was sie und ihre Familie schon ein ums andere Mal in Verle­genheit gebracht hatte.

Und deshalb musste Ileanna Königin werden. Sie war weltoffen, interessiert, engagiert, kannte sich aus mit Politik und konnte gut mit Leuten umgehen. Für Ileanna gab es nur ein rotes Tuch und das war die Wahl ihres Ehemannes, ohne welchen sie nicht zur Königin gekrönt werden konnte. Das war auch der Grund, aus dem sich ihre Eltern und auch sonst jeder, der in der Regierung irgendwie wichtig war, in diese Entscheidung miteinbrachten und Ileanna damit in den Wahnsinn trieben. Die zur Auswahl stehenden Männer gefielen ihr im Allgemeinen nicht, da die meisten von ihnen sie nur um der Macht willen heiraten wollten, denn der Mann der Königin wurde – natürlich – König.

 

Doch das alles war nicht der einzige Grund, aus dem Naria ihre Aufgabe, Ileanna zu schützen, so ernst nahm. In der Zeit, die sie nun schon zusammen verbracht hatten, waren sie sehr gute Freun­dinnen geworden und sollte Ileanna etwas geschehen, würde Naria sich das niemals verzeihen kön­nen.

 

Von der Eingangstür zu Ileannas Gemächern her ertönte ein Klopfen. Als Naria sich umdrehte, um zur Tür zu gehen, erschien Cleva in der Badezimmertür. Sie wirkte sehr gehetzt, was wohl der Ver­spätung zuzuschreiben war, die durch Ileannas Weigerung, sich zu erheben, herrührte.

„Lass mal, ich mach das schon", sagte Naria deshalb und gab Cleva einen Wink, wieder ins Bade­zimmer zu gehen. Erleichtert lächelte die Zofe sie an und zog erneut die Tür hinter sich zu. Naria verließ das Schlafzimmer durch die gegenüberliegende Tür. Während sie das Wohnzimmer durch­querte, dachte sie, das müsse wohl der zweite Wächter Ileannas sein, was sie wiederum daran erin­nerte, dass sie wirklich viel zu spät dran waren, denn der zweite Wächter erschien für gewöhnlich erst, wenn alles fertig war und sie aufbrechen mussten. Sie seufzte. Ileanna stand heute wirklich noch einiges bevor, angefangen bei der Standpauke ihrer Mutter, die unumgänglich war, da Königin Maidred Verspätungen wirklich hasste.

Kurz bevor sie die Tür aufzog, fiel Naria ein, wer der zweite Wächter war, und ihre Laune sank. Es war Levent, Sohn von Aloysius, einem ranghohen Berater des Königs, der große Ländereien und ein ansehnliches Schloss in der Nähe des Palastes besaß. Levent war es sehr wichtig, jeden wissen zu lassen, wer sein Vater war, was Naria aus dem einfachen Grund nachvollziehen konnte, dass Le­vent selber ein Taugenichts war und ohne den hohen Rang seines Vaters sicher nicht so weit gekom­men wäre. Er war ungeschickt, nicht sehr bedacht in seiner Wortwahl, weder besonders schlau noch gerissen oder attraktiv und am allerwenigsten war er bescheiden. Dass Aloysius keine besonders großen Stücke auf seinen jüngsten Sohn hielt, war in Narias Kreisen wohlbekannt. Auch das konnte sie nachvollziehen, doch tat ihr Levent deshalb auch ein wenig leid. Aufgewachsen im Schatten sei­ner beiden älteren Brüder, die viele der guten Eigenschaften hatten, welche Levent vermissen ließ, und die nun schon ziemlich gute Posten in der Verwaltung des Königreiches besetzten, war er als der Jüngste und bei Weitem nicht so Vielversprechende immer etwas zu kurz gekommen. Trotzdem nervte es Naria ungemein, so viel Zeit mit ihm zusammen verbringen zu müssen, da seine Art doch sehr anstrengend war.

Normalerweise hätte Levent auch niemals einen Rang wie diesen bekommen, denn obwohl König Arik ihn auf Bitten Aloysius hin zum Wächter hatte ausbilden lassen, betrieb er keine Vetternwirt­schaft, was die wichtigen Posten in der Wache oder sonst irgendwo betraf – wer einen solchen Pos­ten haben wollte, musste sich hocharbeiten und beweisen, dass er der Aufgabe gewachsen war, egal, wessen Kind er war. Deshalb war Levent auch eigentlich kein Wächter Ileannas. Es hatte aber einen Engpass an Wächtern gegeben, da der König in einer dringenden Angelegenheit in ein recht unsi­cheres Gebiet des Reiches hatte reisen müssen und dafür einige seiner besten Beschützer mitgenom­men hatte – unter anderem auch Salim, neben Naria der zweite und erfahrenere Wächter der Kron­prinzessin, für den Levent in den letzten paar Wochen eingesprungen war.

In Erwartung eines weiteren nervtötenden Tages, der ihre Geduld hart auf die Probe stellen würde, öffnete Naria die Tür, um Levent hereinzulassen. Nur – vor der Tür war keine Spur von ihm zu se­hen. Stattdessen stand dort jemand, den Naria nicht erwartet hatte. Mit offenem Mund starrte sie ihn an, für den Moment unfähig, zu reagieren. „Willst du mich nicht hereinlassen?", fragte Salim schließlich grinsend. Naria fiel ihm um den Hals.

 

„Wieso seid ihr schon wieder hier?", fragte Naria, während Salim ihr ins Wohnzimmer folgte. „Wir hatten in frühestens fünf Tagen mit euch gerechnet."

„Der König konnte das Problem schneller unter Kontrolle kriegen als gedacht und als feststand, dass wir früher als geplant heimkehren würden, haben wir uns besonders beeilt, damit er doch noch an der Geburtstagsfeier heute Abend teilnehmen kann. Sie findet doch statt, oder?"

„Wenn es nach ihr ginge, nicht." Naria ließ sich auf das elegante, zartgrüne Sofa fallen, welches das Wohnzimmer dominierte, und nickte in Richtung der Schlafzimmertür.

Salim musste grinsen. „Immer noch nicht besser?", fragte er und fuhr sich mit der linken Hand durch  seine schwarzen Haare, welche von einigen silbergrauen Strähnen durchzogen waren. Salim war um einiges älter als Naria und schon Ileannas Wächter gewesen, bevor Naria überhaupt ihre Ausbildung begonnen hatte. Er kannte die Prinzessin von Kindesbeinen an und ihm war ihre Ansicht zum Thema Heiraten wohlbekannt.

Naria schüttelte den Kopf. „So ist sie halt. Und um ehrlich zu sein, ich kann es irgendwo auch nach­vollziehen. Ich hätte auch keine Lust, heute Abend wie das begehrteste Stück Vieh präsentiert zu werden, auf das alle wild sind."

„Im Gegensatz zu einem Stück Vieh kann Ileanna sich aber aussuchen, wer sie bekommt und dar­über sollte sie froh sein. Ich bin sicher, König Arik hat ihr dieses Zugeständnis nicht von sich aus gemacht."

Nun war es Naria, die schmunzelte, denn sie wusste, auf wen ihr Partner anspielte. König Arik hielt zwar große Stücke auf seine älteste Tochter, doch wäre er bezüglich der Wahl ihres zukünftigen Ehemannes, der ja immerhin sein Nachfolger werden würde, sicherlich nicht von alleine auf die Idee gekommen, seine Tochter mitentscheiden zu lassen. Naria und Salim vermuteten, dass es sei­ner Mutter Liviane, der ehemaligen Königin, gelungen war, ihn dazu zu bewegen, Ileanna ein ge­wisses Mitspracherecht einzuräumen. Liviane war eine leidenschaftliche Reformistin und hielt viele der alten Traditionen Catalaniens und dessen Königshauses für überholt und altmodisch. Wann im­mer sie konnte, versuchte sie, ihren Sohn davon zu überzeugen, einige von ihnen abzuschaffen, zu verändern und so zum Beispiel seinen Töchtern mehr Freiheiten zu gewähren. Naria bewunderte die alte Frau sehr und genau wie deren Enkelinnen verstand auch sie sich außerordentlich gut mit ihr. Vermutlich, dessen war Naria sich aber nicht ganz sicher, hatte sie es hauptsächlich Liviane zu ver­danken, dass der König es ihr erlaubt hatte, als einziges Mädchen die Ausbildung an der Wächter­akademie zu absolvieren.

Aus dem Schlafzimmer der Prinzessin waren plötzlich viel Lärm und laute, aufgebrachte Stimmen zu hören. Alarmiert fuhren Naria und Salim herum, um zur Tür zu eilen, entspannten sich aber im nächsten Moment wieder, als sie erkannten, dass es sich lediglich um eine Diskussion zwischen Ileanna und der verzweifelten Cleva handelte.

„Ich WILL dieses komische Kleid nicht anziehen!", ertönte Ileannas wütende Stimme von nebenan.

„Bitte, Prinzessin, wir sind sowieso schon viel zu spät", versuchte Cleva verzagt, sie zur Vernunft zu bringen.

„Das ist mir egal, ich habe kein Interesse daran, mich wie eine verdammte Puppe in diesem dämli­chen Kleid zu präsentieren!", schnappte Ileanna gereizt.

„Sonst habt ihr doch auch kein Problem damit, schöne Kleider zu tragen."

„Aber sonst", echauffierte sich die Prinzessin, "werde ich auch nicht wie eine blöde Anziehpuppe im cremefarbenen Kleid meinen potentiellen Käufern präsentiert!"

„Ich kann euch auch schnell ein anderes Kleid heraussuchen, wenn ihr das cremefarbene nicht wollt", schlug Cleva vor, die dem Zusammenbruch nahe schien.

„ES GEHT MIR NICHT UM DIE VERFLUCHTE FARBE!", schrie Ileanna sie an.

Salim und Naria blickten sich an und standen gleichzeitig auf, um der armen Cleva, die mit ihrer schüchternen und freundlichen Art den gelegentlichen Wutausbrüchen ihrer Herrin nicht gewach­sen war, zur Seite zu stehen.

Naria betrat als Erste den Raum und musste sich, obwohl die Situation zu eskalieren drohte, ein La­chen verkneifen. Ileanna, dezent geschminkt und mit elegant frisierten Haaren, die leicht gewellt ihr zartes Gesicht umschmeichelten, stand im seidenen Morgenrock am Fenster ihres Schlafzimmers und funkelte die verschreckte Cleva, die hinter dem Bett stand und ein stilvolles, cremefarbenes Kleid mit blassrosafarbenem Band in den Armen hielt, wutentbrannt an. Erst als Naria sich schüt­zend vor Cleva stellte, bemerkte die Prinzessin ihr Eintreten und blickte sie nun herausfordernd an. „Willst du mich jetzt auch in diesen bescheuerten Seidenfummel stecken?", fragte sie ihre Freundin gereizt.

„Ich will dich nirgends reinstecken, aber lass wenigstens Cleva in Ruhe, sie kann schließlich nichts für deine Lage", gab Naria ruhig zurück. „Geh von mir aus in Reithosen, wenn du dich dann besser fühlst. Oder reiß dich endlich zusammen, zieh dieses Kleid an und mach das Beste aus deiner Situa­tion. Niemand erwartet von dir, dass du dich von jetzt an wie deine Mutter benimmst und eine ele­gante, damenhafte und immer anmutig gekleidete Königin wirst, die ständig Bälle und Gesellschaf­ten gibt, aber hör endlich auf, dich so kindisch zu benehmen. Ich weiß, du würdest lieber tausend andere Dinge tun, als zu heiraten, aber du bist nun mal die Kronprinzessin unseres Reiches und hast dadurch gewisse Pflichten, die du erfüllen solltest, solange du deinen Anspruch auf den Thron gel­tend machst und dazu gehört eben auch das Heiraten, bevor du gekrönt werden kannst, wie du sehr genau und seit vielen Jahren weißt. Es gibt viele Menschen, die ein weitaus schlimmeres Schicksal haben, als einen gutaussehenden, freundlichen, jungen Grafen oder so zu heiraten und dann ein Land zu regieren, also hör bitte endlich auf, dich so aufzuspielen, denn du bist kein Kind mehr, son­dern einundzwanzig Jahre alt!" Gegen Ende war Narias Stimme immer lauter geworden, denn ob­wohl sie ihre Freundin verstehen konnte, fand sie deren Verhalten sehr übertrieben und missbilligte, wie diese ihre Zofe behandelte.

Nach dieser barschen Zurechtweisung breitete sich ein unangenehmes Schweigen im Raum aus. Ileanna starrte Cleva weiterhin an, unschlüssig, ob sie wütend werden, oder sich beruhigen sollte. Naria hatte sich in Rage geredet und starrte wütend zurück und Cleva hielt sich eingeschüchtert hin­ter ihr versteckt und wusste nicht, ob sie es wagen konnte, gefahrlos mit dem Zurechtmachen Ilean­nas fortzufahren, oder ob sie wieder eine Abfuhr kassieren würde.

Salim, der an der Tür stehen geblieben war und die Szene halb belustigt, halb ernst mitangesehen hatte, war es schließlich, der das Schweigen brach.

„Wo wir gerade davon sprechen", sagte er und trat einige Schritte in den Raum hinein, bis er neben Naria stand. „Alles Gute zum Geburtstag, Prin­zessin!"

Er sah seinen Schützling an und Naria bemerkte aus den Augenwinkeln, wie viel Zunei­gung in die­sem Blick lag. Ileanna riss ihren Blick von Naria los und ihre Augen huschten zu Salim herüber. Jetzt erst registrierte sie ihn und es dauerte ein paar weitere Sekunden, bis sie wirklich be­griff, wen sie da vor sich hatte. Dann aber verschwand der Zorn umgehend aus ihren Augen und sie flog ihrem alten Freund in die Arme. Dieser drückte die fest und lächelte Naria über Ileannas Schul­ter hinweg mit einem schelmischen Funkeln in den Augen an. Naria seufzte erleichtert und auch Cleva ent­spannte sich sichtlich.

...

 

Lieber Bruder,

 

Du hast aber schnell geantwortet! Ich habe den Brief doch erst vor wenigen Tagen losgeschickt. Schön zu hören, dass es dir gut geht, aber es ist schade, dich in nächster Zeit nicht treffen zu können, weil du so viel zu tun hast. Hier geht im Moment alles drunter und drüber. Wie du sicher weißt, wird Kronprinzessin Ileanna 21 Jahre alt. Ihr zu Ehren wird ein Ball gegeben, der aber hauptsächlich dazu dient, endlich einen passenden Ehemann für sie zu finden, da unser Gesetz ja besagt, dass der Kronprinz oder die Kronprinzessin erst verheiratet König beziehungsweise Königin werden darf. Ein gutes Gesetz, wenn du mich fragst, solange nur der richtige Partner gefunden wird. Ich kenne die Kronprinzessin nicht besonders gut, aber ich weiß, wie wenig sie vom Heiraten hält. Bis jetzt hat sie noch keinen Mann gefunden, der ihr zusagt und sie ist mehr als genervt von dem ständigen Drängen ihrer Eltern. Ich für meinen Teil hoffe, dass sie bald einen findet. Der König und die Königin können zwar noch ein paar Jahre regieren, aber danach sähe es schlecht aus. Ich weiß nicht genau, wie viel davon außerhalb des Palastes bekannt ist, doch Ileannas jüngere Schwestern wären beide nicht besonders geeignet als Königinnen, so ist sie die einzige Möglichkeit. Die Jüngste, Prinzessin Melva, hätte zwar mit Sicherheit kein Problem damit, einen Ehemann zu finden, aber mit ihr auf dem Thron würde Catalanien vermutlich zuerst pink eingefärbt werden und dann untergehen. Diplomatie und so weiter gehören nicht unbedingt zu ihren Stärken. Die andere, Siara, hat weniger Interesse am Thron als jeder andere Mensch, den ich kenne. Du siehst, Ileanna muss heiraten. Auf den Ball heute Abend bin ich sehr gespannt, ich bin sehr froh, auch da sein zu können!

 

Herzlichst,

dein Bruder

Kapitel 3

 

Nachdem das Ankleiden der Prinzessin mit einiger Verzögerung schließlich doch noch erfolgreich und ohne Verletzte beendet werden konnte, machten sich Ileanna, Naria und Salim auf den Weg in den großen Speisesaal, in dem der Rest der königlichen Familie mit ziemlicher Sicherheit schon eine Weile wartete. Ileanna hatte sich schlussendlich doch noch zu dem cremefarbenen Kleid über­reden lassen und machte trotz ihrer verkniffenen Miene einen sehr eindrucksvollen und würdigen Eindruck. Die drei gingen den Gang, in dem neben Ileannas auch die Gemächer ihrer beiden Schwestern lagen, entlang und stiegen an dessen Ende eine kunstvoll verzierte, gewundene Treppe hinab. Diese führte in einen, zumindest für die Verhältnisse des Palastes, kleinen Vorraum, welcher wiederum mit der großen Eingangshalle verbunden war, die gewissermaßen das Herzstück des im­posanten Gebäudes bildete. Hoch über ihren Köpfen erhob sich das kuppelförmige Dach, verziert mit Ornamenten und Zeichnungen, von vielen verschiedenen Künstlern in mühevoller Feinarbeit angefertigt. An den Wänden, die bis zu einer Höhe von etwa drei Metern mit Holz vertäfelt waren, hing eine beeindruckende Sammlung von Portraits und Gemälden. Alle bildeten sie Personen oder wichtige Ereignisse aus der königlichen Familie ab.

Auch von Ileanna waren schon Bilder vorhanden: Als kleines Kind mit ihren Eltern, König und Kö­nigin, als etwa sechsjähriges Mädchen mit der dreijährigen Siara und der neugeborenen Melva, eini­ge Jahre später mit ihrer ganzen Familie und schließlich an ihrem achtzehnten Geburtstag, welcher in Catalanien so etwas wie die Aufnahme in den mündigen Teil der Gesellschaft bedeutete und in Ileannas Kreisen mit rauschenden Bällen gefeiert wurde. Siara hatte dieses Ereignis auch schon hin­ter sich gebracht – davon war ebenfalls ein Gemälde vorhanden – und Melva plante ihren eigenen Ball schon jetzt voller Aufregung, obwohl es für sie erst in fast zwei Jahren soweit sein würde. Die nächsten Bilder, so war es geplant, würden Ileannas Hochzeit und Krönungsfeier zeigen.

An drei Wänden der Halle gab es einen Durchgang in die verschiedenen Teile des Palastes. Der eine, durch den Naria, Ileanna und Salim gerade getreten waren, führte zu den privaten Wohn- – und Schlafräume der Königsfamilie sowie zu einigen wenigen Gästesuiten für ausgewählte Besucher. An der Wand rechts daneben befand sich das große, beeindruckende Eingangsportal, durch den nächsten Durchgang gelangte man zu den Verwaltungsräumen sowie zu dem Bereich, der unter an­derem für die Dienerschaft und das Wachpersonal vorgesehen war. Gegenüber dem Eingangsportal gelangte man über eine große Steintreppe in das große Speisezimmer, den Ballsaal, die Empfangs­zimmer, die anderen Gästezimmer sowie die Arbeits- und Besprechungsräume des Königs. Auf die­sen Durchgang hielten die Prinzessin und ihre Begleiter nun mit eiligen Schritten zu.

Obwohl es noch relativ früh am Morgen war, herrschte in der Eingangshalle schon ein reges Trei­ben. Die große Treppe wurde von mehreren Dienern mit gewaltigen Blumenarrangements und farb­lich dazu passenden Bändern verziert, die Bilder an den Wänden wurden gründlich entstaubt, der Boden wurde geschrubbt und alle Türknäufe poliert. Geschäftige Boten huschten mit diversen wichtigen Mitteilungen kreuz und quer durch die Halle und verschwanden schließlich in einem der drei Gänge oder durch eine unauffällige, kleine Tür neben dem Eingangsportal. Die großen, bunten Fenster wurden poliert, die offenen Kamine von Ruß und Asche befreit, die Lampen entlang der Wände gesäubert. Es schien, als sei der ganze Palast auf den Beinen, um die Geburtstagsfeier der Prinzessin vorzubereiten. Diese quittierte das Ganze mit einem genervten Augenverdrehen.

Alle, an denen die drei vorbeikamen, deuteten eine respektvolle Verbeugung in Richtung Ilennas an, die jeden freundlich und mit einem Lächeln zurückgrüßte. Naria und Salim nickten den Wachpos­ten, die am Eingangsportal positioniert waren, zur Begrüßung zu, nachdem auch diese sich vor der Prinzessin verneigt hatten, und stiegen dann hinter Ileanna die Steintreppe hinauf.

 

Die zweiflüglige Eichenholztür des Speisezimmers wurde ihnen geöffnet und Ileanna, ihre Wächter zu beiden Seiten hinter sich, trat ein. An der großen, hölzernen Tafel, die wie jeden Morgen reich gedeckt war, saß, wie erwartet, schon Ileannas Familie versammelt und blickte den dreien entgegen. Am Kopfende hatte König Arik Platz genommen. Er war eine eindrucksvolle Erscheinung. Silber­nes Haar, welches ihm bis fast auf die Schultern reichte, ein kantiges Gesicht, von einigen Falten durchzogen, ein leicht bräunlicher, aber dennoch recht blasser Teint und graublaue Augen, die so­wohl sehr ernst, zornig oder würdevoll als auch fröhlich, lustig und schelmisch dreinblicken konn­ten. Im Moment war allerdings eher ersteres der Fall. An der langen Seite des imposanten Tisches saß zu seiner Rechten Königin Maidred, seine Frau. Auch sie war eine äußerst elegante und ein­drucksvolle Erscheinung und trotz ihres Alters, welches Naria nicht ganz genau wusste, aber auf Anfang 50 schätzte, eine außerordentlich hübsche Frau. Ihr schwarzes Haar war von grauen Sträh­nen durchzogen, was sie aber nicht weniger hübsch, sondern eher noch würdevoller wirken ließ, und im Nacken zu einem eleganten Knoten geschlungen. Ihre grünen Augen  waren sorgfältig und dezent geschminkt und passten hervorragend zu ihrem olivfarbenen Teint. Die Farbe ihrer Augen wurde ihn dem stilvollen Gewand der Königin wieder aufgegriffen, welches ihren schlanken Körper umschmeichelte, ohne sie dabei auch nur im Geringsten aufdringlich oder anzüglich erscheinen zu lassen. Während in Naria in den Augen des Königs jene milde Strenge erkannte, die er meistens bei seinen Töchtern an den Tag legte, funkelte Königin Maidred ihrer ältesten Tochter schon fast zornig entgegen. Unpünktlichkeit und Stillosigkeit waren die beiden Dinge, die die Königin verabscheute, was hin und wieder zu Differenzen zwischen ihr und Ileanna führte. Naria seufzte innerlich ob der Ileanna bevorstehenden Stunden, war aber sehr erleichtert darüber, dass die Prinzessin sich doch noch gegen die Reithosen entschieden hatte. Naria linste zu Salim herüber, der sie daraufhin an­schaute und seines Blickes zufolge ähnliche Gedanken zu haben schien wie seine junge Partnerin.

Zu König Ariks linker Seite saß seine Mutter, die von allen noch immer respektvoll mit „Königin Liviane“ angeredet wurde, obwohl sie dieses Amt schon seit vielen Jahren nicht mehr innehatte. Na­ria musste an sich halten, um nicht laut loszuprusten, denn mit Maidred und Liviane saßen sich zwei Frauen gegenüber, die sich unähnlicher nicht hätten sein können. Neben Maidreds stilvoller Eleganz und Schlichtheit wirkte Liviane wie ein äußerst bunt geratener exotischer Vogel, welcher in einen Farbeimer der Marke „Regenbogen“ gefallen war. Die kleine Frau trug ein hellblaues, leichtes Som­merkleid verziert mit unzähligen knallgelben und pinken Blumen. Diese waren mit funkelnden Strasssteinchen umrandet, welche funkelten und glitzerten. An beiden Armen trug die Königsmutter viele Armreifen in allen erdenklichen Farben und fast genauso viele bunte Tücher waren locker um ihren Hals gelegt. Ihr Mund war rosa geschminkt und das blau ihres Kleides fand sich auch auf ih­ren Augenlidern wieder. Das Ungeheuerlichste aber befand sich auf Livianes Kopf. Ihre langen, dunkelgrauen Haare waren zu einer monströsen Turmfrisur aufgesteckt, auf welcher sich ein winzi­ger Hut befand, der ebenfalls über und über mit funkelnden Steinchen verziert war. Dieser wieder­um wurde von der größten gelb-pink gestreiften Feder, die Naria je gesehen hatte, erschlagen. Fröh­lich winkte Liviane ihrer Enkelin zu, was diese mit einem halbherzigen Lächeln erwiderte. Neben Liviane saß Siara. Sie trug ein einfaches, hellbraunes Seidenkleid mit minimalen Stickereien an den Rändern. Ihre dunkelbraunen, leicht gewellten Haare fielen ihr offen über die Schultern und ihr Ge­sicht war ungeschminkt. Trotz ihrer Abneigung gegen alles Elegante war Siara hübsch anzusehen und dass sie sich nicht schminkte, tat daran keinen Abbruch. Ihre großen, braunen Augen, die hohen Wangenknochen und der volle, fast dunkelrote Mund taten das ihre. Ileannas jüngste Schwester Melva saß auf Siaras anderer Seite und war momentan voll und ganz damit beschäftigt, ihr gewag­tes Aussehen in der Rückseite eines Silberlöffels zu überprüfen. Es war allen ein Rätsel, wie Melva hellblonde Haare haben konnte, wo Maidreds doch schwarz waren und Ariks ehemals braun. Außer­dem war ihre Haut unglaublich hell, sodass die dunkelrot geschminkte Lippen und die kunstvoll umrandeten, blauen Augen noch stärker hervorstachen. Melvas blutrotes Gewand saß sehr eng und hatte zu beiden Seiten einen Einschnitt, der fast bis zur Hüfte reichte und sehr, sehr viel Bein zeigte. Naria verdrehte die Augen. Königin Maidred würde zu verhindern wissen, dass Melva sich so der Öffentlichkeit präsentierte, dessen war sie sich sicher.

 

„Guten Morgen, Ileanna!“, begrüßte der König seine Tochter schließlich. „Alles Gute zum Geburts­tag!“

„Danke, Vater“, antwortete Ileanna und blickte dann vorsichtig zu ihrer Mutter hinüber.

„Guten Morgen, meine Liebe!“, ließ diese sich nun vernehmen und blickte ihre Tochter an. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Wobei, da hast du ja offensichtlich, oder nicht?“, spielte sie auf das verspätete Eintreffen der Prinzessin an. „Aber schön zu sehen, dass du dich wenigstens mal von dei­nen Reithosen getrennt hast, Ileanna!“ Naria musste erneut grinsen. Die Königin kannte ihre Töch­ter einfach. Ileanna dagegen ließ nur ein „Guten Morgen, Mama!“ hören. Offensichtlich hatte sie wenig Interesse an einer Diskussion über Zuspätkommen und anständige Kleidung.

„Aber meine Liebe, jetzt lass die Kleine doch!“, setzte sich Liviane für ihre Enkelin ein. „Sie ist ja nicht viel zu spät und immerhin ist heute ihr Geburtstag.“

„Eine Stunde!“, protestierte Königin Maidred, während Liviane Ileanna verschwörerisch zuzwin­kerte.

Überraschenderweise fiel die erwartete Standpauke vorerst aus und Ileanna setzte sich auf den noch freien Platz neben ihrer Mutter. Während sie sie in den Brotkorb und zum Honig griff, beobachtete sie beklommen, wie ihre ganze Familie und alle anwesenden Wächter ihr dabei zuschauten. Augen­scheinlich hatte das Warten den anderen dann doch zu lange gedauert, sodass nun alle außer Ileanna schon gefrühstückt hatten.

Währenddessen gesellten sich Naria und Salim zu den anderen Wächtern, die an der einen Längs­wand des großen Saales standen und ihre Blicke gelegentlich durch die Halle schweifen ließen. Stumm begrüßten sie sich und Yonah, der einer von Siaras Wächtern war, grinste Naria fröhlich zu, was diese erwiderte. Neben Yonah stand sein bester Freund und Partner Cobalt, welcher sich nun ebenfalls Naria zuwandte und sie anblickte. Mit seinen blauen Augen, die keinen Zweifel auf die Überlegungen bei seiner Namensgebung zuließen. Narias Knie wurden weich und ihr Herz klopfte auf einmal wie wild. Zwischen ihr und Cobalt war es in den Jahren, in denen sie sich nun schon kannten, immer wieder mal zu sehr eindeutigen Situationen gekommen und Naria müsste lügen, um zu behaupten, dass ihr das missfallen hätte. Doch sie kannte nicht nur Cobalts Ruf, sondern wusste auch, dass das meiste, was im Bezug auf Frauen über ihn rumerzählt wurde, der Wahrheit entsprach. Da sie nicht vorhatte, wie eines der armen Mädchen zu enden, denen er regelmäßig die Herzen brach, hielt sie sich so gut sie konnte, mal mehr und mal weniger erfolgreich, von ihm fern. Abgese­hen davon war ihr Verhalten sowieso schon absolut unprofessionell. Auf keinen Fall durfte sie sich etwas anmerken lassen und sie blickte stur zurück, geradewegs in seine unglaublichen Augen, in de­nen sie am liebsten versinken würde. Ohne dass sie es wirklich wollte, wanderte ihr Blick weiter zu seinen vollen, sinnlichen Lippen, die sie nur zu gerne mal wieder – Stopp! Was tat sie denn da?! Sie führte sich auf wie eine liebeskranke Irre, das musste sofort aufhören! Entschlossen riss sie ihre Au­gen von Cobalts Lippen los und starrte stattdessen auf seine Stirn und Haare, die kohlrabenschwarz und ähnlich wie Yonahs kunstvoll zerzaust und etwas zu lang für die aktuelle Mode waren. Nun zog Cobalt die Augenbrauen hoch und grinste sie anzüglich an. Ihr pochendes Herz und das Kribbeln in ihrem Körper ignorierend, verdrehte sie die Augen und drehte sich dann schnell in eine andere Richtung. 

Kapitel 4

 

Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu und der Ball rückte immer näher. Die Angestellten im Pa­last trafen letzte Vorbereitungen, aber im Großen und Ganzen war alles bereit für den Abend. Einige Gäste, die über Nacht oder sogar für mehrere Tage bleiben würden, waren schon angekommen und hatten ihre Gemächer bezogen. Ileanna hatte allerdings seit dem Mittag keiner mehr zu Gesicht be­kommen. Sie hatte sich in ihre Räume zurückgezogen, um sich auf den Ball vorzubereiten. Oder zu­mindest sollte sie das tun.

Von Vorbereiten konnte allerdings keine Rede sein. Weder war die Prinzessin  gebadet, geschminkt, frisiert oder angekleidet, noch zeigte sie irgendein Interesse, etwas davon in absehbarer Zeit zu tun. Stattdessen rannte sie nun schon seit zwei Stunden in ihrem Wohnzimmer hin und her und trieb da­mit nicht nur Cleva, Salim und Naria, sondern auch Siara in den Wahnsinn, die vor einer Weile vor­beigeschaut hatte, um nachzusehen, wie es ihrer älteren Schwester ging. Lediglich Liviane, die auch anwesend war, saß gelassen auf dem grünen Sofa und betrachtete das ganze eher als eine Art Komö­die, die sie offensichtlich köstlich amüsierte.

„Prinzessin, bitte!“ Cleva war, wie schon am Morgen, dem Zusammenbruch nahe. Sie war sich wohl bewusst, wie wichtig es war, dass Ileanna einen guten, aber vor allem pünktlichen und ange­kleideten Auftritt hinlegte.

Ileanna beachtete sie gar nicht, sondern begann eine weitere Schimpftirade auf Männer, den Ball, das Gesetz, dass man nur verheiratet gekrönt werden durfte und ihre Situation im Allgemeinen. Die anderen hörten schon gar nicht mehr zu. Siara las in einem Buch, das sie mitgebracht hatte. Naria stand am Fenster und blickte nach draußen. Cleva war ins Bad gegangen, vermutlich, um noch wei­ter nervös am Kleid der Prinzessin herumzuzupfen. Salim saß gelassen auf dem Sofa und entspann­te sich und Liviane setzte das dritte Glas Sherry an die Lippen und leerte es in einem Zug. Dann winkte sie einem Diener, der beflissen neben der Eingangstür stand, und forderte Nachschub.

 

„…oder ihr etwa nicht?“ Ileanna sah erwartungsvoll in die Runde. Erst einmal reagierte niemand, da keiner  mit einem so raschen Ende des Wutausbruches gerechnet hatte. „Wie bitte?“ fragte Salim, als er schließlich als Erster das Ende der Zeterei erkannt hatte und dass die Prinzessin nun anschei­nend auf eine Reaktion wartete. Naria drehte sich vom Fenster weg.

„Ist was?“, fragte sie und blick­te ihren Partner an.

„Sie ist fertig“, antwortete dieser.

„Tatsächlich?“, ließ nun auch Siara verneh­men und sah von ihrem Buch auf. Die Schlafzimmertür öffnete sich vorsichtig und Cleva blickte schüchtern dahinter hervor. Liviane trank ihren vierten Sherry. „Köstlich!“, seufzte sie und gab dem Diener ein Zeichen.

 

Weitere zwei Stunden später öffnete sich die Schlafzimmertür erneut. Siara war inzwischen gegan­gen, um sich ihrerseits auf dem Ball vorzubereiten, womit Melva sicherlich schon seit dem Früh­stück beschäftigt war. Auch Liviane war inzwischen fort, wobei „gegangen“ nach sechs Gläsern Sherry wohl nicht der richtige Ausdruck für den Abgang war, den sie mithilfe des Dieners hingelegt hatte. Naria hoffte, dass sie sich bis zum Beginn des Balls noch einigermaßen regenerierte. So saßen also nur noch sie und Salim im Wohnzimmer rum und standen gespannt auf, als erst die völlig ge­schaffte Cleva und dann die endlich zurechtgemachte Ileanna den Raum betraten. Das Ergebnis war atemberaubend. Obwohl die Kronprinzessin nicht den freundlichsten Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte, schien ihre helle Haut von innen heraus zu Leuchten, was durch die Akzente, die Cleva ge­setzt hatte, noch verstärkt wurde, ohne unnatürlich zu wirken. Ileannas Augen waren dunkel umran­det, wobei die Farbe nach außen hin immer schwächer wurde und in einem hellen Grau auf ihren Lidern endete. Ihre Lippen waren dunkelrot geschminkt und wirkten sinnlich und voll, das hellbrau­ne Haar elegant aufgetürmt und mit goldenen Perlen verziert, die das Spiel des Lichts in Ileannas Haaren noch verstärkten. Das Kleid, welches die Prinzessin trug, war umwerfend und passte perfekt zu ihr. Die Schneiderin hatte ganze Arbeit geleistet. Es hatte exakt die Farbe von Ileannas Lippen, war schulterfrei und bis knapp über ihrer Hüfte eng anliegend. Danach wurde es weiter und fiel in eleganten Falten bis fast auf den Boden, sodass man darunter noch gerade so  die roten Schuhe er­kennen konnte. Am oberen Teil des Kleides waren die gleichen goldenen Perlen aufgestickt wie in Ileannas Haaren und über dem weiten Rock befand sich eine glänzende, beinahe fließende, fast durchsichtige Stoffschicht, ebenfalls golden.

„Wow!“, machte Naria leise. Salim hatte es die Spra­che verschlagen und er starrte seinen jungen Schützling nur ungläubig an.

„Meint ihr, es geht so?“, fragte Ileanna schließlich und blickte ihre beiden Wächter unsicher an. Nichts mehr war übrig von ihrem Zorn und ihrem Geschrei von vor einigen Stunden. Nun war sie nur eine aufgeregte junge Frau, die sich gleich auf einen riesigen Ball begeben würde, der ihr zu Ehren stattfand. Naria lächelte.

„Hau sie weg!“, antwortete sie. Salim nickte nur, zu mehr war er anscheinend noch nicht fähig.

 

Sie schritten den Gang zum Ballsaal entlang, Ileanna vorneweg, Naria und Salim folgten links und rechts hinter ihr. Je näher sie der Tür kamen, desto lauter wurden Stimmen und Musik. Der Ball hat­te, wie erwartet, schon begonnen. Es war Brauch, dass die wichtigste Person, in diesem Fall die Kronprinzessin, erst dann eintrat, wenn alle schon eine Weile versammelt waren, sich begrüßt und ausgetauscht hatten, sodass ab dem Auftritt der Hauptperson die ungeteilte Aufmerksamkeit ihr gel­ten konnte. Naria konnte geradezu fühlen, wie die Aufgeregtheit Ileannas mit jedem Schritt, den sie machten, wuchs. Denn  obwohl die Prinzessin sich so dagegen gesträubt hatte, war der Abend sehr wichtig für ihre Zukunft, da sich heute vermutlich entschied, mit wem sie mal ihr Leben verbringen und das Land regieren würde. Naria machte ein paar Schritte nach vorn und drückte Ileanna die Hand, woraufhin diese sie dankbar von der Seite her anlächelte. Naria lächelte aufmunternd zurück, dann ließ sie die Hand wieder los und ließ sich ein paar Schritte zu Salim zurückfallen. Mehr konnte sie im Moment nicht für ihre Freundin tun.

Ileanna, Naria und Salim erreichten das große, hölzerne Portal, des Ballsaals, doch anstatt hineinzu­gehen, wandten sie sich nach rechts und stiegen eine Treppe hinauf, die sich, der Konstruktion des Saals folgend, leicht nach links drehte. Sie stiegen die steinerne Treppe bis nach oben hinauf zu ei­ner kleineren, aber nicht weniger eindrucksvollen Tür, die auf einen Balkon im Saal führte, von dem aus die Prinzessin in wenigen Augenblicken ihren Auftritt haben würde. Zwei Diener standen schon bereit, jeder mit einem schwarzen Holzstab in der Hand. Ileanna drehte sich zu Naria und Salim um. Man konnte ihr die Angst und die Aufregung im Gesicht ablesen. Niemand sagte ein Wort. Salim trat vor und umarmte sie vorsichtig. Dann küsste er sie sanft auf die Stirn, trat einen Schritt zurück und lächelte sie liebevoll an. Naria drückte ihre Freundin so fest wie möglich, ohne etwas von ihrer kunstvollen Aufmachung zu zerstören. Prinzessin Ileanna atmete noch einmal tief durch, dann dreh­te sie sich entschlossen um und gab den Dienern ein Zeichen.

Die Türen zum Balkon wurden geöffnet und die beiden Diener mit den Stäben traten gemessenen Schrittes hindurch und schlugen synchron dreimal mit ihren Stäben auf den Boden. Die Schläge wa­ren im ganzen Saal deutlich zu hören, sodass augenblicklich Gespräche und  Musik verstummten und alle sich gespannt dem Balkon zuwandten. In die entstandene Stille hinein rief einer der Diener mit fester Stimme: „Kronprinssin Ileanna von Catalanien!“

Hoch erhobenen Hauptes betrat Ileanna den Saal und ging vor bis zum Rand des Balkons. Ehrfürch­tig senkten die Anwesenden ihre Köpfe und blickten wieder auf, als Ileanna ihnen ein Zeichen gab. Ihr Auftritt war ein voller Erfolg. Staunend und mit großen Augen verfolgten sämtliche Gäste den Weg der Prinzessin die Treppe hinunter in den Saal, an deren Fuße sie von ihrem Vater in Empfang genommen wurde. Naria und Salim folgten unauffällig und in einigem Abstand. Stolz und aufmun­ternd lächelte König Arik seiner Tochter zu, was diese erleichtert erwiderte. Auch ihre Mutter schi­en zufrieden mit dem Auftreten ihrer Tochter zu sein, denn sie nickte ihr von ihrem etwas entfernten Platz aus freundlich zu. König Arik führte seine Tochter in die Mitte des Saales, um mit ihr den Er­öffnungstanz zu tanzen, so wie es Sitte war. Auf ein Zeichen des Königs hin setzte das große Orches­ter zum Spielen an und Arik und Ileanna begannen zu tanzen. Nach einigen Augenblicken gesellten sich andere Paare dazu, unter anderem Königin Maidred mit Aloysius, dem ersten Berater des Königs.

Währenddessen blickten sich Naria und Salim wachsam im Saal um, doch wie erwartet war keine Gefahr erkennbar. Trotzdem war Wachsamkeit geboten, denn sollten sie auch nur eine Kleinigkeit übersehen, könnte es zu spät sein. Ihnen taten es viele andere Wächter in ihren schwarzen Unifor­men gleich, die unauffällig zwischen den Gästen im Saal umherstreiften, größtenteils jedoch an den umliegenden Wänden platziert waren, von wo aus sie den gesamten Saal gut überblicken konnten. Nach einer Weile gesellte Naria sich zu Yonah, der auffällig nah am Buffet stand und alle paar Se­kunden verstohlen hinüberlinste. Der Ball war nun im vollen Gange und auch das Buffet war schon eröffnet worden. Es wurde getanzt, gelacht, gegessen, sich unterhalten. Neue Bekanntschaften wur­den geknüpft und alte erneuert. Und mittendrin befand sich Ileanna, die wichtigste Person des Abends und infolgedessen auch die begehrteste, vor allem bei den jungen Fürsten, Grafen und ande­ren Adeligen, die König und Königin geladen hatten. Naria blickte sich suchend um und ent­deckte die Prinzessin auf der Tanzfläche, wo sie gerade einen Walzer mit irgendeinem Fürstensohn tanzte. Wobei „tanzen“ nicht ganz hinkam, „trampeln“ traf es wohl eher. Offensichtlich war der jun­ge Mann kein begnadeter Tänzer und trat der Prinzessin bei jeder zweiten Drehung auf die Füße, woraufhin diese das Gesicht verzog. Nachdem er sich dann sehr wortreich entschuldigt hatte, folg­ten die nächste Drehung, der nächste Zusammenstoß und die nächste Entschuldigung. Naria lächelte mitleidig und sah aus den Augenwinkeln Siara und Melva am Rande der Tanzfläche stehen, von wo aus sie ebenfalls ihre Schwester beobachteten. Auch sie schienen nicht begeistert vom Tanzpartner Ileannas und litten augenscheinlich mit ihr. Naria war positiv überrascht von Siaras Erscheinung. Die sonst so unscheinbare junge Frau trug ein goldgelbes, eng anliegendes Kleid, welches perfekt mit ihren braunen Haaren und ihrem Teint harmonierte, welcher dunkler war als der ihrer beiden Schwestern und somit eher nach ihrer Mutter kam. Ihre Haare waren locker aufgesteckt, wobei viele lose Locken ihr dezent geschminktes Gesicht umrahmten. Melva war für ihre Verhältnisse fast schon klösterlich angezogen. Weder war ihr blaues Kleid durchsichtig, noch ging es ihr nur bis über die Knie. Es war auch nicht rückenfrei oder zeigte zu viel Dekolletee. Es schien offensichtlich, dass Melva in puncto Kleid schon einige Diskussionen mit ihrer Mutter hinter sich haben musste, aus de­nen sie als Verliererin hervorgegangen war.  Trotz der Einschränkungen von Maidreds Seite, Länge, Form und Material ihres Kleides betreffend, wirkte die Sechzehnjährige darin überaus sinnlich und sogar fast schon erotisch. Das azurblaue Kleid, in welchem die Farbe ihrer Augen aufgegriffen wor­den war, schmiegte sich eng an ihren Körper und umschmeichelte ihn, bei jeder von Melvas Bewe­gungen ließ es den schlanken, aber kurvigen Körperbau darunter erahnen. Wie schon am Morgen war sie kunstvoll geschminkt und die blaue Umrandung um ihre Augen herum setzte diese noch stärker in Szene und ließ sie riesengroß wirken. So war es auch kein Wunder, dass wenige Meter entfernt zwei junge Männer standen und sehnsuchtsvoll jede Bewegung der Prinzessin mit den Au­gen und offenen Mündern verfolgten. Liviane konnte Naria allerdings nirgendwo entdecken, doch sie vermutete, dass die alte Dame sich auf der großen Terrasse befand, auf die man durch eine große, weit geöffnete Flügeltür unweit des Buffets gelangte. Vermutlich war ihr übermäßiger Sher­rykonsum vom Nachmittag noch nicht ganz auskuriert.

 

Nachdem Naria einen erneuten Streifzug durch den imposanten Saal unternommen und sich kurz mit einigen Gästen, die sie kannte, unterhalten hatte, kehrte sie zurück an ihren Platz neben Yonah zurück, der gerade unauffällig ein Kanapee in seinem Mund verschwinden ließ. Sie ließ ihre Augen durch den Saal wandern und erblickte Ileanna schließlich etwas abseits der Tanzfläche, in ein Ge­spräch mit einem attraktiven, etwa fünfundzwanzigjährigen Mann verwickelt, der eindringlich auf sie einredete. Er hatte hellbraune, relativ kurze und ordentlich frisierte Haare und sehr dunkle Au­gen, die Naria auf die Entfernung hin fast schwarz erschienen, welche von dunklen, langen Wim­pern umrandet wurden. Seine Lippen waren schmal und trotz seiner recht hellen Haare war sein Teint um einiges dunkler als der Ileannas. Naria konnte nicht umhin, festzustellen, dass sein Ausse­hen durchaus reizvoll war. Seine Kleidung entsprach der eines Fürsten, wozu auch sein selbstsiche­res Auftreten passte, wie Naria fand. Sie überlegte gerade, ob sie ihm wohl schon einmal begegnet war, als sie bemerkte, wie abweisend die Prinzessin auf ihn reagierte, fast so, als hege sie eine Ab­neigung gegen ihn. Neugierig ging Naria auf die beiden zu und blieb in geringer Entfernung stehen, nah genug, um das Gespräch der beiden problemlos mitanzuhören. Der Vorteil daran, eine Wächte­rin zu sein, war, dass man bei solchen Gelegenheiten meist übersehen wurde, was bedeutete, dass man unauffällig viele Dinge mitbekommen konnte, wenn man wollte. Jemand wie beispiels-weise Melva hätte es bei weitem nicht so leicht gehabt, doch an die dauerhafte und unauffällige Präsenz der Wächter war jeder im Saal gewöhnt, sodass Naria nur zwischendurch so zu tun brauchte, als bli­cke sie sich wachsam im Ballsaal um, und niemand würde sie weiter beachten.

„Prinzessin Ileanna, wollt ihr mir wirklich die Ehre eines weiteren Tanzes mit euch verweigern?“, fragte der junge Fürst gerade und lächelte die Prinzessin gewinnend an.

„Wir haben gerade auf Euer Drängen hin vier Tänze hintereinander getanzt!“, gab diese in einem leicht genervten Tonfall zurück. „Ihr wollt doch die Ehre, die Euch zuteilwurde nicht überstrapazie­ren, oder Fürst Nor?“

Fürst Nor war ein reicher und allseits geachteter junger Fürst mit großen Ländereien unweit des Pa­lastes. Naria war ihm noch nie selbst begegnet, hatte aber wohl schon von ihm und seiner ein­nehmenden und diplomatischen Art gehört, die ihn bei den meisten Adeligen beliebt machte. Dass er die Prinzessin so bedrängte, passte nicht in das Bild, dass Naria bis zu diesem Zeitpunkt von ihm gehabt hatte.

„Meine Liebe, darf ich euch dann vielleicht zum Buffet begleiten?“, versuchte der Fürst erneut sein Glück.

„Ich bin nicht hungrig, vielen Dank“, antwortete Ileanna prompt und lächelte ihn kalt an. „Ich den­ke, ich werde nun meine Schwestern suchen gehen. Vielen Dank für die Ehre des Tanzes mit Euch.“ Damit wandte sie sich zum Gehen, doch der Fürst trat ihr entschieden in den Weg. Ileanna sog scharf die Luft ein.

„Lasst mich euch doch dorthin begleiten!“, beharrte er. „Oder soll ich euch eine Erfrischung brin­gen?“ Ileanna blickte ihm nun direkt in die Augen, alle Freundlichkeit war aus ihrem Gesicht ver­schwunden. Eine kurze Weile funkelte sie ihn schweigend an, dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um und rauschte davon. Als sie an Naria vorbeikam, packte sie sie unsanft am Handgelenk und zog sie mit sich nach draußen auf die große, fast menschenleere Terrasse.

 

„Was für ein unangenehmer Mensch!“, schimpfte die Prinzessin, kaum dass die beiden in einer et­was abgeschirmten Ecke zum Stehen kamen. „Hast du das mitgekriegt? Unglaublich!“ Ihre Wan-gen waren gerötet vor Wut.

„Was war denn da überhaupt los?“, fragte Naria. „Ich habe von Fürst Nor bis jetzt immer nur Gutes gehört.“

„Gutes, pah!“, gab die Prinzessin zurück. „Ein Idiot ist er und was für einer! Vier Tänze hab ich mit ihm getanzt, dabei hatte ich schon nach dem ersten die Schnauze voll! Wie eingebildet er ist! Außer sich selbst kennt er kein anderes Gesprächsthema. Seine Villa, sein Landsitz, seine Ländereien, sein Gestüt, sein - “

„Jetzt beruhig dich doch mal!“, wurde sie von Naria unterbrochen. „Er hat doch bestimmt nur ver-sucht, dich zu beeindrucken, dafür ist er schließlich hier, oder nicht? In Wirklichkeit ist er bestimmt nicht so schlimm.“

„Es ist mir völlig egal, wie er in Wirklichkeit ist. Ich will es gar nicht wissen. Mit ihm will ich nichts mehr zu tun haben, von allen hier  anwesenden Männern ist er mit Sicherheit der Letzte, den ich heiraten würde!“

In diesem Moment trat Salim neben die beiden auf die Terrasse hinaus.

„Ach hier treibt ihr euch rum“, sagte er und blickte überrascht in Ileannas erhitztes Gesicht. „Was ist denn hier los?“

„Ein nicht ganz so einfach loszuwerdender Verehrer, das ist alles“, antwortete Naria, bevor die Prin­zessin erneut ansetzen konnte.

„Ach ja?“, fragte Salim neugierig. „Wer denn?“

„Fürst Nor“, schnaubte Ileanna.

„So? Mir kam er eigentlich immer sehr freundlich vor.“ sagte Salim und schaute Naria fra­gend über Ileannas Kopf hinweg an.

„Naja, heute hat er sich wohl wirklich nicht sehr freundlich be­nommen“, erklärte diese. „Du kennst ihn?“

„Ich hab ihn ein paar Mal erlebt, als er sich mir Aloysius oder dem König beraten hat. Alles in Al­lem ist er doch ein sehr ruhiger, junger Mann. Ein biss­chen von sich eingenommen vielleicht, aber - “

„Ein BISSCHEN?“, brauste Ileanna auf. „Weiß der überhaupt, dass es außer ihm noch andere Men­schen gibt?“ Mit diesen Worten stolzierte sie zurück in Richtung der Türen. Naria und Salim blick­ten sich an.

„Ich geh schon“, sagte er schließlich und folgte der Prinzessin.

Naria blieb noch eine Weile draußen und lauschte in die Nacht. Inzwischen war es stockfinster ge­worden und obwohl der Saal hinter ihr sowie die große Terrasse hell erleuchtet waren, reichte das Licht gerade aus, um wenige Meter in den Schlossgarten hineinzublicken, dahinter war alles schwarz. Es war eine klare, warme Sommernacht und eine frische Brise wehte. Die Sterne funkelten hell am Himmel und Naria ging bis an die Brüstung der Terrasse, legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben.

Plötzlich spürte sie, wie sich zwei große Hände sanft um ihre Hüften legten. Ihr Herz machte einen Sprung und sie schnappte erschrocken nach Luft.

Kapitel 5

 

„Warum denn so schreckhaft?“, raunte eine dunkle Stimme direkt neben ihrem linken Ohr und Na­ria spürte seinen Atem an ihrem Hals, was ihr augenblicklich eine Gänsehaut verursachte. Ein Krib­beln breitete sich in ihrem ganzen Körper aus und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Naria verfluch­te ihren Körper für diese derart heftigen Reaktionen.

„War unsere kleine Wächterin nicht aufmerk­sam?“ Cobalt trat noch einen Schritt weiter auf sie zu, sodass nun kein Blatt mehr zwischen ihre Körper gepasst hätte.

„Was willst du, Cobalt?“, stöhnte diese und blickte starr weiter geradeaus, während Cobalts Hände langsam  unter ihr Oberteil wanderten und über ihre nackte Haut strichen. Naria schauderte.

„Das weißt du doch“, flüsterte er verführerisch und begann, sanft an ihrem linken Ohrläppchen zu knabbern, was Naria ein verzweifeltes Stöhnen entlockte. Cobalt kicherte leise und bedeckte nun ih­ren Hals mit Küssen. Narias Beine gaben nach und sie wurde nur deshalb am Hin­fallen gehindert, weil sie zwischen der Mauer und Cobalt eingeklemmt war. Das durfte doch nicht wahr sein! Kaum, dass er einmal den Mund aufmachte und mit seinen Fingern ein bisschen ihren Körper berührte, konnte sie nicht mehr klar denken und benahm sich wie ein einfältiges Mädchen! Entschlossen, die Signale ihres Körpers zu ignorieren und Cobalt endlich mal die Meinung zu gei­gen, drehte sie sich abrupt um. Was in der Theorie vielleicht ein guter Plan gewesen war, erwies sich in der Praxis als nicht ganz so leicht umsetzbar, denn nun stand sie ihm Auge in Auge gegen­über und er presste sei­nen muskulösen Körper noch näher an ihren, zog die Hände unter ihrem Oberteil hervor und stützte sich damit auf der Mauer hinter Naria ab.

„Du - “, begann sie, konnte ih­ren Satz aber nicht beenden, weil Cobalt seine Lippen auf ihre legte und sie damit am Sprechen hin­derte. Wieder gaben ihre Knie nach und ihr Körper fühlte sich an, als würde er gleich zerspringen.

„Schlaf mit mir!“, wisperte er, als er seine Lippen sanft von ihren löste.

„Vergiss es!“, murmelte sie und versank in  seinen blauen Augen, die sie nun treudoof anblickten. „Wieso nicht?“ Cobalt biss ihr leicht in die Unterlippe und ein Schaudern ging durch ihren ganzen Körper.

„Weil - “, setzte sie an und versuchte angestrengt, seinen Körper zu ignorieren, der sich immer noch fordernd an den ih­ren presste. „Weil ich ganz sicher nicht eins von deinen viele Betthäschen werden will!“

Das war glatt gelogen, denn im Augenblick war ihre Vernunft bis auf ein kleines bisschen quasi aus­geschaltet und es gab nichts, was sie mehr wollte als sein „Betthäschen“ zu werden. 

„Aber ich würde für dich sogar auf alle anderen verzichten!“, beteuerte er und begann erneut, leicht in ihr Ohrläppchen zu beißen.

„Oh komm schon, jetzt lass das endlich, ich will das wirklich nicht!“, brachte Naria her­vor, doch  ihre Taten straften gleich darauf ihrer Worte Lügen, denn ohne darüber nachzudenken, hob sie ihre Arme und schlang sie fest um seinen Nacken. Ohne es zu sehen, wusste Naria, dass Co­balt trium­phierend grinste.

„Natürlich willst du das nicht!“, flüsterte er ihr ins Ohr, nur um gleich darauf wieder sanft hineinzu­beißen.

„Lass das!“, stöhnte sie abermals und zog ihn noch näher an sich, was ihm ein wohliges Brummen entlockte.

„Schläfst du jetzt mit mir?“, fragte er, schon wäh­rend er ihre Lippen wieder mit seinen versiegelte. „Nein!“, gab sie erneut zurück, erwiderte aber seinen Kuss und schloss dabei die Augen. Ihr Herz pochte wie wild in ihrer Brust und außer Cobalts Lippen und seinen Händen, die nun wieder zärt­lich über ihre nackte Haut strichen, spürte sie nichts mehr um sich herum. Naria vergrub ihre Hände in seinen wundervollen Haaren und Sie verlor jegli­ches Zeitgefühl, weshalb sie auch einige Mo­mente brauchte, wieder zu sich zu kommen, als eine Stimme von weit entfernt an ihr Ohr drang.

„Hier seid ihr, ich hab euch schon überall ge – was zum - “ Widerwillig löste Naria sich von Cobalt und blinzelte. Sie war noch völlig benebelt und es dauerte eine Weile, bis sie Yonah als Besitzer der Stimme identifizierte, der sich vor ihnen aufgebaut hatte und sie ungläubig anstarrte.

„Was willst du?“, fragte Cobalt ungehalten, die Arme nach wie vor um Naria geschlungen und blickte seinem besten Freund unfreundlich entgegen. Dieser hatte sich allerdings schnell wieder ge­fangen und grinste fröhlich zurück.

„Euch an eure Pflichten erinnern!“, antwortete er und wackelte dabei vielsagend mit den Ohren. „Alles klar bei dir?“ Er blickte Naria fragend an, die verwirrt den Kopf schüttelte, als ihr bewusst wurde, in welcher Situation sie sich bis eben befunden hatte und mit wem.

„Du Idiot!“, schrie sie Cobalt daraufhin an und gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Ich hab doch ge­sagt, dass ich das nicht will!“ Und wie schon Ileanna einige Minuten zuvor drehte sie sich um und rauschte zurück in den Saal.

„Sie wollte nicht mit mir schlafen.“, hörte sie Cobalt noch sagen, woraufhin Yonah ein langgezoge­nes „Aaaaha.“ von sich gab.

„Lach nicht.“, murrte Cobalt.

 

Der Ball war immer noch in vollem Gange, als Naria den Saal wieder betrat. Aufgrund der späten Stunde und der immer ausgelasseneren Gesellschaft war die Tanzfläche inzwischen ziemlich voll und die Tänze immer weniger steif. Naria sah, dass Ileanna wieder mit irgendeinem möglichen Ver­lobten tanzte, aber da Salim etwas entfernt von der Prinzessin stand und ein Auge auf sie hatte, kümmerte sich Naria erst einmal nicht weiter darum, sondern versuchte, ihren Herzschlag wieder auf eine normale Frequenz zu bekommen, indem sie mehrmals tief ein- und ausatmete. Sie war sich im Klaren darüber, dass man ihr vermutlich ansehen konnte, was sie noch bis vor wenigen Augen­blicken mit Cobalt – verfluchter Mistkerl – auf dem Balkon getan hatte, aber sie hoffte, dies würde um diese Zeit und bei den schon reichlich geflossenen Mengen an Wein keinem mehr wirklich auf­fallen.

Als sie sich zur Seite wandte, sah sie zum ersten Mal an diesem Abend auch Liviane, die mit einer halbleeren Sherryflasche mitten auf der Tanzfläche Walzer tanzte. Im Gegensatz zum Morgen trug sie nun ein grün – blaues Kleid, was man wohl als schlicht hätte bezeichnen können, wenn auf ihrer linken Schulter nicht ein großer Papagei aus Stoff aufgenäht wäre, der sogar ihre mächtige Turmfri­sur noch um einiges überragte. Naria musste grinsen, als sie den Blick bemerkte, den Köni­gin Mai­dred ihrer Schwiegermutter vom anderen Ende des Saales aus zuwarf. Das würde in den nächsten Tagen sicher noch spaßig werden. Als Königin Maidred sich allerdings wieder ihrem Gesprächs­partner zuwandte, verging Naria das Grinsen schlagartig, denn dieser war niemand anders als Fürst Nor, mit dem Ileannas Mutter und auch König Arik sich sehr gut zu verstehen schienen. Sie hörten ihm aufmerksam zu und lachten mit ihm, als er mit dem Erzählen geendet hatte. Als Kö­nig Arik ihm dann auch noch vertrauensvoll mit der Hand auf die Schulter schlug, schwante Naria Böses. Das konnte ja nicht gut ausgehen. Sie konnte nur hoffen, dass Ileanna diese Unterhaltung nicht mit­bekam, denn sonst würde sie ihren Eltern wohl vor allen Gästen hier und jetzt eine Szene machen.

Naria gesellte sich zu Salim, der nach wie vor ein Auge auf Ileanna hatte, die nun mit einem ande­ren Partner tanzte. Dieser hatte offensichtlich schon zu viel getrunken und wollte ihr seine Schuhe schenken, wenn Naria seine Gesten richtig verstand.

„Wo warst du?“, fragte Salim und wandte sei­nen Blick von Ileanna ab, der nun Siara zu Hilfe geeilt war, indem sie dem jungen Mann ein Glas Wein in die Hand drückte und ihn von ihrer Schwester wegzog.

„Ähm – draußen“, antwortete Naria ein wenig überrumpelt. Sie war sich sicher, dass zumindest Sa­lim sofort durchschaut hatte, was sie auf der Terrasse getrieben hatte.

„Soso“, war jedoch alles, was er dazu sagte, doch ein Augenzwin­kern konnte auch er sich nicht ver­kneifen. Zu Strafe stieß Naria ihm leicht ihren Ellenbogen in die Seite, dann drehten sie sich beide wieder zu Ileanna um.

Während sie Ileanna dabei beobachteten, wie sie von drei jungen Männern gleichzeitig ehrfurchts­voll ein Getränk angeboten bekam, bemerkte Naria aus dem Augenwinkel Domek und Beagor, Mel­vas Wächter, die sich verzweifelt durch die Menge bewegten und ihre Köpfe suchend in alle Rich­tungen bewegten. Naria ging auf Beagor, der ein bisschen aussah wie ein sehr großer und gutmüti­ger Braunbär, zu.

„Was ist los?“, fragte sie ihn.

Beagor kratzte sich am Bart. „Melva ist weg. Wir suchen sie überall, aber ohne Erfolg.“

„Ich habe wirklich nur eine einzige Sekunde nicht hingese­hen, weil mir jemand auf den Fuß getre­ten ist!“, ließ Domek vernehmen, der nun auch zu ihnen ge­stoßen war. „Und als ich wieder hochge­guckt habe, war sie plötzlich weg!“ Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. Domek war acht­zehn oder  neunzehn und  hatte seine Ausbildung erst im letz­ten Jahr beendet, aber aufgrund von seinen guten Ergebnissen in allen Bereichen war er fast sofort danach Melvas Wächter geworden.

„Keine Sorge, wir finden sie schon“, beruhigte ihn Beagor. Ge­nau wie Salim bei Ileanna war auch er schon seit ihrer Geburt an Melvas Seite und kannte seinen Schützling gut. Er wusste, dass sie sich vermutlich wieder mit einem jungen Mann in eine ruhigere Ecke zurückgezogen hatte, was zwar nicht direkt gefährlich, aber auch nicht gerade wünschenswert war, vor allem nicht, wenn Kö­nigin Maidred davon Wind bekam.

„Ich helfe euch suchen“, bot Na­ria an. „Wart ihr schon draußen?“

„Da wollte ich gerade hin, aber komm doch mit“, antwortete  Bea­gor und zu zweit bahnten sie sich einen Weg durch den Saal in Richtung Terrasse. Inzwischen war dort etwas mehr los als während Narias und Cobalts Intermezzo. Mehrere Gäste standen alleine oder in Gruppen auf der Terrasse herum und verschafften sich so eine Abkühlung von dem inzwi­schen schon ziemlich aufgeheizten Ballsaal. Automatisch wandte sich Naria in die abgelegene Ecke, in der sie vor einer Weile noch selbst mit Cobalt gewesen war und hielt inne, als sie leise Stimmen und Gekicher hörte. Beagor blieb dicht hinter ihr stehen. Die eine Stimme war unverkennbar Melvas, die andere war eine männ­liche Stimme, die Naria nicht zuordnen konnte. Beagor blickte Naria an und verdrehte die Augen. Naria grinste. Dann ging sie wieder hinein. Diese Sache ging sie nichts an und ihr Wächter würde schon alleine mit der übermütigen Melva fertig werden. Drinnen konnte sie noch Domek, der im­mer aufgeregter durch die Halle humpelte, beruhigen, indem sie ihm erklärte, dass Melva gefunden worden und Beagor bei ihr war. Anschließend begab sie sich wieder zu Salim, der noch immer in Ileannas Nähe ausharrte.

„Wie schlimm ist es?“, fragte sie ihn. „Ganz schlimm. Ganz, ganz schlimm.“

Naria blickte zu Ileanna hinüber, die inzwischen wieder bei ihren Eltern war, die beide eindringlich auf sie einredeten und in die Richtung von Fürst Nor gestikulierten, der einige Schritte entfernt stand und unbeteiligt tat. Ileannas Gesichtsausdruck wechselte zwischen Ungläubigkeit, Fassungs­losigkeit und blankem Entsetzen hin und her. Das Gesprächsthema der drei war unschwer zu erra­ten. Dicht daneben drehte Liviane einen perplexen Diener im Kreis herum, offenbar in der Absicht, mit ihm zu tanzen. Dieser sah darüber alles andere als zufrieden aus und blickte sich hilfesuchend im Saal um. Hilfe kam von Larak, einem von Livianes Wächtern, der sie auf einen Wink Maidreds hin vorsichtig von dem hilflosen Diener wegzog. Liviane war das sogar sehr recht, denn nun drehte sie anstatt des Dieners ihren Wächter im Kreis. Siara saß in einer Ecke und las ein Buch, alle ande­ren um sie herum ignorierend. Cobalt und Yonah hatten sich links und rechts von ihr aufgebaut und stierten jeden böse an, der sich auch nur in die Nähe ihres Schützlings wagte. Von Melva und ihren Wächtern war immer noch keine Spur zu sehen. Naria nahm an, dass Beagor noch immer damit be­schäftigt war, sie milde zu rügen, während Domek betroffen daneben stand. Danach würde Beagor sich vermutlich den jungen Mann vorknöpfen, der zusammen mit Melva verschwunden war und so wie Naria den Wächter kannte, würde dieser nicht ganz so glimpflich davonkommen.

...

 

Hallo,

Schön, dass dich meine Arbeit so interessiert! Früher dachte ich, du hättest dafür nicht besonders viel übrig. Meine Kollegen? Die meisten sind ziemlich nett, nur mit ganz wenigen komme ich nicht gut aus. Du weißt ja, dass vor einigen Tagen der große Ball stattgefunden hat. Kronprinzessin Ileanna hat wie erwartet auf niemanden ein Auge geworfen und ihre Eltern versuchen nun angestrengt, sie für irgendwen zu interessieren. Ich glaube, sie haben da auch schon jemanden ins Auge gefasst, aber ich weiß nicht, wen. Da ich ja eigentlich zur Stadtwache gehöre und nicht in den Palast, bin ich dort nur zu besonderen Anlässen, wenn der Schutz durch Wächter erhöht werden muss und erfahre die Dinge deshalb nicht immer aus erster Hand. Ich hatte Glück, dass ich auf dem Ball eingesetzt war. Da habe ich auch etwas Interessantes beobachtet. Es war draußen auf der Terrasse. Dort habe ich Naria und Cobalt in sehr inniger Umarmung gesehen. Ich wusste, es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich auch an sie ranmacht. Naria ist die einzige Wächterin überhaupt und zusammen mit Salim für den Schutz von Prinzessin Ileanna zuständig. Ich hatte schon ab und zu mit ihr zu tun und finde sie sehr nett. Es wundert mich wirklich, dass sie sich auf diesen Cobalt einlässt. Jeder weiß doch, dass er und sein vermaledeiter Freund Yonah schon mit so ziemlich jedem Mädchen im Palast und in der Stadt etwas am laufen hatten, die Prinzessinnen ausgenommen. Hoffe ich jedenfalls, obwohl ich ihnen sogar das zutrauen würde. So, nun aber genug von mir. Wie geht es dir so? Hast du etwas Neues zu berichten?

 

Viele liebe Grüße,

dein Bruder

Kapitel 6

 

Seit dem rauschenden Ball waren schon einige Tage vergangen. Allerdings noch nicht so viele, dass Königin Maidred wieder mit Liviane sprach, die sie wegen ihres uneleganten Auftrittes gekonnt ignorierte, nachdem sie sie ordentlich zusammengestaucht hatte. Diese nahm das allerdings nicht besonders schwer, da sie sowieso kein sonderlich großes Interesse an Unterhaltungen mit ihrer Schwiegertochter hegte. Von Melvas Eskapaden während des Balls hatte ihre Mutter zu Melvas Glück nichts erfahren und so waren sie folgenlos für die Prinzessin geblieben. Naria ging Cobalt noch immer aus dem Weg und wenn das nicht möglich war, weil Ileanna und Siara Zeit miteinander verbrachten, missachtete sie ihn, so gut sie konnte. Yonah tat sein Möglichstes, um sie in Verlegen­heit zu bringen, wann immer er sie sah, was sie ebenfalls zu überhören versuchte. Ileanna war seit dem Ball quasi durchgehend schlecht gelaunt, weil es nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihr Vater sie zu sich rufen würde, um mit ihr über die anstehende Verlobung zu sprechen. Und wie Naria er­wartet hatte, war keiner der anwesenden Kandidaten nach Ileannas Geschmack gewesen, was die Situation für sie noch viel schlimmer machte, da ihr Vater eine Entscheidung von ihr verlangen wür­de.

Es war früher Nachmittag und Ileanna und Siara spazierten nebeneinander her durch den großen Schlossgarten. Die Spätsommersonne zeigte sich von ihrer besten Seite und es war angenehm warm. Die Blumen blühten und wurden von zwei Gärtnern fleißig bewässert. Leise konnte man das Plätschern des großen Springbrunnens hören, der etwas entfernt in der Mitte des Gartens stand. Hinter den beiden Schwestern liefen Naria, Yonah,  Salim und Cobalt. Sie hatten heute nicht beson­ders viel zu tun, da ein Spaziergang durch den schlosseigenen, gut gesicherten Garten in Normalfall eher ungefährlich war. Neben den regelmäßigen wachsamen Blicken in alle Richtungen fand Yonah deshalb genug Zeit, Naria immer wieder in die Seite zu piksen und die Luft zu küssen, sobald sie genervt zu ihm herübersah. Von Cobalt hielt sie ihren Blick bewusst fern, da sie befürchtete, wieder schwach zu werden, sobald sie ihn auch nur zu lange ansah.  Die sechs waren gerade an einer klei­nen, über und über mit Kletterpflanzen bewachsenen Laube vorbeigegangen und waren nun im Be­griff, in den Rosengarten einzubiegen, als sie ein Bote vom Palast zu ihnen herübergelaufen kam und Ileanna die Nachricht brachte, ihr Vater erwarte sie in seinem Besprechungsraum. Naria seufz­te. Es war also so weit.

Unter den mitleidigen Blicken der fünf anderen schritt Ileanna ihnen voran die Treppe zum Ein­gangsportal hoch und in die große Halle. Dort verabschiedete sich Siara mit einigen aufmunternden Worten von ihr und sie und ihre Wächter gingen in Richtung der königlichen Gemächer davon. Ileanna dagegen hielt auf die große Steintreppe gegenüber dem Eingangsportal zu und stieg sie hin­auf. Sie liefen den breiten Gang entlang, an einigen Türen vorbei und wandten sich einige Meter vor dem Ballsaal nach rechts in einen kleineren Gang, verfolgten diesen einige Meter und blieben schließlich vor der Tür zum großen Besprechungszimmer des Königs stehen. Ileanna atmete ein paar Mal tief ein und aus, bevor sie, ihre beiden Wächter hinter sich wissend, anklopfte und nach ei­ner Aufforderung ihres Vaters eintrat.

König Arik hatte auf einem Stuhl an dem großen,  runden Tisch aus dunklem Holz Platz genommen und blickte auf, als die drei das Zimmer betraten. Der Raum war groß und freundlich, durch die ho­hen Fenster entlang der Seite gegenüber der Tür fiel Sonnenlicht hinein. Außer dem Tisch, ein paar Regalen und einem Wagen für Getränke gab es nicht viel zu sehen. Der König hatte den Raum ab­sichtlich so spärlich eingerichtet, damit nichts von den wichtigen Themen ablenken konnte, die dort regelmäßig besprochen wurden. Erst jetzt bemerkte Naria, dass auch Königin Maidred anwesend war. Sie stand an einem der hinteren Fenster und blickte nach draußen. Sie schien sich für die er­wartete Diskussion mit ihrer ältesten Tochter zu wappnen.

„Hallo, Ileanna!“, begrüßte der König seine Tochter und bedeutete ihr, ihm gegenüber Platz zu neh­men. Seine Frau löste sich vom Fenster und ließ sich elegant neben ihm nieder. Sie lächelte Ileanna zu, diese verzog die Lippen allerdings nur zu einer halbherzigen Erwiderung. Naria und Salim ge­sellten sich zu den anderen Wächtern, die auf der anderen Seite des Raumes standen und begrüßten sie stumm. Mit keinem von ihnen hatte Naria viel Kontakt, noch kannte sie sie aus den Zeiten ihrer Ausbildung an der Akademie, da die Wächter von König und Königin alle ungefähr in Salims Alter und damit ein ganzes Stück älter als Naria waren.

„Ich nehme an, du weißt, warum wir dich hergebeten haben“, begann König Arik das Gespräch. „Wir möchten uns gerne mit dir über deine anstehende Verlobung unterhalten und würden deshalb erst einmal von dir wissen, wen du auf dem Ball denn so ins Auge gefasst hast.“

Ileanna atmete noch einmal tief durch. Gerne hätte sie einfach das verhasste Gespräch verweigert und wäre bockig aus dem Zimmer gelaufen, aber sie war sich darüber im Klaren, dass ein solches Verhalten ihre Situation nur verschlimmern konnte.

„Es waren durchaus einige höfliche und angenehme junge Männer anwesend“, begann sie deshalb vorsichtig und sehr diplomatisch. „Aber ich kann mir wirklich beim besten Willen nicht vorstellen, einen von ihnen zu ehelichen. Es tut mir sehr leid, ich habe mich wirklich bemüht sie alle kennen­zulernen, aber das kann ich einfach nicht. Vielleicht können wir einfach noch ein bisschen warten und sehen, ob sich noch etwas ergibt? Ich kann ja auch an vielen Gesellschaften teilnehmen, damit ich mehr unter die Leute komme.“

Hoffnungsvoll schaute sie ihren Vater an. Dieser seufzte.

„Ileanna“, begann er. „Ich weiß, wie befremdlich der Gedanke, zu heiraten, für dich ist. Und das verstehe ich. Wir haben dir viel Zeit gelassen, um mit dir selbst ins Reine zu kommen und dich mit dem Gedanken anzufreunden, dass du in absehbarer Zeit einen passenden Ehemann brauchst. Auf dem Ball waren die vielversprechendsten jungen Männer aus der ganzen Umgebung und ich wäre mit allen von ihnen einverstanden. Es kann doch nicht sein, dass diese ganzen Männer dir so zuwi­der sind, dass du dir mit keinem von ihnen ein Leben vorstellen kannst.“

„Sie sind mir nicht zuwider, Vater“, antwortete die Prinzessin. „Aber ich möchte auch keinen von ihnen heiraten. Wie soll ich denn wissen, ob ich einen von ihnen lieben kann?“

„Liebes, jemanden zu lieben kann man mit der Zeit lernen“, warf die Königin ein. „Wir erwarten ja auch nicht, dass ihr auf der Stelle heiratet. Ihr hättet genug Zeit, um euch langsam kennenzulernen und aneinander zu gewöhnen. Du wirst sehen, so schlimm ist das gar nicht.“

„Ich will nicht lernen, jemanden zu lieben!“, brach es aus Ileanna heraus. „Ich will jemanden heira­ten, WEIL ich ihn liebe!“

Eine Weile sagte keiner ein Wort. Eine Liebeshochzeit für die Kronprinzessin war für König und Königin  ein völlig absurder Gedanke.

„Weißt du“, setzte der König wieder an, „deine Mutter und ich haben natürlich auch schon darüber nachgedacht, wer passende Kandidaten für dich wären und dabei  ist uns einer aufgefallen,  von dem wir glauben, dass er dir ein guter Ehemann und dem Land ein guter König sein kann. Er ist ein angenehmer, ruhiger und höflicher junger Mann, an dem du mit Sicherheit Gefallen finden würdest. Wie du dir sicher denken kannst, rede ich von Fürst Nor.“

Ileanna sog scharf die Luft ein und auch Naria konnte sich eine ähnliche Reaktion nicht ganz ver­kneifen. Bis zuletzt hatte Ileanna gehofft, der ihr verhasste Fürst würde nicht zur Sprache kommen, doch es war allzu offensichtlich gewesen, dass ihre Eltern an ihm Gefallen gefunden hatten.

„DEN?!“, brauste sie auf. „Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Er ist die unange­nehmste, aufdringlichste und arroganteste Person, der ich seit langem begegnet bin! Ihr könnt doch nicht ernsthaft von mir erwarten, dass ich diesen Vollidioten zum Mann nehme!“ „Ileanna!“, rief die Königin aufgebracht. „Würdest du es bitte unterlassen, dich einer solchen Sprache zu bedienen? Dein kindisches Getue ist völlig unangebracht. Du kennst Fürst Nor gar nicht gut genug, um so ein schlechtes Bild von ihm zu haben!“

„Mag sein, dass er dir auf dem Ball nicht sehr freundlich vorgekommen ist“, schaltete sich nun auch der König wieder ein. „Aber wir sind deine Eltern, die nur dein bestes wollen und unserem Urteils­vermögen nach wäre Fürst Nor eine sehr gute Partie für dich.“

„Dann stimmt mit eurem Urteilsvermögen etwas nicht!“, rief Ileanna und sprang auf. „Ihr wollt nur mein Bestes? Dann bindet mich nicht an einen solchen Mann! Mit Siara und Melva wird auch nicht so ein Theater gemacht!“

„Ileanna, das reicht jetzt!“, erhob auch Maidred jetzt ihre Stimme. „Wenn Siara oder Melva unsere zukünftige Königin wäre, würde es ihr ganz genauso ergehen, aber dem ist nun mal nicht so! Und wenn du mit Fürst Nor nicht einverstanden bist, kannst du uns ja gerne einen Kandidaten deiner Wahl nennen. Was ist denn mit Lord Melvrick oder dem Grafensohn Torn?“

Ileanna schnaubte. „Lord Melvrick ist ein ungeschickter Trampel und Torn wollte mich mit seinen Schuhen füttern!“

„Na schön!“ Der König hatte nun offenbar genug diskutiert. „Ich sehe, dass du uns keinen passen­den Kandidaten nennen kannst und dich auch sonst vollkommen kindisch verhältst. Da du dich nicht wie eine Erwachsene verhalten kannst, werden wir das Ganze für dich regeln. Morgen wird deine Verlobung mir Fürst Nor verkündet!“ Ileanna starrte ihre Eltern fassungslos an. Dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um und stürmte aus dem Raum. Naria und Salim, die ihr eilig folg­ten, hätten fast die zuschlagende Tür ins Gesicht bekommen.

 

Hals über Kopf stürzte Ileanna den Gang entlang, durch die Eingangshalle, die Vorhalle, die Treppe hoch, einen weiteren Gang entlang und schließlich in ihre Gemächer, wobei sie den im Gang posi­tionierten Wachen gar keine Zeit ließ,  die Tür für sie zu öffnen, sondern das kurzerhand selber erle­digte. Sie durchquerte das Wohnzimmer und schmiss sich im Schlafzimmer schließlich heulend auf ihr Bett. Naria und Salim blieben im Wohnzimmer zurück und ließen die Prinzessin erst einmal eine Weile alleine. Nach einer kurzen Kontrolle setzten sie sich stumm nebeneinander auf das Sofa und warteten. Ohne sich darüber verständigt zu haben, wussten sie beide, dass sie Ileanna in ihrem jetzi­gen Zustand besser eine Weile in Ruhe ließen, da man sowieso nicht vernünftig mit ihr reden konn­te. Nachdem sie eine Weile gewartet hatten und das Geschrei im Nebenraum etwas weniger und lei­ser geworden war, erhob sich Salim, um nach Ileanna zu sehen. Naria blieb alleine zurück.

So wie die Dinge jetzt standen, hätte es für Ileanna kaum schlimmer kommen können. König Arik war, wenn er eine Entscheidung einmal getroffen hatte, nur schwer umzustimmen, vor allem, wenn es unter solchen Umständen geschehen war. Man musste Ileanna zugutehalten,  dass sie sich auf dem Ball wirklich bemüht hatte, freundlich zu den möglichen Kandidaten zu sein und nicht alle von vorneherein abzulehnen. Naria kannte sie und wusste, dass die Prinzessin sich wirklich Gedanken darüber gemacht hatte, ob jemand als ihr Ehemann infrage käme, doch war sie zu dem unumstößli­chen Ergebnis gekommen, noch keinen passenden Mann getroffen zu haben. Natürlich wäre es klug von Ileanna gewesen, sich einen Mann auszusuchen, den sie wenigstens sympathischer fand als Fürst Nor, aber was das Heiraten anging, war sie einfach unglaublich stur. Sie wünschte sich eine Hochzeit aus Liebe und keine arrangierte Ehe, obwohl die Chancen dafür kaum schlechter hätten stehen können. Naria liebte Ileanna wie eine Schwester und hätte ihr eine freie Hochzeit sehr ge­wünscht, doch sie fürchtete, dass es dafür nun endgültig zu spät war. Sie hatte die Prinzessin ken­nengelernt, kurz nachdem sie dreizehn geworden war.

Naria hatte den Wochenmarkt, wo sie von ihrer Mutter hingeschickt worden war, gerade verlassen wollen, als sie ein Mädchen in ihrem Alter bemerkte hatte, das von zwei etwas älteren Jungen be­drängt worden war. Schnurstracks war sie zu den dreien gerannt und hatte die Jungen unsanft von dem Mädchen weggeschubst, das, wie sich später herausstellen sollte, niemand anders war als Prin­zessin Ileanna, die wie so oft vor ihren Wächtern davongelaufen war. Naria war es schnell gelun­gen, die beiden Jungen in die Flucht zu schlagen, da sie sich in ihrem Dorf auch oft mit älteren Kin­dern geprügelt hatte, und hatte sich gerade wieder dem Mädchen zugewandt, welches sich gerade­heraus als Prinzessin Ileanna vorgestellt hatte, als auch schon einer von Ileannas Wächtern ange­rannt gekommen war – Salim. Ileanna hatte ihm von Narias „Heldentat“ erzählt, was Salim an­schließend dem König berichtet hatte.  Einige Tage später war Naria ins Schloss eingeladen worden, weil König Arik ihr aus Dankbarkeit einen Wunsch hatte erfüllen wollen. Ohne zu zögern hatte Na­ria darum gebeten, für die Aufnahmeprüfungen an der Wächterakademie zugelassen zu werden, mit denen vierzehnjährige Jungen sich für eine Ausbildung als Wächter qualifizieren konnten. Der Kö­nig war erst unschlüssig gewesen, aber Liviane, die ebenfalls anwesend gewesen war, hatte Naria sofort ins Herz geschlossen und es war ihr gelungen, ihren Sohn zu überzeugen, sodass Naria schließlich für die Prüfungen zugelassen worden war, die sie auch mit Bestnoten bestanden hatte. Während ihrer Ausbildung hatte Naria auch Yonah und Cobalt kennengelernt, die im Jahrgang über ihr gewesen waren. Ileanna hatte Naria sehr oft in der Akademie besucht und sie wurden schnell sehr gute Freundinnen. Kurz nachdem Naria ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, war Ileannas zweiter Wächter in den Ruhestand gegangen und Naria hatte den Posten bekommen. Von diesem Tag an war sie ständig an Ileannas Seite.

Während Naria ihren Gedanken nachhing, hörte sie sich nähernde Schritte im Gang. Kurz darauf klopfte es an der Tür. Naria erhob sich, öffnete und trat zu Seite, um Siara, Yonah und Cobalt einzu­lassen. 

„Wie geht es ihr?“, fragte Siara. „Ich habe gehört, was passiert ist.“ 

„Es geht so.“ Naria deutete auf die Schlafzimmertür. „Sie ist da drin.“

Siara ging auf die Tür zu, klopfte und trat ein. Yonah folgte ihr, nicht ohne Naria vorher noch scha­denfroh anzugrinsen.

„Du brauchst gar nicht erst damit anfangen“, sagte Naria, kaum, dass sie die Tür geschlossen hatte, und ließ sich aufs Sofa fallen.

„Womit?“, fragte Cobalt unschuldig, trat hinter sie und begann, mit geschickten Bewegungen ihre Schultern zu massieren, die vom letzten Waffentraining noch sehr verspannt waren.

„Damit“, flüsterte sie und schloss die Augen, als seine Finger sich fester zwischen ihre verspannten Muskeln gruben.

„Nicht?“, Seine Stimme war auf einmal wieder dicht neben ihrem Ohr und ließ sie erschauern. Sei­ne Hände wanderten langsam über ihre Schultern nach vorne und drückten sie sanft, aber bestim­mend in eine liegende Position. Mit einem Satz sprang Cobalt über die Lehne des Sofas und lande­te, die Knie links und rechts von ihrer Hüfte, über ihr.

„Was machst du denn da?“ Naria wand sich unter ihm hin und her und versuchte halbherzig, aus ih­rer Position zu entkommen.

„Gar nichts“, murmelte er.

„Hm, und wieso liegen deine Hände dann auf meinen Brüsten?“

„Tun sie das?“ Er grinste sie an.

„Definitiv“, antwortete sie. Ihre Atmung beschleunigte sich, als sein Gesicht sich langsam dem ih­ren näherte und sie streckte sich ihm entgegen.

„Soll ich lieber aufhören?“, fragte er scheinheilig.

„Bloß nicht!“, stöhnte sie leise, während das Spiel seiner Hände unter ihrem Oberteil sie schier um den Verstand brachte.

„Wir können doch nicht – die anderen können jeden Moment - “, stieß sie dann hervor, wollte unter ihm hervorkriechen, wobei sie feststellen musste, dass sie handlungsunfähig war. Sie war ihm völlig ausgeliefert und konnte nichts dagegen tun. Wollte sie auch eigentlich nicht.

„Das dauert noch.“ Jetzt begann er, ihren Hals mit seiner Zunge und seinen Zähnen zu liebkosen. „Aber wir müssten doch - “ „Aufpassen?“ Er hob den Kopf und blickte sie an. „Yonah und Salim  sind doch da...“

 

Durch ein Klopfen an der Tür wurden sie unterbrochen. Panisch schreckte Naria zurück und stieß Cobalt unsanft von sich runter, um ihre Kleidung und Haare so gut es ging zu richten. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr Dutt noch ziemlich gut saß und auch sonst nicht so viel zerstört war, wie man hätte meinen können. Cobalt blickte sie von der Seite her an und grinste spöttisch, während er sich sein Oberteil gerade zog. In einer anderen Situation hätte sie irgendetwas nach ihm geworfen, aber nun hastete sie stattdessen zur Tür und öffnete sie. Davor standen Melva und Liviane sowie ihre vier Wächter. Naria ließ sie eintreten und im selben Moment kamen Ileanna, Siara, Salim und Yonah aus dem Schlafzimmer. Ileanna sah wieder einigermaßen gefasst aus, was aber, das wusste Naria, nicht unbedingt etwas heißen musste. Yonah brauchte genau einen Blick,  um zu wissen, was während seiner Abwesenheit im Wohnzimmer geschehen war. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen und er zog abwechselnd seine Augenbrauen hoch. Naria streckte ihm unauffällig die Zunge raus.

 

„Ich weiß, dass du ihn nicht heiraten willst, Schätzchen“, sagte Liviane, die zwischen Melva und Ileanna auf dem Sofa saß, als alle Platz genommen und Ileanna erneut ihr Leid geklagt hatte. „Uns wird schon noch irgendetwas einfallen.“

„Aber er sieht so gut aus!“, seufzte Melva, woraufhin Ileanna ihr einen vernichtenden Blick zuwarf und verächtlich „Dann heirate du ihn doch!“ sagte.

„Würde ich ja“, gab Melva zurück. „Aber das geht jetzt nicht mehr, weil du mit ihm verlobt bist.“ „Dass ich mit ihm verlobt bin heißt nicht, dass ich ihn auch heirate!“, stellte Ileanna klar. „Eigent­lich heißt es das schon“, belehrte Siara sie, die sich auf einem Sessel neben  dem Sofa niedergelas­sen hatte.

„Für mich nicht“, verdeutlichte Ileanna ihren Standpunkt. „Kannst du nicht nochmal mit ihm reden?“, fragte sie an ihre Großmutter gewandt.

„Das habe ich schon getan, Liebes, aber im Moment ist da nicht viel zu machen. Ich werde es in ein paar Tagen noch einmal versuchen.“

„Irgendwas muss man doch machen können!“ Verzweifelt blickte Ileanna in die Runde.

„Wie wär’s mit heimlich abhauen?“, warf Cobalt ein.

„Ja, oder ihn einen Unfall erleiden lassen“, kam es sofort danach von Yonah.

Naria starrte die beiden vorwurfsvoll an, als sie das aufflackernde Leuchten in Ileannas Augen be­merkte.

„Abwarten und Sherry trinken, mein Kind“, meldete sich Liviane zu Wort. „Bis du verheiratet bist, wird noch eine ganze Menge passieren.“

...

 

Hallo, 

Die Ausführungen über deine Arbeit klingen ja ziemlich interessant. Du scheinst ja sehr viel zu tun zu haben in letzter Zeit, da kann ich es natürlich verstehen, wenn du keine Zeit hast, Vater und mich zu besuchen. Wie Cobalt aussieht? Wie so ein typischer Frauenschwarm eben. Schwarze, recht lange Haare (geschmacklos, wenn du mich fragst), blaue Augen (daher der Name), relativ helle Haut. Meiner Meinung nach sieht das ja schon fast krank aus, aber den Frauen scheint so etwas tatsächlich zu gefallen. Durchtrainiert, wie könnte es auch anders sein, und ziemlich groß, bestimmt einen Kopf größer als ich. Ich weiß nicht genau, wie alt er ist. 23 vielleicht, so um den Dreh. Er war ein oder zwei Jahre über Naria auf der Akademie und die war zwei Jahre über mir. Jetzt ist er übrigens zusammen mit Yonah der Wächter von Prinzessin Siara. Die Prinzessinnen verbringen viel Zeit miteinander und wohnen ja auch alle im selben Gang, daher möchte ich wetten, dass zwichen Naria und Cobalt schon öfter was gelaufen ist, so häufig, wie die sich sehen. Aber ist ja auch egal. Warum interessiert dich das eigentlich?

So lange warst du schon nicht mehr im Palast? Aber es ist immer noch alles beim Alten, auch was die Raumaufteilung angeht. Wenn man durch das Portal in die Eingangshalle kommt, geht es geradeaus die Stufen hoch zum Thron – und Ballsaal, zum Speisesaal, den meisten Gasträumen und den ganzen Arbeitsräumen des Königs. Links gelangt man zu unseren Unterkünften, den Verwaltungsräumen, den Räumen für die anderen Schlossangestellten und die Küche und nach rechts geht es zu den privaten Gemächern der Königsfamilie. Ich weiß das so gut, weil ich, wie ich ja schon erwähnt habe, hin und wieder im Palast eingesetzt werde. Vielleicht arbeite ich irgendwann ja auch ganz dort, wer weiß.

 

Liebe Grüße,

dein Bruder

Kapitel 7

 

Gut gelaunt legte Naria den Weg zu Ileannas Gemächern zurück. Obwohl der Sommer sich nun endgültig verabschiedet hatte, schien schon am Morgen die Sonne am wolkenlosen Himmel und versprach einen schön warmen Herbsttag. Naria war so pünktlich aufgestanden, dass sie noch viel Zeit für ein ausgiebiges Frühstück gehabt hatte. Seit einigen Wochen war Prinzessin Ileanna nun schon mit Fürst Nor verlobt, doch bis jetzt hatte das für sie noch nicht viel geändert. Da Fürst Nor momentan mit irgendetwas anscheinend Wichtigem beschäftigt war, hatte es seit dem Ball nur ein sehr kurzes Zusammentreffen zwischen Ileanna und ihm gegeben, worüber diese mehr als froh war. Zwischen Ileanna und ihren Eltern war zwar immer noch nicht wieder alles im Reinen, aber immer­hin sprachen sie wieder miteinander.

Naria war bei Ileannas Gemächern angekommen und begrüßte, wie jeden Morgen, die beiden Wachposten. Sie klopfte an die Tür, welche bald darauf von Cleva geöffnet wurde.

„Guten Morgen!“, sagte sie und ließ sie eintreten. Auch Ileanna war guter Dinge. Sie war schon fer­tig angekleidet und saß mit einem Buch im Wohnzimmer.

„Hallo!“, begrüßte sie Naria, als sie sie erblickte. „Alles klar? Hast du heute schon mal rausgeguckt? Es ist richtig schönes Wetter, ich denke, wir werden heute einen Ausritt machen, was meinst du?“

„Meinetwegen gerne!“, antwortete Naria und setzte sich nach einem Routinerundblick auf die Fens­terbank.

„Ihr habt heute Nachmittag noch ein  Treffen mit der Schneiderin wegen der neuen Kleider“, erin­nerte Cleva die Prinzessin.

„Ach ja, das habe ich ganz vergessen. Naja, dann müssen wir wohl gleich nach dem Frühstück los.“ Ileanna schien wirklich ausnehmend gut gelaunt zu sein, da sie so gelassen auf die Erinnerung an die ihr verhassten Anproben reagierte. Sie klappte das Buch zu und stand auf. Dabei trat sie mit dem linken Fuß auf den Saum ihres Kleides, sodass dieser beim Aufstehen mit einem unschönen Ge­räusch abriss.

„Oh nein!“, seufzte Ileanna und verschwand mit Cleva im Schlafzimmer.

Wenige Minuten, nachdem die beiden verschwunden waren, klopfte es an der Tür. Nicht Salim stand davor, wie Naria es erwartet hatte, sondern Cobalt. Ihre Pulsfrequenz erhöhte sich automa­tisch als sie sich daran erinnerte, was sie noch vor einigen Wochen in diesem Raum getrieben hat­ten. Seitdem war sie ihm recht erfolgreich aus dem Weg gegangen. Sie durfte nicht zulassen, dass sie ihm komplett verfiel. Yonah und er waren die beiden schlimmsten Schürzenjäger, die sie kannte, nichts, was Röcke, und in Narias Fall auch Hosen trug, war vor ihnen sicher. Aber Cobalt wusste einfach, was er mit ihrem Körper anstellen musste, darum fiel es ihr ausgesprochen schwer, ihr Ver­langen nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, sondern stattdessen vernünftig zu bleiben. Immerhin waren sie nicht zum Spaß hier.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie ihn perplex, nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte.

„Dir auch einen guten Morgen“, gab Cobalt zurück und schob sich an ihr vorbei. Naria schloss die Tür.

„Hey, was soll das?“ fragte sie ihn empört und lief ihm nach ins Wohnzimmer.

„Salim ist krank“, antwortete er. „Ich bin für in eingesprungen. Auf Siara kann Yonah heute auch al­leine aufpassen,  sie hat sich gestern Abend den Knöchel verstaucht und darf den ganzen Tag nicht aufstehen.“

„Was hat Salim denn?“, fragte Naria besorgt. „Gestern ging es ihm doch noch gut!“

„Vermutlich eine Lebensmittelvergiftung. Ich bin sicher, er ist schnell wieder auf den Beinen. Wo ist denn unsere Prinzessin?“ Suchend blickte er sich im Raum um, obwohl Ileanna sich ja eindeutig nicht im Wohnzimmer befand, wie er eigentlich schon bemerkt haben müsste.

„Sie hat sich vorhin ihr Kleid zerrissen und zieht sich gerade ein anderes an“, erklärte Naria. „Das kann noch eine Weile dauern.“ Sie wollte sich gerade aufs Sofa fallen lassen, als sie einen merkwür­digen Ausdruck in Cobalts Augen bemerkte.

„Was ist los?“ Verwirrt sah sie dabei zu, wie er den Abstand zwischen ihnen mit wenigen Schritten überwand und direkt vor ihr zum Stehen kam. Naria blickte direkt in seine Augen. Ihre Atmung be­schleunigte sich rasant.

„Ich brauche dich!“, raunte er, dann packte er sie und schubste sie nach hinten, sodass sie auf dem Sofa landete. Kurz darauf war er über ihr und hielt sie an beiden Armen fest.

„Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht, Cobalt ist nicht so - “, dachte Naria noch und dann wur­de plötzlich alles schwarz.

 

Als erstes spürte Naria einen stechenden Schmerz oberhalb ihrer Schläfe. Stöhnend packte sie sich mit der Hand an die Stirn und fasste in etwas Nasses. Vorsichtig öffnete sie die Augen und erkannte Blut an ihrer Hand. Was war passiert? Sie war in Ileannas Wohnzimmer gewesen, und dann war Co­balt – Cobalt! Siedend heiß fiel ihr alles wieder ein und sie richtete sich so schnell auf, dass ein ste­chender Schmerz sie zusammenzucken ließ. Was war hier nur los? Und wo war die Prinzessin? Das Pochen in ihrem Kopf ignorierend, sprang Naria auf die Füße und stürzte zur Schlafzimmertür. „Ileanna?“ rief sie panisch und riss die Tür auf. Niemand war zu sehen. Sie rannte weiter ins Bade­zimmer, doch auch hier fehlte von der Prinzessin jede Spur. Als Naria die Tür zum Ankleidezimmer aufriss, stolperte sie über etwas und wäre beinahe hingefallen. Sie blickte nach unten. Dort lag Cle­va auf dem Boden, offensichtlich bewusstlos. Naria fiel vor ihr auf die Knie und drehte sie auf den Rücken.

„Au..was?“, stöhnte Cleva und öffnete langsam die Augen. „Naria! Schnell, die Prinzessin, sie ist -“ Sie brach ab und verzog das Gesicht vor Schmerzen.

„Cleva!“ Naria schüttelte sie leicht an der Schulter. „Was ist mit der Prinzessin? Wo ist sie?“

„Er hat sie mitgenommen!“, flüsterte Cleva und starrte Naria mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. Dann schluchzte sie los. In Naria wuchs ein furchtbarer Verdacht heran.

„Wer, Cleva, wer?“, fragte sie eindringlich. „Wer hat sie mitgenommen?“

„Co – Cobalt!“, schluchzte die Zofe. Für eine Sekunde schloss Naria die Augen. Das konnte doch nicht sein! Doch nicht Cobalt!

„Bleib liegen, ich schicke dir jemanden!“, wies sie die verängstigte Zofe an.

„Aber Naria, die Prinzessin!“, brachte diese weinend hervor.

„Ich weiß. Ich kümmere mich darum“, wollte sie Cleva beruhigen, obwohl sie selbst panische Angst hatte. Sie richtete sich auf und atmete einmal tief durch. Dann rannte sie nach draußen auf den Gang, schubste einen der Wachposten in Ileannas Gemächer, rief „Im Ankleidezimmer!“ und stürm­te davon, ohne auf die verwunderten Fragen des anderen Wachpostens einzugehen. Sie stürzte den Gang entlang, die Treppe hinunter, durch die Eingangshalle, die Steintreppe hinauf und bis zu dem großen Besprechungsraum des Königs, in dem Ileanna vor einigen Wochen noch über ihre Verlo­bung diskutiert hatte. Ohne anzuhalten oder zu klopfen, riss sie die Türen auf und stürzte hinein.

Das Gespräch drinnen verstummte schlagartig, alle Köpfe drehten sich in ihre Richtung und die sich im Raum befindlichen Wächter sprangen auf. König Arik war dort, ebenso wie Aloysius, sein erster Berater, einige andere Männer, die Naria nicht kannte und Königin Maidred.

„Naria, was soll - “, setzte der König an und stand auf. Dann bemerkte er das Blut, das über ihr Ge­richt lief und hielt erschrocken inne. „Was ist passiert?“, fragte er alarmiert.

„Prinzessin Ileanna ist weg!“, japste Naria und schnappte nach Luft. „Ich konnte nichts tun, ich wusste nicht dass – Cobalt hat sie!“, unterbrach sie sich selbst, als sie merkte, wie sie sich verhas­pelte.

„Cobalt?“, fragte der König verwirrt. „Aber das ist doch nicht -“

„Was soll das heißen, ‚Cobalt hat sie‘?“, unterbrach die Königin ihren Mann.

„Er hat sie entführt“, stieß Naria hervor. „Er hat mich überrascht, ich wusste doch nicht, dass er – er hat Cleva niedergeschlagen und die Prinzessin mitgenommen!“

Eine Sekunde lang war es totenstill im Raum. Dann kam Leben in den König. In wenigen Augenbli­cken hatte er präzise Anweisungen zum weiteren Vorgehen gegeben. Aloysius und ein anderer Bera­ter begannen sofort, eine Suchaktion in die Wege zu leiten, die sich in Bereitschaft befindenden Wächter wurden herbeigerufen und es wurde Alarm geschlagen. Der König ließ außerdem sämtliche Ausgänge überwachen und die höchste Sicherheitsstufe wurde eingeleitet. Dann begaben sich der König, die Königin, Naria und die übrigen Berater und Wächter in den Thronsaal, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Dort warteten schon Melva und Liviane, die den Grund des Aufruhrs erfahren wollten, sowie die restlichen Wächter, um Anweisungen des Königs entgegenzunehmen.

„Holt Siara her!“, befahl der König zweien von ihnen, kaum, dass er den Thronsaal betreten hatte. In einer solchen Ausnahmesituation wusste der König gerne alle in seiner Nähe, um sich um ihre Si­cherheit erst einmal keine Sorgen machen zu müssen und damit die nächsten Schritte gleich allen bekannt waren. Die beiden Wächter verließen den Saal und der König wandte sich Naria zu.

„Jetzt erzähl uns ganz genau was passiert ist!“, wies er sie an.

„Was ist los, Vater?“, wollte Melva wissen, die sich nicht mehr länger zurückhalten konnte. „Warum ist – um Himmels willen, Naria, du blutest ja!“

Der König brachte seine Tochter mit einer barschen Handbewegung zum Schweigen und bedeutete Naria, zu sprechen. Also berichtete Naria, was an dem Morgen geschehen war. Sie erzählte, wie Ileanna ihr Kleid zerrissen hatte und mit Cleva gegangen war, um ein  neues anzuziehen, wie kurz darauf Cobalt eingetroffen war und behauptet hatte, Salim sei krank und er müsse für ihn einsprin­gen. Als sie an dem Punkt angelangt war, wo Cobalt sie niederschlug, schnappten die anderen Wächter erschrocken nach Luft und schauten sich ratlos und betroffen an. Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, dass Cobalt sie alle so getäuscht haben sollte. Naria erzählte weiter, wie sie Cleva gefunden und diese ihr bestätigt hatte, dass Cobalt mit Ileanna verschwunden sei. Die Wachposten vor Ileannas Gemächern schienen allerdings von all dem nichts mitbekommen zu haben, was den Schluss nahelegte, dass Cobalt über den Balkon oder durch ein Fenster verschwunden war.

Als Naria geendet hatte, sagte keiner ein Wort. Maidred war auf einem Stuhl zusammengesunken und weinte leise, Melva und Liviane starrten nur betroffen geradeaus. Die Situation war für sie alle unbegreiflich. Vor wenigen Stunden noch war alles völlig normal gewesen und jetzt war die Kron­prinzessin verschwunden und Cobalt hatte sich als Verräter entpuppt. Naria konnte es selbst noch nicht fassen. Sie hatte Cobalt seit ihrer ersten Begegnung auf der Akademie sehr gemocht – manch­mal sogar mehr als das. Yonah und er hatten sich immer verantwortungsvoll um Siara gekümmert, niemals hatte es Anzeichen dafür gegeben, dass Cobalt der Königsfamilie nicht wohl gesonnen war. Wieso hatte sie es bloß nicht gemerkt? Sie hatte mehr als die meisten mit Cobalt zu tun gehabt und ihr war nie ein Verdacht gekommen! Wie hatte sie das zulassen können? Wegen ihrer Blindheit war Ileanna jetzt in großer Gefahr!

„Salim hat sich heute Morgen wirklich krankgemeldet“, riss sie der König aus ihren Gedanken. „Offenbar eine Lebensmittelvergiftung oder etwas ähnliches. Und es stimmt, dass Cobalt mir vorge­schlagen hat, seinen Posten für heute zu übernehmen, was ich ihm auch gestattet habe, da es Siara heute ihre Gemächer nicht verlassen sollte. Ich habe nichts Ungewöhnliches an diesem Verhalten erkennen können, darum habe ich mich auch nicht weiter darum gekümmert. War er heute anders als sonst?“

„Also er hat sich schon etwas merkwürdig verhalten, fast so, als wäre er nicht er selbst …“, begann Naria langsam, die sich daran erinnerte, wie merkwürdig ihr Cobalts Verhalten vorgekommen war.

 

In diesem Moment wurde das Portal zum Thronsaal geöffnet und die beiden Wächter, die der König zu Siara geschickt hatte, traten ein. Der eine trug die Prinzessin auf dem Arm, um deren Knöchel ein dicker, weißer Verband geschlungen war.

„Ist es wahr?“, fragte sie aufgebracht, als sie ihren Vater erblickte. „Hat er sie entführt?“

König Arik nickte nur stumm.

„Das kann einfach nicht sein!“, schluchzte sie los. „Das kann nicht sein, er hätte das doch niemals getan!“ Tränen liefen ihr über die Wangen und ihr Gesicht war kreidebleich. „Was hat er nur mit ihr gemacht?“ Naria hatte Siara selten so aufgebracht erlebt. Eigentlich war sie die ruhigste und gelas­senste Person der Familie, noch mehr sogar als die immer so um Contenance bemühte Maidred. Momentan war von Siaras  Fassung aber nicht viel übrig, denn sie weinte haltlos an der Schulter ih­rer jüngeren Schwester. Naria konnte es ihr nicht verdenken. Nicht nur, dass ihre Schwester entführt worden war, der Entführer war auch noch ihr Wächter gewesen, mit dem sie eine besondere Bezie­hung gehabt hatte, denn trotz ihrer Unterschiede waren Siara, Cobalt und Yonah von Anfang an sehr gut miteinander ausgekommen. Gerade als Naria auffiel, dass noch jemand fehlte, öffnete sich das Portal erneut und Yonah kam hereingestürzt.

„Ich habe Cobalt gefunden!“, stieß er atemlos hervor, und hielt sich die Seite. Augenblicklich spran­gen alle auf und riefen durcheinander.

„Wo ist die Prinzessin?“

„Geht es ihr gut?“

„Was hat er mit ihr gemacht?“

„Wie konntest du ihn einfach alleine lassen?“

„Wo ist Ileanna?“

„Wenn ich den in die Finger kriege!“

„Wo hat er sich versteckt!“

„Warum ist er nicht geflohen?“

„Was ist mit Ileanna?“

„Dieser miese Verräter kann sich auf was gefasst machen!“

Da Yonah keine Anstalten machte, auf die Fragen einzugehen, sondern alle nur entgeistert anstarrte, verebbte das Geschrei nach und nach und alle blickten Yonah erwartungsvoll an.

„Was?“, fragte dieser nur verdattert und schaute ratlos von Siara, die sich immer noch weinend an Melva klammerte, zu Königin  Maidred, die leise in ihr Taschentuch schniefte, zu König Arik, der ihn aufgebracht und sorgenvoll anblickte und schließlich zu Naria, der immer noch Blut über das ganze Gesicht und auch schon auf die Uniform lief, da sie noch nicht dazu gekommen war, ihre Wunde zu verarzten. „Was?“, fragte er erneut.

„Jetzt rede schon!“, platzte es aus Naria heraus. „Was hat Cobalt mit Ileanna gemacht und warum hat er sie entführt? Ist sie nicht bei ihm?“

„Was?“

„Cobalt hat Ileanna entführt!“, herrschte Naria ihn an. „Bist du so schwer von Begriff? Er hat mich niedergeschlagen und sie mitgenommen!“

„Was? Ich hab keine Ahnung was du da erzählst! Ich hab ihn ohnmächtig in einem Zimmer im Wächtertrakt gefunden, als ich nach Salim  gesehen habe!“

„WAS?“, fragten Naria, König Arik, Melva, Siara und die Hälfte der anderen Wächter gleichzeitig und starrten Yonah ungläubig an.

„Aber er war es eindeutig! Cleva hat ihn auch gesehen!“, erklärte Naria.

„Das kann nicht sein, er liegt halbtot in der Ecke und blutet wie ein Schwein, ihm muss sofort ge­holfen werden!“, erwiderte Yonah aufgebracht.

Der König hatte inzwischen die Fassung wiedergewonnen und ging dazwischen, bevor Naria zu ei­ner Entgegnung ansetzen konnte.

„Yonah, du zeigst uns jetzt sofort, wo du ihn gefunden hast!“, befahl er und gab Naria sowie drei anderen Wächtern einen Wink. „Die anderen bleiben hier. Wir müssen jetzt Ruhe bewahren.“ Mit diesen Worten schritt er den anderen voraus aus dem Thronsaal.

Naria, der König und die anderen Wächter folgten Yonah durch den menschenleeren Palast. Ihre ei­ligen Schritte hallten laut auf dem Steinboden wider. Niemand sprach und Narias Gedanken drehten sich im Kreis. Wieso hatte Cobalt Ileanna entführt? Wie ging es Ileanna und wo war sie? Und wie konnte es sein, dass er jetzt bewusstlos am anderen Ende des Palastes lag? Konnte er Ileanna dann überhaupt entführt haben? Aber sie hatte ihn doch gesehen!

Inzwischen waren sie vor einer Tür im Wächtertrakt stehengeblieben.

„Darum habe ich ihn gefunden“, sagte Yonah zum König und deutete auf ein dünnes Blutrinnsal, welches unter der Tür herfloss. Der König öffnete die Tür und trat ein. Die anderen folgten.

„Oh nein!“, entfuhr es Naria, als sie die Szene überblickt hatte. Die Wände des leerstehenden Schlafzimmers waren blutverschmiert. Auch auf dem Boden war Blut. Das kleine Rinnsal, was sie schon außen gesehen hatten, hatte seinen Ursprung bei einer Person, die regungslos auf dem Boden lag: Cobalt. Er lag neben dem Bett, seine Kleidung war teilweise zerrissen und ebenfalls mit Blut besudelt. Er atmete kaum wahrnehmbar, seine Haut war bleich und auf seiner Stirn lag ein ehemals weißes Tuch, das vermutlich Yonah dort draufgedrückt hatte, als er ihn gefunden hatte. Das Tuch war mit Blut durchtränkt.

„Oh nein!“, wiederholte Naria und sank vor ihm auf die Knie.

...

Lieber Bruder,

 

ich weiß, du hast noch nicht geantwortet, aber ich schreibe dir trotzdem, denn etwas ganz Schreckliches ist geschehen! Prinzessin Ileanna wurde entführt! Aus ihren Gemächern! Und angeblich soll dieser Cobalt etwas damit zu tun haben. Ich habe ja schon immer gewusst, dass bei dem irgendetwas nicht stimmt. Wir alle sind in Alarmbereitschaft versetzt worden und suchen fieberhaft nach der Prinzessin. Ich hoffe, hoffe, hoffe, dass sie gefunden wird.

 

Liebe Grüße, 

dein Bruder

Kapitel 8

 


„Aber eine andere Möglichkeit gibt es nicht!“, rief der König aufgebracht und schlug mit der Faust auf den Tisch im großen Besprechungszimmer. Seit über einer Stunde waren er, Aloysius, sein zweiter Berater Siras und einige andere nun schon dort und versuchten, sich einen Reim auf die Si­tuation zu machen. Auch Naria war dort, zusammen mit einigen anderen Wächtern. Nachdem er Cobalt lange untersucht hatte, war der Leibarzt des Königs zu dem Schluss gekommen, dass dieser zur Zeit von Ileannas Entführung schon verletzt gewesen sein musste, sodass er als Entführer un­möglich infrage kam.

Aloysius schüttelte unwillig mit dem Kopf. „Das ist unmöglich“, gab er zurück. „So etwas ist noch nie vorgekommen und das nicht ohne Grund. Es muss eine andere Erklärung geben.“

„Dass es noch nie vorgekommen ist, heißt aber nicht, dass es nicht möglich ist, Aloysius“, meldete sich nun Siras zu Wort. „Wir haben immer gewusst, dass so etwas geschehen kann, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür uns nie hoch erschien.“

„Das kann einfach nicht sein. Naria und die Zofe müssen sich getäuscht haben. Sie sind getäuscht worden, das ist alles“, verteidigte der erste Berater vehement seinen Standpunkt.

Naria stöhnte auf. Seit über zwanzig Minuten drehte sich die Diskussion nun schon im Kreis, weil niemand wirklich wahrhaben wollte, was offensichtlich eingetreten war.

„Ich habe mich nicht getäuscht. Die Person, die ich gesehen habe, sah unbestreitbar wie Cobalt aus“, wiederholte sie müde. Ihre Wunde, wenn auch inzwischen verarztet, pochte schmerzhaft.

„Aber Cobalt kann es nun mal nicht gewesen sein!“, herrschte Aloysius sie an.

„Das weiß ich!“, entgegnete sie scharf. „Ich kann auch gerne noch einmal wiederholen, dass ich nicht behauptet habe, dass es Cobalt war. Aber er sah exakt genauso aus wie Cobalt, das kann ich beschwören.“ Langsam ging ihr Aloysius Engstirnigkeit auf die Nerven. Sie wusste selber, was es bedeuten würde, wenn der König, Siras und sie mit ihrer Vermutung recht hätten, aber Ileannas Le­ben stand auf dem Spiel und die Situation würde nicht besser werden, wenn sie wie Aloysius die Augen vor der Realität verschlossen.

„Und es ist absolut sicher, dass Cobalt es nicht gewesen sein kann?“, wandte sich Aloysius in letzter Hoffnung erneut an den Arzt. „Unter gar keinen Umständen?“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Er war es nicht. Definitiv nicht.“

Resigniert ließ sich Aloysius auf einen Stuhl sinken. „Dann weiß ich nicht mehr weiter.“

Naria seufzte. Alle wussten,  dass Aloysius, König Ariks erster Berater, ein intelligenter und fähiger Mann war. Stets hatte er großes Geschick und viel Diplomatie bewiesen, wenn es darum ging, eine Lösung für scheinbar ausweglose Situationen zu finden. Dass er jetzt resignierte, machte die Sache nicht besser.

„Wir werden nicht aufgeben!“, stellte König Arik nach einigen Sekunden der Stille fest. „Nicht, be­vor wir überhaupt gekämpft haben. Meine Tochter ist dort draußen!“

Von den anderen kam zustimmendes Gemurmel.

„Gut.“ Aloysius hob den Kopf und blickte seinem König direkt in die Augen. „Unsere Situation: Prinzessin Ileanna ist entführt und zwar von jemandem, der Cobalt, einem eurer loyalsten Männer,  aufs Haar gleicht. Der kann es aber nicht gewesen sein, denn er wurde vorher schwer verletzt. Da diese Person aber genauso aussieht wie er - “ Er seufzte tief, bevor er nun endgültig das aussprach, was sich vorher niemand richtig getraut hatte. „Da nun diese Person genauso aussieht wie Cobalt, müssen wir davon ausgehen, dass hier Zauberei im Spiel ist, und zwar mächtige Zauberei. Und da es hierzulande nur eine Person gibt, die zu einem Verwandlungszauber fähig ist, ist wohl anzuneh­men, dass Salaara nun doch begonnen hat, sich in die Angelegenheiten der Menschen einzumischen. Und zwar auf eine Weise, die nicht gerade günstig für uns ist.“ Er machte eine kurze Pause. Im Raum war es totenstill. „Außerdem“, sprach er schließlich weiter, „ kennt sich die betreffende Per­son auffällig gut hier im Palast aus, sowohl im Bezug auf die Räumlichkeiten als auch auf die Per­sonen hier…Wir haben einen Verräter unter uns, mein König, und zwar einen, der sich mit der Hexe Salaara verbündet hat. Was sollen wir da noch ausrichten?“

Niemand sprach. Niemand bewegte sich. Obwohl alle Anwesenden schon zuvor ähnliche Gedanken gehegt hatten, war es doch um einiges schlimmer, dass sie jetzt ausgesprochen waren. Es war, als wäre dieses schreckliche Szenario damit erst Realität geworden.

„Wenn wir Salaara gegen uns haben, haben wir nur eine geringe Chance. Wenn überhaupt“, stimmte der König zu und fuhr sich mit der Hand durch seine grauen Haare.

Dass Aloysius und der König damit Recht hatten, wusste Naria so gut wie jeder andere im Raum. Die wenigen mächtigen Hexen, die es auf der Welt gab, interessierten sich nicht für die Menschen, deren Kriege oder Probleme. Sie lebten abgeschieden im Einklang mit der Natur und nur sehr, sehr selten kam es vor, dass sie überhaupt Kontakt zur Zivilisation hatten. Die Hexen interessierten sich weder für Macht noch Geld oder Luxus oder irgendetwas anderes, das die Menschen ihnen bieten konnten, wenn sie an einem Bündnis interessiert waren. Deshalb war die Bedrohung, die theoretisch von ihnen ausging, auch nie wirklich eine ernst zu nehmende gewesen. Die Tatsache, dass Hexen wie Salaara von den Menschen im Allgemeinen und auch von den jeweiligen Herrschern in Ruhe gelassen wurde, hatte zwei Gründe. Zum einen stellten sie aufgrund ihres fehlenden Interesses für alles, was ihnen als Bezahlung geboten werden könnte und den Menschen an sich, keine Bedrohung für die Sicherheit der Reiche dar. Zum anderen hatte man ihnen im Grunde nichts entgegenzusetzen. Die Hexen waren so mächtig, dass keine Maßnahme irgendeines Königs sie zu etwas würde zwin­gen können. Eine gut ausgebildete Kampftruppe zu besiegen, die sich ihnen entgegenstellte, wäre für sie vermutlich etwa so aufwendig wie einmal in die Hände zu klatschen. Die Hexen waren also im Grunde nicht böswillig, sondern wollten nur in Ruhe gelassen werden. Und deshalb ließ man sie gewähren, wusste aber trotzdem immer gerne, wo sie sich aufhielten.

Aufgrund all dessen schien es Naria auch immer unrealistischer, dass Salaara sich mit irgendwem gegen das Königshaus verbündet haben sollte, je länger sie darüber nachdachte. Andererseits war es unbestreitbar, dass sie bei Ileannas Entführung ihre Finger im Spiel gehabt hatte, denn sie war die einzige Hexe weit über die Landesgrenzen hinaus und kein normaler Mensch hatte auch nur ansatz­weise die Macht, einen Verwandlungszauber zu bewerkstelligen.

„Wieso ist es denn sicher, dass sie sich mit jemandem  verbündet hat?“, fragte sie deshalb, nachdem längere Zeit niemand mehr gesprochen hatte. „Selbst wenn man etwas gefunden hätte, womit man die entlohnen könnte, hat sie doch eigentlich absolut kein Interesse an uns Menschen und unseren Differenzen.“

Der König betrachtete sie aufmerksam und dachte nach. „Möglich“, sagte er schließlich. „Aber wie können wir uns da sicher sein?“

„Können wir nicht“, mischte sich nun auch Aloysius ein. „Nicht, bis wir es nicht überprüft haben.“

Ohne dass er es aussprach, war offensichtlich, was er damit meinte. Man musste es überprüfen. Je­mand musste zu Salaara. Keiner der anwesenden Wächter ließ sich etwas anmerken, obwohl natür­lich klar war, das jemandem von ihnen diese Aufgabe zufallen würde. Dafür waren sie ja schließlich ausgebildet. Dafür waren sie da. Es würde sich keiner um die Aufgabe prügeln, doch Naria wusste, und das erfüllte sie mit Stolz, dass jeder sie ohne Prostest annehmen würde. Jeder, der die Ausbil­dung zum Wächter machte, wusste, dass diese Tätigkeit ihm unter Umständen das Leben kosten konnte. Und alle waren bereit, ihres für die Sicherheit der Königsfamilie zu opfern, wie sie es bei Beendigung ihrer Ausbildung geschworen hatten.

Während der König und die anderen sich leise berieten, schweiften Narias Gedanken ab. Zum ers­ten Mal an diesem Tag hatte sie ein wenig Ruhe, um über das Geschehene nachzudenken und es zu reflektieren. Die ganze Zeit über hatte sie funktioniert, Anweisungen befolgt, angestrengt mitge­dacht, sich ruhig verhalten. Doch in ihrem Inneren sah es alles andere als ruhig aus. Ileanna war weg und auch wenn die anderen das anscheinend nicht taten, gab Naria sich die Schuld dafür. Sie war unaufmerksam gewesen, hatte nicht rechtzeitig reagiert, als ihr bei „Cobalt“ etwas merkwürdig vorgekommen war, hatte sich zu sehr auf das verlassen, was sie gesehen hatte. Naria verfluchte sich dafür. Wenn sie nur etwas besser aufgepasst hätte! Man hatte ihr Ileannas Leben anvertraut und sie hatte versagt. Versagt! Und nicht nur das, auch Salim ging es nicht gut und um Cobalt stand es noch sehr viel schlechter. Sie hoffte so sehr, dass die beiden sich erholen würden, denn diese Menschen waren ihre Familie. Die anderen Wächter, Ileanna, Liviane…und nun waren sie alle in Gefahr. Was würde sie nicht alles tun, um das Geschehene rückgängig zu machen…

„Mir gefällt das auch nicht, aber es muss jemand gehen“, riss sie die Stimme des Königs aus ihren Gedanken. „Wir brauchen Gewissheit. Und wir müssen wissen, was Salaara uns über die Identität des Entführers sagen kann.“ In diesem Moment fasste sie einen Entschluss.

„Ich gehe.“

Die anderen drehten sich zu ihr um. „Wie bitte?“, fragte Siras.

„Ich gehe“, wiederholte Naria entschlossen. „Es ist meine Schuld, dass die Prinzessin - “

„Naria, es ist nicht - “, setzte Aloysius an, doch sie winkte ab.

„Wie auch immer. Ich bin für Ileanna verantwortlich, mir wurde sie anvertraut und damit ist es mei­ne Pflicht, alles zu tun, um sie zu beschützen. Ich weiß,  dass es hier um mehr geht, als um sie, aber…Ich habe geschworen, alles zu tun, um sie zu schützen und das werde ich auch. Ich werde meine Pflicht erfüllen und das tue ich mit Stolz.“

Die anderen blickten sie unverwandt an. Naria spürte, wie ihr jemand eine Hand auf die Schulter legte. Die anderen Wächter verstanden, was gerade in ihr vorging. Wäre es um einen ihrer Schütz­linge gegangen, hätten sie vermutlich  genauso gehandelt.

„Also gut“, sagte der König schließlich mit leicht belegter Stimme und räusperte sich. „Ich danke dir sehr für deine Loyalität und wir werden eine Gruppe zusammenstellen, die dich begleitet. Ich denke, ihr solltet so schnell wie möglich aufbrechen.“

„Nein. Ich gehe alleine“, stellte sie mit fester Stimme klar. „Je weniger dabei sind, desto besser.“ Der König nickte nur. Alle waren sich bewusst, dass sie nicht nur ihr schnelleres Vorankommen im Sinn hatte. Sollte Salaara sich wirklich auf die Gegenseite geschlagen haben, würde Naria nicht mehr zurückkehren.

Kapitel 9

 

In einer knappen Stunde würde sie aufbrechen. Ihre Sachen waren schnell gepackt, denn sie reiste nur mit leichtem Gepäck. Aloysius hatte ihr auf einer Karte gezeigt, wo sie Salaara finden würde und welchen Weg sie am besten wählte. Genau diese Karte verstaute sie nun an der Seite ihrer Ta­sche, stand auf und blickte sich um. Fertig, mehr brauchte sie nicht. Sie verließ ihr Zimmer und lief den Gang hinunter. Dabei zwang sie sich, nicht über das nachzudenken, was sie bei Salaara alles er­warten konnte. Das hatte ja eh keinen Sinn. Wenn Salaara dem Königshaus und damit auch ihr jetzt entgegenstand, war Narias Schicksal besiegelt. Wenn nicht, naja, dann müsste man sehen.

Ohne wirklich darüber nachzudenken, schlug sie einen bestimmten Weg ein und blieb schließlich vor einer Tür stehen. Sie schluckte. Sie hatte sowieso vorgehabt, sich noch zu verabschieden, doch es fiel ihr schwer, da es möglicherweise ein Abschied für immer war. Schweren Herzens klopfte sie an und betrat den Raum.

Die Vorhänge waren geöffnet und es war hell im Raum. Salim lag im  Bett und hatte die Augen ge­schlossen. Der Arzt hatte ihr gesagt, dass es ihm schon wieder besser ging. Er vermutete eine Ver­giftung. „Kein Wunder“, dachte Naria grimmig. Dieser verdammte Verräter hatte ja wirklich an al­les gedacht. Leise betrat Naria das Zimmer und setzte sich auf den Stuhl neben Salims Bett. We­nigstens er wird wieder gesund, ging es ihr durch den Kopf, während sie dasaß und ihren Freund und Mentor betrachtete. Er atmete gleichzeitig, regte sich aber sonst nicht.

„Ach Salim“, seufzte sie niedergeschlagen. „Ich habe total versagt! Ileanna ist weg und es ist alles nur meine Schuld! Ich war so unvorsichtig! Es tut mir so leid, ich habe euch alle enttäuscht! Wie kann ich das nur jemals wiedergutmachen? Was, wenn ich auch jetzt wieder versage? Was soll ich nur machen?“ Verzweifelt schluchzte sie auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie wusste einfach nicht mehr weiter. Die Chance, nicht von Salaara umgebracht zu werden und auch noch et­was Hilfreiches von ihr zu erfahren war verschwindend gering, aber es war ihre einzige. Was, wenn es schiefging? Dann wäre nicht nur Ileanna verloren, sondern vermutlich auch das ganze König­reich. Sie weinte nun  richtig und Tränen rannen ihr übers Gesicht.

„Was soll das denn?“, drang da plötzlich eine allzu bekannte Stimme zu ihr durch. „Wirst du wohl damit aufhören?“ Naria nahm die Hände vom Gesicht und blickte durch einen Tränenschleier direkt in Salims dunkle Augen, die auf ihr ruhten.

„Oh, Salim!“, brachte sie heraus, dann stürzte sie vor, schlang die Arme um seinen Hals und ver­grub das Gesicht an seiner Schulter.

„Ach, Naria“, sagte er und umarmte sie fest. „Hör doch auf damit.“

„Womit?“, schluchzte sie gedämpft. „Mit diesen Vorwürfen.“ Er packte sie bei den Schultern und hielt sie eine Armeslänge von sich.  Obwohl er durch das Gift noch geschwächt war, war sein Griff bemerkenswert kräftig.

„An nichts von alldem trägst du die Schuld“, sagte er nachdrücklich und blickte sie streng an. „Und du machst die Situation nicht besser, indem du dir Vorwürfe machst.“

„Aber - “

„Kein aber. Ich weiß, was passiert ist, Aloysius hat es mir erzählt. Keiner hier gibt dir die Schuld und du solltest das auch nicht tun. Mit so etwas konntest du nicht rechnen und du hast absolut rich­tig reagiert.“

„Aber - “

„Außerdem“, schnitt er ihr erneut das Wort ab, „außerdem ist noch nicht längst nicht alles verloren. Gib doch nicht auf, bevor du es nicht wenigstens versucht haben.“

„Aber unsere Chance ist so verschwindend gering!“

„Aber es gibt sie“, sagte er bestimmt. „Nutze sie. Ich weiß, dass du mich stolz machen wirst. Das hast du immer getan. Immer. Also mach dich nicht kleiner als du bist. Deine Entscheidung war mu­tig und bewundernswert.“

„Meine Entscheidung habe ich nicht heute getroffen“, erwiderte sie mit rauer Stimme.

Salim lächelte. „Ich weiß.“

„Mit meinem Leben will ich die der mir anvertrauten Menschen beschützen“, rezitierte sie.

„Das schwöre ich hiermit voller Stolz bei allem, was mir wichtig ist“, sprachen sie beide den Schwur zu Ende.

„Du wirst mich stolz machen“, versicherte Salim. „Egal was passiert, ich weiß, dass du die richtigen Entscheidungen triffst.“

„Ich tu mein Bestes“, antwortete sie leise. „Pass auf die anderen auf, ok?“

Salim setzte sich auf und sie umarmten sich stumm.

„Komm heil zurück“, sagte er, als sie schon an der Tür stand. „Bitte komm zurück nach Hause.“

Sie drehte sich nicht mehr um, denn sie wusste, sie hätte es nicht verkraftet, ihn jetzt noch einmal anzusehen. Der Kloß in ihrem Hals hinderte sie am Sprechen, also nickte sie nur. Dann verließ sie das Zimmer und lehnte sich im Gang an die Wand. Sie atmete ein paar Mal tief durch und schluckte ihre Tränen herunter. Genug geweint.

 

Den Rucksack über ihrer linken Schulter verließ Naria das Zimmer. Mit energischen Schritten lief sie den Gang entlang in Richtung der großen Halle. Als sie an Cobalts Tür vorbeikam, verlangsam­ten sich ihre Schritte automatisch, bis sie schließlich stehen blieb. Mit gemischten Gefühlen ging sie auf die Tür zu und streckte die Hand nach der Klinke aus. Sie wollte ihn nur noch einmal sehen, be­vor – nein. Das war keine gute Idee. Sie konnte jetzt keine Ablenkung und noch mehr Gefühlschaos gebrauchen. Die Hand schon auf der Türklinke hielt sie inne. Eine Weile stand sie so da und konnte sich nicht entscheiden. Reingehen oder weiter? Wenn ich nicht hineingehe, dachte sie, und das mei­ne letzte Chance war, ihn zu sehen, werde ich es bitter bereuen. Aber ich habe keine Ahnung, was mich da drinnen erwartet. Wenn ich ihn wiedersehen will, muss ich einfach überleben und zurück­kommen. Noch ein Ansporn mehr. Gerade, als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, vernahm sie Schritte auf der anderen Seite der Tür. Sie schreckte zurück und lief eilig weiter. Hinter ihr wurde die Tür geöffnet, aber sie drehte sich nicht um. Bloß nicht nach hinten sehen! Sie musste weg hier, nur weg! Die Schritte kamen immer näher, aber sie hatte schon fast die Treppe erreicht, als – „Na­ria! Wirst du wohl stehenbleiben!“ Sie blieb stehen, aber drehte sich nicht um. Yonah legte die letz­ten Meter zwischen ihnen zurück und blieb dicht hinter ihr stehen.

„Willst du dich nicht umdrehen?“, fragte er. Sie schüttelte nur den Kopf. Er machte drei Schritte um sie herum und stand nun direkt vor ihr. Sie blickte zu Boden. Er legte die Hand unter ihr Kinn und hob es an, sodass sie ihn anblicken musste.

„Möchtest du nicht noch mal..?“, fragte er leise und nickte in die Richtung von Cobalts Tür. Aber­mals schüttelte sie den Kopf.

„Ich kann nicht. Nicht, wenn…“

„Und du wolltest einfach so verschwinden, auch ohne dich von mir zu verabschieden?“ Hilflos deu­tete sie ein Schulterzucken an  und wollte ihren Blick wieder senken, doch er ließ sie nicht. „Mann, Naria, das kannst du doch nicht machen!“, beschwerte er sich vorwurfsvoll.

„Ich wollte einfach nicht - “, setzte sie an, doch er ließ sie nicht ausreden.

„Du kannst mich doch nicht einfach hier zurücklassen und ohne ein Wort verschwinden. Ich werde mich doch wohl noch vernünftig verabschieden dürfen! Und ich muss dir doch unbedingt noch sa­gen, wie verdammt mutig du bist.“ Schweigend blickte sie ihn an und sah Tränen in seinen Augen glitzern.

„Yonah, heulst du etwa?“, fragte sie und ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

„Quatsch!“, knurrte er und wischte sich mit dem Handrücken hastig über die Augen.

„Natürlich, ich hab doch genau gesehen, wie - “

„Ach, jetzt sei schon ruhig!“ Und er zog sie in eine knochenbrecherische Umarmung. „Sieh zu, dass du lebendig wiederkommst, sonst bringe ich dich um!“

„Ich werds mir merken.“ Der traurigen Situation zum Trotz musste sie lachen, wurde aber schnell wieder ernst.

„Pass gut auf dich auf, Kleine“, sagte er, als er sie wieder losließ.

„Und du auf dich und die anderen“, antwortete sie. „Und wenn er aufwacht, sag ihm – sag ihm, es tut mir leid, dass ich nicht mehr da war und so, du weißt schon.“

„Alles klar.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Bis dann“, murmelte sie noch, dann ging sie um ihn herum und betrat die Treppe.

 

In der großen Halle warteten schon Aloysius und Siras. Vom König war noch keine Spur zu sehen, aber kaum, dass er sie entdeckt hatte, winkte Aloysius einen Boten zu sich, der gleich darauf die große Steintreppe hinaufeilte. Naria gesellte sich zu den beiden.

„Bereit?“, fragte Siras sie.

„So gut wie möglich“, antwortete sie. Schon hörten sie eine Tür schlagen und bald darauf erschie­nen der König, die Königin, Melva und Liviane mit ihren Wächtern auf der Treppe. Als sie bei den anderen angekommen waren, ergriff der König das Wort.

„Naria, ich möchte dir nochmals danken, dass du diese Reise auf dich nimmst. Wir alle stehen in deiner Schuld. Viel Glück! Dieser Wunsch ist leider alles, was ich dir mitgeben kann.“

„Vielen Dank“, antwortete Naria und neigte leicht den Kopf.  „Ich weiß Euer Vertrauen zu schätzen und verspreche, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um Prinzessin Ileanna und dem Reich zu helfen.“

Der König nickte. „Danke für deine Loyalität.“ Damit trat er zur Seite und Königin Maidred trat auf Naria zu.

„Viel Glück“, sagte auch sie. „Bitte, bring mir meine Tochter zurück.“

„Ich werde alles tun, was ich kann“, versprach Naria erneut.

Melva fiel ihr um den Hals. „Ich danke dir. Viel Glück von Siara und mir!“

„Danke, Melva.“

Aloysius wandte sich ihr zu. „Das Pferd wartet draußen auf dich. Hast du die Karte?“

„Ja“, antwortete Naria und klopfte auf die Seitentasche ihres Rucksacks.

„Alles Gute!“, sagte er und Naria ging auf das große Portal zu. Von den Wächtern sagte niemand von ihnen ein Wort. Alle blickten sie ernst an und jeder Wächter, an dem sie vorbeikam, richtete sich auf und packte mit den Händen an seine Unterarme. Das Zeichen der Wächter. So standen sie bei ihrer Vereidigung vor dem König und ihre beiden Unterarme wurden zum Zeichen der Verbun­denheit zwischen Wächter und Königshaus mit einem Band verschlungen. Stumm nickte Naria je­dem von ihnen zu. Dann erreichte sie das Portal, welches ihr von zwei Dienern geöffnet wurde. Noch einmal atmete sie tief ein. Anschließend trat sie hinaus ins Freie.

Kapitel 10

 

Es wurde langsam dunkel und Naria trieb ihre Fuchsstute zur Eile an. Vor Einbruch der Nacht woll­te sie noch den nächsten Ort erreichen, um in einem Gasthaus zu übernachten.  Danach würde sie sich zwei Nächte durch die Wildnis schlagen müssen. Warum, fluchte sie innerlich, hätte Ileanna denn nicht im Sommer entführt werden können? Da es mitten im Herbst war, wurden die Tage im­mer kürzer und kälter. Trotz ihres Mantels und des Schals fror Naria erbärmlich. Sie hatte nicht viel mitnehmen können, da sie die Reise in drei Tagen schaffen wollte. Entsprechend hatte sie auch nur recht wenig warme Kleidung  sie dabei. Als sie in der Ferne die Lichter eines Ortes ausmachen konnte, atmete Naria erleichtert auf. Jetzt einen heißen Teller Suppe und ein warmes Bett!

„Na komm schon Farla, wir haben es ja gleich geschafft!“ murmelte sie und beugte sich im Sattel vor, um der Stute den Hals zu tätscheln. Das Tier war aus dem Stall des Königs, eine bildhübsche, durchtrainierte und robuste  Stute, gut geeignet für längere Ritte querwaldein.

 

Als die beiden das Dorf erreichten, war es bereits stockdunkel und die Straßen waren menschenleer. Hier und da fiel ein Lichtstrahl aus einem der Fenster nach  draußen und manchmal vernahm Naria auch Stimmen aus dem Innern der Häuser. Sie hielt auf das Gasthaus, das größte und hell erleuchte­te Haus am Marktplatz, zu. Sie band Farla davor an, stieg die Treppen zur Eingangstür hoch und trat ein. Gelächter und Stimmgewirr schlugen ihr entgegen. Die Schankstube wirkte einigermaßen freundlich und war ziemlich voll. Die Gäste, hauptsächlich Männer und nur wenige Frauen, saßen zumeist in größeren Gruppen zusammen und unterhielten sich lautstark. Naria trat auf den Tresen zu, hinter dem der Wirt, ein großer, breitschultriger Mann, stand.

„Ich brauche ein Zimmer für mich und einen Platz im Stall für mein Pferd“, erklärte sie ihm, als er sich ihr zugewandt hatte. Offensichtlich  lag ihm eine kritische Erwiderung auf der Zunge, denn als sie ihm diskret das Siegel des Königs zeigte, welches dieser ihr mitgegeben hatte, schloss er den Mund wieder und nickte nur knapp.

„Moment“, brummte er. Er verschwand im Hinterzimmer und Naria hörte, wie er Anweisung gab, ihr Pferd im Stall unterzubringen. Anschließend erschien er wieder.

„Er wird dir dein Zimmer zeigen“, sagte er zu ihr und deutete auf einen jungen Mann, der neben ihr erschienen war und geduldig wartete. Naria nickte, zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und folgte dem schweigsamen jungen Mann aus der Schankstube hinaus, eine Treppe hoch und einen schmalen Gang entlang, an dessen Ende er auf eine Zimmertür zeigte.

„Danke“, sagte sie und trat ein. Das Zimmer erinnerte sie ein bisschen an ihr eigenes im Palast. Es war ähnlich karg ausgestattet mit einem Bett, einem Schrank und einem kleinen Tisch mit Stuhl. Al­lerdings befand sie, dass ihr eigenes Zimmer ihr doch um einiges gemütlicher und einladender er­schien. Naja, besser als in den nächsten zwei Nächten war es mit Sicherheit allemal. Nachdem sie sich kurz umgesehen und Gesicht und Hals in der bereitstehenden Waschschüssel gesäubert hatte, verließ sie das Zimmer wieder und ging hinunter in die Stube, um etwas zu essen. Sie bestellte ihr Mahl und verzog sich dann in eine ruhige Ecke, um den Kontakt mit anderen so weit wie möglich zu vermeiden. Sie war momentan nicht ganz in der Stimmung für eine fröhliche Schankhausrunde. Außerdem würde sie, wenn sie sich mit anderen unterhalten würde, vermutlich früher oder später gefragt werden, warum eine junge Frau wie sie denn alleine unterwegs sei. Und nach einer aus­schweifenden Lügengeschichte, die sie dann wohl oder über würde erfinden müssen, da sie es nicht unbedingt für ratsam hielt, die Wahrheit zu erzählen, stand ihr momentan auch nicht der Sinn. Also blieb sie lieber für sich.

Nachdem sie aufgegessen hatte, blieb sie noch eine kurze Weile an ihrem Platz sitzen, stand aber ziemlich bald auf und verschwand aus der Schankstube. Nach einem kurzen Blick auf Farla, die im Stall gut untergebracht schien und ihr müde zuprustete, als sie sie erkannte, zog sie sich schließlich auf ihr Zimmer zurück. Dort zog sie sich aus, legte sich ins Bett und versuchte, einzuschlafen, da sie wusste, dass sie die nächsten Tage vermutlich eher nicht so viel Schlaf abbekommen würde. Zum Schlafen war sie aber viel zu aufgewühlt und so lag sie noch lange wach und hing ihren Ge­danken nach. Wie Salim ihr geraten hatte, versuchte sie nun, nicht sich die Schuld am Verschwinden der Prinzessin zu geben, was allerdings nicht ganz funktionierte. Ileanna war ihre Schutzbefohlene gewesen und sie hatte sie nicht beschützt. Egal, wie unscheinbar eine Gefahr auch erscheinen mochte, Naria war dafür ausgebildet worden, sie dennoch zu erkennen und sie auszuschalten. Das war ihr dieses Mal allerdings nicht gelungen und sie schalt sich wieder einmal für ihre zu langsame Reaktion. Wenn sie „Cobalt“ beim ersten Verdacht direkt in die Mangel genommen hätte, wäre es bestimmt nicht so weit gekommen. Wenn Ileanna irgendetwas zustieß, würde Naria sich das niemals verzeihen. Nicht nur wegen ihrer Aufgabe als Wächterin, sondern auch wegen der tiefen Zuneigung, die sie für die Prinzessin hegte. Seit dem Tag, an dem Naria sie vor den Jungen gerettet hatte, waren sie Freundinnen. Während ihrer Ausbildung hatte Ileanna sie oft auf der Akademie besucht und bei diesen Gelegenheiten hatte Naria auch Salim besser kennengelernt. Er war zwar um einiges älter als sie, aber der Wächter zählte zu einem von Narias engsten Freunden und war für sie außerdem so etwas wie ein Mentor.  Oft wusste er eine Lösung für Probleme, an denen sie schon fast verzweifelt war und er war immer für sie da. Naria hoffte, dass er schon wieder auf den Beinen war, zumal er König Arik einsatzbereit eine große Hilfe sein würde. Salim war einer der besten, wenn nicht sogar der beste Wächter, den das Königshaus vorzuweisen hatte.

Und dann war da noch Cobalt. Bei dem Gedanken an ihn bildete sich ein Kloß in Narias Hals und sie schluckte schwer. Bei ihrer Abreise war es ihm noch kein bisschen besser gegangen und keiner vermochte zu sagen, ob und wann das der Fall sein würde. Naria hatte keine Ahnung, was sie tun würde, falls Cobalt das nicht überlebte. Daran wollte sie nicht denken. Obwohl sie immer wieder versuchte, es zu leugnen, empfand sie weit mehr für Cobalt als Freundschaft und gelegentliche kör­perliche Anziehung. Auf seine Avancen wäre sie auch gerne eingegangen, doch sie war realistisch und sich deshalb darüber im  Klaren, dass sie bei ihm nur eine von vielen war und dafür war sie sich zu schade. Wenn er doch nur nicht so ein verdammter Draufgänger wäre! Naria vermutete, dass Yo­nah um ihre Zuneigung zu seinem besten Freund wusste. Er kannte sie viel zu gut, um sich von ih­rem abweisenden Verhalten täuschen zu lassen. Aber ihre Gefühle für Cobalt waren im Moment Na­rias geringstes Problem, deshalb vertrieb sie die Gedanken an ihm aus ihrem Kopf, drehte sich auf die andere Seite und versuchte, endlich einzuschlafen.

 

Am nächsten Morgen erwachte sie noch in völliger Dunkelheit. Niedergeschlagen blickte sie aus dem Fenster nach draußen. Ein leichter Nieselregen fiel und es war so stürmisch, dass die Äste des großen Baumes neben ihrem Zimmer immer wieder an ihr Fenster schlugen. Wie gerne wäre sie jetzt mit Salim und Ileanna in deren Gemächern, wo das Kaminfeuer, das Cleva in den kalten Jah­reszeiten schon früh am Morgen zu entfachen pflegte, eine behagliche Wärme verbreitete. Sie wür­den vermutlich mit Ileanna über den Tag sprechen, über wichtige Anlässe, die anstanden, oder ein­fach nur über einen Ausritt, den die Prinzessin plante. Vielleicht würden sie über ein Geburtstagsge­schenk für Liviane nachdenken oder wieder einmal über Ileannas Ansichten zum Thema heiraten diskutieren oder darüber, wie Melva es schon wieder geschafft hatte, ihre regelmäßigen Treffen mit einem jungen Mann so lange vor ihren Eltern geheim zu halten. Solche Tage würden sie jedoch lan­ge nicht mehr erleben. Oder nie wieder, dachte Naria und das Herz wurde ihr schwer. Wie es der Prinzessin wohl ging? Vorausgesetzt, sie war – Stopp. Natürlich lebte Ileanna noch!

„Wage es ja nicht, mich hier alleine zu lassen!“ knurrte Naria leise, dann entfernte sie sich vom Fenster, wusch sich kurz, was jedoch in Anbetracht des Wetters eher überflüssig war, band sich die Haare zurück, schulterte ihren Rucksack und verließ entschlossen das Zimmer. In der Schankstube war noch niemand sonst und nach einem hastigen Frühstück bezahlte Naria ihren Aufenthalt, holte Farla aus dem Stall und machte sich auf den Weg.

 

Naria war bis auf die Haut durchnässt. Das leichte Nieseln vom Morgen war in einen kräftigen Re­gen übergegangen und auch der Wind hatte sich noch um einiges gesteigert. Immer wieder wehten eisige Böen über das Feld zu ihrer Rechten auf sie zu und ließen Naria noch mehr erzittern. Noch ritt sie auf offener Straße und Naria hoffte sehr, dass der Sturm sich gelegt haben würde, bis sie ge­gen Ende des Tages den Wald erreichen würde. Falls nicht, beschloss sie, würde sie aber keine Pau­se einlegen, denn sie hatte keine Zeit zu verlieren. Naria fragte sich, wie es den anderen im Palast wohl ging und ob sie wohl an sie dachten.

 

Sie konnte natürlich nicht wissen, dass genau in diesem Moment Salim an einem Fenster des Thronsaals stand und besorgt nach draußen in den tobenden Sturm blickte. Schweren Herzens dachte er an seine beiden Schützlinge, wie er auch Naria im Stillen noch immer zu nennen pflegte, deren beider Schicksale nun nicht mehr in seiner Hand lagen. Yonah trat neben ihn, die Stirn in Falten gelegt. „Ob sie es wohl schafft?“ fragte er nach einer Weile des Schweigens. Salim hörte Angst in der Stimme seines jungen Kollegen mitschwingen. Angst um Naria, Angst um die Prinzes­sin und Angst vor dem, was eintreten würde, wenn sich ihre schlimmsten Befürchtungen im Bezug auf Salaara bewahrheiten würden. Salim war niemand, der falsche Versprechungen machte. „Ich weiß es nicht.“ sagte er. „Aber ich weiß, dass sie alles, wirklich alles versuchen wird. Und das will bei Naria eine ganze Menge heißen.“

 

Naria hatte Glück. Als sie bei einsetzender Dämmerung den Waldrand erreichte, hatte der Sturm tatsächlich etwas nachgelassen. Da sie nach wie vor komplett nass war, änderte das nicht unbedingt viel an ihrem Wohlbefinden, aber wenigstens musste sie nicht permanent befürchten, von einem hinabfallenden Ast erschlagen zu werden. Wenigstens etwas. Auf der Suche nach einem Einstieg lenkte sie Farla näher an die erste Baumreihe heran. Von nun an würde sie keinem Weg mehr folgen können, dann Salaaras Haus lag inmitten des großen Waldes, abgeschottet von jeglicher Zivilisati­on. Nach einer kurzen Suche fand Naria eine größere Lücke zwischen zwei Bäumen und lenkte die Stute hinein. Einen besseren Einstieg würde sie vermutlich nicht finden und sie hatte keine Lust, Stunden mit der Suche danach zu verbringen. Die Zeit lief ihr davon, denn mit jeder Stunde die ver­strich, wurde es unwahrscheinlicher, Ileanna noch lebend zu finden. Wie schon einige Stunden zu­vor verbot sich Naria erneut, darüber nachzudenken, was der Prinzessin alles zugestoßen sein könn­te und konzentrierte sich ganz auf die vor ihr liegende Aufgabe. Obwohl ihr immer noch eiskalt war und sie gerne Kleidung zum Wechseln dabeigehabt hätte, war Naria nun froh darüber, nicht allzu viel Gepäck bei sich zu haben, denn so kamen sie trotz der eng beieinander stehenden Bäume und des langsam abnehmenden Lichtes überraschend gut voran. Farla schnaubte fröhlich. Zumindest sie hatte allem Anschein nach Spaß an der Unternehmung. Im Gegensatz zum Vortag war Naria jetzt auch erleichtert darüber, dass es Herbst war, denn die meisten Blätter waren schon von den Bäumen gefallen, sodass sie noch eine Weile genug Licht haben würde. Entschlossen, an diesem Abend noch ein ganzes Stück Weg hinter sich zu bringen, trieb Naria Farla weiter in den Wald hinein.

Eine Weile später ließ die inzwischen schon sehr dunkle Dunkelheit Naria einsehen, dass sie heute nicht mehr weiterkommen würde und sie begann, sich nach einem Platz für die Nacht umzusehen. Unter einem großen Baum entdeckte sie eine Art Mulde, in der viel Moos wuchs. Sie lenkte ihre Stute dorthin und sprang ab.

„Hier bleiben wir bis morgen“, erklärte sie leise, während sie Farla den Sattel abnahm und sie an einen nahegelegenen Ast band, wo diese auch sofort selig begann, das für sie erreichbare Gras zu verspeisen. Dann versuchte Naria, ein Feuer zu entzünden, was sich aber aufgrund der Nässe als ein Ding der Unmöglichkeit herausstellte, sodass sie schließlich kapitulieren musste. Sie kramte in ih­rem Rucksack und fand ihre Decke, sowie etwas Brot und Wasser. Nachdem sie das Brot verspeist und etwas Wasser getrunken hatte, zog sie sich ihre durchnässte Jacke aus und hoffte, dass es in der Nacht nicht wieder zu regnen anfangen würde und sie am nächsten Tag wenigstens etwas einiger­maßen Trockenes zum Anziehen hatte. Seufzend wickelte sie sich in die Decke ein, rollte sich auf dem Moos zusammen und schloss die Augen, in der Hoffnung, einzuschlafen. Zu ihrem Leidwesen funktionierte es nicht. Ihr war fürchterlich kalt und die Feuchtigkeit vom Boden durchdrang ihre Decke und ließ sie noch mehr erzittern. Verdammt. Sie würde sich den Tod holen. Im Wald war es außerdem alles andere als leise. Die Bäume und Büsche bogen sich im Wind hin und her und über­all rauschte und raschelte es. Immer wieder knackte es im Unterholz, sie hörte Schritte, Flügelschla­gen, Jaulen, Bellen und vieles mehr, was sie nicht zuordnen konnte. Wenn  sie die Augen öffnete war ihr, als starrten sie hunderte Augenpaare aus dem Schutz der Pflanzen heraus an. Naria war überhaupt nicht wohl. Sie war zwar eigentlich nicht ängstlich, doch hier war sie bis auf ihr Pferd vollkommen alleine in einem riesigen Wald, umgeben von Tieren, die mehr oder weniger gefährlich sein mochten und fror erbärmlich. Wie gerne hätte sie jetzt jemanden bei sich, bei dem sie sich sicher fühlte, der sie im Arm halten und über sie wachen würde, der – Nicht schon wieder. Wieso musste sie immer und überall unwillkürlich an Cobalt denken? Sie war doch kein liebeskrankes Kind! Und überhaupt, wenn sie sich schon so fühlte, wie musste es dann erst Ileanna gehen? Entführt, an einem einsamen Ort festgehalten, vielleicht verletzt, halb verhungert oder krank! Naria wurde wütend auf ihr kindisches Selbstmitleid und beschloss, sich sofort zusammenzureißen und die Sache für Ileanna durchzustehen.

 

Ein fürchterlicher Hustenkrampf riss Naria aus dem Schlaf. Na super, auch das noch! Sie atmete tief ein und spürte einen leichten Druck auf der Lunge. Beim Ausatmen musste sie erneut Husten. Schwerfällig erhob sie sich von ihrem Lager und musste sich sofort danach am Stamm der riesigen Buche, unter der sie geschlafen hatte, abstützen, da sich vor ihren Augen alles drehte. Sie fasste sich an die pochende Stirn. Hatte sie Fieber?  Sie konnte es nicht feststellen und ihr war fürchterlich kalt. Sie blickte nach oben in den Himmel und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass es aufgeklart hatte und wohl zumindest die nächsten Stunden nicht regnen würde. Ihre Jacke war nur noch etwas feucht, weshalb sie sie gegen das dünne Oberteil, das sie am Körper trug, austauschte. Verbissen packte sie ihre Sachen zusammen, würgte etwas Brot und Wasser herunter und sattelte Farla, die munter aus einer der Pfützen trank. Wenigstens um die Versorgung ihres Pferdes würde sie sich wohl keine Gedanken machen müssen. Mithilfe des Sonnenstandes, ihrem Kompass und der detaillierten Karte machte sie eine Richtung aus, in die sie musste, stieg dann mühsam auf und trieb Farla zwischen die Bäume.

 

Der nächste Tag und die nächste Nacht vergingen ähnlich. Er begann wieder, zu stürmen, allerdings vorerst ohne Niederschlag. Zu Narias Husten hatten sich noch Halsschmerzen gesellt, die von Stun­de zu Stunde schlimmer wurden. Als sie am Morgen aufwachte, fühlte es sich an, als hätte jemand ihre Kehle ausgebrannt und daran, dass sie Fieber hatte, zweifelte sie nun keine Sekunde mehr. Sie begann sich zu fragen, ob sie überhaupt noch eine Chance hatte, den Palast je lebend wiederzuse­hen, denn falls Salaara sie nicht umbrachte, würde sie wahrscheinlich an Lungenentzündung ster­ben. Sie war allerdings viel zu schwach, um sich viele Gedanken  darüber zu machen und so schlu­gen sie sich weiter durch den Wald.

Einige Stunden, nachdem sie am Morgen aufgebrochen waren, bemerkte Naria, wie sich die sie um­gebenden Bäume lichteten. Vor Aufregung schlug ihr Herz schneller und pochte nun schmerzhaft in ihrer Brust. Trotz ihrer Erschöpfung trieb sie Farla weiter an und nach ein paar weiteren Minuten er­reichten sie eine kleine Lichtung mitten im Wald. Darauf stand ein Haus, aus dessen Schornstein Rauch aufstieg. Naria atmete auf. Sie hatte Salaara gefunden und offensichtlich war die Hexe auch zuhause.  Was auch immer das nun für sie bedeuten mochte.

Kapitel 11

 

Naria glitt aus dem Sattel und packte Farla am Zügel. Dann führte sie das Pferd vorsichtig näher an das Haus heran, welches relativ groß schien, aber trotzdem locker in die Eingangshalle des Palastes gepasst hätte. Es sah irgendwie verwildert aus, wie es da stand, von Efeu und anderen Kletterpflan­zen bewachsen, aber dennoch gut gepflegt. Neben dem Haus gab es noch einen kleinen Holzver­schlag. Seine Funktion war nicht schwer zu erraten, denn um ihn herum wuselten Unmengen von Hühnern und pickten irgendetwas vom Boden auf. Unwillkürlich musste Naria grinsen, es sah ein­fach lustig aus. Dann überkam sie wieder ein Hustenreiz.

„Wenn ich böse wäre und dich umbringen wollte, hätte ich es schon längst getan“, hörte sie eine Stimme aus Richtung des Hauses, konnte ihren Besitzer aber nicht lokalisieren.  Wachsam blickte sie sich suchend um, war sich aber darüber im Klaren, dass sie einem Gegner, wer auch immer es war, in ihrem Zustand nicht viel entgegenzusetzen hatte.

„Wenn ich eine nette Person wäre, hätte ich dich schon längst reingebeten und dir einen Tee ge­macht.“ sprach die Stimme weiter. „Ich bin nichts von beidem. Was willst du?“

„Äähm“, machte Naria und sah sich weiterhin verunsichert um. Wo kam diese Stimme her? „Hallo?!“, ertönte es da plötzlich neben ihrem Ohr. Erschrocken fuhr Naria herum und stand einer alten Frau gegenüber, bestimmt einen Kopf kleiner als sie selbst, die die Hände in die Hüften ge­stemmt hatte und fordernd zu ihr aufblickte. „Redest du nicht, oder was?“

Naria brachte kein Wort heraus. Das sollte Salaara sein? Die mächtige Hexe, vor der alle eine Hei­denangst hatten? Diese alte Frau sah in ihrem braunen Strickkleid und mit den hochgesteckten grau­en Haaren eher aus wie eine wütende Großmutter, die ihren Enkeln eine Standpauke hielt, weil  die­se mal wieder zu lange im Wald gespielt hatten.

„Äähm..Seid ihr Salaara?“, fragte Naria schließlich, nachdem sie ihre Überraschung einigermaßen überwunden hatte.

„Natürlich, wer denn sonst? Du bist ja offenbar hergekommen, um mich zu sehen, also warum fragst du noch? Wer sollte denn deiner Meinung nach noch hier leben? Sieht das hier etwa aus wie ein Dorfplatz?“

Naria war völlig überrumpelt und aufgrund ihrer Krankheit kam ihr Gehirn auch nicht ganz so schnell wie sonst hinterher. Sie blinzelte ein paar Mal verwirrt und schluckte, was ihr nach wie vor große Schmerzen bereitete und sie auf den Boden der Tatsachen zurückholten. Und der war schmerzhaft, sowohl in ihrem Hals als auch in ihrer Lunge. Aber immerhin. Sie hatte Salaara gefun­den und offensichtlich schien die Hexe zumindest nicht die Absicht zu haben, sie sofort in Staub zu verwandeln.

„Ich hab ein paar Fragen an euch“, sagte Naria, als sie ihre Gedanken einigermaßen sortiert hatte. „Ach was“, gab die Hexe zurück. „Hätte ich ja im Leben  nicht gedacht.“

Ein Windstoß ließ die beiden zusammenfahren und Naria lief ein Schauer über den Rücken.

„Dann komm halt mit rein, mir ist kalt.“ Damit drehte Salaara sich um und stapfte zum Haus.

„Und mein Pferd?“, rief Naria ihr hinterher.

„Na was soll damit sein? Das kommt natürlich mit rein oder willst du die drinnen aufwärmen, wäh­rend sie draußen erfriert?“ Ohne sie noch einmal anzublicken, verschwand Salaara im Haus. Naria lagen einige Erwiderungen auf der Zunge, mehr und weniger freundlich, aber sie besann sich dar­auf, wer Salaara war und beschloss deshalb, besser den Mund zu halten. Es begann wieder zu reg­nen und Naria machte, dass sie ins Haus kam.

 

Farla passte problemlos durch die große Haustür. Dahinter lag ein geräumiges Zimmer, eine Mi­schung aus Wohnzimmer und Küche, wie Naria vermutete. Ein großer, dunkler Holztisch stand in der Mitte, über und über bedeckt mit einigen Kesseln, Gläsern, kleinen Töpfen, Tonschüsseln und –schalen, die meisten davon mit irgendwelchen Tinkturen oder Flüssigkeiten gefüllt. Auf dem Tisch saßen außerdem zwei Erdmännchen, die sich sofort aufrichteten und hektisch in der Luft herum­schnupperten, als Naria mit Farla den Raum betrat. Salaara stand hinter dem Tisch und war über einen überdimensional großen Herd gebeugt, an dem sie irgendetwas zusammenmischte. Unter den beiden Fenstern links und rechts vom Herd standen weitere Flaschen und andere Behälter auf den breiten Fensterbrettern. Unter der hohen Zimmerdecke zogen sich mehrere dünne Holzstreben kreuz und quer durch den Raum, an denen hunderte von getrockneten Kräuterbüscheln befestigt waren sowie viele andere Dinge, zum Beispiel große Töpfe und Siebe. Der Raum an sich schien nicht eckig, sondern rund zu sein und in alle Richtungen gingen Türen daraus ab. Rechts von Naria prasselte in einem offenen Kamin ein Feuer, über dem ein großer Kessel hing und laut blubberte. Behagliche Wärme breitete sich in Naria aus und das Zittern ließ langsam.

„Jetzt steh da nicht rum und setz dich schon!“, befahl Salaara barsch vom Herd aus, ohne sich zu Naria umzudrehen.

„Dein Pferd lass einfach da stehen.“ Naria tat wie geheißen und setzte sich auf den Stuhl, der dem Kamin am nächsten war.

„Also was willst du von mir?“ fragte Salaara, wieder ohne sich umzudrehen.

„Ich  - “, begann Naria und zuckte im nächsten Moment zusammen, als etwas mit einiger Wucht ge­gen ihren Stuhl stieß. Alarmiert drehte sie sich um und blickte hinter sich, wo allerdings nichts zu sehen war. Verwirrte drehte sie sich zurück und fragte sich gerade, ob sie nun auch noch Halluzina­tionen bekam, als erneut etwas ihren Stuhl rammte.

„Lass das!“, schimpfte Salaara. 

„Was?“, fragte Naria verdutzt.

„Nicht du. Ich rede mit dem Esel. Oder stört dich das nicht, dass es die ganze Zeit gegen deinen Stuhl rennt?“ Verwirrt drehte Naria sich wieder um und entdeckte nun den kleinsten Esel, den sie in ihrem Leben je zu Gesicht bekommen hatte. Er hätte locker unter Farla hindurchgehen können, ohne ihren Bauch auch nur mit seinen großen Ohren zu berühren. Jetzt stand er einige Schritte von Naria entfernt und blickte sie reumütig mit seinen großen grauen Augen an. Naria musste lachen, was allerdings in ein starkes Husten überging.

„Schon gut“, brachte sie zwischen zwei Hustern hervor und der Miniesel kam ein paar kleine Schritte auf sie zu, sodass sie seinen Kopf tätscheln konnte.

„Das kann man sich ja nicht mit anhören!“ Salaara knallte eine große Tasse, aus der es dampfte und sehr gut roch, vor Naria auf den Tisch. „Trink das und dann erklär mir endlich, was du hier willst, bevor ich es mir anders überlege, und dich doch noch in Staub verwandle.“

Hastig befolgte Naria die Anweisungen der Hexe und nahm ein paar Schlucke des Getränks, ohne darüber nachzudenken, was das alles sein könnte. Es schmeckte wunderbar, irgendwie nach Früch­ten und Kräutern zugleich, doch Naria konnte es nicht zuordnen. Überraschenderweise war es auch nicht zu heiß, sondern gerade richtig warm. Kaum hatte sie etwas von dem Getränk herunterge­schluckt, verbreitete sich Wärme in ihren Körper, von ihrem Hals bis in ihre Fußspitzen. Auch die Halsschmerzen ließen sofort etwas nach und Naria konnte jetzt wieder einigermaßen schmerzfrei sprechen.

„Ich komme wegen jemandem, der vor einiger Zeit hier gewesen sein muss“, begann sie, nachdem sie noch etwas mehr getrunken hatte.  „Aha“, machte Salaara.

„Er hat von euch irgendeine Art von Verwandlungszauber bekommen.“  „Aha.“

„Ich bin hier, weil ich wissen muss, wer das war.“  „Aha.“ Ungerührt blickte die Hexe sie an.

„Und?“, fragte Naria. „Was und?“

„Na, könnt ihr mir sagen, wer das war?“ „Ja.“

„Und wer war es?“ Sollte es tatsächlich so einfach sein?

„Sag ich nicht.“ Nein, wohl nicht. Naria nahm noch einen Schluck von dem Getränk und dachte darüber nach, wie sie jetzt wohl weiter vorgehen sollte.

„Wieso sagt ihr es mir nicht?“, fragte sie schließlich.

„Weil ich nicht will.“

„Aber es würde euch doch nichts ausmachen.“

„Schon, aber ich will nicht.“

„Wollt ihr etwas dafür haben?“

„Nein.“

„Ich komme im Auftrag von König Arik. Ihr könnt Geld bekommen, so viel ihr möchtet, Länderei­en oder ein großes Schloss“, versuchte es Naria weiter, obwohl sie wusste, dass es eigentlich keinen Sinn hatte.

„Nicht interessiert“, antwortete Salaara gleichgültig.

„Wie wurdet ihr denn für den Verwandlungszauber bezahlt?“ Das interessierte Naria wirklich, denn offensichtlich war Salaara an jeder herkömmlichen Art von Bezahlung nicht interessiert. Salaara be­gann, lauthals zu lachen, was Naria noch mehr verwirrte. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, antwortete sie vergnügt: „Also das könnt ihr mir nun wirklich nicht geben, egal von wem ihr kommt. Außerdem bin ich daran auch gar nicht mehr interessiert.“

Naria runzelte die Stirn und blickte Salaara, die immer noch kicherte, eine Weile nachdenklich an. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Aber das konnte doch nicht – das war doch –

„Also war es ein Mann“, sagte sie schließlich nur, in dem Versuch, einigermaßen gelassen zu wir­ken.

„Aber ja, und was für einer!“ Versonnen blickte die Hexe sie an. Naria beschloss, nicht weiter dar­über nachzudenken. Es war wohl besser so für sie. Immerhin wusste sie jetzt, dass es sich bei dem Entführer um einen Mann handelte. Aber mehr auch nicht.

„Eigentlich habe ich das auch nur verlangt, weil ich ihn ein bisschen ärgern wollte“, sprach Salaara weiter. „Und das hat wirklich Spaß gemacht. Und nicht nur, dass er es ziemlich abstoßend fand, er hat sich auch zu Tode geschämt. Ein bisschen arrogant, der Gute. Kam gar nicht damit klar, dass sein rechtes Bein durch diese Narbe einigermaßen entstellt war, im Gegensatz zu dem Rest von ihm…“

„Super“, dachte Naria. „Ein gutaussehender, arroganter junger Mann mit einer Narbe am rechten Bein.“ Sollte das schon alles sein, hätte der Besuch bei Salaara ungefähr nichts gebracht.

„Mehr könnt ihr mir nicht sagen?“, fragte Naria hoffnungsvoll.

„Könnte ich. Aber ich will nicht“, zerstörte die Hexe ihre Hoffnungen sofort wieder.

„Bitte!“, versuchte Naria es nun auf eine andere Weise. „Die Kronprinzessin Ileanna wurde mithilfe eures Zaubers entführt. Ihr darf nichts zustoßen! Ich muss wissen, wer der Entführer ist!“

„Oh nein, das tut mir aber leid!“ Salaara blickte Naria mitfühlend an.

„Tut es?“, fragte diese zweifelnd.

„Nein. Eigentlich ist es mir vollkommen egal. Ihr alle seid mir egal, mit euren ständigen Kämpfen und eurer Machtgier, eurer Habsucht, eurer Heuchelei und eurer Dummheit.“

Naria musste sich sehr beherrschen, um die Hexe nicht aufgebracht anzufahren, für das, was sie da von sich gab. Wie konnte man nur so egoistisch und abwertend sein?

„Ich habe keine Lust, mehr als nötig mit euch zu tun zu haben“, stellte Salaara klar. „Und dass ich hier geduldet werde, ist doch auch nur dem Umstand geschuldet, dass ich mehr Macht habe als alle jämmerlichen kleinen Könige zusammen.“

Naria platzte der Kragen. „Habt ihr denn überhaupt keine Moral?“, fuhr sie die Hexe an. „Wie kann euch alles so gleichgültig sein, wie könnt ihr mit euch selbst im Reinen sein, wenn ihr so etwas zu­lasst?“

„Ich habe eine Moral, aber eine eigene“, gab diese zurück. „Ich halte mich raus, mische mich nicht ein und lasse den Dingen ihren Lauf. Ich stelle mich auf keine Seite und lasse mir von niemandem etwas vorschreiben.“

„Ihr habt euch aber auf eine Seite gestellt, als ihr den Zauber verkauft habt! Und zwar auf die falsche! Ihr könnt euch nicht mehr einfach raushalten, wenn ihr euch einmal eingemischt habt!“ „Sag du mir nicht, was ich kann und was nicht. Ich habe mich nicht in eure kleinen Machtspielchen eingemischt, ich habe lediglich jemandem etwas verkauft, das ist ja wohl nicht verboten.“

„Wie könnt ihr noch in den Spiegel sehen? Mit eurer Macht habt ihr den Ausgleich der Kräfte auf eine Seite verschoben, sodass die andere keine Chance mehr hat. Versteht ihr das unter ‚nicht einmi­schen‘?“

„Ich habe keinen Spiegel“, gab Salaara trocken zurück. „Also stellt sich mir das Problem nicht.“ „Euer Gewissen möchte ich nicht haben. Ich könnte so nicht leben.“ Naria stand auf, denn sie spür­te, dass die Unterredung keinen Sinn mehr hatte. „Vielen Dank für die freundliche Auskunft“, sagte sie ironisch, nahm Farla beim Zügel und trat hinaus in den Sturm.

Frustriert und enttäuscht führte Naria ihre Stute ein paar Meter vom Haus weg und stieg dann in den Sattel. Ihre Reise war völlig umsonst gewesen, noch immer hatte sie keine Ahnung, wo sie nach Ileanna suchen musste. Nicht völlig umsonst, rief sie sich ins Gedächtnis, immerhin wusste sie jetzt, dass das Königshaus Salaara nicht zur Feindin hatte. Doch das war nur ein geringer Trost für Naria, völlig überschattet von der Sorge um Ileanna. Wo konnten sie jetzt noch suchen? Was konnten sie noch tun? Eine vollkommen planlose Suche irgendwo im Königreich hatte absolut keinen Sinn, so­viel war klar. Aber welchen Plan hatten sie noch? Naria hatte nicht vor, aufzugeben, doch sie fühlte sich machtlos und das machte sie wahnsinnig. Vielleicht wissen die anderen im Palast inzwischen mehr, redete sie sich ein. Vielleicht war irgendetwas vorgefallen oder vielleicht war Cobalt wieder bei Bewusstsein und konnte etwas über den Täter sagen. Vielleicht hatten Aloysius und die anderen ja inzwischen jemanden aufgetrieben, der etwas über die Identität des Entführers wusste, vielleicht war er doch von jemandem gesehen worden. An diese Hoffnungen klammerte Naria sich, als sie Farla im zunehmenden Sturm immer weiter in den Wald und weg von Salaara trieb.

 

Bis sie die Straße wieder erreichte, brauchte Naria fast vier Tage. Vier Tage im Wald, während de­nen der Sturm bis auf zwei oder drei Male kaum nachgelassen hatte. Narias Erkältung, die zur Sa­laaras Getränk kurzzeitig etwas besser gewesen war, war nun schlimmer denn je. Sie hustete, ihr Hals schmerzte fürchterlich und ihre Nase war komplett verschnupft. Ihr Kopf schmerzte unglaub­lich und sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Nach Hause, nur noch zurück! Auch Farla war inzwischen lange nicht mehr so fit wie am Anfang ihrer Reise und sehnte sich offenkun­dig nach ihrem Stall, wo es ausreichend Ruhe und Verpflegung gab. Naria vermutete, dass es früh am Mittag sein musste, doch konnte sie es nicht genau sagen, da die Sonne nach wie vor von dicken Wolkenbergen verdeckt war, aus denen Sturzbäche auf die Erde hinabfielen. Naria hatte Hunger, denn langsam aber sicher war ihre Verpflegung zur Neige gegangen. Als sie das Dorf erreichte, er­wägte sie eine Pause, um etwas zu essen und sich aufzuwärmen, oder sogar über Nacht im Gasthaus zu bleiben, aber dann entschied sie sich dagegen. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch am selben Abend wieder im Palast sein und obwohl sie nichts über Ileanna hatte herausfinden können, so musste sie dem König doch möglichst schnell mitteilen, dass Salaara keine Bedrohung für dessen reich darstellte. Das war sehr wichtig und würde sicher alle beruhigen, sodass sie sich dann umso mehr auf die Suche nach der Kronprinzessin würden konzentrieren können. Naria hatte nach ihrer anfänglichen Resignation wieder der Ehrgeiz gepackt. Es würde irgendwie möglich sein, Ileanna aufzuspüren, es musste einfach! Sie schwor sich, nicht aufzugeben, bis das nicht geschafft war  und sie wusste, Salim  und die anderen würden ihr auf jeden Fall zustimmen. Aber um überhaupt irgen­detwas ausrichten zu können, musste sie erst einmal zurückkommen und das möglichst bald und le­bendig. Voller Entschlossenheit trieb Naria Farla weiter an.

Kapitel 12

 

Es war stockfinster. Naria konnte keine zwei Meter weit gucken, aber dennoch wusste sie, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand. Sie war schon auf der großen Straße zum Palast und Farla fand den Weg nun auch fast alleine. Das war sehr gut, dann Naria wusste, dass sie wohl nicht mehr die Kraft gehabt hätte, ihr Pferd großartig zu lenken oder sogar einen Weg zu suchen. Sie hing mehr im Sattel als dass sie saß und klammerte sich mit eisigen Fingern in Farlas Mähne fest. Ihre Zähne schlugen immer wieder hart aufeinander, so sehr zitterte sie. Die Kälte spürte Naria aber schon lan­ge nicht mehr, genauso wenig wie die Nässe des Regens oder ihre schmerzenden Glieder. Ich schaf­fe es nicht mehr, dachte sie verzweifelt, als nach einiger Zeit, die Naria wie eine Ewigkeit vorkam, immer noch nichts in Sichtweite war. Kein Palast. Wäre sie doch nur im Dorf geblieben! Aber sie musste so schnell wie möglich zurück, sie musste einfach! Sie durfte jetzt nicht schlappmachen, wer wusste, wann man sie dann finden würde. Das könnte noch sehr lange dauern und kein anderer konnte dem König die Nachrichten überbringen. Plötzlich wieherte Farla einmal laut. Naria schreckte aus ihrer Trance auf und blickte sich um, doch sie konnte natürlich nichts erkennen. Da, was war das? Sie hatte in der Ferne etwas gehört. Ganz leise zwar, aber dennoch… Farla wieherte erneut und jetzt hörte Naria es ganz deutlich. Das Wiehern anderer Pferde drang durch den Wind zu ihnen herüber. Die Pferdeställe standen ein Stück vom Palast entfernt, aber innerhalb der Stadtmau­ern, die die gesamte Stadt mitsamt dem Palast umgaben. Naria fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte es tatsächlich geschafft. Sie war zuhause.

Ohne dass Naria irgendetwas dafür tat, fiel Farla nun in einen flotten Trab. Sie folgte der Straße, die einen Bogen nach rechts machte – die letzte Kurve vor der Stadtmauer, wie Naria erkannte – und gleich darauf sah sie auch die ersten Lichter, die aus den Wachtürmen. Ein paar Meter weiter kamen sie schließlich vor dem imposanten Stadttor zum Stehen. Dieses war natürlich verschlossen, wie im­mer, mitten in der Nacht. Naria hoffte, dass sie bei diesem Sturm überhaupt zu hören waren und schlug, nachdem sie aus dem Sattel gestiegen war, so fest sie konnte mit dem riesigen, metallenen Türklopfer gegen die massive Holztür. Naria wartete eine Weile und lauschte angespannt. Nichts geschah. Farla schnaubte ungeduldig und scharrte mit den Hufen. Eine kräftige Windbö riss Naria beinahe um. Sie klopfte noch einmal. Sie hätte ja gerufen, doch dazu fehlte ihr die Kraft und durch den Sturm hätten die Wachposten sie sowieso nicht gehört. Als sie gerade ansetzte, den Türklopfer noch einmal gegen das Holz schlagen zu lassen, hielt sie schlagartig inne. Sie hatte ein Geräusch vernommen, von der anderen Seite des Tores. Oder nicht?  Doch, da war es wieder. Noch einmal. Jemand schob einen Riegel zurück und gleich darauf öffnete sich eine schmale Klappe auf ihrer Au­genhöhe und jemand blickte hindurch.

„Lass mich rein!“, stöhnte sie und versuchte, in der Dunkelheit die Person zu erkennen,  die ihr ge­genüberstand.

„Naria? Bist du’s?“

„Ja, verdammt, mach schon auf!“ Sie konnte die Stimme nicht direkt zuordnen, denn der Wind pfiff ihr laut um die Ohren. Die Person verschwand und kam gleich darauf mit einer Öllaterne zurück. Jetzt erkannte Naria auch das Gesicht. Dunkelblonde Haare, die unter einer Kapuze hervorlugten, hellbraune, schmale Augen, große Nase. Levent. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so froh gewesen, ihn zu sehen.

„Sie ist es!“, rief Levent über die Schulter. „Jemand muss sofort zum Palast laufen!“

Naria hörte, wie er sich am Tor zu schaffen machte und einige Atemzüge später schwang eine kleine Tür auf, die im linken Torflügel eingebaut war, gerade groß genug, dass Farla und sie hindurchpass­ten. Kaum, dass sie innerhalb der Mauer war, verschloss Levent die Tür wieder und zog Naria aus dem Regen in eine geschützte Ecke am Eingang des Wachturmes.

„Nimm das Pferd!“, wies er einen jungen Wächter an, der anscheinend einen seiner ersten Wach­dienste überhaupt ableistete. „Bring es in den Stall!“

Naria wurden die Zügel aus der Hand genommen. Ihr war schwindelig und sie musste sich an der kalten Steinmauer abstützen, um nicht hinzufallen. Levent packte sie an der Schulter und stützte sie. „Es kommt gleich jemand“, sagte er. „Hab noch einen kleinen Augenblick Geduld, du kannst gleich rein.“ Naria nickte mechanisch, obwohl sie den Sinn seiner Worte nicht ganz verstand. Weiße Punk­te tanzten vor ihren Augen und erschwerten ihr zusätzlich zum Regen die Sicht. Trotzdem war sie sich sicher, dass da jemand von aus der Stadt auf sie zukam. Auch Levent hatte sich aufgerichtet und blickte in dieselbe Richtung wie sie.

„Ist sie da?“, hörten sie schließlich auch eine Stimme, die Naria im Gegensatz zu Levents sofort er­kannte. „Wo ist sie? Geht es ihr gut?“

Erleichtert atmete sie auf, woraufhin sie von einem derartigen Hustenkrampf erschüttert wurde, dass sie sich instinktiv zusammenkrümmte. Sie schnappte nach  Luft, bekam aber keine, hustete noch mehr, stolperte und sah den Erdboden näher kommen.

 

Kräftige Hände packten sie und stoppten ihren Fall.

„Oh, verdammt“, sagte Salim, dessen Gesicht sie nur schemenhaft, aber dicht vor ihrem, erkannte. Seine Hand legte sich auf ihre Stirn. Sie war rau und warm und klitschnass.

„Sie hat Fieber“, hörte sie ihn sagen. „Naria, kannst du mich hören? Hörst du mich?“

Naria wollte antworten, sagen, dass sie in Ordnung war, nur erkältet, doch als sie den Mund öffnete, kam kein Ton heraus. Dafür schmerzte ihr Hals umso mehr. Sie versuchte es nochmal, doch mehr als ein Krächzen ertönte nicht.

„Verstehst du mich?“, fragte Salim und hielt sie an beiden Schultern gepackt. Sie nickte langsam und vorsichtig, denn ihr Kopf schmerzte.

„Okay.“ Eine Hand legte sich an ihren Rücken, eine in ihre Kniekehlen und vorsichtig wurde sie hochgehoben. Dann trug Salim sie mit schnellen Schritten davon. Er war zwar genau wie sie bis auf die Haut durchnässt, aber er war schön warm und Naria presste sich so fest sie konnte an seinen Oberkörper und schnappte nach Luft. „Ist schon ok“, murmelte er und drückte sie an sich. „Du hast es geschafft, du bist zuhause.“ Sein  gleichmäßiges Herzklopfen ließ sie ruhiger werden und auch ihre Atmung entspannte sich wieder. Kurze Zeit später spürte sie, wie Salim die Treppenstufen zum Palast hinaufstieg und gleich darauf prasselte kein Regen mehr auf sie nieder und es wurde hell. Na­ria blinzelte, um ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen und im selben Moment brach die Hölle los.

„Um Himmels Willen, Naria, wie geht es dir?“

„Geht es dir gut?“

„Warst du da?“

„Was hat sie gesagt?“

„Wo ist Ileanna?“

„Was ist mit der Hexe? Auf wessen Seite steht sie?“

„Wie geht es der Prinzessin? Wer hat sie?“

„Wer ist dieser Verräter? Wie heißt er?“

„Wie geht es dir? Was hast du?“

Es fühlte sich an, als  würde ihr sowieso schon schmerzender Kopf zerplatzen. Stöhnend vergrub sie ihr Gesicht an Salim Brust und wünschte, alle um sie herum würden verschwinden.

„Lasst sie in Frieden, sie kann jetzt nicht antworten! Sie ist krank und braucht einen Arzt!“,  unter­brach Salim barsch die Fragen, die noch immer ununterbrochen auf Naria einströmten.

„Ich weiß, Salim, aber es ist wichtig! Wir müssen erfahren, was vorgefallen ist“, antwortete eine Stimme, die Naria als Aloysius‘ erkannte.

„Okay“, knurrte Salim. „Aber nicht hier.“

Naria spürte, wie ihre Sinne sie verließen. Sie öffnete ihre Augen, nahm aber alles nur noch ver­schwommen wahr. Die Stimmen um sie herum klangen nur noch gedämpft zu ihr hindurch und sie fühlte nichts mehr.

„Naria, sieh mich an!“ Unsanft wurde sie geschüttelt. Was sollte das? Warum konnte man sie nicht in Ruhe lassen?

„Naria, bitte, halt noch kurz durch! Mach die Augen auf! Hörst du mich?“ Es war Salim, der da zu ihr sprach. Mühsam öffnete sie ihre Augen und schloss sie gleich darauf wieder. Es war zu anstren­gend. Alles drehte sich und – Sie zuckte zusammen vor Schmerz und ihr Kopf wurde hin und her geschleudert. Ihre linke Wange brannte wie Feuer.

„Bist du wahnsinnig?“, fuhr Salim im selben Moment jemanden an. Es knallte und ein empörtes „Aua, spinnst du?“ ertönte. Naria riss die Augen auf.

„Du kannst sie doch nicht einfach schlagen!“, empörte sich Salim, der direkt vor ihr saß und eine Person neben sich zornig anfunkelte.

„Aber guck mal, sie sieht viel wacher aus!“ Salims Kopf drehte sich wieder zu ihr und daneben er­kannte sie Yonah, der sich grinsend die Wange rieb. „Hey Kleine!“, sagte er.

„Du kannst mich mal!“, gab sie müde zurück, denn ihre Wange brannte immer noch. Yonah lachte nur, woraufhin er von Salim vor die Tür befördert wurde.

„Naria, beantworte uns noch ein paar Fragen, bitte!“, wandte Salim sich ihr wieder zu. Jetzt erst nahm sie war, dass noch andere Personen im Raum waren. Hinter Salim standen Aloysius, Siras und König Arik. Alle blickten angespannt auf sie herunter.

„Was ist mit Salaara? Ist sie gegen uns?“, ergriff Salim wieder das Wort. Naria schüttelte nur den Kopf und der König und seine Berater stießen erleichtert die Luft aus.

„Hat sie dir gesagt, wer die Prinzessin entführt hat?“, fragte Salim weiter. Erneut schüttelte sie den Kopf und die Erleichterung im Raum verwandelte sich in Enttäuschung.

„Aber er war bei ihr?“ Salim ließ nicht locker. Naria nickte.

„Was hat sie dir gesagt? Irgendwas muss sie doch gesagt haben!“, wollte Aloysius wissen.

„Sie wollte nicht…“, brachte Naria langsam hervor. „Ein Mann…jung. Mehr..weiß ich nicht…woll­te nicht reden…auf keiner Seite…“

„Das ist jetzt wirklich genug.“ Entschlossen drehte Salim sich zu den anderen um. „Das Wichtigste hat sie gesagt, sie braucht Ruhe.“

Der König nickte. „Morgen sehen wir weiter“, entschied er und die drei verließen den Raum. Sie blieb allein mit Salim zurück.

„Ich - “, setzte sie an und wollte erklären,  dass sie es wirklich versucht hatte und wie Leid es ihr tat, nichts zur Rettung Ileannas beigetragen zu haben.

„Ist schon gut“, unterbrach sie Salim und drückte sie sanft und bestimmt zugleich nach hinten. Erst jetzt realisierte sie, dass sie auf einem Bett saß. War es ihres? „Ist schon gut, du hast getan, was du konntest. Jetzt ruh dich aus.“ Sie ließ sich in die weichen Kissen fallen und es umfing sie Schwärze.

Kapitel 13

 

„Was war das überhaupt für eine Schnapsidee, sie da alleine hinzuschicken?“ Naria wurde von Sa­lims aufgebrachter Stimme geweckt.

„Es war ihre eigene Idee!“, verteidigte sich Siras. Langsam öffnete Naria die Augen. Draußen schi­en es hell zu sein, doch die Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen, weshalb es in dem Raum relativ dunkel war. Sie befand sich in einem der Krankenzimmer. Ein paar Meter von ihrem Bett entfernt standen sich Siras und Salim, der den anderen böse anfunkelte, gegenüber und diskutierten leise.

„Natürlich war es ihre eigene Idee! Es ging immerhin um Prinzessin Ileanna! Sie hätte sich auch kopfüber vom Palastdach gestürzt, wenn sie der Meinung gewesen wäre, das könnte der Prinzessin irgendwie helfen!“ Ihr Hals fühlte sich schon viel besser an und der Hustenreiz bei jedem Atemzug war auch verschwunden.

„Irgendjemand musste gehen. Und sie ist Ileannas Wächterin, also lag es nahe - “ Die Kopfschmer­zen waren ebenfalls fast weg und sie konnte wieder relativ klar denken.

„WAS lag nahe?“, polterte Salim, senkte seine Stimme aber gleich darauf wieder.  „Sie einfach da reinstolpern zu lassen? In diese Eiseskälte, ohne Vorbereitung und Ausrüstung? Ohne irgendwen mit Erfahrung in Außeneinsätzen an ihrer Seite?“ Naria ballte ihre Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. Ihren Fingern schien es gut zu gehen, sie konnte sie noch alle spüren.

„Irgendjemand musste gehen“, wiederholte Siras beharrlich, aber ängstlicher als zuvor. Kein Wun­der, Salim war auch einen guten Kopf größer und um einiges breiter als der Berater, der sich nun mit der Hand nervös durch sein schütteres Haar fuhr. Um besser sehen zu können, richtete Naria sich vorsichtig etwas in ihrem Bett auf.

„Richtig“, Salims Stimme klang bedrohlich ruhig. „Irgendjemand. Musste. Gehen. Nicht: Naria musste völlig unvorbereitet alleine während eines verdammten Unwetters auf eine verdammt wich­tige Mission zur gefährlichsten Person des ganzen Reiches geschickt werden!“ Oh, ihre Rücken­schmerzen waren auch viel weniger geworden.

„Je weniger, desto besser. Das hat sie selbst gesagt.“ Siras Stimme zitterte leicht.

Salim holte tief Luft und Naria befürchtete, dass Siras gleich heulend aus dem Raum flüchten wür­de, wenn Salim geendet hatte, weshalb sie beschloss, einzugreifen. „Jetzt lass ihn doch mal in Ruhe, es ist ja nicht seine Schuld.“

Wächter und Berater fuhren herum. Mit großen Schritten durchquerte Salim den Raum und setzte sich vorsichtig auf ihre Bettkante.

„Wie geht es dir?“, fragte er und seine Wut war wie weggeblasen.

„Viel besser.“ Sie deutete ein Lächeln an. „Und du erschreckst wieder mal wehrlose Menschen?“ Sie blickte an ihm vorbei zu Siras und musste feststellen, dass dieser unbemerkt den Raum verlas­sen hatte. Vermutlich, um dem König zu berichten, dass sie aufgewacht war.

„Als du dich von mir verabschiedet hast, hatte ich keine Ahnung, dass du alleine gehen würdest und ohne jede Vorbereitung!“, schimpfte er. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Es musste schnell gehen“, verteidigte sie sich. „Und ich war vorbereitet.“

„Aber - “

„Und außerdem“, fiel sie ihm ins Wort „außerdem bin ich kein Kind mehr. Ich bin Wächterin und ob es dir passt oder nicht, ich habe nicht vor, meinen Schwur zu brechen, nur weil du dir Sorgen machst. Mach dir lieber Sorgen um Ileanna. Was gibt es Neues über sie?“

Salim seufzte tief und setzte zu einer Antwort an, als die Tür mit so viel Schwung geöffnet wurde, dass sie mit einem lauten Knall an die Wand schlug.

Yonah kam herein. „Wie geht’s dir?“ Er ließ sich neben Salim auf ihr Bett fallen.

„Super“, antwortete sie. „Siehst du das nicht?“

„Hm, ja, stimmt, du siehst nicht mehr ganz so scheiße aus wie gestern.“

„Oh, danke, sehr charmant.“

„Obwohl du immer noch recht blass bist. Aber dieser Leichenlook steht dir fantastisch.“ Naria blickte ihn an. Auch er war blasser als sonst. Seine sonst recht großen Augen waren klein und er hatte starke Augenringe. Die dunklen Haare standen wie sonst auch in alle Richtungen von seinem Kopf ab, nur sah es diesmal nicht kunstvoll zerzaust aus, sondern eher als wäre er gerade aus dem Bett gefallen.

„Nochmal danke. Aber du scheinst ihn ja auch übernommen zu haben.“ Yonah schenkte ihr ein mü­des Lächeln, erwiderte aber nichts. Naria fiel auf, dass auch Salim nicht besonders ausgeruht aus­sah. Sein Gesicht hatte zwar noch seine ursprüngliche Hautfarbe, doch es war leicht eingefallen und in seinen Augen fand sie nicht den wachen Blick, den sie sonst immer von ihm gewohnt war. „Und du wohl auch“, sagte sie zu ihm und stupste ihn in die Seite.

„Hm?“, machte er. Anscheinend war er mit seinen Gedanken woanders gewesen.

„Nicht so viel geschlafen in letzter Zeit, was?“, fragte Naria.

„Nicht direkt, nein“, antwortete Yonah. „Seit Ileanna weg ist, sind wir alle quasi nur noch auf den Beinen. Die Wachposten überall im Schloss und an den Stadtmauern wurden verstärkt, genau wie der Personenschutz auch. Alle sind immer einsatzbereit, aber getan hat sich bis jetzt noch nichts.“ „Wie geht es eigentlich Cobalt?“, fiel Naria da plötzlich ein. Sie hatte ihn tatsächlich ganz verges­sen! Den Blick, den Yonah und Salim sich zuwarfen, bemerkte sie.

„Was ist?“, fragte sie und setzte sich panisch auf. „Ist er – oh nein, er ist doch nicht – er kann doch nicht - “ Aufgeregt blickte sie zwischen den beiden anderen hin und her.

„Keine Sorge, er ist nicht tot“, beruhigte Salim sie. „Aber es geht ihm auch nicht besonders gut. Er ist noch nicht einmal wieder aufgewacht und wir können uns das nicht erklären. Da muss mehr da­hinterstecken als nur ein paar Schläge.“ Naria war gleichzeitig total erleichtert und zutiefst beunru­higt. Cobalt lebte, aber es ging ihm nicht gut. Und würde er auch überleben?

 

Die Tür ging auf und ein Diener trat ein. „Der König wünscht, euch im Thronsaal zu sprechen“, sagte er zu den dreien. „Sobald Naria noch einmal untersucht worden ist.“

„In Ordnung, danke Endrin“, erwiderte Salim und der Diener verließ den Raum. Naria stand auf und stakste mit unsicheren Schritten zur Waschschüssel in einer Ecke des geräumigen Zimmers, über der ein großer Spiegel angebracht war. Ganz verschwunden war ihre Erkältung natürlich noch nicht, sie fühlte sich leicht schwindelig,  spürte noch immer ein Kratzen im Hals und hatte leichte Kopf – und etwas stärkere Gliederschmerzen. Verglichen mit den Strapazen ihrer Reise ging es ihr aber gut. Der Arzt konnte wirklich Wunder vollbringen!

„Wie lange habe ich eigentlich geschlafen?“, fragte sie und bemerkte, dass sie nicht mehr die Sa­chen trug, in denen sie angekommen war, sondern ein weißes Leinenhemd sowie eine Hose in dem­selben Material.

„Gestern Nacht bist du hier angekommen“, antwortete Salim. „Jetzt ist es Nachmittag.“ Naria nickte und blickte in den Spiegel. Sie sah gar nicht gut aus. Eine große Schramme, die sie sich wohl im Wald geholt hatte, überzog ihre linke Gesichtshälfte von der Schläfe bis fast zum Kinn. Vorsichtig fasste sie sie an.

„Mach dir keine Gedanken, der Arzt sagt, die ist nur oberflächlich und wird vollständig abheilen“, verkündete Yonah, der ihr vom Bett aus zusah. Naria betrachtete ihr restliches Gesicht. Blasse, fast weiße Haut,  kleine, müde  Augen und dunkle Augenringe, wie bei Yonah. Trockene, rissige Lippen und völlig zerzauste und verknotete Haare. Sie wusch ihr Gesicht mit dem Wasser aus der Schüssel, ohne dabei auf die ziepende Wunde Rücksicht zu nehmen. Dann nahm sie sich die bereitliegende Bürste zur Hand und durchkämmte mit energischen Zügen ihre Haare, von denen sie sich viele da­bei ausriss. Anschließend machte sie sich ihren gewöhnlichen Knoten.

„Deine Kleidung liegt dahinten irgendwo“, sagte Yonah, der sich auf dem Bett ausgestreckt hatte, und machte eine vage Handbewegung in Narias Richtung. Salim ging derweil unruhig im Zimmer auf und ab. Naria drehte sich ein  paar Mal um sich selbst und fand ihre Montur schließlich auf ei­nem Hocker, der unter den davorstehenden Tisch geschoben war. Rasch zog sie sich an, ohne dabei auf die anderen beiden im Zimmer zu achten. Salim war ohnehin wieder nur körperlich anwesend, weil er über irgendetwas nachdachte und Yonah hatte die Augen geschlossen. Als sie fertig war, warf sie einen erneuten Blick in den Spiegel. Sie sah etwas wacher und besser zurechtgemacht aus, ansonsten war alles wie zuvor. Nicht unbedingt präsentabel, aber das musste jetzt reichen. Sie hatte keine Lust, auf den Arzt zu warten und beschloss deshalb, sich selbst auf den Weg zu ihm zu machen und dann direkt in den Thronsaal zu gehen.

„Ok, wir können.“ Sie ging zur Tür und blieb verdutzt stehen, als ihr niemand folgte.

„Hallo? Ich bin fertig, wir können los!“ Keine Reaktion. Sie ging zum Tisch, nahm die Haarbürste, die sie darauf abgelegt hatte und warf sie in Richtung Bett. Sie traf Yonah auf der Brust. Augen­blicklich fuhr er hoch und drehte den Kopf verwirrt in alle Richtungen. Dann blickte er von Naria zu der Bürste neben ihm und wieder zurück zu Naria.

„Ich wünschte, du würdest das mal sein lassen.“ Er warf ihr die Bürste zu und sie legte sie wieder auf den Tisch.

„Und ich wünschte, wir würden jetzt gehen“, konterte sie und er stand seufzend auf.

„Was ist los?“, fragte Salim, der durch den Tumult aus seinen Gedanken geschreckt war.

„Wir gehen“, informierte ihn Naria und marschierte den anderen beiden voran zur Tür.

Sie fanden den Arzt in seinem Behandlungsraum. Er mixte gerade irgendetwas zusammen, was Na­ria unangenehmerweise an ihren Besuch bei Salaara erinnerte. Nachdem er sie kurz untersucht und ihr noch diese und jene Medizin gegeben hatte, verließen ihn die drei Wächter wieder und machten sich auf den Weg zum Thronsaal, wo sie schon von vielen Leuten erwartet wurden.

 

Kapitel 14

 

Im Thronsaal herrschte ein reges Treiben. Nicht nur König und Königin, die sich gerade eindring­lich mit Aloysius unterhielten, sondern auch Siara, deren Fuß offenbar wieder verheilt war, Melva und sogar Liviane waren da. Die drei saßen etwas abseits auf den Steinstufen, die sich um den gan­zen Thronsaal zogen und sprachen ebenfalls miteinander. Auch Fürst Nor war da, was Naria aller­dings nicht weiter verwunderte, denn immerhin war seine Verlobte entführt worden. Er stand neben Siras, der wild gestikulierend auf ihn einredete, in der Nähe der beiden Throne.  Sehr viele Wächter waren überall im Saal verteilt, redeten leise miteinander oder hatten nur ein wachsames Auge auf das Geschehen. Beagor, Domek und Levent waren unter ihnen. Zwei andere Berater waren über eine große Karte gebeugt, die auf einem Tisch lag, und diskutierten miteinander.

Als der König Naria, Salim und Yonah entdeckte, unterbrach er sein Gespräch und kam auf sie zu. Auch die anderen verstummten.

„Naria!“, begrüßte König Arik sie. „Es ist schön zu sehen, dass es dir besser geht.“ Naria deutete eine höfliche Verbeugung an.

„Danke, dass du so schnell wieder hier erscheinst, aber du bist dir ja auch darüber im Klaren, dass es ungemein wichtig ist.“

„Natürlich, mein König“, antwortete Naria. König Arik gab sich alle Mühe, doch sie konnte in sei­nem Gesicht ablesen, wie besorgt und aufgewühlt er in Wirklichkeit war. Er war gut darin, in jeder Situation Ruhe zu bewahren und sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen, wie sich jetzt einmal mehr zeigte. Auch die Königin bewahrte die Fassung, auch wenn man sehen konnte, dass sie geweint hatte. Siara dagegen saß wie ein Häufchen Elend auf den Stufen zwischen ihrer Schwester und ihrer Großmutter, die ebenfalls beide sehr mitgenommen aussahen, aber sie alle lä­chelten ihr freundlich zu.

„Würdest du bitte nun ausführlich berichten, was sich auf deiner Reise zugetragen hat und was du bei deinem Besuch bei Salaara erfahren hast?“, wandte sich der König wieder an Naria. Sie kam der Aufforderung nach und erzählte kurz von ihrem Weg zu Salaara. Dann wiederholte sie, was sie in der letzten Nacht schon gesagt hatte.

„Salaara hat sich nicht gegen das Königshaus gestellt und sie ist auch mit niemandem verbündet. Während meines Aufenthaltes bei mir hat sie immer wieder betont, wie egal ihr die Menschen und deren Schicksale sind. Aber sie hat tatsächlich den Verwandlungszauber verkauft. Die Bezahlung dafür war – naja, sagen wir ungewöhnlich. Nichts, was ich ihr hätte geben können.“ Naria sah Ver­stehen in den Augen des Königs aufblitzen, aber er verzog keine Miene. Melva, Siara und einige an­dere dagegen schauten sehr angewidert drein. Darauf, dass Salaara wie erhofft doch keine Gegnerin des Königshauses war, reagierte niemand, da Naria diese Angaben ja schon in der Nacht zuvor ge­macht hatte.

„Ich habe sie nach der Identität des Käufers gefragt, doch die wollte sie nicht preisgeben. Aus den gegebenen Umständen konnte ich nur ableiten, dass er ein recht junger Mann ist, offenbar gut aus­sehend und sehr von sich selbst überzeugt. Ich habe ihr Geld angeboten, Ländereien, Besitz, aber sie wollte es mir nicht sagen. Stattdessen hat sie sich über die Arroganz des Käufers ausgelassen, die offenbar durch eine große Narbe an seinem rechten Bein - “

Ein erschrecktes Keuchen ließ sie innehalten. Sie sah sich nach dessen Urheber um und ihr Blick blieb an Aloysius hängen, der sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Naria runzelte die Stirn. „Aloysius?“, fragte der König „Gibt es etwas, das ich wissen sollte?“ Aloysius Blick flackerte zwi­schen Naria und König Arik hin und her und blieb schließlich am König hängen.

„Verzeihung, König Arik“, stotterte er. „Ich dachte nur gerade – als sie das mit der - “ Der Berater atmete tief durch. „Mein Sohn hat eine solche Narbe. Und er trifft auf die Beschreibung zu.“ Es war totenstill im Saal und alle Blicke richteten sich auf Levent, der kreidebleich wurde und völlig fas­sungslos aussah.

 

„Um Himmels Willen, doch nicht Levent!“, rief Aloysius aus, als er die Situation bemerkte. „Ich rede von Crenn, meinem ältesten Sohn.“ Die Aufmerksamkeit der Anwesenden richtete sich wieder auf Aloysius. Dieser fasste sich ans Herz, strauchelte und wurde von Levent, der seinem Vater zu Hilfe geeilt war, auf einen Stuhl bugsiert. Einige Zeit sprach niemand. Das Gesagte musste erst ein­mal verarbeitet werden. Fürst Nor war es schließlich, der das Schweigen brach.

„Viele junge Männer haben eine Narbe am Bein“, sagte er. „Das muss gar nichts heißen.“ Aloysius nickte schwach.

„Natürlich muss es das nicht“, stimmte Siras zu. „Ein junger Mann mit einer Narbe am Bein, das ist doch nur eine sehr vage Beschreibung.“ Viele im Saal nickten jetzt zustimmend. Doch Naria wurde das Gefühl nicht los, dass mehr hinter Aloysius‘ Verhalten steckte und sie konnte Salim ansehen, dass es ihm ähnlich ging. Auch der König war offenbar nicht ganz von Siras‘ und Nors Argumenta­tion überzeugt.

„Aloysius, wie kommt ihr auf die Idee, dass es ausgerechnet Crenn sein könnte? Nur wegen der Narbe?“ Der Berater schüttelte den Kopf.

„Nein“, sagte er. „Es ist nicht nur die Narbe. Die Beschreibung, die Naria gegeben hat, passt exakt auf Crenn. Von sich selbst überzeugt, man könnte manchmal vielleicht auch arrogant sagen. Die Narbe hat er sich als Jugendlicher bei einem Reitunfall zugezogen und das hat ihm ziemlich zuge­setzt. Danach war er nie wieder ganz derselbe. Er hat nie gelernt, mit dieser Verletzung umzugehen , es nagt noch immer sehr an seinem Stolz. Und in letzter Zeit..ich weiß nicht, er kam mir verändert vor. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht, aber er war oft abweisend mit der Erklärung, dass er sehr beschäftigt sei. Das hat mich etwas gewundert, denn wir haben uns immer gut verstanden und über viel geredet. Doch seit einigen Wochen habe ich tatsächlich nichts mehr von ihm gehört. Du etwa?“, fragte er seinen jüngsten Sohn, der nur stumm den Kopf schüttelte. „Nun“, stellte der König schließlich fest. „Das ist ein ernst zu nehmender Vorwurf, gerade aus dem Mund eines Vaters und wir müssen uns unbedingt eingehender damit beschäftigen. Aber wir sollten auch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Das Gesagte wird vorerst nicht nach außen getragen und wir werden uns über das weitere Vorgehen Gedanken machen.“ Naria bewunderte die Professionalität des Königs, doch sie bezweifelte, dass das eben Geschehene lange geheim bleiben würde. Dafür waren einfach zu viele Menschen anwesend gewesen. Irgendwer würde es sicher seiner Frau, einem  Freund oder den El­tern erzählen, natürlich mit der Aufforderung zur Verschwiegenheit, doch das würde wenig bringen. Einmal einem Außenstehenden erzählt, würde sich eine solche Nachricht schnell verbreiten.

Bevor der König weitersprechen konnte, meldete sich Melva zu Wort.

„Wie soll Crenn überhaupt so viel über uns alle hier wissen?“, fragte sie in die Runde und blickte sich um. „Soweit ich weiß, war er doch nur zu ein paar offiziellen Anlässen hier und dann auch nur im Ballsaal, in den Besprechungsräumen und so weiter.“ Naria fand diesen Einfall für Melva er­staunlich geistreich. Sie selbst hatte gerade auch darüber nachgedacht, war aber zu einem  ähnlichen Ergebnis gekommen wie die Prinzessin. Melva hatte Crenn bei einigen Veranstaltungen im Palast und auch außerhalb getroffen und konnte sich wie viele andere auch nicht vorstellen, dass er es sein sollte, der ihrer Schwester etwas angetan hatte.

„Das ist eine gute Frage“, antwortete der König.

„Ich habe mit ihm nie über interne Dinge gesprochen“, versicherte Aloysius schnell. „Abgesehen davon weiß ich ja selber nicht viel über die Einteilung der Wachdienste oder die privaten Räumlich­keiten.“ König Arik nickte langsam und strich sich nachdenklich über das Gesicht. Siras und Nor hatten sich zu den ihnen gesellt und auch die anderen beiden Berater, deren Namen Naria einfach nicht einfallen wollten, hatten sich von ihrer Karte entfernt und standen nun ebenfalls um Aloysius herum. Als Naria in die Runde blickte, bemerkte sie, dass Levent, der immer noch in der Nähe sei­nes Vaters befand, noch blasser wirkte als einige Minuten zuvor. Seine Augen huschten unruhig durch den Saal, er biss sich auf die Unterlippe und trat von einem Fuß auf den anderen. Irgendetwas stimmte da nicht, das spürte Naria. Unauffällig stieß sie Salim an und deutete in Levents Richtung. Er nickte ihr zu, auch ihm kam das Verhalten des jungen Wächters auffällig vor. Salim ging auf ihn zu.

„Levent?“, fragte er. „Gibt es etwas, das du uns sagen möchtest?“

König Arik und die anderen unterbrachen ihre Unterhaltung und drehten sich zu ihnen um. „Levent?“, fragte nun auch Aloysius und blickte seinen Sohn auffordernd an. Eine Weile geschah gar nichts, doch dann brach es schließlich aus Levent hervor.

„Ich war es! Ich habe Crenn die Informationen gegeben! Aber ich wollte das nicht, ehrlich nicht! Ich wusste doch nicht, dass er – ich habe nicht gedacht, dass er -“ Er stockte und vergrub das Ge­sicht in den Händen. Keiner der Anwesenden wagte es, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Kö­nig Arik hatte die ganze Zeit über ruhig zugehört. Nichts an ihm verriet etwas über seinen Gemüts­zustand und als er sprach, war seine Stimme sehr beherrscht.

„Ich denke, wir sollten unser Gespräch nicht hier fortsetzen“, entschied er. Auf seine Aufforderung hin verließen Aloysius, Levent, Siras und die anderen beiden Berater den Saal. Der König selbst und einige Wächter folgten. Schweigend beobachteten Naria und die anderen das Ganze. Das laute Geräusch der hinter ihnen zufallenden Tür ließ sie alle zusammenzucken. Gleich darauf brach der Tumult los. Siara stürzte schluchzend aus dem Saal und schlug die Tür hinter sich zu. Yonah und Salim, der momentan Cobalt ersetze, beeilten sich, ihr  zu folgen. Melva redete aufgebracht auf ihre Mutter, ihre Großmutter und Fürst Nor ein, der ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter legte. Und auch die Wächter, die sonst immer still und zurückhaltend auftraten, unterhielten sich eindring­lich miteinander. Das Crenn, ein allseits geachteter Mann und noch dazu der Sohn des ersten könig­lichen Beraters, anscheinend die Kronprinzessin entführt hatte, war ja gerade noch zu verkraften. Aber dass Levent, der ja zu ihnen gehörte, in welcher Form auch immer daran beteiligt war, übertraf alles bisher Geschehene. Was hatte er getan? Was würde nun geschehen?

 

Da Yonah und Salim mit Siara den Saal verlassen hatten, war Naria alleine zurückgeblieben. Sie hatte keine Lust, sich den Diskussionen der anderen anzuschließen und deshalb trat auch sie nach draußen auf den Gang. Da sie ihren Dienst als Wächterin aus Krankheitsgründen noch nicht wieder angetreten hatte, musste sie nirgendwo sein und hatte auch niemanden zu beaufsichtigen. Der Gang war bis auf die beiden Wachposten vor der Tür, die ebenfalls miteinander über das eben Geschehene sprachen, vollkommen leer. Naria nickte ihnen zu und lief dann in Richtung der großen Halle, ohne wirklich zu wissen, wo sie nun hinwollte. In der Halle angekommen, die ebenfalls verlassen war, blieb sie erst einmal stehen und dachte nach. Was nun? Sie könnte Siara, Salim und Yonah suchen, aber die Prinzessin wollte vermutlich lieber erst einmal ihre Ruhe haben. Liviane war noch im Thronsaal, zu ihr konnte sie also auch nicht gehen. Alleine im Palastgarten umherwandern erschien Naria ebenso wenig reizvoll wie sich in ihr Zimmer zu setzen und abzuwarten. Fast alle anderen Wächter waren entweder bei der Besprechung, im Thronsaal, an der Stadtmauer oder eben bei Sia­ra, also konnte sie sich auch mit keinem von ihnen die Zeit vertreiben. Obwohl…ein Wächter war nicht im Einsatz. Wieso war sie da nicht früher draufgekommen? Über ihre eigene Vergesslichkeit erstaunt schlug Naria den Weg zu den Unterkünften der Wächter ein. Von Yonah wusste sie, dass Cobalt nach wie vor in seinem eigenen und nicht in einem der Krankenzimmer lag. Vor seiner Tür blieb sie stehen und lauschte, doch kein Geräusch war von drinnen zu hören. Aber wer hätte jetzt auch bei ihm sein sollen? Es waren ja alle beschäftigt.

Naria öffnete die Tür und trat ein. In Cobalts Zimmer, welches mit ihrem fast identisch war, war es relativ hell, denn die Vorhänge waren zurückgezogen und die Abendsonne schien herein. Cobalt lag im Bett und regte sich nicht. Beim Nähertreten hielt Naria unwillkürlich den Atem an. Als sie sein Gesicht aus kurzer Entfernung betrachtete, fiel ihr seine ungewöhnlich blasse Hautfarbe auf, die ihn beinahe tot wirken ließ. Naria schauderte und musste an Yonahs Kommentar zu ihrem Aussehen vor ein paar Stunden denken. Sie betrachtete Cobalt und ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie schluckte ein paar Mal und versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die ihr bei seinem Anblick in die Augen gestiegen waren.

„Bitte, werd wieder gesund!“, flehte sie im Stillen, setzte sich auf den Rand des Bettes und griff nach seiner Hand, die neben der Bettkante hing. Sie war eiskalt und Naria nahm sie zwischen ihre eigenen Hände, die viel kleiner waren. Seine Hand, die sie schon an so vielen Stellen berührt hatte, wirkte nun wie tot. Tränen liefen ihr über das Gesicht, doch sie kümmerte sich nicht darum. Wie gerne wäre sie jetzt von ihm mit irgendwelchen Anzüglichkeiten genervt werden, anstatt ihn so da liegen zu sehen. Naria fühlte sich völlig machtlos und das machte sie wahnsinnig. Sie konnte nichts für ihn tun, nur hoffen, hoffen, hoffen. Als sich die Tür hinter ihr vorsichtig öffnete, drehte sie sich nicht um. Sie konnte sich auch so denken, wer das war. Yonah trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern. Siara setzte sich neben sie auf die Bettkante. Naria hörte, dass auch Salim im Raum war und irgendwo hinter ihr stand. Niemand durchbrach die Stille, die in dem kleinen Raum herrschte. Naria schaute zu Siara herüber. Es war nicht zu übersehen, dass sie geweint hatte. Ihre Augen waren rot und man konnte Tränenspuren auf ihrer Wange erkennen. Naria war darüber nicht verwundert, denn auch Siara musste sich große Sorgen um Cobalt machen. Sie blickte zu Yonah auf. Auch seine Augen waren feucht und er starrte stur auf die weiße Wand hinter Cobalts Bett. Yo­nah und Cobalt waren zusammen aufgewachsen und quasi seit ihrem ersten Atemzug beste Freunde. Sie kamen aus demselben Dorf, hatten sich im selben Jahr für die Akademie qualifiziert, waren dort immer im selben Zimmer gewesen und bewachten nun dieselbe Person. Die beiden gehörten ein­fach zusammen, das hatte Naria sofort bemerkt, als sie die beiden während ihrer Ausbildung ken­nengelernt hatte. Naria stand auf und drehte sich zu Yonah um.

„Wie lange ist er schon so?“, fragte sie leise und war froh, dass ihre Stimme mitspielte.

„Seit du weg bist“, antwortete Yonah und klang dabei so traurig, dass Naria beide Arme um ihn schlang und ihn fest an sich drückte. Er erwiderte die Umarmung und legte sein Kinn auf ihren Kopf, was ihm wegen seiner Größe locker gelang.

„Der Arzt weiß nicht mehr weiter“, erklärte er mit brüchiger Stimme. „Er sagt, er hat so etwas noch nie gesehen. Naria, er kann nichts mehr tun!“ Am Ende versagte seine Stimme und er brachte nur noch ein Flüstern zustande. Siara neben ihnen schluchzte auf.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Yonah bei ihr.

„Nein, ist schon ok. Es ist nur…wenn ich ihn so sehe - ich kann einfach  nicht glauben dass er ver­mutlich nie wieder aufwacht.“ Weinend vergrub sie das Gesicht in den Händen und wandte sich ab. Yonah löste sich von Naria und hockte sich neben sie.

„Ich weiß“, murmelte er leise und nahm sie in den Arm. „Ich weiß.“  Beruhigend strich er ihr übers Haar. Diese Geste drückte so viel Vertrauen zwischen Wächter und seinem Schützling aus, dass Na­ria an Ileanna erinnert wurde. Ihr wurde schwer ums Herz und um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen, verließ sie leise den Raum. Salim folgte ihr und sie ließen die drei alleine zurück.

Kapitel 15

 

Draußen auf dem Gang lehnte Naria sich an die steinerne Wand und atmete zur Beruhigung mehrere Male tief durch. Salim blickte sie mitfühlend von der Seite an, sagte aber nichts. Als sie sich einige Minuten später wieder etwas besser fühlte, wandte sie sich ihm zu.

„Weißt du“, begann sie, „ich hoffe so sehr, dass Crenn sie entführt hat. Natürlich hoffe ich für Aloy­sius und Levent irgendwie auch das Gegenteil, aber wenn Crenn sie hätte, dann wüssten wir we­nigstens wo wir ansetzen können. Wenn nicht…“

„Wenn nicht stehen wir wieder ohne jeden Plan da, ich weiß“, beendete Salim ihren Satz.

„Ich meine das wirklich nicht böse und ich will auch nicht unverschämt sein“, versicherte Naria schnell.

„Ich verstehe das schon, mir geht es doch genauso“, beruhigte er sie. „Du musst dir deshalb keine Vorwürfe machen.“

„Und jetzt?“, fragte Naria.

Wie aufs Stichwort bog in derselben Sekunde Melva um die Ecke und kam, Beagor und Domek im Schlepptau, auf Naria und Salim zu.

„Hab ich mir doch gedacht, dass ihr hier seid“, sagte sie im Näherkommen. Dass Melva sich in der letzten Zeit verändert hatte, war unverkennbar. Ihre Kleidung und ihr Make-up waren weit weniger aufwendig als noch vor ein paar Tagen, bevor Ileanna entführt worden war. Auch der Übermut und die kindliche Leichtigkeit waren aus ihrer Stimme und ihrer Art verschwunden. In einer anderen Si­tuation hätte Königin Maidred diese jüngste Entwicklung ihrer jüngsten Tochter sicherlich begrüßt, doch Naria bezweifelte, dass ihr das jetzt überhaupt aufgefallen war.

„Ist meine Schwester da drin?“, fragte Melva und deutete auf die Tür zu Cobalts Zimmer. Naria nickte. Melva klopfte an und trat dann ein.

„Wir sollen wieder in den Thronsaal kommen“, erklärte Domek Salim und ihr. „Offenbar sind sie mit ihrer Besprechung fertig.“

Naria richtete sich auf. „Wisst ihr schon was?“, fragte sie.

Beagor schüttelte den Kopf. „Wir haben den König und die anderen nur kurz getroffen. Aber Aloy­sius und Levent haben gar nicht glücklich ausgesehen. Es scheint wirklich irgendwie mit diesem Crenn zusammenzuhängen.“

„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Levent etwas damit zu tun hat“, ließ Domek nun verlau­ten. „Ich meine, okay, er ist vielleicht nicht der Hellste von uns, aber er ist dem König treu er­geben. Ich hätte ihm so etwas nie zugetraut.“

Naria war sich nicht ganz sicher, glaubte aber zu wissen, dass Levent und Domek im selben Jahr­gang auf der Akademie gewesen waren. Oder Levent war ein Jahr vor Domek aufgenommen wor­den, mehr Abstand war zwischen ihnen aber nicht.

„Ich glaube nicht, dass Levent vorsätzlich so etwas getan hat“, merkte Salim an. „Aber ansonsten…“ Naria verstand, was ihr Partner mit diesem Zusatz gemeint hatte. Auch sie war sich si­cher, dass Levent keinen absichtlichen Schaden angerichtet hatte. Was er alles unabsichtlich getan habe konnte, war allerdings eine andere Frage. Melva kam mit Siara wieder aus Cobalts Zimmer heraus. Sie hatte einen Arm um ihre ältere Schwester gelegt, die sich wieder einigermaßen beruhigt zu haben schien. Yonah folgte den beiden trübsinnig dreinblickend. Naria gesellte sich zu ihm und stupste ihm aufmunternd in die Seite. Er schenkte ihr ein trauriges Lächeln. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Thronsaal.

 

Die Stimmung dort war mehr als niedergeschlagen. Levent hockte, umgeben von zwei Wächtern in seinem Alter, in sich zusammengesunken auf einer der Stufen. Aloysius versuchte, so gut er konnte die Fassung zu bewahren, doch man konnte unschwer erkennen, wie aufgewühlt er war. Königin Maidred und Liviane saßen Seite an Seite auf zwei Stühlen an dem Tisch, auf dem noch immer die Karte ausgebreitet war, der nun aber niemand mehr Beachtung schenkte. Der König unterhielt sich angespannt mit Fürst Nor, welcher ein recht betroffenes Gesicht machte. Die restlichen Wächter standen schweigend in der Gegend rum und von den anderen drei Beratern war keine Spur zu se­hen. Siara und Melva gesellten sich zu ihrem Vater, der daraufhin sein Gespräch mit dem jungen Fürsten unterbrach und sich den Neuankömmlingen zuwandte.

„Es hat sich eine neue Situation ergeben“, begann er ohne einleitende Worte. „Wir können nun da­von ausgehen, dass es sich bei dem Entführer um Crenn handelt.“

Für ihr erleichtertes Aufatmen schämte sich Naria sofort, als sie in Levents und Alyosius' niederge­schlagene Gesichter blickte.

„Offenbar wurde er durch Briefe über die Ereignisse hier um Palast unterrichtet, allerdings ohne jede schlechte Absicht.“ Naria rechnete es dem König hoch an, dass er Levents Namen nicht er­wähnte. Abgesehen davon wusste aber sowieso jeder der Anwesenden, dass es sich bei dem Verfas­ser der Briefe um Levent handeln musste. Wieso hatte er in Kontakt mit seinem Bruder gestanden? Naria war bekannt, dass das Verhältnis zwischen Levent und dem Rest seiner Familie nicht beson­ders herzlich war. Dass Levent seinem Bruder in Briefen vom Leben im Schloss berichtet haben sollte, wunderte sie sehr.

„Nachdem wir uns eingehend beraten haben, glauben wir nun zu wissen, wo Crenn Prinzessin Ileanna versteckt halten könnte.“ König Arik machte ein paar Schritte auf die ausgebreitete Karte zu. Aloysius ergriff das Wort. Seine Stimme zitterte leicht, doch ansonsten hatte er sich recht gut unter Kontrolle.

„Ich habe einen kleinen Landsitz hier in der Nähe“, sagte er und deutete auf eine Stelle auf der Kar­te, die den Palast und seine Umgebung zeigte. Naria schätzte, dass man für den Weg vom Palast zu der von Aloysius angegebenen Stelle lediglich einige Stunden brauchen würde. „Das Haus war von mir so gut wie ungenutzt. Früher sind wir oft im Sommer mit den Kindern dagewesen. Vor ein paar Jahren bat mich Crenn darum, den Landsitz übernehmen zu dürfen. Ich fand, das sei eine gute Idee, da ich keine Zeit mehr hatte, mich um dessen Instandhaltung zu kümmern, ich ihn aber auch nur un­gern verkaufen wollte.“

Naria fiel auf, dass sie nichts über Aloysius‘ Frau, also die Mutter von Levent und seinen Brüdern wusste. Aloysius hatte sie nie erwähnt und Naria hatte sie auch noch nicht auf einem Fest oder ähn­lichem getroffen. Lebte sie vielleicht überhaupt nicht mehr? Oder nur zurückgezogen? Waren sie und Aloysius getrennt? Bei all seinen Prahlereien hatte Levent nicht einen Ton über seine Mutter gesagt.

„Wieso können wir davon ausgehen, dass Crenn sich ausgerechnet dort versteckt hält?“, fragte Sa­lim. „Er könnte doch genauso gut irgendwo anders sein.“

„Ich schätze die Wahrscheinlichkeit dafür, dass er dort ist, sehr hoch ein“, antwortete der Aloysius. „Crenn hat noch ein Haus in der Stadt, aber da wird er sie wohl kaum hingebracht haben. Die Ge­fahr, dass sie gesehen wird oder auf sich aufmerksam machen kann, wäre wohl viel zu hoch. Dieses Haus steht mehr oder weniger mitten im Wald und in unmittelbarer Nähe leben keine anderen Men­schen. Er könnte auch in einem meiner Häuser sein, aber das würde er auch eher nicht riskieren, da ich immer Personal in jedem meiner Häuser beschäftigt habe.“

„Ein paar Angestellte sind wohl kein großes Hindernis für jemanden, der die Kronprinzessin aus ei­nem rundum bewachten Palast entführt hat“, ging es Naria durch den Kopf, doch sie behielt ihre Gedanken für sich. Die Erklärung von Aloysius erschien ihr plausibel und am liebsten wäre sie so­fort aufgebrochen, um nach Ileanna zu suchen.

 

„Gut, dann ist es beschlossen“, riss sie die Stimme des Königs aus ihren Gedanken. „Ileanna wird dort gesucht und zwar möglichst sofort.“ Er drehte sich zu Salim um und blickte ihn an. „Natürlich“, beantwortete dieser ohne zu zögern die unausgesprochene Frage.

„Aloysius wird auch mitkommen“, erklärte der König. „Und Levent auch. Falls es möglich ist, mit Crenn zu reden, wird er es versuchen.“

Aloysius nickte knapp, Levent blickte lediglich kurz auf. Der König wählte noch zwei andere Wächter aus, die Salim und die anderen begleiten würden.

„Ich möchte auch mitkommen“, sagte Naria entschieden, als er keine Anstalten machte, sie eben­falls mitzuschicken. Der König blickte sie an und Naria konnte seine Miene nicht deuten. Dann richtete er seinen Blick auf Salim, der neben Naria getreten war und dem König mit einem Kopfni­cken sein Einverständnis gab. „In Ordnung“, stimmte König Arik zu. „Siras ist gerade dabei, euren Aufbruch vorzubereiten. Ihr solltet möglichst bald losziehen, dann seid ihr unter Umständen noch vor Tagesanbruch dort. Salim trägt die Verantwortung für den Einsatz.“ Die anderen nickten stumm. Auch ohne die Klarstellung des Königs wären sie davon ausgegangen, dass Salim die Gruppe  lei­ten würde. Zum Einen hatte er die meiste Erfahrung, sowohl als Wächter als auch Außeneinsätze betreffend, zum Anderen war er der Ranghöchste unter den Wächtern. Gemeinsam mit dem König kümmerte er sich um ihre Aufteilung und wenn es etwas mit dem König zu besprechen gab, war das im Allgemeinen seine Aufgabe. Die beiden anderen Wächter, die außer Levent und Naria noch mit­kommen würden, waren ungefähr in Salims Alter. Kallan war ein guter Freund von ihm. Die beiden waren im selben Jahrgang auf der Akademie gewesen. Parvel war wenige Jahre älter und das Ober­haupt all jener Wächter, die nicht zu den Personenschützern, sondern zur Palast – und Stadtwache gehörten. Naria konnte ihn gut leiden, auch wenn er manchmal etwas ruppig wirkte, was dem Um­stand geschuldet war, dass er immer nur das Nötigste sprach. Der König verabschiedete die Gruppe mit der Anweisung, sich zum Aufbruch bereitzumachen und sie dann in der großen Halle einzufin­den, alles Weitere würde Siras ihnen erklären.

 

Als Naria sich einige Minuten später in der Eingangshalle einfand, waren Aloysius, Levent und Kallan schon dort. Auch Siras wartete schon auf sie. Kurz darauf betraten erst Salim, aus Richtung der Besprechungsräume, und dann Parvel, der von draußen hereinkam, den Saal.

„Ich habe euch zwei Kutschen vorbereitet.“ ergriff Siras das Wort. „Ihr werdet die Nacht durchfah­ren und dann am frühen Morgen beim Landsitz eintreffen. So könnt ihr euch noch ein wenig ausru­hen und euch einen genaueren Plan zurechtlegen.“ Anschließend verabschiedete er sich von ihnen und stieg die steinerne Treppe hinauf. Bis auf die sechs und zwei Wachposten zu beiden Seiten des Eingangsportals war die Halle nun menschenleer. Sie wandten sich gerade zum Gehen, da ertönten hinter ihnen eilige Schritte. Es war Siara, die ihnen nachgeeilt kam, zwei Wächter  folgten ihr in ge­messenem Abstand, doch Yonah war nicht dabei.

„Ich wollte mich nur noch schnell von euch verabschieden“, verkündete Siara, als sie nah genug da­für war. „Viel Glück und kommt alle gesund wieder! Und bitte, bringt Ileanna zurück!“

„Wir werden alles dafür tun“, versprach Salim und ohne ein weiteres Wort verschwand Siara wie­der. Verwundert hatte Naria registriert, dass der Blick der jungen Prinzessin die ganze Zeit über auf Levent geruht hatte. Naria konnte sich keinen Reim darauf machen. Gab die Prinzessin dem jungen Wächter die Schuld am verschwinden ihrer Schwester?

 

Durch die kleine Tür neben dem Eingangsportal traten die sechs schließlich hinaus in die Dämme­rung. Es war ziemlich kalt, doch weder regnete noch stürmte es, wofür Naria mehr als dankbar war. Am Fuße der imposanten Treppe standen schon die beiden Kutschen samt Kutscher bereit. Die Kut­schen waren schwarz, unauffällig und relativ klein, sodass sie für höchstens fünf Personen Platz bo­ten. Das Siegel des Königs war auf die Türen gemalt und jeweils zwei Pferde waren vor den beiden Kutschen angespannt. Naria bestieg mit Salim und Aloysius die erste, Kallan, Parvel und der be­dröppelte Levent die zweite Kutsche. So war in jeder Kutsche jemand, der sich in dem Landsitz gut auskannte und die wichtigsten Sachen schon einmal erklären oder gegebenenfalls Fragen zum Auf­bau des Hauses beantworten konnte. Sobald alle eingestiegen waren, setzten die Kutschen sich in Bewegung. Salim und Naria saßen entgegen der Fahrtrichtung nebeneinander, Aloysius saß ihnen auf der anderen Bank gegenüber. Der Berater sah gar nicht gut aus. Seine Augen waren eingefallen und die Stirn in tiefe Falten gelegt. Er tat Naria leid. Sie mochte und respektierte ihn. Dass sein äl­tester Sohn das Königshaus verraten zu haben schien, traf ihn schwer und Naria wünschte, sie könn­te etwas für ihn tun. Sie hatte keine Ahnung, inwiefern Levent in die Pläne seines Bruders, welcher Art diese auch immer sein mochten, eingeweiht gewesen war. Ihrer Vermutung nach hatte er aber nichts davon gewusst, denn er hatte vom König bis jetzt keinen Strafe erhalten und war auf freiem Fuß. Eine Weile fuhren sie schweigend durch die Nacht und Naria blickte nach draußen, wo sche­menhaft die vorbeiziehenden Bäume erkennbar waren. Einen Tag zuvor war sie genau diese Straße entlang geritten, als sie von Salaara zurückgekehrt war. Es kam ihr vor, als sei seitdem eine Ewig­keit vergangen. Ihre Gedanken schweiften zu Ileanna und dem, was auch immer in ein paar Stunden geschehen würde und sie versuchte, nicht daran zu denken, was sie möglicherweise bei Crenns Landsitz erwartete.

 

„Wie konnte es nur so weit kommen?“, fragte da Aloysius in die Stille hinein. Salim und Naria blickten ihn an, antworteten aber nicht. „Was habe ich nur falsch gemacht, dass meine Söhne mir dermaßen entglitten sind?“ Gedankenverloren starrte er aus dem Fenster. „Was hätte ich denn an­ders machen müssen? Wie hätte ich es verhindern können?“

„Deine Söhne sind alle erwachsen und treffen eigene Entscheidungen“, sagte Salim sanft. „Du kannst nicht ihr Leben lang die Verantwortung für ihre Taten übernehmen.“

Aloysius schauten den Wächter an und Verzweiflung lag in seinem Blick. „Aber es ist meine Schuld“, beharrte er. „Wenn ich Levent von Anfang an herzlicher behandelt hätte, wenn ich ihn mehr wahrgenommen hätte, dann wäre es nicht soweit gekommen, dann hätte er seinem Bruder nicht die ganzen Informationen gegeben.“

„Wieso hat er es denn getan?“, fragte Naria.

Aloysius seufzte. „Crenn hat ihm Beachtung geschenkt“, antwortete er dann. „Und Levent war so froh darüber, endlich einmal von jemandem aus seiner Familie richtig wahrgenommen zu werden, dass er nicht weiter nachgedacht hat. Er hat mir die Briefe seines Bruders gezeigt. Sie sind sehr freundlich und aufmerksam und die ganzen Fragen sind sehr geschickt gestellt, sodass Levent kei­nen Verdacht geschöpft hat. Wenn ich mich doch nur mehr mit dem Jungen beschäftigt hätte!“ „Trotzdem trifft dich keine Schuld“, erwiderte Salim ruhig und blickte seinen alten Freund mitleidig an. „Wenn er es über Levent nicht geschafft hätte, hätte Crenn eine andere Möglichkeit gefunden, die betreffenden Informationen  zu erhalten. Irgendeine undichte Stelle gibt es immer.“

Aloysius nickte schwach, war aber nicht überzeugt. „Wie soll es jetzt nur weitergehen?“, fragte er, jedoch mehr an sich selbst gerichtet als an Naria und Salim. „Wenn meine Frau noch leben würde, wüsste sie sicher eine Lösung. Sie konnte besser mit den Jungen umgehen als ich, das war schon immer so. Levent hat sie geradezu vergöttert.“

„Also ist sie doch tot“, schoss es Naria durch den Kopf und Mitleid für Levent überkam sie. „Le­vent war ja noch so jung, als seine Mutter starb, erst acht Jahre alt“, sprach Aloysius weiter. „Seine Brüder waren um einiges älter und haben den Verlust weit besser verkraftet.“

 

Während die Kutsche weiter durch dir Nacht fuhr, erklärte Aloysius Naria und Salim die wichtigs­ten Fakten über den Landsitz.

„Der Stall ist sehr geräumig, ein ganzes Stück vom Haupthaus entfernt und von dort aus auch nicht einsehbar“, erläuterte er. „Wir könnten die Kutschen dort lassen und uns von da aus ein erstes Bild von der Lage machen. Das Haus selber hat drei Etagen und ist sehr weitläufig. Es gibt eine Hinter­tür für das Personal, die in die Küche führt und durch die wir das Haus betreten könnten. Die Räu­me sind fast alle sehr ausladend und es gibt eigentlich keine verwinkelten Gänge oder kleine Kam­mern, sodass es uns nicht schwer fallen sollte, anwesende Personen zu lokalisieren. Personal hat Crenn soweit ich weiß momentan keines angestellt, aber selbst wenn, wird es unter den gegebenen Umständen kaum anwesend sein.“ Salim und Naria hörten aufmerksam zu, als Aloysius im An­schluss an diese allgemeine Erklärung die Lage der einzelnen Räume sowie der Balkone, Terrassen und Ausgänge näher beschrieb. Danach unterhielten sie sich eine Weile über mögliche Vorgehens­weisen, doch würden sie das alles mit den anderen dreien sowieso noch einmal wiederholen müs­sen, also beließen sie es irgendwann dabei und verfielen wieder in Schweigen. Naria legte den Kopf auf Salims Schulter und schloss die Augen. Es war vielleicht gar nicht schlecht, sich noch ein wenig auszuruhen bevor es ernst wurde.

Kapitel 16

Naria schlug die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Es war dunkel um sie herum, doch plötzlich hörte sie das Knarren von Holz und Licht fiel herein. Sie erkannte das Innere der Kutsche und schlagartig fiel ihr alles wieder ein. Ileanna, die Entführung, der Landsitz, ihre Ret­tungsaktion. Aloysius streckte den Kopf zur Tür herein.

„Wir sind da“, sagte er, als er sah, dass Naria wach war. „Ich habe die Kutscher angewiesen, in den Stall zu fahren.“

„Okay“, antwortete sie und er verschwand wieder. Naria wollte den Kopf heben und sich strecken, doch irgendein Widerstand lastete auf ihrem Kopf und hinderte sie daran. Ach ja – Salim. Sie stieß ihm leicht in die Seite und schlagartig verschwand das Gewicht von ihrem Kopf.

„Was?“, fragte er verwirrt und blickte sich orientierungslos um.

„Wir sind da“, informierte sie ihn, während sie ihrem Kopf in alle Richtungen kreisen ließ und sich streckte. „Im Stall.“

„Und ich hatte gehofft das alles sei nur ein schlimmer Traum“, gab er zurück und richtete sich auf, so gut es in der kleinen Kutsche ging.

„Ist es schon Morgen?“, fragte er.

„Es ist zumindest hell draußen.“ Mit diesen Worten stand sie auf und kletterte aus der Kutsche. Sa­lim folgte ihr. Es war tatsächlich schon Morgen und die Sonne schien durch die großen Fenster in den geräumigen Stall, in dem sie sich befanden. Warm war es deshalb allerdings nicht. Naria frös­telte leicht und blickte sich um. Levent, Kallan und Parvel waren zeitgleich mit ihr aus der zweiten Kutsche gestiegen, die direkt neben der ihren stand. Die Kutscher kümmerten sich um die Pferde und von Aloysius war keine Spur zu sehen. Außer ihnen, den Kutschen und ihren Pferden befand sich nicht viel in dem Stall, soweit Naria sehen konnte. Ein paar Strohballen lagen links vom großen, hölzernen Tor, durch das sie anscheinend in den Stall gefahren waren. Zwei alte Pferdege­schirre hingen an Haken an der Wand daneben. Hinter der anderen Kutsche konnte Naria einige Bo­xen erkennen, die alle leer zu sein schienen. Sie drehte sich um und schickte sich an, um ihre Kut­sche herumzugehen, um in den anderen Teil des Stalles zu blicken, als sie mit Aloysius zusammens­tieß, der aus der anderen Richtung kam.

„Oh, tut mir leid!“, entschuldigte sie sich hastig, doch der Berater beachtete sie gar nicht.

„Er ist hier“, verkündete er und blickte angespannt in die Runde. „Sein Pferd steht dort hinten.“

Mit der linken Hand machte er eine vage Bewegung in die Richtung aus der er gekommen war. Le­vent senkte den Kopf. Die anderen blickten sich an.

„Er ist es also tatsächlich“, murmelte Aloysius und ließ sich auf die Stufen ihrer Kutsche sinken. „Vielleicht ist das alles ja nur ein Zufall“, sagte Levent, doch man merkte ihm an, dass auch er nicht daran glaubte. Das wären tatsächlich viele Zufälle auf einmal. Naria wusste nicht, was sie fühlen sollte. Erleichterung, weil sie kurz davor waren, den Entführer von Ileanna und hoffentlich auch die Prinzessin selbst zu finden? Angst davor, was er ihr angetan hatte? Mitleid mit Alosyius und Le­vent? Wut auf Levent, weil er so leichtsinnig gewesen war? Ein bisschen von allem? Salim trat vor und unterbrach ihre Überlegungen.

„Also“, begann er. „Unser Vorgehen. Wir gehen durch die Hintertür rein, die in die Küche führt. Von dort aus fangen wir an, das Haus von unten nach oben systematisch abzusuchen und zwar schnell und leise. Wenn wir Ileanna finden, bringen Naria und Levent sie auf der Stelle hierher, Aloysius geht mit ihnen und wir suchen weiter nach Crenn. Wenn wir Crenn zuerst finden, halten wir uns bedeckt und Levent wird sich ihm zeigen und mit ihm sprechen, um herauszufinden, was er vorhat. Wir überwachen aber die Ausgänge und lassen ihn nicht entkommen, von dort wo er ist.“ „Wäre es nicht besser, wenn wir uns aufteilen und das Haus durchsuchen?“, fragte Parvel.

Salim schüttelte den Kopf. „Ich halte das für riskanter. Wenn wir uns in zwei Gruppen aufteilen würden, je eine mit Levent und Aloysius, haben wir nur zwei relativ erfahrene Wächter pro Gruppe und das ist wenig, zumal wir Crenn gegenüber im Nachteil sind, weil wir nicht wissen wo er ist und was er plant. Ich habe auch überlegt, alle Ausgänge zu überwachen, während wir drinnen suchen, aber es sind viel zu viele. Unser Plan basiert auf Schnelligkeit und Unauffälligkeit. Wir müssen dar­auf setzen, dass er uns nicht bemerkt, bis wir ihn haben.“ Die anderen nickten.

„Und noch was“, setzte Salim nach einem langen Blick auf Aloysius widerwillig an und Naria glaubte zu wissen, was nun folgen würde. „Ich will keine Verletzten oder gar Tote, wenn wir kön­nen, lassen wir Crenn unverletzt. Aber wenn wir die Prinzessin nur schützen können, indem wir ihn..verletzen…dann müssen wir das auch tun. Es tut mir leid.“ setzte er an Aloysius gewandt noch hinzu, doch dieser nickte nur.

„Ich weiß wie das läuft“, sagte er matt. „Nehmt auf mich keine Rücksicht.“ Die anderen sagten nichts. Auch sie hatten verstanden. Salim hatte gerade den Befehl gegeben, Crenn unverzüglich zu töten, wenn Prinzessin Ileannas Sicherheit das erforderte.

 

Lautlos bahnten sie sich einen Weg durch den dichten Wald, der das Grundstück umschloss. Viel Schutz boten die kahlen Bäume nicht, doch es war zumindest besser, als über die große Wiese, die vor dem Haupteingang lag, völlig ungeschützt auf das Haus zuzuspazieren. Aloysius ging an der Spitze, dann folgten Salim, Parvel, Levent, Naria und als letzter Kallan. Der Berater hatte das Haus gut beschrieben, sodass Naria es aus seinen Erzählungen problemlos wiedererkannte. Der ange­spannten Lage zum Trotz konnte sie nicht umhin, den imposanten Landsitz zu bewundern, den sie gerade umschlichen. Das Haus war groß, wenn auch nichts im Vergleich zum Palast, und weiß. Sei­ne große Eingangstür war überdacht und über eine kleine Treppe zu erreichen, die auf einen Kies­weg führte. Die beiden Flügel zur linken und rechten Seite des Eingangs waren identisch und er­streckten sich beide bis an den Waldrand. Vor dem Haus lag eine gut gepflegte, weitläufige Rasen­fläche.

„Das hier ist die Küche“, erklärte Aloysius leise, als sie am linken Ende des Hauses vorbeikamen, welches fast bis in den Wald hineinragte. Nach ein paar weiteren Schritten blieben sie stehen. „Die Hintertür ist dort.“ Er deutete auf eine unscheinbare Tür an der Rückseite des Hauses, ein kleines Stück von ihnen und dem schützenden Wald entfernt. Zwischen ihnen und der Tür lagen ein paar Fenster, lange nicht so groß wie die auf der Vorderseite, aber auch nicht gerade klein.

„Die Fenster hier unten gehören hauptsächlich zur Küche, zu den Quartieren für Hausangestellte und ein paar Verwaltungsräumen. Ich halte es für eher unwahrscheinlich, dass er sich hier aufhält.“ „Trotzdem sind sie ein Risiko, auf das wir achten müssen. Sollte Crenn, aus welchen Gründen auch immer zufällig dort hinaussehen, wird er uns sofort entdecken und wir haben keine Chance.“ Salim blickte sich prüfend nach allen Seiten um.

„Habt ihr eure Waffen?“, wandte er sich an die anderen Wächter, die daraufhin schnell ihre diversen Waffen kontrollierten, die sie am Körper trugen und stumm nickten. „Gut. Dann kriechen wir jetzt da lang“, entschied Salim und zeigte auf den Boden unmittelbar vor den Fenstern, die etwas weni­ger als einen halben Meter über der Erde ansetzten. „Ab hier gehe ich vor.“

Er bewegte sich langsam bis ans Ende der Bäume, legte sich dort auf den Boden und robbte mit za­ckigen Bewegungen unter den Fenstern entlang bis zur Tür, die anderen dicht auf den Fersen. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte Naria jetzt laut losgeprustet. Salim, der sonst immer penibel darauf bedacht war, ordentlich und tadellos auszusehen, kroch in seinen schwarzen Klamot­ten auf staubigem Boden herum, gefolgt vom ersten Berater des Königs, also dessen offiziellem Re­präsentanten und ein paar Wächtern. Liviane wäre begeistert gewesen. Als er die Tür erreicht hatte, richtete Salim sich auf und klopfte den gröbsten Schmutz aus seiner nun eher gräulicher Kleidung. Er machte den anderen ein Zeichen, am Boden zu bleiben, zog etwas aus seiner Hosentasche und machte sich am Türschloss zu schaffen. Nach wenigen Minuten schwang die Tür mit einem leisen Knarzen auf. Salim verschwand im Inneren des Hauses und gleich darauf streckte er den Kopf aus der Tür und bedeutete ihnen ihm zu folgen. Nacheinander rappelten sich Aloysius, Parvel, Levent, Naria und Kallan auf und betraten den Flur, in den die kleine Tür führte.

 

Drinnen war es ziemlich eng und als Kallan, der als Letzter eingetreten war, die Tür hinter sich zu­zog, umfing sie völlige Dunkelheit. Naria hörte, wie Aloysius und Salim sich vor ihr leise unterhiel­ten, doch sie konnte den Inhalt des Gesprächs nicht verstehen. Dann erhob Salim seine Stimme, sprach aber immer noch so leise, dass alle sich anstrengen mussten, um ihn zu verstehen. „Wir ge­hen jetzt den Gang entlang bis ans Ende“, erklärte er. „Wir werden an viele Türen vorbeikommen. Parvel, Naria und ich werden bei jeder Tür nachsehen, ob sich jemand in dem Raum dahinter befin­det, die anderen warten hier. Fragen?“

Niemand antwortete und so setzte sich die Prozession in Bewegung, wobei sie sich vorsichtig an der Wand entlang tasteten. Gleich darauf blieben sie wieder stehen und Naria hätte dabei fast Levent, der vor ihr ging, umgerannt.

„Hier rein!“, zischte Salim und Naria drängte sich an Levent vorbei nach vorne.

„Die Küche“, flüsterte Aloysius und Salim öffnete eine Tür in der Wand links von ihnen. Nun fiel wieder Licht in den schmalen Gang, doch Naria achtete nicht darauf, sondern konzentrierte sich auf den Raum, den sie und Parvel jetzt betraten. Der ältere Wächter war vorangegangen, hatte sich vor­sichtig umgeblickt und gleich darauf den Kopf geschüttelt, zum Zeichen, dass er niemanden sehen konnte. Naria und Salim folgten und gemeinsam suchten sie die Küche nach Menschen ab. Der große Raum war langgezogen und durch die Fenster, unter denen Naria und die anderen eben lang­gekrochen waren hell erleuchtet. An beiden Wänden zog eine Plattform entlang, zwischendurch un­terbrochen durch Kochstellen oder Abspülbecken. Unter der Plattform waren Schränke angebracht, in die ein Mensch von Ileannas Größe locker hineinpasste. In der Mitte der Küche stand ein großer, dunkler Tisch aus Holz, mit vielen Kerben und Brandflecken darauf. Naria und Parvel gingen an den Längswänden des Raumes entlang und schauten dabei in jeden Schrank. Töpfe, Tassen, einige Vorräte, Pfannen, Besteck, Geschirrtücher. Hinter jeder Schranktür verbarg sich etwas anderes, Ileanna jedoch nicht. Salim suchte in der Zwischenzeit den restlichen Raum ab, wurde jedoch auch nicht fündig. Sie verließen die Küche und setzten ihren Marsch im Gang fort.

So verfuhren sie noch mit zwei Vorratskammern, einem überraschend geräumigen und geschmack­voll eingerichteten Aufenthaltsraum für die Bediensteten, einem Badezimmer, einer viel kleineren Küche, einem Esszimmer, ebenfalls für die Hausangestellten, einer Waschküche und drei Verwal­tungsräumen. Von Ileanna oder irgendwem anders fanden sie jedoch keine Spur. Des Weiteren hatte Aloysius mit der Vermutung, Crenn beschäftige zur Zeit keine Hausangestellten, Recht behalten.  Alle Räume wirkten, als wären sie schon eine ganze Weile nicht mehr in Benutzung gewesen. Schließlich erreichten sie eine Treppe und stiegen hinauf. Am Ende der Treppe blieben sie stehen. Naria vermutete, dass sie an der Tür, die aus dem Bereich für die Angestellten herausführte, ange­langt waren. Natürlich klärte sie niemand darüber auf, ob ihre Vermutung richtig war, denn nach wie vor wurde so gut wie nicht geredet. Naria fühlte in sich hinein, um zu überprüfen, ob sie aufge­regt war, konnte aber zu ihrer eigenen Überraschung nichts dergleichen feststellen. Sie hatte Angst um Ileanna, ja, aber ansonsten war da nichts, keine Angst vor Crenn, keine Aufregung, keine Sorge um ihr eigenes Wohlergehen. Sie war hochkonzentriert und versuchte, alles um sie herum wahrzu­nehmen. Jedes noch so leise Geräusch, jeden Lufthauch...

 

Vorsichtig öffnete Salim die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Anscheinend war nichts zu sehen, denn er schob die Tür im nächsten Moment noch etwas weiter auf, sodass noch mehr Licht als zu­vor den Flur erhellte, in dem sie standen. Salim machte ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen, und trat hinaus. Die anderen stiegen die letzten Stufen hinauf und folgten. Ohne Aloysius Erläuterung er­kannte Naria, dass sie sich in der Eingangshalle des Hauses befanden. Ihnen gegenüber sah sie die große Tür, die auf die Wiese hinausführte, an der sie zuvor vorbeigeschlichen waren. Links und rechts davon waren zwei riesige Fenster in die Wand eingelassen. Die Decke hing hoch über ihren Köpfen. Der Boden war aus Stein, doch ein großer, roter Teppich bedeckte einen großen Teil davon. Einige Sessel und zwei Tische standen in einer Ecke der Halle, ansonsten war sie vollkommen leer. Viele Türen führten in die verschiedenen Teile des Hauses und zu ihrer rechten Seite befand sich eine eindrucksvolle, große Treppe aus Stein mit einem kunstvoll verzierten Geländer, die auf einen schmalen Balkon führte. Dort gab es nur eine Tür, die dafür aber sehr groß war, und aus Aloysius Erzählungen wusste Naria, dass sich dort das zweigeschossige Wohn- und Esszimmer befand. Salim wandte sich Aloysius zu und blickte ihn fragend an. Offenbar wollte er wissen, wo Crenn sich nach Meinung seines Vaters am ehesten aufhielt. Der Berater wies auf die Treppe und ohne einen Kom­mentar begann Salim, darauf zuzugehen. Vor der Tür zum Wohnzimmer machten sie Halt. Salim ging auf die andere Seite der Tür, ebenso Aloysius und Parvel. Die anderen blieben wo sie waren. Anschließend legte Salim sein Ohr an die Tür. Naria tat von ihrer Seite aus dasselbe, doch weder sie noch er konnten ein Geräusch von hinter der Tür vernehmen. Lautlos drückte Salim die Klinke herunter und öffnete die Tür, die leise knarzte. Er blickte hinein und war und gleich darauf betrat er das Zimmer als Erster. Auf den ersten Blick war es leer. Naria blickte sich um und konnte nicht umhin, die geschmackvolle Einrichtung zu bewundern. Der untere Teil des Raumes, den sie gerade betreten hatten, wurden von einem großen Esstisch aus hellem Holz dominiert, der von gut einem Dutzend dazugehöriger Stühle umgeben war. An der Wand hinter dem einen Kopfende ermöglichte ein sehr großes Fenster den Blick auf die Wiese und den Wald dahinter. Hinter dem anderen Kopfende standen Bücherregale an der Wand, die mit massenweise Büchern bestückt waren. Zwischen zwei Regalen  befand sich eine kleine Tür, die wohl für die Bediensteten gedacht war. Hinter dem Esstisch führte eine schmale und etwas gebogene Treppe in die zweite Etage des Raumes. Unter der Empore standen ein Buffettisch und ein Sekretär mit Stuhl. Die zweite Etage war sehr viel wohnlicher eingerichtet. Die Regale von unten setzten sich oben fort und davor standen ein kleiner Holztisch sowie eine Sitzgruppe aus gemütlichen Polstersesseln. An der hinteren Wand war ein großer Kamin, daneben eine große Tür und davor wieder Sitzgelegenheiten. An der Wand gegenüber den Bücherregalen führte eine schlichte, aber dennoch elegante Doppeltür hinaus auf den Balkon, von dem aus man bestimmt einen guten Blick über den Wald und die dahinter liegenden Felder hatte. Die Tür war geöffnet. Naria war sich sicher, dass das noch nicht der Fall gewesen war, als sie an der Vorderseite des Hauses vorbeigegangen waren. Es war also in der Zwischenzeit definitiv jemand hier gewesen. Aber wo war diese jemand jetzt? Salim drehte sich zu den anderen um und war gerade im Begriff, ihnen Anweisungen zu geben, als er mitten in der Bewegung innehielt. Naria hielt den Atem an und lauschte. Auch sie hatte das Geräusch vernommen, welches ihren Partner hatte aufmerken lassen. Da! Schon wieder! Ein dumpfes Pochen von weit entfernt drang zu ihnen herüber. Es schien seinen Ursprung hinter der Tür neben dem Kamin zu haben. Das Pochen wurde lauter – nein, es schien näher zu kommen. Jetzt erkannte Naria, dass das Schritte sein mussten, Schritte auf dem Steinboden, die sich ihnen näherten. Sie warf Salim einen Blick zu, auch er schien die Situation erkannt zu haben, denn er wandte sich um und steuerte auf die Treppe zu, die anderen folgten ihm. Anstatt hinaufzusteigen zogen sie sich jedoch unter die Treppe zurück und warteten. Narias Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust. Jetzt war sie doch aufgeregt und versuchte krampfhaft, sich wieder zu beruhigen.

Die Tür über ihnen wurde geöffnet und jemand trat ein. Alle lauschten sie angestrengt und gleich­zeitig darauf bedacht, kein einziges Geräusch zu machen und sich so zu verraten. Nun hörten sie die Schritte über ihren Köpfen. Es schien, als ginge jemand dort oben auf und ab. Nach ungefähr einer Minute, die Naria allerdings viel länger vorkam, hielten die Schritte an. Ein raschelndes Geräusch im Anschluss daran ließ vermuten, dass sie die Person auf einem der vielen Sessel oder Sofas nie­dergelassen hatte. Salims Blick richtete sich auf Levent, ebenso wie die der anderen. Der junge Wächter hatte Angst, das konnte Naria ganz deutlich erkennen. Er zitterte leicht und seine Augen huschten aufgeregt zwischen ihnen allen hin und her, bis sie schließlich an Salim hängen blieben. Dieser nickte kurz. Levent schluckte ein paar Mal und atmete tief durch. Dann trat er unter der Treppe hervor.

Kapitel 17

 

Unwillkürlich hielt Naria den Atem an und lauschte angespannt. Ihre Augen verfolgten Levent, der  leise und zögerlich auf den Anfang der Treppe zuging, unter der sie sich versteckt hielten, und aus Narias Blickfeld verschwand, als er die Stufen betrat. Von oben war noch nichts zu hören, Crenn hatte seinen Bruder anscheinend noch nicht bemerkt. Ein paar Sekunden später vernahmen sie ein Räuspern, woraufhin jemand nach Luft schnappte und etwas klirrend auf dem Boden viel und in Stücke zersprang.

„Du hast mich vielleicht erschreckt, Levent!", hörten sie nun eine Naria unbekannte Stimme über ihren Köpfen, doch nach Aloysius bestürzter Reaktion zu urteilen gehörte sie tatsächlich zu Crenn. Der Berater hatte wohl bis zuletzt auf die Unschuld seines ältesten Sohnes gehofft. Crenn hatte eine angenehme, tiefe Stimme und wenn sie es nicht gewusst hätte, hätte Naria nie vermutet dass der Be­sitzer dieser Stimme zu so etwas Niederträchtigem wie der Entführung der Kronprinzessin fähig war. „Was machst du denn hier?", fragte Crenn seinen Bruder gerade.

„Ich – ich wollte dich besuchen", brachte Levent mit zitternder Stimme hervor und Naria verspürte Mitleid mit dem jungen Wächter. Gleichzeitig hoffte sie sehr, dass er seine Sache gut machte, denn ihre Sorge um Ileanna wuchs mit jeder Minute, die verging.„Aha...ähm, sehr schön. Das freut mich natürlich. Jetzt bist du ja hier." Schwang da so etwas wie Unsicherheit in Crenns Worten mit?

„Aber woher hast du überhaupt gewusst, wo ich bin?" Die Unsicherheit war in Skepsis übergegan­gen. Naria schwante Böses. Ihnen allen war klar gewesen, dass es Crenn natürlich merkwürdig vor­kommen würde, wenn Levent auf einmal bei ihm auftauchte, obwohl er überhaupt nicht wissen konnte, wo sein älterer Bruder sich zurzeit aufhielt.

„Äähm, ich - ", stotterte Levent. „Ich habe es mir gedacht. Weil – weil du früher immer so gerne hier warst. Und, naja, als du auf meinen letzte Brief nicht mehr geantwortet hast, dachte ich, du seist vielleicht verreist." Naria war beeindruckt. Diese Erklärung klang wirklich einleuchtend, so etwas hatte sie Levent gar nicht zugetraut. Allerdings begann sie, sich zu fragen ob ihr Vorgehen zu etwas führen würde, denn momentan sah es nicht so aus als würde Levent es gelingen, seinem Bruder ein paar Informationen zum Aufenthaltsort der Prinzessin zu entlocken. Ohne zu offenbaren, dass er von Crenns Taten wusste, würde Levent das auch kaum schaffen, so viel stand fest.

„Ja, ich bin in der Tat verreist. Ich brauchte einfach mal ein bisschen Abstand von der ganzen Ar­beit,“ entgegnete Crenn, die Vorlage seines Bruders nutzend.

„Hast du eigentlich gewusst, dass Prinzessin Ileanna entführt wurde? Ich hatte es dir geschrieben aber wahrscheinlich warst du da schon weg.“ Salim und Naria wechselten einen Blick. Levent ging in die Offensive.

„Prinzessin Ileanna? Wie fürchterlich! Habt ihr denn schon eine Spur?“ Naria konnte den eigenarti­gen Klang, der plötzlich in Crenns Stimme auftauchte, nicht deuten.

„Nein, leider nicht.“ Levent seufzte. „Wir sind alle auf der Suche, aber bis jetzt ohne Erfolg.“

„Hm...es wundert mich, dass sie dich überhaupt haben gehen lassen, wenn ihr doch alle so beschäf­tigt seid.“ Hatte Crenn Verdacht geschöpft? Naria konnte es nicht sagen.

„Tja, das ist weil...“ Levent stockte und Naria wusste, dass er fieberhaft überlegte, wie er die Situa­tion handhaben und in welche Richtung er das Gespräch nun lenken sollte. „...weil ich vom König hergeschickt wurde.“ Die Anspannung bei Naria und den anderen stieg augenblicklich an. Jetzt wurde es ernst.

„So?“ Crenns hatte seine Stimme nun vollkommen unter Kontrolle, er klang ungerührt. „Wieso das denn?“

„Er möchte wissen, ob du etwas zur Entführung weißt.“

„Wie kommt der König auf die Idee, ich könnte etwas über die Prinzessin wissen?“

Vor Aufregung hatte Naria die Hände zu Fäusten geballt und ihr Fingernägel gruben sich tief in ihre Haut, doch sie bemerkte den Schmerz nicht.

„Das denkt er nicht!“, beeilte sich Levent zu sagen. „Nicht direkt. Es werden viele gefragt. Aber ich dachte, dass du...“

„Dass ich was?“ Crenns Stimme hatte einen bedrohlichen Ton angenommen. „Sprich es ruhig aus.“

„Naja, dass du vielleicht irgendetwas weißt, weil du aus meinen Briefen ja viel über den Palast und die Prinzessin und so erfahren hast...“ Levent stockte und Naria bildete sich ein, dass sie sein Herz bis unten klopfen hörte. Das Gespräch hatte eine gefährliche Wendung angenommen.

„Du denkst also ich hätte was damit zu tun?“, brauste Crenn auf. „Nur weil ich mich für das Leben meines Bruders interessiere habe ich also gleich die Prinzessin entführt oder wie darf ich deine Worte verstehen. Ich denke, das ist es, was du immer von uns wolltest – Aufmerksamkeit. Jetzt hast du sie und unterstellst mir so etwas!“

„Nein, ich hatte mich doch nur gewundert, weil du dich vorher noch nie für mich interessierst hast“, sagte Levent kleinlaut. „Und dann plötzlich schreibst du mir und willst so viel über die Leute im Palast wissen, das fand ich einfach merkwürdig.“

Crenn lachte laut auf. Ein freudloses, kaltes Lachen, dass sie alle zusammenzucken ließ.

„Du bist wirklich dumm“, sagte er mit verächtlicher Stimme. „Ich dachte, du wärst inzwischen viel­leicht zumindest etwas klüger geworden, aber du bist noch ganz genauso dumm wie als Kind. Nichts weißt du. Und dann hast du den Verdacht, ich hätte die Kronprinzessin entführt und kommst alleine hierher, um mich danach zu fragen. Was denkst du wohl, was mit dir passiert, wenn du alles erfährst?“ Naria blickte in die Runde. Vier betroffene Gesichter blickten zurück. Crenn hatte gerade die Entführung Ileannas gestanden.

„Also warst du es?“, fragte Levent leise, ohne auf die Drohung einzugehen.

„Natürlich war ich es. Wenigstens das hast du verstanden“, antwortete sein Bruder gelassen.

„Aber wieso?“, flüsterte Levent entsetzt.

„Wieso, wieso!“ Crenn lachte. „Wieso wohl? Macht natürlich! Ich bin intelligent und schlau, ich verdiene mehr Macht. Ich verdiene mehr Macht als alle. Ich verdiene alle Macht! Alle! Alle Men­schen werden für mich arbeiten müssen, denn ich bin ihr Herrscher. Ich werde alle Rechte besitzen und diese unwürdigen Kreaturen werden alle mir gehören und mir gehorchen!“

„Du bist verrückt! Du bist völlig übergeschnappt!“, spie Levent seinem Bruder entgegen.

„Mag sein. Aber ich bekomme, was ich will. Das Königreich ist nichts ohne die Kronprinzessin, wie ich dank dir sehr gut weiß. Der König ist auf sie angewiesen, es gibt keine andere gute Nachfol­gerin. Was glaubst du, was das für ein Chaos wird, wenn der König in ein paar Jahren zu alt zum Regieren ist und seine perfekte Nachfolgerin ist weg? Die anderen beiden taugen doch zu nichts!“

„Sag so etwas nicht!“, zischte Levent.

„Aber es ist so. Dann ist meine Chance gekommen. Wenn das Land im Chaos versinkt, steht mir nichts mehr im Wege, niemand wird sich mir widersetzten können! Catalanien ist mein!“

„Und was hast du mit der Prinzessin gemacht?“ Unter der Treppe hielt Naria erneut den Atem an. Jetzt waren sie an der entscheidenden Stelle angelangt.

„Noch gar nichts eigentlich“, antwortete Crenn leichthin.

Ein riesengroßer Stein fiel Naria vom Herzen und sie sah den anderen an, dass es ihnen genauso ging. Ileanna lebte und es schien ihr gut zu gehen!

„Was soll das heißen?“, fragte Levent.

„Ach, sie hat es hier ganz gut, die Schlafzimmer oben sind doch sehr komfortabel, oder nicht? Sie wird mir noch nützlich sein, denn sie kann bestimmt viel über ihre Familie und die Regierung er­zählen, was mich interessiert. Danach brauche ich sie nicht mehr und sie wird entsorgt. Eigentlich schade drum, sie ist doch ein ganz hübsches Ding.“

„Du niederträchtiger, kleiner, gemeiner - “, stieß Levent hervor und sprach damit genau das aus, was auch Naria fühlte. Am liebsten wäre sie sofort hochgestürmt und hätte Crenn den Hals umge­dreht. Salim legte ihr eine Hand auf den Arm, denn er wusste, was in ihr vorging. Die Wächter blickten Salim an und er nickte ihnen zu. Es war an der Zeit einzugreifen.

„Ach ja, du hast ja geschworen, das Königshaus zu beschützen“, feixte Crenn. „Du bist wirklich zu gar nichts zu gebrauchen, Bruderherz. Es hat Spaß gemacht, mit dir zu spielen. Aber sieh es ein. Du bist dumm und ungeliebt, niemand braucht dich.“

„ICH HASSE DICH!“, brüllte Levent und ein lauter Schlag und Gepolter waren zu hören. Aloysius drängte sich zwischen den Wächtern durch und stürzte zur Treppe, die anderen hinterher.

„ICH HASSE DICH UND DU BIST NICHT MEIN BRUDER!“ Noch mehr Gepolter. Die Wächter und Aloysius rannten die Treppe hoch.

„Was willst du eigentlich, Kleiner, du hast mir nichts entgegenzusetzen!“ Crenn lachte. Dann ertön­te ein markerschütternder Schrei. Naria und die anderen erreichten das Ende der Treppe und sahen gerade noch, wie Crenn und Levent ineinander verkeilt über die Brüstung des Balkones kippten und in die Tiefe stürzten.

 

Eine Sekunde lang war nichts zu hören. Alle starrten fassungslos auf die Stelle, wo eben noch Le­vent und Crenn gewesen waren. Der dumpfe Aufprall der beiden auf dem Boden meterweit unter ih­nen riss die anderen aus ihrer Erstarrung. Naria und Kallan rannten zum Balkon, Aloysius stürzte mit einem Schrei die Treppe wieder herunter und aus der Tür, Kallan und Salim waren ihm auf den Fersen. Naria erreichte das Geländer als erstes und blickte hinunter. Sofort zuckte sie zurück und spürte die Galle in ihr hochsteigen. Sie atmete tief ein und aus und versuchte sich zu beruhigen und einen klaren Kopf zu bekommen. Sie hatte noch nicht realisiert, was vor wenigen Sekunden gesche­hen war. Als Kallan neben ihr erschien und nach unten blickte, verlor sein Gesicht jegliche Farbe.

„Ach du meine Güte!“, murmelte er leise. Naria zwang sich, wieder hinzusehen. Wie sie auf die Entfernung erkennen konnte, war von Crenns Gesicht nicht mehr viel übrig. Anscheinend war er mit dem Kopf voran nach unten gestürzt. Eine immer größer werdende Blutlache breitete sich um seinen Kopf herum aus, aus dem auch eine andere, hellere Masse auszutreten schien. Naria schluck­te und wandte sich ab. Als sie ihren Blick auf Levent richtete, traten ihr Tränen in die Augen. Der junge Wächter lag auf dem Rücken, Arme und Beine auf groteske und unnatürliche Weise vom Kör­per gestreckt. Seine Augen waren weit geöffnet und es war, als würde er Naria direkt anblicken. Sie erschauderte und Tränen liefen ihr über das Gesicht.

 

Die große Eingangstür wurde aufgestoßen und Aloysius rannte über den Kiesweg auf seine Söhne zu. Neben Levent fiel er auf die Knie und beugte sich über ihn. Salim und Parvel waren auch dort angelangt. Parvel ließ sich neben Aloysius nieder und legte ihm eine Hand auf den Rücken, der von Schluchzern geschüttelt wurde. Salim warf einen kurzen Blick auf Crenn und schüttelte den Kopf. Da war nichts mehr zu machen. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf zum Balkon, wo er Narias Blick auffing. Er deutete nach oben, zum Stockwerk über ihnen und nickte seiner Part­nerin zu, die ihn fragend anblickte. Naria senkte den Kopf, um ihm zu zeigen, dass sie verstanden hatte, und entfernte sich von Schauplatz des furchtbaren Unglücks, das vor wenigen Minuten dort geschehen war. Kallan folgte ihr und gemeinsam verließen sie das Wohnzimmer durch die Tür ne­ben dem Kamin, durch die auch Crenn vor kurzer Zeit noch getreten war. Schweigend gingen sie einen kurzen, breiten Gang entlang und stiegen eine schlanke Wendeltreppe aus Holz mit kunstvoll geschnitzten Ornamenten hoch in das nächste Stockwerk. Sie würden jetzt Ileanna befreien.

Die Treppe endete in einem langen Gang, derdurch das Sonnenlicht, welches durch die Fenster zu seinen beiden Enden hell erleuchtet war. Links und rechts von ihnen waren jeweils vier Holztüren in regelmäßigem Abstand in der hellen Wand.

„Ileanna?“, rief Naria mit lauter Stimme und öffnete die erste Tür zu ihrer linken. „Ileanna, wo bist du?“ Kallan tat es ihr auf der rechten Seite gleich. Hinter der ersten Tür verbarg sich ein freundlich eingerichtetes Schlafzimmer, Ileanna jedoch nicht. Naria hatte keinen Blick übrig für die hübschen Zeichnungen an den Wänden oder das wunderschöne Bett in der Mitte des Raumes, sondern schlug die Tür sofort wieder zu. Auch Kallan hatte kein Glück gehabt. Naria hielt auf die zweite Tür zu. „Ileanna, bist du hier? Sag was!“ Sie drückte die Klinke herunter und wollte eintreten, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Naria rüttelte an der Klinke. „Ileanna? Bist du da drin? Ich bin's, Naria!“ Sie hämmerte mit der rechten Hand gegen die Tür. Dann lauschte sie. Sie glaubte, ein Geräusch aus dem Inneren des Raumes vernommen zu haben.

„Ileanna?“, rief sie wieder und legte dann ein Ohr an die Tür. Ja, wirklich, da war etwas! Ein Rüt­teln oder so etwas oder ein Hämmern. Und dann hörte sie Ileannas Stimme.

„Naria, ich bin hier drin!“, rief sie leise und kraftlos. Erleichterung machte sich in Naria breit und sie hätte die ganze Welt umarmen können. Ileanna lebte und sie hatten sie gefunden.

„Sie ist da drin!“, rief sie Kallan zu, der augenblicklich neben sie trat und nun ebenfalls erfolglos an der Klinke rüttelte. Die Wächter blickten sich an.

„Ileanna, bist du in der Nähe der Tür?“, fragte Naria und lauschte erneut.

„Nein!“, kam es von drinnen. Naria ging zur Seite und nickte Kallan zu. Dieser trat ein paar Schritte zurück und rannte dann mit Anlauf gegen die Tür, mit der rechten Schulter voran. Es krachte gewal­tig, das Holz am Türschloss barst auseinander und Kallan stand im Zimmer. Naria stürmte durch die geöffnete Tür und stieß ihn unsanft aus dem Weg. Sie befand sich in einem hübschen, kleinen Schlafzimmer, ganz in Gelbtönen gehalten und mit einem kleinen Balkon auf der gegenüberliegen­den Seite des Raumes. Außer einem Schrank, einem Sekretär mit Stuhl, einem Sessel und einem Frisiertisch befand sich noch ein großes Himmelbett darin, das an der Wand rechts von Naria stand und in den Raum hineinragte. Und dort erblickte sie Ileanna. Die Prinzessin saß aufrecht im Bett, angelehnt an die Holzleiste über dem Kopfende. Sie trug ein hellrotes, zerrissenes und teil­weise verschmutztes Kleid, zweifellos das Kleid, das sie angezogen hatte, nachdem ihres am Mor­gen der Entführung zerrissen war. Ihre hellbraunen Haare hingen strähnig und verknotet in ihr Ge­sicht, die Augen waren eingefallen und gerötet, die Wangenknochen traten hervor, die Haut war furchtbar blass. Um ihre beiden Handgelenke schlossen sich Eisenringe, die zu zwei robusten Ei­senketten gehörten, welche zu beiden Seiten des Bettes  befestigt waren und Ileanna so nur minima­le Bewegungsfreiheit gewährten. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten traten Naria Tränen in die Augen, doch diesmal waren es sowohl Tränen der Freude als auch des Entsetzens, als sie ihre Freundin so ausgemergelt vor sich sah.

„Du bist gekommen“, flüsterte Ileanna heiser und sah Naria an. „Du hast mich gefunden.“

Naria eilte zum Bett, ließ sich auf der Kante nieder und schloss Ileanna in die Arme.

„Natürlich bin ich hier!“, sagte sie. „Wir hätten niemals aufgegeben, bevor wir dich gefunden hät­ten, das weißt du doch! Es tut mir so leid, dass ich das alles nicht verhindern konnte, es tut mir so schrecklich leid!“ Noch immer hielt sie die Prinzessin dicht an sich gedrückt.

„Es ist nicht deine Schuld“, brachte Ileanna hervor. „Du kannst nichts dafür.“ Naria ließ sie los und blickte sie an.

„Jetzt musst du erst mal hier raus. Wo sind die Schlüssel dafür?“, fragte sie und deutete auf die Ei­senketten.

„Dahinten“, murmelte diese und nickte mit dem Kopf in Richtung der Wand auf der anderen Seite des Raumes. Und tatsächlich, an einem Nagel in der Wand, direkt gegenüber des Bettes, hing ein Schlüssel. Naria stockte der Atem bei so viel Grausamkeit. Tag und Nacht hatte Ileanna auf den Schlüssel gestarrt, der ihre Rettung gewesen wäre, so nah und doch unerreichbar.

„Was ich alles versucht habe, um ihn zu erreichen!“, flüsterte Ileanna schluchzend. „Tagelang habe ich gekämpft und gekämpft und bin kein bisschen vorwärts gekommen. Und er hat sich kaputtge­lacht über meine Bemühungen, für ihn war das alles einfach nur lustig.“ Sie vergrub den Kopf in den Händen.

„Jetzt nicht mehr“, antwortete Naria und strich Ileanna beruhigend über den Rücken, während Kallan den Schlüssel holte und die Fesseln aufschloss. „Jetzt ist er tot.“

Ileanna blickte auf. „Wirklich?“, fragte sie. „Ja.“ Von Levent erzählte Naria noch nichts, die Prin­zessin hatte fürs erste genug durchgemacht.

„Das hat er verdient“, sagte Ileanna leise und rieb sich die schmerzenden Handgelenke.

 

Naria und Kallan brachten Ileanna durch das Wohn- – und Esszimmer und die Eingangshalle in die Küche, wo sie etwas zu essen und trinken bekam, was sie alles hungrig verschlang. Anschließend begleitete Naria sie in ein Badezimmer. Nachdem sie sich etwas gesäubert hatte, musste Ileanna wieder ihr altes, kaputtes Kleid anziehen, da sie natürlich kein anderes hatte und Naria im Haus nicht noch nach frischer Kleidung suchen wollte. Stattdessen wollte sie die Prinzessin so schnell wie möglich weg von hier und nach Hause bringen. Kallan war zu Salim und den anderen gegan­gen, um ihnen von Ileannas Zustand zu berichten. Naria hatte ihn gebeten, eine Kutsche zum Hin­tereingang kommen zu lassen, um Ileanna den Anblick von Levent und Crenn zu ersparen.

Als Ileanna wieder angezogen war, schlüpfte Naria aus ihrer Uniformjacke und legte sie der Prin­zessin um. Da es mitten im Winter war, war es der hellen Sonne zum Trotz ziemlich kalt und Ilean­na trug nur ein dünnes, zerrissenes Kleid am Körper. Naria führte ihre Freundin den Gang entlang, durch den sie gekommen waren und durch den Hintereingang hinaus ins Freie. Die Kutsche war schon vorgefahren und Naria und Ileanna gingen darauf zu, wobei die Prinzessin mehr getragen wurde als dass sie selber lief. Der Kutscher war abgesprungen und öffnete ihnen die Tür. Als er sich anschickte, der Prinzessin hineinzuhelfen, wurde sie schon von zwei kräftigen Händen aus dem In­neren der Kutsche hineingehoben, als wäre sie kaum schwerer als eine Feder. Naria dankte dem Kutscher und kletterte hinterher. Nicht Kallan war in der Kutsche, sondern Salim, der auf der einen Bank saß und die Prinzessin, die an seiner Schulter hemmungslos schluchzte, eng umschlungen hielt. Naria holte eine Decke unter der Bank hervor, setzte sich neben die beiden und legte sie Ilean­na um. Die Kutsche setzte sich in Bewegung und entfernte sich von Crenns Landsitz. Naria blickte aus dem Fenster auf das langsam kleiner werdende Haus, in dem Ileanna so lange gefangen gehal­ten worden war und in dem sich vor wenigen Stunden eine furchtbare Tragödie abgespielt hatte. Ihr kam eine Zeile aus dem Schwur der Wächter in den Sinn und sie seufzte. „Mit meinem Leben will ich die der mit anvertrauten Menschen schützen.“  Sie hatten die Prinzessin gerettet, aber Levent war tot.

Kapitel 18


Es musste inzwischen früher Nachmittag sein. Die Kutsche fuhr immer noch durch die Landschaft in Richtung Schloss. Naria blickte nach draußen. Wiesen zogen vorbei, Felder, Wälder, hin und wie­der durchquerten sie ein kleines Dorf. So verlief die Fahrt nun schon seit Stunden. Ileanna lag auf der Bank, den Kopf in Narias Schoß und eine Decke über sich ausgebreitet. Salim saß den beiden gegenüber.

„Ich kann das mit Levent immer noch nicht glauben", murmelte die Prinzessin niedergeschlagen. Während der Kutschfahrt hatten Salim und Naria ihr alles erzählt, was seit ihrer Entführung gesche­hen war. Ileanna selbst hatte nicht viel zu erzählen gehabt, da sie sich an das meiste auch nicht mehr sehr gut erinnerte.

„Ich auch nicht“, sagte Naria bedrückt. „Ich hab ihn nicht besonders gemocht, aber so etwas hat er nicht verdient. Und in seinem ganzen Leben hat er es nicht leicht gehabt. Die Mutter früh verloren, immer der Außenseiter und viel schlechter als seine beiden älteren Brüder.“ Sie seufzte. „Im Nach­hinein tut es mir furchtbar leid, dass ich nicht netter zu ihm war.“

„Das lässt sich jetzt nicht mehr ändern“, erwiderte Salim leise. „Aber was er getan hat, war un­glaublich mutig. Dafür wird man ihn in Erinnerung behalten.“ Ileanna und Naria nickten und Naria schwor sich, dass sie das tun würde, solange sie lebte.

„Armer Aloysius. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie furchtbar es ihm gerade gehen muss“, sagte Ileanna und schauderte bei dem Gedanken daran. Naria und Salim stimmten ihr zu. Aloysius, Kallan und Parvel waren noch beim Landsitz geblieben, um dort alles so weit wie möglich zu re­geln, unter anderem, was mit den Körpern von Crenn und Levent geschehen würde. Sobald sie fer­tig waren, würden sie mit der zweiten Kutsche nachkommen.

Gedankenverloren blickte Naria wieder aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die Dämmerung über Catalanien ausbreitete. In der Gegend, in der sie sich nun befanden, kannte sie sich aus, sie war in einem der Dörfer aufgewachsen und wusste, dass es bis zum Palast nicht mehr weit war.

 

„Was ist los?“, fragte sie leise, um Ileanna nicht zu wecken, als sie Salims Blick bemerkte, der auf ihr ruhte.

„Er hat noch gelebt“, antwortete er mit belegter Stimme.

„Was?“ Naria riss die Augen auf und starrte ihren Kollegen ungläubig an. Er nickte.

„Levent“, sagte er. „Er war noch nicht tot als wir bei ihm ankamen. Aloysius war bei ihm, als er – gestorben ist.“ Naria schluckte. Das musste sie erst einmal verdauen.

„Hat er noch etwas gesagt?“, fragte sie nach einer Weile. Abermals nickte Salim.

„Er war noch ganz klar im Kopf“, berichtete er. „Aloysius hat mit ihm gesprochen.“

Naria überlegte. „Das war vermutlich gut so“, sagte sie dann. „Für beide.“ Sie verfielen wieder in Schweigen

.

„Hast du gewusst, dass Levent eine Freundin hatte?“, durchbrach Salim die Stille. Naria runzelte die Stirn.

„Eine Freundin?“, fragte sie ungläubig. „Ich hatte keine Ahnung. Wen?“ Salim schüttelte den Kopf. „Wenn ich das wüsste. Er hat Aloysius gebeten, ihr zu sagen, dass er sie liebt und dass sie glücklich werden soll. Aber er hat nicht gesagt, wer.“

„Wow.“ Naria war baff. „Das ist ziemlich heftig. Ich habe keine Idee, wer das sein könnte. Wo kann er sie denn überhaupt kennengelernt haben?“

„Ich weiß es nicht. Ich war auch total überrascht.“

„Die Arme“, sagte Naria. „Ich hoffe, sie erfährt es überhaupt. Vielleicht weiß je einer von seinen Freunden etwas, mit denen er auf der Akademie war.“

„Ja, vielleicht.“ Salim blickte nach draußen. „Wir sind da“, sagte er und deutete auf die Lichter der Stadt, die vor ihnen in der Dunkelheit auftauchten und von dem großen, eindrucksvollen Palast überragt wurde.

„Was ist?“, fragte Ileanna und hob den Kopf.

„Wir sind da.“ antwortete Naria und half ihr, sich aufzusetzen. „Du bist zuhause.“ Ein Lächeln stahl sich auf die Lippen der Prinzessin.

 

Am Stadttor wurden sie sofort eingelassen und die Nachricht, dass sie die Prinzessin mitgebracht hatten, verbreitete sich wie ein Lauffeuer und brachte alle Gesichter zum Strahlen. Levent blieb auch hier unerwähnt, da der König als Erster von den Vorkommnissen in Kenntnis gesetzt werden sollte, bevor irgendjemand sonst etwas erfuhr. Ein Bote wurde zum Palast geschickt, um ihre An­kunft anzukündigen und die Kutsche setzte ihren Weg durch die Straßen der Stadt fort. Naria war es noch immer ein Rätsel, wie die Boten es schafften, ihre Nachrichten derart schnell zu überbringen, dass sie sogar schneller waren als eine Kutsche, die fast im selben Augenblick losfuhr, indem sie selbst auf den Weg geschickt wurden. Doch auch diesmal war es dem Boten gelungen, im Palast vor ihrem Eintreffen Bescheid zu geben, denn kaum dass Ileanna, Naria und Salim auf dem Hof vor dem Palast aus der Kutsche ausgestiegen waren, öffnete sich das schwere Eingangsportal und eine zierliche Gestalt kam die Treppen so schnell heruntergestürzt, dass Naria Angst hatte, sie würde hin­fallen und sich ernsthaft verletzen. Es war Melva, die sich ihrer Schwester so ungestüm in die Arme war, dass Naria diese daran hindern musste, rückwärts umzufallen.

„Du lebst noch und dir geht es gut!“, quietschte Melva und drückte ihre Schwester an sich, so fest sie konnte.

„Gleich nicht mehr“, warnte Naria, die bemerkt hatte, dass Ileanna durch Melvas Umarmung an Atemnot litt.

„Oh, tut mir schrecklich leid!“, entschuldigte sich Melva hastig und hielt Ileanna auf Armeslänge von sich. „Du siehst ja fürchterlich aus!“, jammerte sie. „Komm rein es ist viel zu kalt hier draußen!“

Gemeinsam mit Naria halfen sie Ileanna die Treppen hoch. Die Kronprinzessin hatte darauf bestan­den, nicht getragen zu werden und Naria vermutete, dass sie ihrer Mutter einen Schock ersparen wollte. Abgesehen davon war sie für so etwas viel zu stolz. Salim, Domek und Beagor, die mit Mel­va aus dem Palast gekommen waren, folgten den dreien.

 

In der hell erleuchteten Eingangshalle hatte sich die gesamte Königsfamilie, deren Wächter sowie Nor, Siras und jede Menge andere im Palast Beschäftigte eingefunden, um der Ankunft Ileannas beizuwohnen. Wie schon zuvor ihre Schwester stürzte sich nun Siara auf Ileanna und gleich darauf war die Prinzessin von ihrer Familie in Beschlag genommen. Naria blickte sich unter den Anwesen­den um, doch der, den sie suchte, war nicht dabei. Betrübt senkte sie den Kopf und schluckte die aufsteigenden Tränen herunter. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Ihr war klar, dass es Cobalt bei ihrer Abreise vor kaum einem Tag sehr schlecht gegangen war, also hatte sie ja wohl kaum er­warten können, dass er nun schon wieder gesund war. Aber sie hatte gehofft...gehofft auf ein Wun­der. Und jetzt, als sie ihn nicht unter den Anwesenden erblickte, bildete sich ein schwerer Kloß in ihrem Hals, obwohl sie sich wieder und wieder gesagt hatte, wie unwahrscheinlich eine so positive Entwicklung war. Unwillig schüttelte sie den Kopf, wie um diese Gedanken zu vertreiben. Ileanna ging es gut und sie war zuhause. Und vielleicht ging es Cobalt ja besser. Das würde sie als nächstes herausfinden. Entschlossen blickte sie von Boden auf und entdeckte ein paar Meter entfernt eine an­dere Person, die sie nur zu gut kannte. Sie warf einen Blick auf Ileanna, die neben ihrer Mutter stand und gerade von Fürst Nor sehr förmlich begrüßt wurde. Er gab ihr einen galanten Handkuss und sagte einige Worte. Ileanna schenkte ihm ein müdes Lächeln, dann entfernte er sich wieder. Na­ria beschloss, sich darum jetzt keine Gedanken zu machen. Als sie sah, dass Salim nur einen Meter von der Prinzessin entfernt stand und sie ununterbrochen im Auge behielt, entfernte sie sich von Ileanna und den anderen.

„Hallo“, machte sie auf sich aufmerksam, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Yonah drehte sich zu ihr um. Naria blickte zu ihm auf. Ein paar Sekunden lang blickte er sie stirnrunzelnd an, dann breitete sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus und als er sie umarmte, hob er sie vom Boden hoch, sodass sie protestieren mit Armen und Beinen zappelte, bis er sie wieder runterließ. Naria musste lachen und auch Yonah entlockte es ein Grinsen, er wurde aber schnell wieder ernst. Naria hatte bemerkt, dass er müde aussah und entmutigt. Während die anderen außer sich vor Freude waren über Ileannas Rückkehr blickte er hauptsächlich niedergeschlagen drein. Naria kannte den Grund.

„Es geht ihm nicht besser, oder?“, fragte sie leise. Yonah schüttelte den Kopf.

„Es geht ihm sogar schlechter“, sagte er deprimiert. Die Ärzte sind am Ende, keiner weiß mehr, was man noch ausprobieren kann.“ Naria seufzte.

„Noch ist es nicht vorbei“, erwiderte sie leise. „Wir sollten die Hoffnung nicht schon aufgeben be­vor es wirklich keine mehr gibt.“

„Ich weiß. Aber es ist so deprimierend. Und für Siara ist das alles auch nicht leicht.“ Kaum dass er das ausgesprochen hatte, erschien die junge Prinzessin an seiner Seite.

„Vielen, vielen Dank, dass ihr Ileanna heile zurückgebracht habt!“, begrüßte sie Naria und die bei­den umarmten sich.

„Jederzeit wieder“, antwortete Naria lächelnd.

„Na hoffentlich nicht“, lachte Siara. Sie blickte Yonah an. „Ich weiß“, sagte sie und ihr Lächeln ver­schwand. „Es geht ihm nicht gut und das macht mich furchtbar traurig, aber im Moment bin ich ein­fach nur glücklich, dass meine Schwester wieder da ist!“ Entschuldigend schaute sie zu ihrem Wächter auf. „Ich fühle mich total schuldig, mich so zu freuen, während es ihm so schlecht geht!“ Yonah winkte ab und lächelte seinen Schützling an.

„Das ist doch Unsinn!“, protestierte er vehement. „Natürlich freust du dich, dass Ileanna wieder da ist, das tun wir alle. Dafür musst du dich nicht entschuldigen, es ist gut, dass zur Abwechslung mal etwas Erfreuliches passiert.“

„Danke“, sagte sie und blickte sich daraufhin im Raum um. „Aber wo sind denn Levent, Aloysius und die anderen?“ Naria versuchte, weiterhin normal dreinzuschauen. Bevor es jemand erfuhr, soll­te erst der König über die Ereignisse des Tages Bescheid wissen, so hatten sie es abgesprochen. „Wir sind schon einmal vorgefahren“, antwortete sie ausweichend, doch Siara schien keinen Ver­dacht geschöpft zu haben. Durch die Frage der Prinzessin war Naria allerdings dran erinnert wor­den, dass es für Salim und sie höchste Zeit war, den König über die Geschehnisse zu informieren und für Ileanna, sich auszuruhen. Sie drehte sich um und fing Salims Blick auf, der nach wie vor in Ileannas Nähe war. Sie wusste, dass er dasselbe dachte wie sie.

„Entschuldigt mich“, sagte sie zu Siara und Yonah und ging zu ihm herüber.

„Ich habe dem König gesagt, dass ich ihn gerne so schnell wie möglich sprechen möchte“, erklärte Salim. „Ich denke, er weiß schon, dass irgendetwas vorgefallen ist. Und sie sollte sich jetzt besser ausruhen.“ Er deutete auf Ileanna, die bei ihrer Mutter und ihrer Großmutter stand. König Arik re­dete mit Siras und Melva und Nor konnte Naria nirgends entdecken. Sie waren doch gerade noch hier gewesen, oder nicht? Naria richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Salim.

„Ich werde mit König Arik sprechen und ihm alles erklären“, sprach dieser weiter. „Du gehst mit Ileanna in ihre Gemächer und sorgst dafür, dass sie sich ausruht. Cleva ist schon dort.“ Mit einem Mal wurde Naria bewusst, dass sie sich seit der Entführung nicht einmal über das Wohlbefinden der Zofe erkundigt hatte und sofort fühlte sie sich schuldig.

„Geht es ihr wieder gut?“, fragte sie schnell.

„Anscheinend ja“, antwortete Salim. „Sie wurde wohl nur niedergeschlagen und ist wieder auf den Beinen.“

Der König kam zu ihnen herüber, begrüßte Naria und dankte ihr herzlich für ihren Einsatz. Naria bedankte sich, fühlte sich allerdings nicht sonderlich wohl dabei, da der König noch nicht die ganze Geschichte kannte und sie auf ihrem Einsatz keine besonders lobenswerten Taten begangen hatte, die zu Ileannas Rettung beigetragen hatten. Der Ruhm gebührte jemand anders, das wusste sie. Sa­lim warf ihr einen Seitenblick zu. Wie fast immer wusste er auch jetzt, was in seiner Partnerin vor­ging.

 

König Arik, Salim und Siras verließen die Halle in Richtung der Besprechungsräume und Naria ge­sellte sich zu Ileanna, wo sie von Liviane überschwänglich und von Maidred zurückhaltender, aber nicht weniger herzlich begrüßt wurde.

„Ich soll dich nach oben bringen“, wandte Naria sich an Ileanna. Diese nickte zustimmend und Na­ria legte ihr eine Hand um die Hüfte, um sie zu stützen, denn die Prinzessin war noch immer sehr wackelig auf den Beinen.

„Geh dich ausruhen, mein Kind. Wir werden später nach dir sehen!“, sagte Liviane zu ihrer Enkelin. „In Ordnung.“ Ileanna und Naria wandten sich um und hielten auf den Vorraum zu, von dem aus die Treppe zu den königlichen Gemächern führte.

„Jetzt wird alles gut!“, hörte Naria Königin Maidred im Weggehen sagen.

Sie freute sich über den Optimismus der Königin, war sich da aber nicht ganz so sicher.

Kapitel 19

 

Naria brachte Ileanna in ihre Gemächer, wo sie von Cleva schon sehnsüchtig erwartet wurden, die sofort mit der Prinzessin im Badezimmer verschwand. Naria versicherte sich, dass Ileanna kräftig genug war, um dort ohne ihre Hilfe klarzukommen und blieb dann alleine im Wohnzimmer zurück. Sie setzte sich auf das Sofa und dachte nach. Das, was in den letzten Tagen geschehen war, stellte Ileannas Verlobung, über die sie sich noch vor kurzer Zeit regelmäßig fürchterlich aufgeregt hatte, vollkommen in den Schatten. Ileanna war entführt und wieder gerettet worden. Cobalt war schwer krank und niemand konnte sagen, ob überhaupt und wann er gesund werden würde. Naria musste sich eingestehen, dass sie sich große Sorgen um ihn machte und ihn schrecklich vermisste, mehr noch als einen guten Freund. Aloysius hatte gleich zwei Söhne auf einmal verloren, von denen einer als Held gestorben war und einer als Verräter. Levent war tot. Naria wusste nicht, wie es geschehen war, dass die beiden über das Geländer gestürzt waren. Hatte Levent seinen Bruder hinunter gesto­ßen und war von ihm mitgerissen worden? War es andersrum gewesen? War es ein Unfall gewesen, ein Versehen? Oder hatte Levent beabsichtigt, mit seinem Bruder in die Tiefe zu stürzen? Hatte er beschlossen, sein Leben zu beenden und seinen Bruder, den Verräter, der ihn ausgenutzt und sein Vertrauen missbraucht hatte, mit in den Tod zu reißen? Naria wusste, dass sie die Antworten auf diese Fragen nie erhalten würde und sie fragte sich, ob das nicht vielleicht auch besser so war. Sie dachte über das nach, was ihr Salim in der Kutsche erzählt hatte. Levent hatte also eine Freundin gehabt. Wer könnte das nur gewesen sein? Außer ihr selbst gab es keine anderen Wächterinnen und viel Kontakt zu Menschen außerhalb des Palastes hatten die Wächter nicht. Sicher, sie hatten auch mal Freizeit, aber Levent war noch nie gut im Freundschaften schließen gewesen, da er die meisten Menschen mit seiner Prahlerei eher abgeschreckt als angezogen hatte. Vielleicht eines der Küchen­mädchen oder Dienerinnen? Naria beschloss, in nächster Zeit Augen und Ohren offen zu halten und sich hier und da zu erkundigen. Sie war in diesem Punkt vielleicht eine Romantikerin, aber sie woll­te, dass das Mädchen von Levents letzten Worten erfuhr. Das wäre vielleicht ein geringer Trost für sie, der ihr über den Verlust ihres Freundes hinweghelfen konnte.

 

Cleva kam aus dem Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich.

„Sie ist jetzt im Bett“, sagte sie zu Naria. „Ich bin ja so froh, dass es ihr gut geht.“ Naria lächelte. „Ich bin auch froh, dass es dir gut geht, Cleva. Es tut mir leid, dass du auch verletzt wurdest.“ „Dan­ke, aber so schlimm war es bei mir ja nicht. Nur ein kleiner Schlag auf den Kopf, mir ging es bald wieder besser.“

„Trotzdem“, entgegnete Naria. „Es hätte auch anders ausgehen können.“ Cleva nickte gedankenver­loren.

„Ich weiß, dass der andere Wächter noch nicht wieder aufgewacht ist, Cobalt, richtig? Ich hoffe sehr, dass es ihm bald wieder besser geht.“

„Das tun wir alle“, antwortete Naria niedergeschlagen. „Aber ich fürchte, dass es nicht mehr allzu viel Hoffnung für ihn gibt. Er ist nun schon seit vielen Tagen in diesem Zustand.“ Cleva nickte. „Noch ist es nicht vorbei“, sagte sie, genau wie Naria zuvor zu Yonah. „Ich werde in die Küche ge­hen  und etwas zu essen für Ileanna besorgen. Soll ich dir auch etwas mitbringen?“

Zu ihrem Erstaunen stellte Naria fest, dass sie gar keinen Hunger hatte.

„Nein danke“, antwortete sie deshalb. „Ich werde nachher etwas essen bevor ich zu Bett gehe.“ Cle­va nickte und ging zur Tür.

„Es ist nicht deine Schuld, weißt du“, sagte sie, die Hand schon auf dem Türknauf. „Das, was pas­siert ist.“ Naria wusste nicht, was sie erwidern sollte, deshalb lächelte sie nur. Cleva verließ Ilean­nas Gemächer und Naria war wieder alleine. Nach einer Weile vergewisserte sie sich, dass bei Ileanna alles in Ordnung war, dass in den Gemächern alles war wie es sein sollte und dass die Wachposten draußen auf dem Gang standen, dann machte sie sich auf den Weg zu den Unterkünften der Wächter.

 

Es war inzwischen sehr spät am Abend. Trotzdem war es im Speisesaal der Wächter voll, viel voller als sonst um diese Uhrzeit. Die meisten Wächter saßen an den drei langen Tischen, die fast so lang waren wie der Saal selbst, in Gruppen zusammen, andere standen an der Essensausgabe, die direkt mit der Küche verbunden war. Eine große Tür in der Wand führte in einen gemütlichen und geräu­migen Aufenthaltsraum, der ebenfalls für die Wächter gedacht war. Als Naria eintrat, drehten sich die meisten anwesenden Wächter zu ihr um und an ihren betroffenen Gesichtern konnte sie erken­nen, dass ihnen schon von Levents Tod berichtet worden war. Als sie den Saal durchquerte, um sich etwas zu essen zu holen, erhob sich Domek und kam auf sie zu. Naria blieb stehen.

„Es stimmt, oder?“, fragte er sie ohne Umschweife. „Warst du dabei?“ Naria nickte stumm.

„Und, wie ist er – also ich meine, was ist passiert, als er - “ Hilfesuchend blickte er sie an. Naria registrierte, dass die anderen Wächter ihre Gespräche unterbrochen hatten und ihnen zuhörten.

„Er ist als Held gestorben“, sagte sie zu Domek. „Er hat dafür gesorgt, dass dieser Verräter nieman­dem mehr Schaden zufügen kann, dafür wird man sich an ihn erinnern.“ Domek nickte. „Okay.“ Er sah sehr traurig aus und Naria meinte zu erkennen, dass er geweint hatte, auch wenn er das niemals zugeben würde.

„Warst du gut mit ihm befreundet?“, fragte sie deshalb mitfühlend. Domek zuckte die Achseln. „Schon irgendwie. Wir waren zusammen in einem Zimmer auf der Akademie. Ich weiß, dass er schwierig sein konnte, aber es ist einfach ein schreckliches Gefühl, zu wissen, dass er nie wieder da sein wird.“

„Ich weiß“, sagte Naria. „Ich werde ihn auch vermissen.“ Dann standen sie da und wussten nicht, was sie noch sagen sollten. Die anderen Wächter wandten sich wieder von ihnen ab. Da fiel Naria etwas ein.

„Sag mal, weißt du, ob er eine Freundin hatte?“, fragte sie Domek. „Hat er mal was gesagt oder so?“

„Wer, Levent?“ Domek dachte nach. „Kann ich mir nicht vorstellen. Ich wusste jedenfalls nichts da­von und er hat ja eigentlich immer alles erzählt. Ich glaube nicht, dass er so etwas für sich behalten hätte. Wie kommst du darauf?“ Forschend blickte er ihr ins Gesicht.

„Ach, egal.“ Naria winkte ab. „Ist nicht so wichtig.“ Domek nickte verständnislos.

Naria aß etwas und konnte nicht umhin, sich dabei mit den anderen Wächtern zu unterhalten, ob­wohl sie im Moment lieber für sich gewesen wäre. Doch die Fragerei hielt sich zu Narias Erleichte­rung in Grenzen. Zurückhaltung wurde den Wächtern in ihrer Ausbildung sehr nahe gelegt und das wirkte sich nicht nur im Umgang mit der Königsfamilie aus. Naria war dankbar, dass die anderen taktvoll genug waren, sie nicht mit Fragen zu bestürmen. Nachdem sie gegessen hatte, verließ sie den Speisesaal und ging den Gang entlang bis zu Cobalts Zimmer. Vorsichtig öffnete sie die Tür und sah Yonah am Bett seines Freundes sitzen. Kurz überlegte sie, ob sie eintreten sollte, entschied sich dann aber dagegen, um Yonah nicht zu stören. Stattdessen ging sie in ihr Zimmer und legte sich ins Bett.

 

Am nächsten Morgen ging es Ileanna schon viel besser. Sie saß bereits im Bett, als Naria eintrat und aß etwas von der Mahlzeit, die Cleva ihr am Abend zuvor besorgt hatte. Die Zofe selbst war damit beschäftigt, Ileannas Kleidung für den Tag herauszusuchen.

„Guten Morgen!“, begrüßte Naria die beiden. „Dir geht es ja schon wieder viel besser!“ Sie war sehr froh darüber, Ileanna in so guter Verfassung vorzufinden.

„Stimmt“, bestätigte Ileanna. „Aber ich war ja auch nicht wirklich verletzt. Weißt du schon, was als nächstes passiert?“, fragte sie mit Blick auf die weiße Binde, die Naria über ihrer Uniform am rech­ten Oberarm trug. Immer, wenn jemand von ihnen ums Leben kam, was glücklicherweise nicht oft der Fall war, trugen alle Wächter auf diese Art Trauer, bis die Bestattung stattfand, üblicherweise dreißig Tage nach dem Tod. Naria schüttelte den Kopf.

„Ich weiß noch nicht einmal, ob sie schon wieder da sind“, antwortete sie.

„Sind sie“, mischte sich Cleva ein. „Ich habe sie heute ziemlich früh hier eintreffen sehen. Aloysius sah alles andere als gut aus.“

Es klopfte an der Tür. Als Naria in den Vorraum trat, um zu öffnen, konnte sie viele verschiedene Stimmen im Gang hören. Sie öffnete die Tür und ließ Melva, Siara und Liviane, sowie Beagor, Do­mek, Yonah, Senn, der Cobalt vertrat und Livianes Wächter ein. Als letzter folgte Salim.

„Das ist ja eine richtige Party hier!“, grinste er. Melva, Siara und Liviane verschwanden in Ileannas Schlafzimmer, sämtliche Wächter blieben im Wohnzimmer zurück. Naria bemerkte, dass Siara sehr mitgenommen aussah. Ihre Augen waren rot geweint und dunkle Ringe zeichneten sich darunter ab. Sie schien in der letzten Nacht nicht besonders viel Schlaf bekommen zu haben. Die Wächter, die sich im großen Wohnzimmer verteilten, trugen ebenfalls alle eine weiße Binde am Arm.

„Was ist mit Siara los?“, fragte Naria Yonah, der sich zu ihr gesellt hatte. „Sie sieht ja fürchterlich aus.“

„Das alles hat sie sehr mitgenommen“, antwortete dieser. „Als sie von Levents Tod gehört hat, hat es das Fass zum Überlaufen gebracht.“ Naria nickte verstehend. Siara hatte es wirklich hart getrof­fen. Nicht nur ihre Schwester war entführt worden, auch ihrem Wächter und guten Freund ging es von Tag zu Tag schlechter. Sie war die sensibelste der drei Schwestern, sodass Levents Tod ihr zu­sätzlich sehr aufs Gemüt schlug.

 

Nachdem ihre Schwestern und ihre Großmutter am Morgen bei ihr gewesen waren, bekam Ileanna am Vormittag Besuch von ihrer Mutter, die beim Gehen dem Arzt in der Tür begegnete, der gekom­men war, um die Prinzessin zu untersuchen. Kaum dass dieser gegangen war, tauchte Melva wieder auf, um sich von Ileanna bei der Stoffauswahl für ein neues Kleid beraten zu lassen und kurz darauf schaute der König herein, der allerdings nur sehr kurz bleiben konnte. Eine gute halbe Stunde später kam Kallan vorbei, um nach Ileanna zu sehen. Bei dieser Gelegenheit erzählte er ihnen, dass sie Le­vents Körper mitgebracht hatten und der König eine Abschiedsfeier in allen Ehren angeordnet hatte. Naria nickte zufrieden, genau das hatte Levent verdient. Von Crenn wurde nicht geredet, doch sein Name hing unausgesprochen in der Luft zwischen ihnen. Nachmittags nahm Liviane ihren Tee bei Ileanna im Wohnzimmer ein, der vom Arzt erlaubt worden war, das Bett zu verlassen und sich auf das Sofa zu legen. Zwei Küchenmädchen brachten zur selben Zeit einen großen Kuchen mit herzli­chen Genesungswünschen aus der Küche und Siras und Aloysius hatten je einen Blumenstrauß ge­schickt. Am frühen Abend brachten drei Dienstmädchen, die hin und wieder mit Ileanna zu tun ge­habt hatten, einen großen Blumenstrauß von der ganzen Dienerschaft vorbei und erzählten Ileanna, Cleva und Naria den neusten Tratsch. Die sechs amüsierten sich köstlich und Salim, der in einem Sessel etwas abseits saß und ein Buch las, konnte nur den Kopf schütteln über so viel weibliches Gekicher.

„Ich bin einigermaßen erstaunt darüber, dass Fürst Nor dir nicht seine Aufwartung gemacht hat“, äußerte Naria später am Abend, als es für Ileanna Zeit wurde, ins Bett zu gehen.

„Er hat doch einen Strauß geschickt“, entgegnete diese und deutete auf ein monströses Ungetüm von Blumenstrauß auf der Fensterbank, das aussah, als wäre dafür der halbe Palastgarten draufge­gangen.

„Trotzdem, er ist dein Verlobter. Da wird er sich doch wohl auch die Zeit nehmen können um per­sönlich vorbeizukommen. Vor allem, da er sich ja momentan sowieso im Palast aufhält. Wieso tut er das, wenn nicht, um dich zu sehen?“

„Keine Ahnung, ist mir auch egal. Eigentlich bin ich froh, dass er es nicht getan hat“, sagte Ileanna auf dem Weg ins Schlafzimmer. „Besonders herzlich war das Verhältnis zwischen uns ja noch nie.“

 

Die nächsten paar Tage vergingen ohne nennenswerte Veränderung. Im Gegensatz zu Cobalt, dessen Zustand nach wie vor schlecht war, ging es Ileanna bald wieder besser, sodass sie wieder wie ge­wohnt leben und ihre Pflichten aufnehmen konnte. Levents Bestattung und Abschiedsfeier wurden organisiert, zu welcher auch Boron, Aloysius zweitältester und inzwischen einziger Sohn erwartet wurde. Er würde in den nächsten Tagen eintreffen. Und noch eine Feier wurde vorbereitet, nämlich Melvas siebzehnter Geburtstag. Zu ihrer Begeisterung hatten ihr ihre Eltern erlaubt, ein großes Fest zu planen. Sie schienen der Ansicht zu sein, dass ein solches Fest die allgemeine Stimmung wieder heben würde und eine willkommene Abwechslung zu den tragischen Ereignissen der letzten Zeit sein würde. Dementsprechend redete Melva seit Ileannas Genesung von nichts anderem mehr und war vollauf mit der recht kurzfristigen Planung ihres Festes beschäftigt, unterstützt von Liviane, die geheimnisvoll einen „ganz besonderen Auftritt ihrerseits“ versprochen hatte. Naria vermutete eine besonders fürchterliche modische Verwirrung und dachte lieber nicht weiter darüber nach. Fürst Nor und Ileanna sahen sich selten und wenn sie es taten, sprachen sie förmlich und höflich miteinander, allerdings nie mehr als sie mussten. Anders als ihre jüngere Schwester war Siara zurückgezogener als je zuvor, redete kaum noch, aß wenig und saß oft einfach nur da und starrte trübsinnig vor sich hin. Alle hatten Mitleid mit ihr, aber niemand wusste, wie er ihr helfen konnte und so ließ man sie nach einer Weile meist in Ruhe. Sooft sie konnte, besuchte Naria Cobalt und erzählte ihm von allem, was im Palast vor sich ging, doch natürlich bekam sie nie eine Reaktion. Wahrscheinlich konnte er sie nicht einmal hören, aber es tat trotzdem gut, ihm alles zu erzählen. Inzwischen dachte sie fast täglich über seine Art von Erkrankung nach und darüber, warum überhaupt keine Therapie bei ihm Wirkung zu zeigen schien. Nachdem sie lange darüber gebrütet hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass es nur eines gab, was seinen Zustand erklärte. Eines langen Winternachmittages, an dem sie vor dem warmen Kamin in Ileannas Wohnzimmer saßen und den Schneefall beobachteten, der vor einigen Tagen eingesetzt hatte, vertraute sie sich Ileanna und Salim an.

 

„Zauberei?“, fragte Salim, als sie ihnen von ihren Überlegungen berichtet hatte, und blickte sie stirnrunzelnd an.

„Also ich finde die Erklärung einleuchtend“, ließ Ileanna vernehmen und schmiss ihre Stickerei, die sie auf Drängen ihrer Mutter hin begonnen hatte, genervt zur Seite. „Warum sonst sollte denn nichts helfen, was der Arzt verordnet hat?“ Naria nickte zustimmend.

„Schon, aber meint ihr, dass Salaara sich auch dazu hat überreden lassen?“ In der Stimme des Wächters schwangen Zweifel mit.

„Darüber will ich lieber nicht so genau nachdenken.“ In Erinnerung an die Bezahlung, die die alte Hexe gefordert hatte, verzog sie angewidert das Gesicht. Ileanna musste lachen und Salim verdrehte die Augen.

„Nein, ernsthaft“, führte Naria ihr Gespräch fort. „So muss es einfach sein, oder nicht? Welche an­dere Erklärung könnte es geben?“

„Das weiß ich nicht.“ Nachdenklich strich sich Salim über die Bartstoppeln an seinem Kinn.

„Aber was willst du dagegen tun, wenn es so ist?“ Fragend blickte Ileanna ihre Freundin an.

„Tja“, begann Naria. „Da er durch Zauberei erkrankt ist, denke ich, dass er auch nur durch Zauberei geheilt werden kann. Das ist mir zumindest vor ein paar Stunden so in den Sinn gekommen. Mich wundert, dass ich oder irgendjemand anders nicht schon viel früher darauf gekommen ist. Stattdes­sen haben wir planlos herumgerätselt und möglicherweise viel wertvolle Zeit verloren.“

„Nein, Moment, warte mal!“, unterbrach sie Salim. „Willst du damit sagen, dass du schon wieder -“ Naria nickte. „Nicht noch mal!“, protestierte er sofort. „Das kannst du gleich wieder vergessen, beim letzten Mal wärst du fast gestorben und jetzt schneit es noch dazu!“

„Salim, ich muss es einfach tun! Das ist vermutlich seine einzige Chance!“

„Letztes Mal bist du doch auch auf völlig taube Ohren gestoßen. Freiwillig ist dir gar nichts verra­ten worden! Wieso sollte es heute anders sein? Das ist zu riskant!“

„Du hast viel zu viel Angst um mich, ich kann auf mich selbst aufpassen! Willst du ihn lieber ster­ben lassen?“

„Ich will niemanden von euch sterben lassen, deshalb will ich auch nicht, dass du dich schon wieder so verdammt leichtsinnig benimmst!“

„Kann mir bitte mal einer erklären, worum es hier überhaupt geht?“, mischte sich Ileanna ein und blickte vorwurfsvoll zwischen ihren beiden Wächtern hin und her. „Ich hasse es, wenn ihr sowas macht!“ Naria und Salim antworteten gleichzeitig.

„Sie will Hals über Kopf in diesen verdammten Schneesturm raus und eine gefährliche Reise unter­nehmen, auf der sie vermutlich erfrieren wird, und zu einer verrückten alten Hexe gehen, die sie möglicherweise umbringen wird, damit sie ihr etwas, was es wahrscheinlich gar nicht gibt, geben wird, was sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht tun wird, um Cobalt zu heilen, was vielleicht gar nicht funktionieren wird!“

„Ich will eine kurze, gut vorbereitete Reise zu Salaara, die nicht böse ist, wie sie mir selbst gesagt hat, unternehmen, und sie zu bitten, mir ein Gegenmittel gegen Cobalts Krankheit zu geben, wel­ches mit ziemlicher Sicherheit besitzt, da sie seine Krankheit ja verursacht hat, um Cobalt zu retten, da das seine einzige Möglichkeit ist!“

„Aaaha“, machte Ileanna. „Also Naria will Salaara um ein Gegenmittel für Cobalts Krankheit zu bekommen.“

„So kann man es auch sagen, ja.“

„Im Grunde stimmt das so, richtig.“

Naria und Salim funkelten sich über Ileannas Kopf hinweg an.

„Und warum lasst ihr das nicht jemanden entscheiden, der hier wirklich was zu sagen hat?“, fragte diese.

 

Am nächsten Morgen stand Naria dick eingepackt neben Farla, in deren prall gefüllten Satteltaschen sich Geld, jede Menge Verpflegung, Decken und dicke Wechselkleidung befanden. Farla schnaubte begeistert und schüttelte ihre Mähne. Sie liebte Schnee. Ileanna trat aus dem großen Eingangsportal und lief die Steintreppe hinunter, um sich von Naria zu verabschieden.

„Mach's gut!“, sagte sie, als sie sich umarmten. „Komm heile wieder und wenn es unmöglich wird, komm zurück!“

„Versprochen“, entgegnete Naria und Ileanna trat zur Seite. Salim war mit verschränkten Armen ein paar Meter von ihnen entfernt stehen geblieben und blickte zu den beiden herüber. Naria musste la­chen.

Tschüss, Salim!“, rief sie. „Pass gut auf Ileanna auf!“ Sie schickte sich an, in den Sattel zu steigen, als Salim durch zusammengebissene Zähne knurrte: „Nur weil der König es erlaubt, muss ich deine Aktion noch nicht gutheißen.“

„Du bist dem König zu Treue verpflichtet!“, erinnerte Naria ihn grinsend.

„Warum machst du immer solche Sachen?“, fragte er und kam nun doch auf sie zu. „Ich will nicht, dass du dich immer in Gefahr begibst!“

„Das ist meine Arbeit. Ich bin dafür ausgebildet, mich in Gefahr zu begeben!“, erwiderte sie mit leichtem Trotz in der Stimme.

„Aber warum immer du? Warum kann ich das nicht machen?“

„Weil ich den Weg kenne und Salaara. Und außerdem war es meine Idee. Und du musst auf Ileanna aufpassen.“

„Das kannst doch du machen.“

„Ja, das hat ja beim letzten Mal auch so gut funktioniert“, antwortete sie trocken.

„Aber es schneit!“ Aufgebracht fuchtelte Salim mit den Armen durch die umherwirbelnden Schnee­flocken.

„Das kann ich sehen, aber Schnee ist viel besser als Regen. Der geht nicht unter die Kleidung und kühlt einen aus.“ Salim seufzte ergeben.

„Also dann pass gut auf dich auf und mach keine Dummheiten.“ Er überlegte kurz. „Keine noch größeren zumindest.“

„Ich wusste, ich kann dich überzeugen!“, rief Naria aus und Farla wieherte.

„Ich bin nicht überzeugt!“, stellte Salim klar. „Ich habe mich nur entschlossen, mich nicht dem Be­fehl des Königs zu widersetzen und dich in deinem Zimmer zu fesseln, weil mir klar geworden ist, dass Ileanna dann gar keine Wächter mehr hätte, wenn ich im Kerker angekettet wäre und du auf deinem Bett.“

„Versteh doch, dass ich es tun muss“, sagte sie und die beiden umarmten sich fest.

„Das verstehe ich doch“, antwortete er. „Glaub mir, dass verstehe ich gut. Aber gefallen tut es mir trotzdem nicht.“

„Das reicht mir schon.“ Damit stieg Naria in den Sattel und trieb Farla zu einem flotten Trab an. Ohne sich noch einmal umzublicken, überquerte sie den verschneiten Hof und verschwand sie im Gewühle der Stadt.

Kapitel 20


Was den Schnee betraf, hatte Naria Recht gehabt. Es war viel angenehmer als im Regen zu reiten, der all ihre Kleider durchnässte und sie vor Kälte zittern ließ. Eingepackt in ihre dicken Sacken fror Naria so gut wie gar nicht und sie stellte fest, dass es ihr sogar Spaß machte, mit Farla durch die schneebedeckte, wunderschöne Landschaft zu galoppieren. Die Stute schien das zusätzliche Ge­wicht durch Naria und die voll bepackten Satteltaschen gar nicht zu spüren und preschte nur so da­her. Die Zeit verging wie im Flug und schon am frühen Abend erreichten sie das Gasthaus, in wel­ches Naria schon bei ihrer letzten Reise zu Salaara eingekehrt war. Kurz spielte sie mit dem Gedan­ken, noch am selben Abend weiterzureiten und irgendwo am Waldrand zu übernachten, doch sie hatte Ileanna und Salim versprochen, keine Dummheiten zu machen und sie war sich ziemlich si­cher, dass Salim genauso so etwas mit noch größeren Dummheiten gemeint hatte. Also seufzte sie ergeben, band Farla vor den Haus an und trat ein. Alles war noch genauso, wie sie es in Erinnerung hatte. Das war auch nicht weiter verwunderlich, denn seit ihrem letzten Besuch waren erst wenige Wochen vergangen, auch wenn es Naria viel länger vorkam. Die Schankstube war wie schon beim letzten Mal gut besucht und in den Kaminen prasselten die Feuer. Wieder verlangte sie beim Wirt nach einem Zimmer und einer Unterkunft für Farla. Dieser hatte sie anscheinend noch von ihrem letzten Besuch in Erinnerung, denn er befolgte ihre Anweisungen, ohne dass sie ihm das Siegel des Königs zeigen musste. Außerdem bestellte Naria noch etwas zu essen, welches sie sich in ihr Zim­mer bringen ließ. Ihre Schlafkammer war eine andere als bei ihrem letzten Besuch, aber im Großen und Ganzen genauso eingerichtet: Bett, Schrank, Tisch und Stuhl und eine Schüssel zum Waschen. Naria aß etwas, wusch sich kurz und legte sich hin.

 

Am nächsten Morgen stand sie zeitig auf. Als sie aus dem Fenster blickte, verzogen sich ihre Lip­pen kurz zu einem Lächeln. Das Wetter meinte es gut mit ihr. Es hatte fast vollständig aufgehört zu schneien, nur wenige Flocken fielen noch von Himmel herab auf die weiße Schneedecke, die alles überzog. Nach einem deftigen Frühstück in der fast leeren Schankstube bezahlte Naria, holte Farla aus dem Stall und brauch auf. Sie kamen genauso gut voran wie am Vortag und am Nachmittag er­reichten sie den Einstieg zwischen den Bäumen, durch den sie auch das letzte Mal den Wald betre­ten hatten. Als sie sich durch die schneebedeckten Bäume schlugen, kamen sie natürlich nicht halb so gut voran wie auf offener Straße, doch Naria war trotzdem zufrieden mit ihrem Fortschritt. Sie fror nur ganz leicht und hatte noch genug Kleidung zum Wechseln dabei, sodass sie sich entgegen Salims Befürchtungen auf ihrer Reise wohl nicht den Tod holen würden. Wann immer sie an einem Bach vorbeikamen, schlug Naria für ihre Stute ein großes Loch ins Eis und hoffte, das Pferd würde das kalte Wasser ertragen. Sowohl ihre Satteltaschen als auch ihre Rucksack waren auch deshalb viel schwerer als bei ihrer Reise im Herbst, da sie nun auch Verpflegung für Farla mitnehmen muss­te, die im winterlichen Wald nicht genug zu Essen für mehrere Tage finden würde. Abends holte Naria die dicken Decken aus den Satteltaschen und machte es sich unter einem großen Baum be­quem. Sogar ein kleines Feuer hatte sie entfachen können, da es im Wald einige Stellen gab, zu de­nen der Schnee nicht vorgedrungen war. Dort hatte sie für das Feuer genug trockene Äste gefunden.

So setzten sie ihre Reise noch einen weiteren Tag, eine Nacht und noch einmal einen halben Tag fort, bis sie gegen Mittag die Lichtung erreichten, auf der Salaaras Haus stand. Naria spürte Freude in sich aufkeimen. Sie und Farla hatten es geschafft, Salaara zu erreichen, waren beiden noch bei recht guter Gesundheit und hatten noch mehr als genug Proviant und  Kleidung für den Rückweg. Naria blickte sich auf der Lichtung um. Keine Hühner rannten auf dem Hof herum und der Stall schien fest verschlossen, was aber ob der Kälte nicht weiter verwunderlich war. Von Salaara oder ihrem Esel war ebenfalls keine Spur zu sehen. Eigentlich erwartete Naria, dass die Hexe jeden Mo­ment vor, hinter oder neben ihr oder vor ihr in der Luft schwebend auftauchen und dumme Sprüche von sich geben würde, aber so war es nicht. Naria blieb eine Weile still stehen, während der sich nichts regte, außer den dicken Flocken, die weiterhin gleichmäßig zu Boden schwebten. Irgendet­was stimmte hier nicht, aber Naria kam nicht darauf, was es sein könnte. Es sah alles ganz normal aus, bis auf...Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Kamin! Es quoll kein Rauch aus dem Schornstein auf dem Dach des Hexenhauses. Salaara war anscheinend nicht zuhause und das schon eine ganze Weile. Die Freude, die Naria eben noch verspürt hatte, wich großer Verzweiflung. Sie hatte überlegt, wie sie versuchen konnte, Salaara zur Herausgabe des Mittels zu überreden, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Hexe nicht zuhause sein könnte. Wenn Salaara nicht da war, würden auch die besten Überredungskünste nichts nützen, um an das Mittel zu gelangen. Und Naria bezweifelte, dass sie selbst eine Chance hatte es in dem Haus zu finden. Mutlos stand Naria am Rand der Lichtung und starrte auf das Haus. Nach einer Weile stieß Farla sie mit der Nase an, als würde sie fragen: „Und jetzt?“

„Du hast Recht“, seufzte Naria ergeben. „Wir können ja einfach mal reingehen.“ Sie nahm die Stute beim Zügel und gemeinsam stapften sie durch den unberührten Schnee auf die Haustür zu.

 

Mit einer Hand klopfte Naria energisch an die Holztür, doch wie erwartet kam keine Reaktion, wor­aufhin Naria die Klinke herunterdrückte. Die Tür war nicht verschlossen gewesen und schwang auf. Naria trat ein, Farla folgte ihr. Alle Möbel standen noch an der Stelle, an der sie gestanden hatten, als Naria zum letzten Mal hier gewesen war. Nichts lag auf dem Boden herum, alles war aufgeräumt und an seinem Platz. Naria inspizierte den Kamin, in dem noch etwas Asche lag. Er war kalt und schien schon seit mindestens einer Woche nicht mehr benutzt worden sein. Als Naria mit dem Fin­ger über den Kaminsims strich, hinterließ sie eine gerade Spur in der Staubschicht darauf. Sie blick­te sich um und registrierte, dass weniger Gläser und Schüsseln herumstanden als bei ihrem letzten Besuch. Auch von den Töpfen fehlten einige, wenn sie sich nicht täuschte. Salaara war fort und hat­te wohl auch nicht vor, wiederzukommen. Naria war zu spät.

Resigniert ließ sie sich auf einen der Stühle fallen. Was sollte sie jetzt tun? Zurückkehren? Selber suchen? Cobalt aufgeben? Es mit den Therapien der Palastärzte weiter versuchen? Eine andere Hexe aufsuchen? Naria hatte keine Ahnung wo und ob es in mittlerer Umgebung überhaupt noch welche gab. In Catalanien jedenfalls nicht, so viel wusste sie. Während sie vor sich hin überlegte, fiel ihr Blick auf etwas, das auf dem sonst völlig leeren Holztisch, nur ein kleines Stück von ihr ent­fernt. Verwundert runzelte sie die Stirn. Warum hatte sie das vorhin übersehen? Es musste doch auch bei ihrem Eintreten schon an dieser Stelle gelegen haben. Doch Naria war sich sicher, dass der Tisch leer gewesen war. Neugierig stand sie auf und nahm die Gegenstände in Augenschein. Es han­delte sich um einen dunklen Briefumschlag mit einem Zettel darin und einer durchsichtigen, kristall­ähnlichen Phiole mit einer milchig-glitzernden Flüssigkeit darin. Was hatte es damit auf sich? Naria nahm den Umschlag zur Hand und drehte ihn um. Dann stockte ihr der Atem. Ihr Name stand darauf, geschrieben in kunstvollen Buchstaben und mit schwarzer Tinte. Wieder drehte sie den Umschlag und um holte den gefalteten Zettel daraus hervor. Das war ein Brief an sie. Von Sa­laara? Vermutlich, von wem sollte er sonst sein. Aber warum sollte die Hexe ihr einen Brief hinter­lassen? Mit zitternden Händen faltete sie den Zettel auseinander und las.

 

Naria,

Ich wusste, dass du noch einmal hier auftauchen würdest, sobald du deine Prinzessin gefunden hast. Aber dazu später mehr. Vermutlich fragst du dich, woher ich deinen Namen weiß, denn soweit ich mich erinnern kann, hast du ihn mir bei deinem Besuch nicht genannt. Glaub mir, ich weiß viele Dinge über dich, mit Sicherheit mehr, als du selber weißt. Aber du bist dir ja darüber im Klaren, dass ich einfach mehr weiß, kann und bin, als du oder irgendwer anders jemals sein wird...

Aber genug von dir, es muss ja nicht immer nur um dich gehen. In diesem Brief soll es jedenfalls um mich gehen. Ich wohne nicht mehr hier. Aber das weißt du si­cher schon, denn ich bin ja weg und mein Esel, meine Erdmännchen und meine Hüh­ner mit mir. Warum ich nicht mehr hier wohne? Wegen dir. Naja, nicht nur. Auch wegen dieses Nichtsnutzes von Mann, der meine Hilfe bei seinem ach so genialen Plan haben wollte und für den ich den Verwandlungszauber hergestellt habe. Da dieser offensichtlich dem König und seinen ganzen kleinen Freunden nicht sonderlich wohlgesonnen war, ist der jetzt wohl auch nicht mehr mein größter Bewunderer. Das ist mir im Grunde völlig gleichgültig, denn es ist ja nicht so, dass er mir etwas entge­gensetzen könnte, aber mich mit ihm und seinen Schwertträgern auseinanderzusetzen ist einfach nervig. Darum habe ich beschlossen, von hier fortzugehen und mich woanders niederzulassen. Wo? Das sage ich dir ganz sicher nicht, aber wahrscheinlich werdet ihr es doch irgendwann herausfinden, ich mache zumindest kein besonders großes Ge­heimnis daraus.

In dem Fläschchen was neben dir steht, ist ein Gegenmittel zu dem Gift, dass ich dem Troll von Mann ebenfalls verkauft habe. Vielleicht möchtest du es ja haben...wenn nicht, schmeiß es weg. Das ist mir ebenfalls gleichgültig. Wenn es noch nicht zu spät ist, stellt es die Person, die vergiftet wurde, wieder komplett her, es dauert aber eine ganze Weile, bis es wirkt. Ich denke übrigens nicht, dass es zu spät ist. Woher ich das schon wieder weiß? Siehe oben. Noch ein Wort zu meinem Kun­den: Ich habe wirklich nicht gewusst, wer er war. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, es herauszufinden, weil mich auch das nicht interessiert hat. Ich weiß, ich hätte dir das auch gleich sagen können, aber das wäre doch nicht halb so lustig gewesen, was meinst du? Wie auch immer, mehr habe ich nicht zu sagen.

Grüß dein Pferd von mir, sie ist netter als du. Hübscher übrigens auch.

Bis zum nächsten Mal,

Salaara

 

P.S.: Das Fläschchen ist eigentlich kein Fläschchen sondern eine Phiole. Um mal ein bisschen was für deine Allgemeinbildung zu tun. Die Jugend von heute ist was das betrifft ja wirklich zu nichts zu gebrauchen. Wenn ich so darüber nachdenke, war das mit der Jugend von gestern und vorgestern aber genauso. Egal.

Ach, und noch was: Vermutlich überlegst du gleich erst einmal, ob ich dir wirklich das Gegenmittel gegeben habe, oder vielleicht Gift oder irgend einen anderen lusti­gen Zaubertrank. Wenn dem so ist, denk bitte kurz nach, auch wenn dir das sehr schwer fällt. Warum sollte ich mir die Mühe mit dem Brief und dem ganzen Drumherum machen, wenn ich ihn einfach umbringen wollte? Ein Fingerschnippen hätte dafür mehr als ausgereicht. Leute umzubringen ist nämlich viel einfacher als sie zu heilen, das kannst du mir glauben.

 

Naria stand da wie vom Donner gerührt. Sie starrte auf den Brief in ihrer Hand, dann auf die kleine Phiole auf dem Tisch und wieder auf den Brief. Salaara hatte ihr ein Gegenmittel für Cobalt ge­schenkt. Geschenkt! Abgesehen davon hatte sie sie in ihrem Brief mit jedem zweiten Satz beleidigt, aber das war Naria völlig egal. Sie hatte ein Gegenmittel für Cobalt! Er würde wieder vollkommen gesund werden. Er würde leben! Ileanna lebte und Cobalt würde wieder komplett genesen! Zum ersten Mal seit langer Zeit war Naria einfach nur glücklich. Alles würde gut werden, sie hatte es ge­schafft! Naria verstaute das Gegengift und den Brief sicher in ihrer Jackentasche und wandte sich dann ihrer Stute zu.

„Wie wär's, Farla, wollen wir nach Hause?“ Das Pferd wieherte zustimmend und beide traten nach draußen in den Schnee.

Kapitel 21

 

Fast vier Tage später erreichte Naria das Stadttor. Der leichte Schneefall, der geherrscht hatte, als sie von Salaaras Haus losgeritten war, hatte sich in dieser Zeit in einen kräftigen Schneesturm ver­wandelt, sodass Naria beinahe Angst hatte, aus dem Sattel geweht zu werden. Außerdem fror sie nun doch ziemlich, doch das war nichts im Gegensatz zu den Strapazen, die sie auf ihrer letzten Reise zu Salaara hatte erdulden müssen. Ein weiterer Unterschied war, dass sie heute fröhlich und erleichtert nach Hause zurückkehrte, während sie im Herbst zutiefst enttäuscht und verzweifelt ge­wesen war. Trotz all dieser Unterschiede stand Naria nun vor dem gleichen Problem wie einige Wo­chen zuvor schon einmal. Es war spät abends, dunkel und der Wind wehte so stark und laut, dass Naria noch nicht einmal ihr eigenes Wort verstand. Minutenlang hämmerte sie wieder und wieder gegen das schon für die Nacht verschlossene Stadttor, doch sie wusste, wie sinnlos ihre Aktion war. Innen würde man sie auf keinen Fall hören. Sie ging ein paar Schritte zurück und blickte an der Stadtmauer entlang nach oben, während sie überlegte, ob sie versuchen sollte, daran hochzuklettern. Ziemlich schnell entschied sie sich aber dagegen, denn sie wollte weder von dort oben abstürzen noch riskieren, von einer vorsichtigen Wache erschossen zu werden, die sie für einen der Stadt nicht wohlgesonnen Eindringling hielt. Nachdem sie noch dies und das probiert hatte, wie Steine nach oben auf die Stadtmauer zu werfen, zu schreien oder sonst irgendwie auf sich aufmerksam zu ma­chen, musste sie resigniert feststellen, dass sie keine Chance hatte. Ihre einzige Hoffnung war, dass man in Erwartung ihrer Rückkehr hin und wieder vor den Toren nachschauen würde. Um vor dem kalten Wind geschützt zu sein, führte sie Farla schließlich so nah wie möglich an das Stadttor heran, stieg in den Sattel und legte sich auf den Hals der Stute, um etwas von ihrer Körperwärme abzube­kommen. Dann versuchte sie, wachzubleiben.

 

Eine gefühlte Ewigkeit später schreckte Naria aus ihrem Dämmerzustand auf, als sie in unmittelba­rer Nähe ein Geräusch vernahm. Sie setzte sich auf und zu ihrer großen Erleichterung handelte es sich bei dem Geräusch tatsächlich um das Knarzen der Holztür, die in das große Tor eingebaut war. Eine Gestalt erschien in der Tür und blickte nach draußen. Als er Naria entdeckte, winkte er ihr auf­fordernd zu, trat zur Seite und öffnete die Tür ganz. Naria ritt hindurch. Die Gestalt verschloss die Tür wieder und Naria lenkte Farla zu dem runden Wachturm zu ihrer Linken. Dort saß sie ab, die Gestalt öffnete die Tür zum Turm und trat als erste ein, Naria folgte mit ihrem Pferd. Drei Männer befanden sich in dem Raum. Sie saßen auf Holzschemeln am Feuer und spielten Karten. Vor jedem von ihnen stand ein großer Kelch und ihre Mäntel und ein paar Waffen lagen auf dem Boden rum. Ansonsten befand sich außer einer schmalen Wendeltreppe, die auf den Wehrgang führte, nichts in dem Raum.

„Typisch!“, schimpfte Naria und befreite sich von ihrer engen Kapuze. „Ich frier mir da draußen einen ab und ihr macht es euch hier drinnen gemütlich. Ihr seid ja wirklich zu nichts zu gebrauchen!“ Die drei blickten von ihren Karten auf. Naria hatte hin und wieder mit ihnen zu tun gehabt und konnte sie alle gut leiden. Jacob war einige Jahre älter als sie und ein stadtbekannter Herzensbrecher mit einem verschmitzten Grinsen und hellbraunen Haaren. Gareth und Rasvan wa­ren beide um die dreißig und gut miteinander befreundet. Beide hatten eine Frau und zwei bezie­hungsweise drei Kinder, die in der Stadt wohnten.

„Du hast doch gar nichts, was dir abfallen könnte, Schätzchen!“, sagte Jacob mit einem anzüglichen Grinsen.

„Wenigstens hattest du was zu tun“, brummte Rasvan. „Wir sitzen hier drinnen und langweilen uns zu Tode.“

„Dass Frauen immer gleich jammern müssen, wenn es mal etwas ungemütlicher wird“, ließ Gareth vernehmen und Jacob und Rasvan lachten zustimmend.

„Ich zeig dir gleich, was ich unter ungemütlich verstehe!“. gab Naria zurück, was die drei Männer erneut auflachen ließ.

„Ja, komm her und zeig's uns!“. rief Jacob übermütig. „Ich könnte dir auch noch ganz andere Sa­chen zeigen, wenn du willst!“ Gareth und Rasvan stießen sich grinsend in die Seite. In gespielter Empörung schüttelte Naria den Kopf. „Ich wollte mich sowieso bald mal wieder mit Alva und Maaje treffen, die beiden werden gar nicht begeistert sein, wenn ich ihnen berichte, wie sich ihre Männer wieder benommen haben.“ Augenblicklich hörten die beiden auf zu lachen und starrte sie entgeistert an.

„Alles, nur das nicht!“ „Bitte, bitte, tu uns das nicht an!“

„Und um mir genau so etwas zu ersparen, bin ich nicht verheiratet“, erklärte Jacob im Brustton der Überzeugung.

„Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das der Hauptgrund ist, mein Junge“, ertönte eine Stimme hinter Naria. Sie drehte sich um und erblickte Parvel, der gerade seinen Mantel ablegte.

„Also du hast mich reingelassen“, sagte sie. „Danke für die Rettung.“

Und an die anderen drei gewandt: „Und ihr sitzt hier schön im Warmen und Trockenen und lasst den armen alten Parvel nach draußen in die Kälte gehen? Ihr solltet euch was schämen!“

„Das mit dem alt will ich überhört haben“, knurrte Parvel. „Aber ansonsten hast du völlig Recht.“

„Sag schon, hattest du Erfolg?“, fragte Gareth und die anderen warteten gespannt. Jeder von ihnen wusste über Narias Mission Bescheid.

„Hatte ich“, sagte sie grinsend und zeigte Parvel die Phiole. Die Männer stießen Ausrufe der Freude hervor und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Alle mochten Cobalt und waren um ihn be­sorgt.

„Gut gemacht“, sagte Parvel und lächelte. „Jacob, schwing deinen nichtsnutzigen Hintern hier raus und sorg dafür, dass im Palast Bescheid gegeben wird“, wies er den jüngsten in der Runde an. Die­ser sprang auf, warf sich seinen schweren Mantel über und verschwand nach draußen, nicht ohne Naria vorher fest gedrückt zu haben.

„Du bist die Beste!“, rief er und schlug die Tür hinter sich zu. Auch Gareth und Rasvan waren auf­gestanden und eilten an Naria und Parvel vorbei zur Treppe. Beide schlugen Naria im Vorbeigehen so fest auf die Schulter, dass sie hinterher das Gefühl hatte, um zwanzig Zentimeter geschrumpft zu sein.

„Leute, sie hat das Zeug!“ und „Cobalt wird wieder gesund!“, riefen die beiden schon auf der Trep­pe und Naria vernahm Jubelrufe von oben. Sie musste grinsen.

„Möchtest du noch etwas trinken?“, fragte Parvel, der als Einziger mit ihr zurückgeblieben war. „Nein danke“, lehnte sie ab. „Ich will so schnell wie möglich zum Palast. Cobalt braucht das Ge­genmittel und ich habe Angst, wirklich davonzufliegen, wenn der Sturm noch schlimmer wird.“ Parvel nickte. „In Ordnung.“

„Wir sehen uns“, sagte Naria, zog sich die Kapuze wieder über und führte Farla nach draußen.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen und einige Schritte nach vorne gemacht hatte, vernahm sie ein lautes Stimmgewirr über ihrem Kopf. Sie blickte nach oben zur Mauer. Dort standen sechs Ge­stalten und winkten ihr begeistert mit beiden Armen zu. Naria winkte zurück, dann saß sie auf und machte sich auf den Weg durch den Sturm zum Palast.

 

Der Hof vor dem großen Eingangsportal war menschenleer, was Naria aber nicht weiter verwunder­te. Sie vermutete zwar, dass sie schon sehnsüchtig erwartet wurde, doch in den draußen tobenden Sturm hatte sich niemand aus dem Palast hinausgewagt. Sie lenkte Farla nach links zu den Pferde­ställen, wo die Stute von einem Stallknecht in Empfang genommen wurde. Dann überquerte sie den Hof erneut, stieg die Treppenstufen hinauf und klopfte an der kleinen Tür, die neben dem Eingangs­portal in die Steinmauer eingebaut war. Augenblicklich wurde die Tür aufgerissen und Naria beeilte sich, dem eisigen Sturm endlich zu entkommen. Sie konnte gerade noch ihre nasse Kapuze vom Kopf ziehen, da wurde sie auch schon erwürgt. Yonah umschlang sie mit beiden Arme so fest, dass sie Atemnot bekam und sich panisch in seiner Umarmung hin und her wand. Als sie sich schließlich damit abgefunden hatte, der Welt für immer Lebewohl zu sagen, ließ er von ihr ab und trat zwei  Schritte zurück. Naria stolperte rückwärts, lehnte sich an die Wand und rang nach Luft, während sie sich ihre schmerzende Kehle rieb.

„Bist – du – irre?!“, stieß sie hervor, als sie wieder einigermaßen sprechen konnte. „Willst du mich umbringen?“

„Entschuldige“, sagte Yonah kleinlaut, wirkte aber kein bisschen reumütig. Nun blickte Naria sich zum ersten Mal seit ihrem Eintreffen in der Halle um. Siara war da und stand einige Schritte von ih­nen entfernt. Gerade kam Siras aus der Tür zu ihrer Rechten in die Halle gelaufen, die unter ande­rem zu den Unterkünften der Wächter und den Verwaltungsräumen führte. Er atmete schwer und fuhr sich mit der linken Hand zerzaust durch die Haare, die in alle Richtungen von seinem Kopf ab­standen.

„Was ist denn mit Euch los?“, fragte Yonah und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Ich habe mich auf Geheiß des Königs um die Wächter im Speisesaal und Aufenthaltsraum geküm­mert“, keuchte der Berater. Naria und Yonah blickten ihn verständnislos an und Siara kam neugierig einige Schritte näher.

„Der König hat ihnen befohlen, die nächste halbe Stunde diese Räume nicht zu verlassen, da er be­fürchtete, sie würden dich sonst schon in der Eingangshalle überfallen.“ Er nickte zu Naria hinüber. „Es war aber nicht ganz einfach, sie davon zu überzeugen. Ich werde jetzt den König hinunterbit­ten.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in Richtung Thronsaal. Siara, Yonah und Naria blieben alleine zurück. Die Prinzessin schenkte Naria ein strahlendes Lächeln. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin“, sagte sie. „Ich bin so erleichtert, dass Cobalt gerettet wer­den kann!“

„Das bin ich auch“, antwortete Naria. Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch im selben Moment hörten sie Schritte näherkommen und blickten sich um. König Arik kam die Steintreppe hinunter, gefolgt von Siras, Aloysius und dem Leibarzt. Nachdem sie den König respektvoll begrüßt hatte, händigte sie ihm Salaaras Brief sowie die Phiole aus. Obwohl er meistens ein sehr ernster Mann war, konnte sich König Arik beim Lesen des Briefes ein belustigtes Lächeln nicht verkneifen. Nach­dem er geendet hatte, reichte er das Papier an Siras weiter und die beiden Berater sowie der Arzt beugten sich darüber.

„Und du bist dir sicher, dass die Hexe die Wahrheit schreibt?“, wandte er sich an Naria. Diese nick­te. Sie konnte es sich selbst nicht ganz erklären, aber irgendwie fühlte sie, dass Salaara sie in dem Brief nicht belog.

„Dann werden wir ihm das Mittel sofort verabreichen“, entschied der König.

„Vielen Dank, Vater!“, sagte Siara glücklich und der König richtete ein paar Worte an seine drei Be­gleiter. Nun hatte Naria Gelegenheit, Aloysius genauer in Augenschein zu nehmen. Wie immer war er perfekt gekleidet und frisiert, doch er wirkte in sich zusammengesunken und in seinen Augen glitzerte nicht derselbe Tatendrang wie sonst. Schlagartig überkam Naria wieder das Mitleid und in ihrem Kopf tauchte das Bild von Levent auf, wie er auf dem Boden lag und sie, die zwei Stockwer­ke über ihm auf dem Balkon stand, mit weit aufgerissen Augen anstarrte. Seit sie wusste, dass der junge Wächter zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hatte, spukte ihr diese Erinnerung immer wieder im Kopf herum. Hatte er sie wirklich sehen können? Oder hatte sie sich das nur eingebildet?  „Alles in Ordnung?“, riss sie Yonah aus ihren Gedanken und betrachtete sie aufmerksam mit leicht schief ge­legtem Kopf. Naria schüttelte den Kopf, als könne sie ihre Erinnerung wie eine lästige Fliege ver­treiben, die um sie herumschwirrte.

„Natürlich, ja. Aber ich denke, ich sollte langsam mal hochgehen. Wenn ihr mich entschuldigen würdet.“ Sie verabschiedete sich von den Anwesenden und machte sich auf den Weg zu den Unter­künften der Wächter. Der Arzt folgte ihr und verschwand mit dem Gegengift in Cobalts Zimmer. Anstatt weiterzugehen, wartete Naria vor der Tür, bis er nach einer Weile wieder hinauskam.

„Hat er es geschluckt?“, fragte sie gespannt. Der Arzt nickte.

„Ich denke, jetzt müssen wir einfach abwarten“, sagte er noch, bevor er wieder in Richtung Ein­gangshalle davonging.

Naria hasste abwarten, aber in diesem Fall blieb ihnen wohl wirklich nichts anderes übrig. Ohne wirklich darüber nachzudenken, öffnete sie die Tür und schlüpfte zu Cobalt ins Zimmer. Alles war noch genauso wie vorher. Die Vorhänge waren zugezogen und es war dunkel. Naria setzte sich auf einen Stuhl der neben dem Bett stand und blickte auf Cobalt hinunter, dessen blasse Gesichtszüge sie in der Dunkelheit nur schemenhaft erkannte. Eine Weile saß sie einfach nur so da, dann stand sie auf und seufzte tief.

„Das ist alles, was ich für dich tun konnte“, sagte sie zum Abschied. „Den Rest wirst du schon sel­ber erledigen müssen.“ Sie verließ sein Zimmer und machte sich auf den Weg zum Speisesaal, um sich der hungrigen Meute zu stellen.

Kapitel 22

 

„Er ist einfach nur ätzend!", schimpfte Ileanna und blickte Naria und Salim um Zustimmung hei­schend an. „Was kann man denn bitte an ihm mögen? Er ist so schrecklich von sich selbst einge­nommen, das ist schon fast unheimlich! Was er alles machen will, wenn er mal König ist, seine Ländereien, seine Häuser, sein Pferdegestüt, seine Pläne, seine Hochzeit! Das ist auch meine Hoch­zeit, verdammt noch mal, und ich bin immer noch die Königin per Geburt! Wieso tut er so als wür­de alles auf der Welt ihm gehören?“ Genervt pfefferte sie die Stickerei, an der sie immer noch er­folglos arbeitete, auf den Boden und raufte sich die Haare. Sofort eilte Cleva herbei, hob die Sticke­rei von Boden auf, legte sie sorgfältig auf den Tisch und machte sich dann an Ileannas zerstörter Frisur zu schaffen. Naria und Salim blickten sich an. Sie saß auf der Fensterbank und er in einem Sessel am Kamin. Seit Fürst Nor vor über einer Stunde Ileannas Gemächer verlassen hatte, wo er und Ileanna den Tee miteinander eingenommen hatten, ging das nun schon so. Weder Naria noch Salim noch Cleva hatten seitdem ein Wort gesagt, aber das war auch gar nicht nötig, denn Ileanna schimpfte genug für fünf. Zugegeben, Naria war auch nicht sehr begeistert von Nors Verhalten ge­wesen, denn er hatte wirklich fast nur von sich selbst gesprochen, aber die Prinzessin hatte sich auch nicht besonders entgegenkommend benommen. Nach wie vor machte sie keinen Hehl aus ihrer Abneigung zu Fürst Nor, was diesen nicht wirklich zu stören schien, Königin Maidred dafür aber umso mehr.

Es klopfte an der Tür. Cleva öffnete und ließ Siara, Yonah und Senn herein, der noch immer Cobalt vertrat. Seitdem diesem das Gegenmittel verabreicht worden war, waren schon fünf Tage vergangen und noch nichts war geschehen. Die Euphorie, die im Palast geherrscht hatte, als Naria von Salaara zurückgekehrt war, hatte sich in eine ungeduldige Erwartungshaltung entwickelt. Naria bemühte sich sehr, nicht zu resignieren, denn Salaara hatte ja geschrieben, dass die Wirkung erst nach einer ganzen Weile einsetzen würde. Viel unpräziser hätte die Angabe nicht sein können, denn Naria hatte keine Ahnung, was eine ganze Weile für jemanden bedeutete, der so alt war wie Salaara. Wie alt war sie überhaupt?

Während Siara sich neben ihrer aufgebrachten Schwester auf dem Sofa niederließ und Senn sich zu Salim gesellte, setzte sich Yonah zu Naria auf die Fensterbank.

„Ich war vorhin bei ihm.“ sagte er.

„Alles beim Alten?“, fragte Naria ohne groß darauf zu hoffen, dass Yonah bessere Nachrichten hat­te. Und sie sollte Recht behalten.

„Keine Veränderung“,antwortete er deprimiert.

„Lass den Kopf nicht hängen“, versuchte Naria ihn aufzumuntern. „Sie hat geschrieben, dass es lan­ge dauern kann.“

„Mpf“, machte Yonah. „Und was ist, wenn es zu spät war? Stand in dem Brief nicht auch, dass es nach einer Zeit nicht mehr wirkt?“

„Glaube ich nicht.“ Entschieden schüttelte Naria den Kopf. „Da stand auch, dass sie nicht glaubt, es sei zu spät. Und irgendwie scheint sie alles zu wissen. Also wieso nicht auch das?“ Yonah blickte sie mit gerunzelter Stirn an.

„Wie kommt es, dass du so blind auf alles vertraust, was diese Hexe sagt? Sie schuldet uns doch nichts, und wenn wäre es ihr auch egal. Warum sollte sie uns also den Gefallen tun und uns einfach so das Mittel geben? Wieso glaubst du ihr so ohne Weiteres?“ Eine zeitlang sprachen sie beide nicht.

„Ich weiß es auch nicht“, antwortete Naria schließlich. „Ich habe es irgendwie im Gefühl, dass ich ihr da vertrauen kann. Abgesehen davon ist es unsere einzige Hoffnung, wenn ich nicht drauf setzen soll, worauf dann?“ Yonah erwiderte nichts. Schweigend blickten sie in den Raum hinein. Ileanna wiederholte gerade all das, was sie vorhin schon zu ihren Wächtern gesagt hatte, vor ihrer Schwes­ter. Salim und Senn unterhielten sich über irgendeine Kampftechnik. Die beiden waren recht gut be­freundet. Senn war einige Jahre jünger als er und eigentlich kein Personenwächter, sondern mitver­antwortlich für die Bewachung im Palast. Salim und er waren hin und wieder gemeinsam im Auf­trag des Königs unterwegs gewesen und hatten sich währenddessen angefreundet.

„Kommst du gut mit ihm klar?“, fragte Naria an Yonah gewandt und nickte hinüber zu Senn. „Schon“, sagte Yonah. „Er ist nett und weiß, was er tut. Wir können uns nicht beschweren. Aber es ist einfach nicht dasselbe...“

„Ja, ich weiß. Wie kommt sie mit der Sache klar?“ Naria musste nicht auf Siara deuten, damit Yo­nah wusste, von wem sie sprach. Er zuckte die Achseln.

„Es ist besser, seit du das Mittel gebracht hast. Seitdem redet sie wieder mehr. Davor war es..wirk­lich schlimm. Sie saß nur rum und ich wusste nicht, wie ich ihr helfen konnte.“ Naria nickte lang­sam.

„Irgendwie habe ich aber das Gefühl, das ist nicht alles, was sie belastet. Ich weiß auch nicht, sie re­det ja nicht darüber, aber sie ist so niedergeschlagen. Dabei kann es doch nicht nur um Cobalt ge­hen, oder doch?“

„Keine Ahnung. Du kennst sie ja viel besser als ich, also wenn du denkst, da ist noch was...“

„Ach egal. Früher oder später werden wir das schon erfahren.“ Naria nickte. Dann fiel ihr etwas ein. „Ach ja, wie war eigentlich Melvas Ball?“ Bei diesem Worten wurden alle im Raum hellhörig. Selbst Ileanna unterbrach ihre Schimpftirade und blickte auf.

„Du kennst sie ja“, sagte sie und die anderen mussten grinsen. „Der Ballsaal war bis zu Geht-nicht-mehr geschmückt, es gab Unmengen an Essen und jede Menge Gäste von überall aus dem Land wa­ren eingeladen. Sogar einige von außerhalb. Ihr Kleid war so bombastisch, dass sie es fast nicht die Treppe runter geschafft hätte.“ Naria lachte. So etwas sah Melva ähnlich.

„Und Liviane?“, fragte sie dann neugierig. „Was hat sie sich einfallen lassen?“

Salim, Senn und Yonah brüllten los vor Lachen und auch Ileanna und Siara grinsten bis über beide Ohren und begannen dann so sehr zu kichern, dass beide einen Schluckauf bekamen.

„Hallo?“, fragte Naria nach einer Weile ungeduldig, als niemand Anstalten machte, sie aufzuklären. „Tut uns leid“, japste Yonah. „Es war nur so lustig!“ Und er wurde von einem so starken Lach­krampf geschüttelt, dass er von der Fensterbank abrutschte und unsanft auf dem Boden landete.

„Also“, sagte Ileanna schließlich und schnappte nach Luft „sie hat sich genauso angezogen wie ihre Wächter.“ Naria runzelte verwirrt die Stirn. Und deshalb waren die anderen so außer sich?

„Naja, da habe ich bei ihr aber schon anderes gesehen“, meinte sie.

„Das ist nicht das Lustige“, erklärte Salim lachend.

„Nein“, fügte Senn hinzu. „Das wirklich Lustige an der Sache war, dass Larak und Tevanon nicht ihre normalen Uniformen anhatten.“ Er musste erneut lachen und konnte nicht weiter sprechen. „Nein“, fuhr Yonah aus, der zu ihren Füßen auf dem Boden saß. „Also doch. Aber die waren nicht so wie sonst, sondern Liviane hatte sie verziert.“ Jetzt ging Naria langsam ein Licht auf und ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen.

„So?“, fragte sie.

„Die beiden waren total bunt und über und  über mit Glitzer bestreut“, erzählte Senn. „Richtig ge­funkelt haben sie.“

„Du hättest ihre Gesichter sehen sollen.“ Salim war mit Livianes Wächtern im selben Jahr auf der Akademie gewesen und hatte sich in seiner Jugend nicht sehr gut mit ihnen verstanden. Soweit Na­ria wusste, hatten Larak und Tevanon ihm einige Streiche gespielt, was er ihnen nie so ganz verzie­hen hatte. Deshalb war er wohl auch so erfreut über die Blamage, die sie auf Melvas Ball hatten er­leiden müssen.

„Ich habe wirklich keine Ahnung, wie Liviane sie dazu gebracht hat“, sagte Senn.

„Das wüsste ich auch gerne, allerdings weiß ich nicht, ob ich die Wahrheit verkraften würde.“ Ilean­na kannte ihre Großmutter gut und wusste aus erster Hand, wozu sie fähig war.

„Jedenfalls hat Domek in ihrem Auftrag ein paar Bilder von den dreien angefertigt.“ Domek war ein sehr talentierter Zeichner und hatte die meisten von ihnen schon des öfteren porträtiert. „Und bald will sie sie aufhängen lassen“, erläuterte Salim. „Für unseren Speisesaal ist auch eins vorgese­hen.“

„Du meine Güte“, sagte Naria lachend. „Wirklich schade, dass ich das nicht miterlebt habe.“

„Hm“, erwiderte Ileanna. „Wir können ja auch mal so etwas machen, wenn dir das so gut gefällt.“

„Ich kündige.“ „Ich habe gehört, die Stadtwache braucht noch Unterstützung.“

 

Am nächsten Tag nach dem gemeinsamen Frühstück war Ileanna von ihrer Mutter in deren Gemä­cher zitiert worden. Ergeben hatte die Prinzessin geseufzt und Königin Maidred versprochen, in ei­ner halben Stunde bei ihr zu erscheinen. Nun stand sie schon seit einer Minute vor den Türen und konnte sich nicht entschließen, anzuklopfen.

„Was will sie denn nur von mir?“, fragte sie Salim und Naria leise und außerdem schon zum dritten Mal seit sie ihre Gemächer verlassen hatten.

„Um Himmels Willen, Ileanna, sie ist deine Mutter“, stöhnte Salim genervt. „Darf sie sich jetzt nicht mehr mit ihrer Tochter treffen oder was?“

„Meine Mutter würde sich niemals einfach so mit mir treffen, das wisst ihr genauso gut wie ich“, entgegnete Ileanna und Naria wusste, dass die Prinzessin Recht hatte. Sie hatte auch schon eine Ver­mutung was der Anlass des Treffens sein könnte, doch sie hütete sich, Ileanna in ihre Gedanken ein­zuweihen, denn dann würde diese mit Sicherheit Reißaus nehmen und Naria und Salim müssten den Rest des Tages damit verbringen, sie wieder einzufangen.

„Jetzt klopf halt an“, sagte sie deshalb nur. „Du kannst ihr auf Dauer nicht entkommen.“

„Oh ihr guten Geister, steht mir bei“, murmelte Ileanna und klopfte schließlich mit der Faust an die schwere Holztür. Drinnen waren Schritte zu hören, dann wurde die Tür geöffnet. Eine kleine, rund­liche Frau mit dunkelblonden Locken und einem gutmütigem Gesicht und Lachfältchen in den Au­genwinkeln stand davor. Es war Nirin, die schon lange vor Ileannas Geburt die Zofe der Königin gewesen war.

„Prinzessin Ileanna!“, begrüßte Nirin sie erfreut. „Eure Mutter erwartet euch bereits!“

Ileanna lächelte ihr halbherzig zu und trat vor Naria und Salim ein. Nirin schloss die Tür hinter ih­nen. Sie befanden sich in einem kleinen Vorraum, ähnlich dem in Ileannas Gemächern, nur dass die­ser hier mit geschmackvollen Bildern an den Wänden, hübschen Blumensträußen und vielen Sticke­reien aufwendiger eingerichtet war. Nirin ging an ihnen vorbei und führte sie in das angrenzende Wohnzimmer.

Als die Zofe zur Seite trat und Ileanna freie Sicht in den Raum hatte, blieb sie so ruckartig stehen, dass Naria und Salim gerade noch einen Auflauf verhindern konnten. Ileanna war wie erstarrt und  blickte nur stumm geradeaus. Neugierig lugte Naria an der Prinzessin vorbei und ihr verschlug es die Sprache. Sie hatte sich gedacht, dass Königin Maidred mit ihrer Tochter über die anstehende Hochzeit hatte sprechen wollen, aber so etwas hatte sie nicht erwartet. Der große, freundliche und in hellen Cremefarben gehaltene Raum war mit haufenweise lächelnden Damen gefüllt, die Teetassen in den Händen hielten und neben ihren mitgebrachten Sachen standen oder saßen. Auf der Kante ei­nes Sessels saß eine adrett gekleidete Frau in mittlerem Alter. Zu ihrer Linken standen zwei Diener und hielten eine Stange, auf der mindestens zwanzig weiße, lange Kleider hingen. In einem Sessel daneben hatte eine junge Frau  Platz genommen, die bergeweise Stoff mitgebracht hatte, der ausge­breitet vor ihr auf dem kleinen Tisch und auf dem Boden lag und über den Armlehnen des Sessels hing. Hinter dem Sessel standen zwei Mädchen, die nicht älter als fünfzehn sein konnten und hiel­ten zwei Kisten mit Nähutensilien in den Händen, wenn Naria das richtig erkannte. Auf der einen Fensterbank hatte eine weitere Frau anscheinend einen Hutladen eröffnet. Außerdem gab es jede Menge Kuchen und Törtchen sowie Gedecke in allen möglichen und unmöglichen Formen und Far­ben, unzählige Blumenarrangements mit dazugehörigen Stoffen und Schleifen, eine riesige Auswahl an Papier und Karten und vieles mehr. Inmitten dieses Chaos saß Königin Maidred auf dem Sofa und lächelte ihnen zu. Als Ileanna erschien erhoben sich alle Leute in dem Raum und senkten ehrer­bietig die Köpfe.

„Was - “, brachte Ileanna nur hervor.

„Ileanna, mein Kind!“, begrüßte Königin Maidred sie freudestrahlend. „Schön, dass du gekommen bist.“

„Die Königin hat ihr ja nicht wirklich einen Wahl gelassen“, ging es Naria durch den Kopf.

„Ich dachte mir, es ist an der Zeit, dass wir uns mal ein wenig konkreter mit deiner Hochzeit befas­sen. Immerhin bist du ja schon seit dem Sommer mit Fürst Nor verlobt. Da inzwischen Winter ist, hattet ihr nun mehr als genug Zeit, euch besser kennenzulernen, meinst du nicht?“

„Abgesehen davon, dass Ileanna zwischendurch entführt worden ist, ja“, dachte Naria.

„Würg.“, machte Ileanna. Die Königin überhörte diesen Kommentar.

„Komm doch bitte herein.“, forderte sie ihre Tochter auf. Ileanna drehte sich um und wollte weglau­fen, aber Naria und Salim traten ihr in den Weg. Manchmal mussten die Wächter ihre Schützlinge auch vor sich selbst beschützen.

„Ich hasse euch.“, knurrte Ileanna, als Salim und Naria sie an beiden Ellenbogen packten und in den letzten freien Sessel bugsierten. Dann blickten sie sich in dem Raum nach einem freien Flecken um und verzogen sich in eine Ecke.

„Sehr schön.“ Die Königin lächelte noch immer. „Dann können wir ja jetzt mit den Vorbereitungen beginnen.“

 

„Es interessiert mich nicht, ob das Gedeck mit Blümchen oder Schnörkeln verziert ist!“, fauchte Ileanna geschlagene drei Stunden und viele Wutausbrüche später. „Von mir aus könnt ihr euch eure Tischdekoration sonst wohin stecken!“ Die anwesenden Damen schnappten erschrocken nach Luft und die Königin rief aufgebracht: „Ileanna!“

Inzwischen hatte die Prinzessin jede Menge Anproben und Gerede über zueinander passende Stoffe und Muster über sich ergehen lassen. Sie hatte gefühlt jeden Hut aus dem Königreich anprobiert und von jedem Törtchen gekostet, das ihre Mutter ihr aufgezwungen hatte. Sie hatte sie Erklärungen zu den verschiedenen Qualitäten des Briefpapiers und Diskussionen über die Authentizität eines je­den vorhandenen Blumenarrangements mitangehört. Ileanna war am Ende.

„Mutter!“, unterbrach sie die Königin, die gerade in eine Unterhaltung über die Teller mit dem Goldrand in Kombination mit Blumenschmuck, der hauptsächlich aus Narzissen bestand, verwi­ckelt war. „Bitte, ich muss hier kurz raus! Ich verspreche auch, dass ich nicht weglaufe.“ Die Köni­gin seufzte.

„Also gut. Aber nur ein paar Minuten. Naria, Salim, ich verlasse mich auf euch. Sorgt dafür, dass sie bald wieder da ist.“ Die beiden versicherten es ihr und Ileanna verließ ihnen voran fluchtartig den Raum. Auf dem Gang wandte sie sich zielstrebig und eiligen Schrittes nach links. Naria und Sa­lim bemühten sich, ihr zu folgen. Ileanna sagte kein Wort, während sie gingen.

„Ileanna, wo willst du hin?“, fragte Naria, nachdem sie eine Weile gegangen waren. „Wir müssen gleich zurück, das weißt du!“

„Ich weiß“, stöhnte die Prinzessin. „Keine Sorge, ich laufe euch schon nicht weg.“

„Was hast du denn vor?“, wollte Salim nun wissen.

„Mir Unterstützung holen.“ Ileanna blieb stehen und drehte sich ruckartig zu ihren Wächtern um. „Ich stehe das nicht mehr alleine durch, ich raste gleich komplett aus.“

„Gilt die Königin mit Sahnetörtchen bewerfen nicht als komplett ausrasten?“, fragte Naria, doch Ileanna warf ihr nur einen genervten Blick zu.

„Ich will das einfach nur noch hinter mich bringen, ich kann nicht mehr. Aber so kommen wir nicht weiter. Ich brauche jemanden, der das genauso gern macht wie meine Mutter, dann können sich sich gegenseitig beschäftigen und lassen mich in Ruhe.“ Sie drehte sich um und lief weiter. Naria und Salim warfen sich einen Blick zu. Ileanna war ganz schön gerissen, was so etwas betraf. Sie würde Melva auf die Königin ansetzen und sich dann aus dem ganzen Theater zurückziehen. Sie hatten die Türen zu Melvas Gemächern erreicht.

„Ist meine Schwester da drin?“, rief Ileanna Beagor und Domek, die neben den Wachposten im Gang standen, schon im Laufen zu.

„Ja, aber - “

„Gut.“ Ohne anzuklopfen drückte Ileanna die Klinke herunter und trat ein.

„Prinzessin, ihr könnt nicht - “, rief ihr eine der beiden Wachen noch zu, aber Ileanna beachtete sie gar nicht. Melvas Gemächer waren im Großen und Ganzen so wie Ileannas, nur mit mehr rosa, pink, lila, Blümchen und Rüschen. Das Wohnzimmer war leer.

„Melva?“, rief Ileanna, doch sie bekam keine Antwort. Schnurstracks lief sie auf das Schlafzimmer zu und öffnete die Tür.

Fassungslos prallte sie zurück und Naria und Salim schnappten erschrocken nach Luft, wie es vor ein paar Minuten noch die Damen bei Königin Maidred getan hatten. Naria blinzelte ein paar Mal, doch das Bild, das sich ihr bot, blieb dasselbe. Melva war tatsächlich da. Sie fuhr herum und starrte die drei entgeistert an. Mit ihr in dem zerwühlten Bett lag Fürst Nor.

Kapitel 23


Wortlos schlug Ileanna die Tür wieder zu und verließ Melvas Gemächer. Naria und Salim folgten ihr.

„Ileanna! Ileanna, warte!“, hörten sie Melva von drinnen rufen, aber Ileanna reagierte nicht. Naria konnte nicht fassen, was sie da gerade gesehen hatten. Fürst Nor, der Verlobte von Kronprinzessin Ileanna, der zukünftige Königin von Catalanien, hatte ein Verhältnis mit deren jüngeren Schwester, die gerade erst siebzehn war.

„Ileanna?“, fragte Salim vorsichtig. Die Prinzessin ignorierte ihn. „Ileanna!“ Unsanft packte er sie an der Schulter und brachte sie zum Stehen. „Ileanna, was hast du vor?“

„Was glaubst du wohl?“, fauchte sie ihn an. „Ich gehe zu meinem Vater! So ein mieses Schwein, was denkt er sich dabei? Sie ist siebzehn!“ Ileanna machte sich von Salim los und marschierte wei­ter. „Den werde ich mit Sicherheit nicht heiraten! Wie kann er nur!“ Ratlos schauten Naria und Sa­lim einander an. Naria wusste nicht, ob es gut war, dass Ileanna in ihrem Zustand direkt zum König ging und ihm von dem Vorfall erzählte, aber eine bessere Idee hatte sie auch nicht. Er musste es er­fahren. Salim schien dasselbe zu denken wie sie und so eilten die drei schweigend den Gang ent­lang, die Treppe hinunter, durch die Vorhalle, die Eingangshalle und die Steintreppe hinauf. Vor dem Arbeitszimmer des Königs machten sie Halt. Abermals riss Ileanna die Tür auf, ohne anzuklop­fen oder auf die protestierenden Wachposten zu achten.

„Raus!“, befahl sie Aloysius und Siras, die sich gemeinsam mit dem König über eine Karte auf des­sen Schreibtisch gebeugt hatten und sich nun verwundert umdrehten.

„Wie bitte?“, fragte Siras.

„Raus!“, rief Ileanna und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die noch immer geöffnete Tür. „Ileanna, was soll das denn?“, fragte der König streng. „Wir sind mitten in einer Besprechung, kannst du nicht anklopfen?“ „Ich muss jetzt mit dir sprechen“, sagte Ileanna eindringlich.

„Kann das nicht warten?“

„NEIN!“ Der König seufzte. Entschuldigend blickte er seine Berater an.

„Kann ich fünf Minuten mit meiner Tochter haben?“ fragte er.

„Natürlich!“ und „Selbstverständlich!“, beeilten Aloysius und Siras sich zu sagen und verschwan­den mit einer angedeuteten Verbeugung aus der Tür.

„Also Ileanna, was gibt es so Wichtiges, dass du - “

„Mein Verlobter hat eine Affäre mit Melva.“ platzte es aus ihr heraus. Der König starrte sie an, als habe sie ihm gerade eröffnet anstatt Fürst Nor Naria heiraten zu wollen.

„Wie bitte?“, fragte er perplex.

„Fürst. Nor. Hat. Eine. Affäre. Mit. Melva“, wiederholte sie, als sei er schwer von Begriff.

„Ileanna, wenn das wieder eine deiner Versuche ist, mich von der Heirat abzubringen, dann finde ich das sehr, sehr geschmack - “

„Verdammt noch mal!“, schrie Ileanna ihn an. „Wie kannst du so etwas von mir denken? Sie ist meine kleine Schwester!“

„Ileanna, das ist eine sehr ernste Anschuldigung, du kannst nicht einfach - “

„Vater!“ Ileannas Augen funkelten zornig. „Ich lüge dich nicht an! Die beiden waren dabei, sie ha­ben es auch gesehen!“ Der König richtete seine Aufmerksamkeit auf Naria und Salim.

„Könnt ihr das bestätigen?“, fragte er. „Habt ihr auch gesehen, was Ileanna beschreibt?“ Naria blickte Salim an.

„Wir können bestätigen, dass wir die beiden gemeinsam in Prinzessin Melvas Bett gesehen haben, mein König“, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. Naria nickte bestätigend.

„Da hast du's!“, rief Ileanna. „Und mir glaubst du nicht!“ Mit einer barschen Handbewegung brach­te der König sie zum Schweigen. Obwohl er sich nie besonders viel anmerken ließ, konnte Naria er­kennen, wie aufgebracht er war. Er winkte einen seiner beiden Wächter heran, die bis zu diesem Zeitpunkt schweigend in einer Ecke des Zimmers gestanden hatten und befahl ihm, im Palast nach Fürst Nor zu suchen und ihn unverzüglich herzuschicken. Dann ging er nach draußen, entschuldigte sich bei seinen Beratern und vertagte die Besprechung auf den nächsten Tag. Die beiden verschwan­den, ein Diener trat ein und sammelte rasch die ausgebreiteten Karten ein. Während sie warteten sagte niemand ein Wort. Kurze Zeit später kehrte der Wächter zurück und verkündete, dass nach Fürst Nor geschickt worden war. Sie warteten weiter. Als es wieder klopfte, schreckten sie alle auf. Der König drehte sich zur Tür um und rief: „Herein!“

Ein Diener trat ein und verkündete mit einer Verbeugung: „Fürst Nor, König Arik.“ Dann trat besag­ter Fürst selbst ein. Seine kurzen braunen Haare waren so perfekt frisiert wie immer und sein ele­ganter Anzug saß richtig und war um keinen Zentimeter verrutscht. Sein Blick war ruhig und seine Miene ausdruckslos. Nichts an ihm ließ vermuten, was er noch vor wenigen Minuten getan hatte.

„Ihr habt nach mir geschickt, mein König.“ sagte er mit völlig normaler Stimme.

„Ja“, antwortete der König. „Tretet bitte ein.“ Fürst Nor trat näher und der Diener schloss von außen die Tür.

„Nun, ich will nicht darum herumreden.“ begann der König. Fürst Nor blickte ihn aufmerksam und offen, aber dennoch respektvoll an. „Prinzessin Ileanna kam gerade zu mir und berichtete mir, sie hätte...Euch und Prinzessin Melva in einer eindeutigen Situation vorgefunden.“ Gespannt warteten Ileanna, Naria und Salim auf die Reaktion des Fürsten. Eine Weile reagierte er überhaupt nicht, dann schüttelte er langsam den Kopf und blickte den König mit einem gequälten Gesichtsausdruck an.

„Es tut mir Leid, das so offen zu Euch sagen zu müssen, König Arik“, sagte er mit glatter Stimme. „Aber ihr wisst genauso gut wie ich über Prinzessin Ileannas Einstellung zum Thema Heiraten Be­scheid. Ich wünschte, ich müsste sie nicht beschuldigen, aber ich fürchte, sie hat sich da zu etwas hinreißen lassen. Ich bin mir sicher, dass sie keinen Schaden anrichten wollte mit ihrer unbesonne­nen Tat.“ Er lächelte den König gewinnend an Ileanna sog scharf die Luft ein und wäre Fürst Nor mit Sicherheit an die Gurgel gesprungen, wenn Naria und Salim sie nicht daran gehindert hätte.

„Das ist doch - “, stieß sie hervor und Naria presste ihr schnell die Hand auf den Mund. Ein Wut­ausbruch von Ileannas Seite würde die Situation sicher nicht zu ihren Gunsten verändern. Naria wusste, wie sehr der König Unterbrechungen hasste, wenn er sich gerade unterhielt. Sie ertappte sich dabei, wie sie erwartungsvoll die Luft anhielt. Die Spannung im Raum war zum Greifen nahe. Was würde der König jetzt tun? Würde er Fürst Nors Beteuerungen Glauben schenken, in denen er seine Tochter als Lügnerin bezeichnete oder würde er zu Ileanna halten und sich gegen Fürst Nor richten, den er achtete und respektierte?

„Ich möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen“, sagte der König schließlich. „Ich bedaure, dass wir uns in einer so ungemütlichen Situation befinden. Ich halte es für das Beste, wenn ich mich einmal unter vier Augen mit Prinzessin Melva unterhalte.“ Fürst Nor nickte bedächtig.

„Das halte ich für eine sehr gute Idee, mein König. Ich bin sicher, es wird sich alles zu Eurer Zufrie­denheit aufklären.“

 

Seit einer Viertelstunde warteten sie nun schon in der Eingangshalle, wie der König es ihnen befoh­len hatte, sobald er nach Melva hatte schicken lassen. Ileanna tigerte aufgebracht auf der einen Seite der Halle hin und her. Auf der anderen Seite stand Fürst Nor seelenruhig mit einer Hand in der Ho­sentasche und betrachtete aufmerksam die Familiengalerie als sei nichts weiter vorgefallen. Er schi­en sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein. Wahrscheinlich hatte Melva ihm versprochen, die gan­ze Sache zu leugnen und Fürst Nor befand sich seiner Meinung nach nicht in Gefahr. Naria wäre sich da an seiner Stelle nicht so sicher. Sie kannte die Fähigkeiten des Königs, was strenge Verhöre anging und wusste, dass seine Töchter ihn eigentlich viel zu sehr respektierten, um ihn bei so einer wichtigen Sache zu belügen. Eine gefühlte Ewigkeit später hörten sie von oberhalb der Treppe eine Tür schlagen. Gespannt drehten sich alle um. Wenige Augenblicke später kam König Arik mit schnellen Schritten und verkniffener Miene die Steintreppe herunter und ging auf Fürst Nor zu. Ohne ein Wort packte er den Fürsten am Kragen und schleifte ihn in Richtung Eingangstür. Ein be­flissener Diener beeilte sich, die kleine Seitentür zu öffnen, auf die der König zusteuerte. Dann schubste er Fürst Nor nach draußen, strich seine Kleidung gerade und drehte sich um.

„Die Verlobung ist gelöst“, verkündete er. Mit offenem Mund starrten ihn alle Anwesenden an. Wie­der hörten sie Schritte und drehten sich um. Melva kam wie ein Häufchen Elend die Treppe hinun­tergeschlichen und Tränen liefen ihr über das ganze Gesicht. Im selben Moment stürmte Königin Maidred in die Halle.

„Hier bist du!“, rief sie wütend und kam auf Ileanna zu, ohne die Situation um sie herum zu bemer­ken. „Ich habe dir gesagt, dass du wiederkommen sollst, du kannst dich schon mal auf etwas gefasst machen, junges Fräulein!“ Sie drehte sich um. „Ich muss etwas mit Fürst Nor wegen der Hochzeit besprechen“, sagte sie zu König Arik. „Kannst du mir sagen, wo er ist?“

„Es gibt keine Hochzeit“, sagte der König. „Fürst Nor ist weg.“

„Wie – weg?“, fragte die Königin und starrte ihren Mann entgeistert an.

„Durch die Tür“, erklärte dieser.

„Ach“, machte die Königin.

„Lass es dir von deiner jüngsten Tochter erklären.“ Damit wandte er sich ab, ging an ihnen allen vorbei, die Treppe hoch und verschwand. Völlig verdattert drehte sich Königin Maidred zu Melva um, die noch immer auf der Treppe stand.

„Es tut mir so leid!“, heulte sie und brach schluchzend zusammen.

„Ich brauche kein Geld mehr für teure Theaterkarten auszugeben“, stellte Liviane, die von allen un­bemerkt die Eingangshalle betreten hatte, erfreut fest. „Das hier ist tausend mal besser.“

 

„Ich sollte wirklich mit ihr sprechen, oder?“, fragte Ileanna und blickte Naria und Salim zweifelnd an. Die beiden nickten einstimmig. Sie befanden sich in Ileannas Gemächern. Vor ungefähr einer Stunde hatte Ileannas Vater Fürst Nor an die Luft gesetzt, die Verlobung gelöst und war dann ver­schwunden. Nachdem Melva zusammengebrochen war, hatte Königin Maidred einen Schwächean­fall erlitten und vom Arzt Bettruhe verordnet bekommen. Siara war von dem Tumult angelockt wor­den und hatte sich der völlig aufgelösten Melva angenommen. Ileanna hatte sich zurückgezogen. So unerfreulich die letzten Stunden auch gewesen waren, ganz schaffte die Kronprinzessin es nicht, ihre Freude über die gelöste Verlobung zu verbergen. Auch schwang ein bisschen Genugtuung in ih­rer Laune mit, denn sie hatte ihren Eltern ja von Anfang an gesagt, dass an Fürst Nor etwas faul war. So schnell würde sie sich von ihren Eltern zum Thema Ehemann nichts mehr sagen lassen, das stand fest.

„Ich denke, du solltest mit ihr sprechen“, stimmte Naria ihr zu und Salim nickte. „Sie fühlt sich be­stimmt ganz schrecklich.“

„Ja, das sollte sie auch, was hat sie sich bloß dabei gedacht?“, brauste Ileanna auf.

„Ich dachte, du freust dich darüber“, bemerkte Salim.

„Tue ich ja auch. Aber trotzdem.“

 

Domek öffnete ihnen die Tür und ließ sie eintreten.

„Sie ist im Schlafzimmer“, sagte Beagor, der auf Melvas rosafarbenem Sofa saß, zu ihnen, als sie ins Wohnzimmer traten. Ileanna ging zur Schlafzimmertür, klopfte kurz an und trat ein.

„Es tut mir soooo leid!“, hörten sie Melva im selben Moment durch die geschlossene Tür schluch­zen. „Es tut mir sooo leid! Ich wollte dich nicht hintergehen, wirklich nicht! Bitte, bitte, verzeih mir! Aber er war so nett und lieb zu mir und er hat mir gesagt, dass er mich liebt und mich immer lieben wird und ich konnte einfach nicht anders! Ich schäme mich so, aber ich hatte mich total in ihn verliebt, ich konnte nicht anders!“

„Ich habe nichts davon gewusst“, stöhnte Beagor, dem man ansehen konnte, wie sehr ihn diese Ent­wicklung überrumpelt hatte. „Noch nicht mal etwas geahnt habe ich. Ich hatte vermutet, dass sie sich wieder heimlich mit irgendeinem Jungen trifft, aber ich wäre nie, nie auf die Idee gekommen, dass er es sein könnte.“

„Ich auch nicht“, stimmte Domek ihm zu. „Die sollten unsere Stellen echt anders besetzen, wir kriegen ja gar nichts mit.“ Naria schüttelte abwehrend den Kopf.

„So ein Blödsinn“, widersprach sie bestimmt. „Ihr seid ihre Wächter, nicht ihre Kindermädchen. Und ihr könnt nicht jede Sekunde Tag und Nacht da sein. Und wenn sie euch bittet, mal vor die Tür zu warten oder so, könnt ihr ja auch nicht wissen, was sie nun wieder anstellt.“

„Ich habe keine Ahnung, wie er in ihr Schlafzimmer gekommen sein kann, wir standen doch die ganze Zeit vor ihrer Tür!“, beteuerte Beagor.

„Hat sie euch rausgeschickt?“, fragte Naria.

„Ja, sie hat gesagt, sie müsse kurz alleine sein“, antwortete Domek. „Wir haben  uns nichts dabei gedacht, so etwas kommt ja vor. Wir sind raus gegangen und haben da gewartet, bis ihr aufgetaucht seid.“ Die Tür zum Schlafzimmer wurde geöffnet und Ileanna und Melva kamen heraus. Ileanna hatte einen Arm um die verheulte Melva gelegt, die immer noch gelegentlich schluchzte und sich mit dem Ärmel ihres dunkelgrünen Kleides über das Gesicht wischte.

„Unter anderen Umständen wäre ich vermutlich ziemlich wütend auf dich“, sagte Ileanna zu ihr. „Aber da ich eigentlich sehr froh darüber bin, diesen Vollidioten nicht heiraten zu müssen, bin ich es nicht.“

„Ich schäme mich so fürchterlich“, flüsterte Melva.

„Ja, das solltest du auch!“, mischte sich Beagor ein und blickte seinen Schützling vorwurfsvoll an. „Wenn du so weiter machst, sind Domek und ich bald unsere Arbeit los!“

„Aber das will ich doch nicht!“, heulte Melva wieder los. „Es tut mir so leid, ich wollte euch keine Schwierigkeiten machen!“

„Ach du meine Güte“, stöhnte Beagor, als er sah, was er angerichtet hatte. „Ich hatte völlig verges­sen, dass sie ein Mädchen ist.“ Er stand auf und tat sein Bestes, um die aufgebrachte Prinzessin wie­der zu beruhigen.

„Danke, dass du nicht sauer auf mich bist“, sagte Melva kurze Zeit später zu ihrer älteren Schwes­ter.

„Schon okay“, antwortete Ileanna, die neben Beagor auf dem Sofa Platz genommen hatte. „Aber ich befürchte, unsere Mutter wird es nicht ganz so locker sehen.“

„Oh nein!“, rief Melva erschrocken aus. „Ich habe Mutter ganz vergessen! Sie wird mir den Kopf abreißen!“ Erneut brach sie in Tränen aus und rannte zurück ins Schlafzimmer. Ileanna stöhnte auf und machte, dass sie hinterherkam.

Kapitel 24

 

Königin Maidred riss Melva nicht den Kopf ab, aber es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte es tat­sächlich getan. Ihre jüngste Tochter war bei ihr in Ungnade gefallen und die Königin brauchte drei ganze Tage, bis sie sich weit genug von ihrem Schock erholt hatte, dass sie ihre Gemächer wieder verlassen konnte. Von da an behandelte sie Melva wie Luft. Diese war davon zwar nicht begeistert, fügte sich aber ihrem Schicksal, denn sie wusste, es hätte sie auch weit schlimmer treffen können. Naria kam es vor, als gäbe die Königin ihrer Tochter die Schuld für das Geschehene und nicht Fürst Nor. Dabei war Melva gerade erst siebzehn Jahre alt und sehr naiv für ihr Alter. Jeder wusste, wie schnell sie einem Mann verfiel und wie wenig sie über ihre Handlungen und deren Konsequenzen nachdachte. Fürst Nor hatte ihre Naivität schamlos ausgenutzt, das war zumindest die Ansicht von Naria und sie wusste, dass Ileanna, Salim und auch König Arik genauso dachten.

 

Am Tag nachdem die Königin zum ersten Mal wieder zum Frühstück mit ihrer Familie erschienen war, fand Levents Bestattung statt, da die Trauerzeit vorüber war. Die Verbrennung des Leichnams erfolgte natürlich draußen und auch die Trauerfeier war im Palastgarten geplant. Es war zwar noch Winter und ziemlich kalt, doch der Schnee war geschmolzen und die Sonne schien den ganzen Tag über. Bevor sie bei Ileanna sein musste, hatte Naria noch etwas Zeit und so machte sie einen kurzen Abstecher zu Cobalts Zimmer. Sein Zustand hatte sich seit der Einnahme des Gegengiftes nicht ver­ändert. Naria tröstete sich immer damit, dass wenigstens keine Verschlechterung eingetreten war, doch sehnte sie seine Genesung immer verzweifelter herbei. Sie setzte sich an sein Bett und be­trachtete sein blasses Gesicht. Wie sehr sie sein anzügliches Grinsen vermisste, sein verschmitztes Augenzwinkern oder die ihm vorwitzig ins Gesicht fallende Strähne seiner pechschwarzen Haare. Was hätte sie gegeben für einen eindringlichen Blick aus seinen unglaublich blauen Augen oder eine überraschende und freche Umarmung von ihm im völlig falschen Moment. „Heute ist Levents Bestattung“, erzählte sie ihm leise, während sie sich auf den bereitstehenden Stuhl setzte und seine eiskalte Hand in die ihren nahm. „Ich weiß, du hast ihn auch nie besonders gemocht, aber abgese­hen davon, dass er so einen Tod nicht verdient hätte, fehlt mir ohne ihn etwas, weißt du?“ Natürlich kam von Cobalt keine Antwort, aber Naria wusste, dass er sie verstanden hätte.

„Irgendwie gehören wir alle zusammen, auch die, die einem manchmal ziemlich auf die Nerven ge­hen können. Ohne ihn ist es einfach nicht mehr wie vorher. Und Aloysius tut mir so leid. Außer Bo­ron hat er jetzt niemanden mehr. Seine Frau ist schon lange tot und seine anderen beiden Söhne jetzt auch.“ Sie blieb noch eine Weile stumm sitzen, dann erhob sie sich und machte sich auf den Weg zu Ileanna.

 

Die Prinzessin war schon fertig angekleidet. Sie trug ein schlichtes, schwarzes, eng anliegendes Kleid, welches sehr dezent mit einigen Perlen verziert waren. Außerdem trug sie  einen schwarzen, langen Umhang aus fließendem Stoff, denn trotz der hell scheinenden Sonne war es draußen ziem­lich kalt. Die offenen Haare fielen ihr in leichten Wellen über die Schultern und die ihre Augen wa­ren dunkelgrau und schwarz umrahmt. Auch Cleva hatte ein schwarzes Kleid angelegt. Obwohl es aus Leinen bestand, war es hübsch anzusehen und stand der Zofe gut. Sie würde wie die meisten Angestellten im Palast ebenfalls an der Bestattung teilnehmen. Naria trug ihre übliche Uniform, die ja schon schwarz war und die weiße Binde, die alle Wächter zu Ehren Levents seit dessen Tod tru­gen. Kurz nach Naria traf auch Salim ein und die vier machten sich auf den Weg nach draußen. Auf dem Gang stießen Siara und Melva mit ihren Wächtern zu ihnen sowie ein der Königsfamilie nahe stehender Graf mitsamt Familie bestehend aus einer Frau und zwei Kindern, der zu Levents Beiset­zung angereist war und Gastgemächer bezogen hatte, die im selben Gang lagen wie die Räume der Familie. In der Eingangshalle hielten sich noch mehr schwarz gekleidete Personen auf, unter ihnen auch viele Wächter. Sie standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich leise. Ileanna und ihre Schwestern gesellten sich zu Veramae, einem siebzehnjährigen Mädchen, mit dem sie seit ihrer Kindheit befreundet waren. Veramae war oft bei ihnen im Palast zu Besuch gewesen, denn sie war die Tochter von Siras und wohnte in einem großen Landhaus nicht weit von der Stadt. Sie und ihre Familie waren ebenfalls gekommen um Levent die letzte Ehre zu erweisen. Naria und die anderen Wächter hielten sich im Hintergrund.

„Es ist einfach schrecklich traurig“, sagte Veramae, nachdem sie sich begrüßt hatten und strich sich eine Strähne ihrer dunkelblonden Haare hinters Ohr. „Ich habe so geweint, als mein Vater mir von seinem Tod erzählt hat.“ Ihre großen, dunkelbraunen Augen blickten ihre drei Gesprächspartnerin­nen traurig an. Veramae war mit den Prinzessinnen gut befreundet, aber mit Levent, der im selben Alter war, war sie praktisch aufgewachsen. Aloysius' Hauptwohnsitz war nicht weit von Siras' Zu­hause entfernt und da die beiden aus beruflichen Gründen viel miteinander zu tun gehabt hatten, hatten Veramae und Levent als Kinder viel Zeit miteinander verbracht.

„Ich kann es auch immer noch nicht glauben“, antwortete Melva. „Aber wir werden ihn als Held in Erinnerung behalten.“ Die anderen, besonders Ileanna, nickten zustimmend. Dass Levent quasi ge­storben war um sie zu retten, traf sie schwer. Veramae besaß genug Taktgefühl, um weder diese Tat­sache zu erwähnen noch das Gespräch auf Crenn zu lenken oder neugierige Fragen zu stellen, ein Zug, den Naria an der jungen Frau sehr schätzte. In diesem Moment kam Veramaes sechsjährige Schwester Mariela angelaufen und griff nach ihrer Hand. Das Mädchen war ihrer älteren Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten, nur ihre Augen waren nicht braun, sondern grün, das Gesicht war nicht ganz so rund und die Haare waren etwas heller.

„Wann geht es los?“, fragte sie und schaute ungeduldig zu ihrer Schwester auf.

„Gleich, mein Schatz“, antwortete diese. „Geh und such Mama, in Ordnung?“ Mariela nickte und rannte wieder davon. Lächelnd blickten ihr die vier eine Weile hinterher, dann wandten sie sich wie­der einander zu, doch bevor sie ihr Gespräch fortsetzen konnten, kam der König und die Königin die Treppe heruntergeschritten und das Stimmgewirr im Saal verstummte. Respektvoll wurde eine Gasse bis zum Eingangsportal gebildet, welches gerade von vier Dienern geöffnet wurde, und alle, an denen sie vorbeikamen, senkten ihre Köpfe bis sie vorüber waren. Ihnen folgten links und rechts Siras und Aloysius und schließlich in einigem Abstand ihre Wächter. Gemessenen Schrittes verlie­ßen sie die Eingangshalle und gingen die breite Steintreppe hinunter auf den Hof. Die Gesellschaft schloss sich ihnen an.

 

Auf dem großen Hof vor dem Palast war ein Berg aus Reisigzweigen aufgetürmt. Schräg davor war eine Erhöhung aus Holzplatten gelegt worden, damit der König von allen Anwesenden gut gesehen werden konnte. Während sie über den Hof schritten, lösten sich sämtliche Wächter aus der großen Gruppe und stellten sich in mehreren ordentlichen Reihen neben dem Holzhaufen auf, um ihrem Kollegen die letzte Ehre zu erweisen. Der Rest der Trauergesellschaft versammelte sich davor, in der ersten Reihe die Königsfamilie sowie Aloysius und Boron. Von ihrem Platz aus konnte Naria nur einen kurzen Blick auf Levents Bruder erhaschen. Soweit sie erkennen konnte, war er ein recht ansehnlicher junger Mann, etwas älter als zwanzig Jahre. Genau wie sein Vater blickte er starr vor sich hin und schien die Menschen um sich herum gar nicht zu registrieren. Naria sah, wie Ileanna ihre Augen fest auf die Holzstapel gerichtet hatte. Siara dagegen, die neben ihr stand, tupfte sich schon die Augen mit einem schwarzen Stofftaschentuch. Als alle versammelt waren, war es still auf dem großen Platz. Niemand sprach oder bewegte sich mehr als nötig. In Catalanien war es Sitte, während einer Beisetzung zu stehen und nicht zu sitzen, um dem Toten Respekt zu erweisen.

Die Schritte der vier Wächter, die eine weiße Holztruhe mit dem Wappen der Königsfamilie darauf aus dem Palast trugen, waren auf dem ganzen Platz zu hören. Domek war einer der Träger. Die vier gingen an der versammelten Menschenmenge vorbei und schoben die Truhe mit Levents Leichnam darin auf den vorgesehenen Platz zwischen den Reisigzweigen. Dann reihten sie sich bei den übri­gen Wächtern ein. Der König trat vor und stieg auf die für ihn vorgesehene Erhöhung. Er drehte sich zu den anderen um und begann zu sprechen.

„Levent, dem heute hier von uns die letzte Ehre erwiesen wird, ist in Ausübung seines Dienstes für das Königshaus und somit für ganz Catalanien gestorben. Er war mit ganzen Herzen Wächter und hat seine Aufgaben stets stolz erfüllt. Sein Handeln, für das er heute geehrt wird, erforderte größten Mut. Wir alle werden ihn als mutigen, stolzen Wächter, Sohn, Bruder und Freund in Erinnerung be­halten und zollen ihm höchsten Respekt für seine selbstlose Tat. Wir ehern und feiern Levent, der sein Leben für das Land gab, dem er lebenslange Treue schwor!“

„Wir ehren und feiern Levent!“, wiederholte die Menge. Der König verließ die Erhöhung und die Wächter nahmen Haltung an, indem sie mit ihren Händen ihre Unterarme umpackten und sich auf­richteten. Dieselbe Ehre hatten sie Naria bei ihrer ersten Reise zu Salaara erwiesen. Vier Diener tra­ten vor und entzündeten die Reisigzweige mit Fackeln. In Sekundenschnelle hatte der ganze Haufen Feuer gefangen und stumm sahen sie dabei zu, wie die Flammen auch die Holzkiste und damit auch Levents Körper verschlangen.

 

Alles war vollständig verbrannt und die Gemeinschaft machte sich auf den Weg in den Palastgarten, wo die Trauerfeier abgehalten und Aloysius stellvertretend für seinen Sohn die Ehrenmedaille Ca­talaniens erhalten sollte. Wie zuvor auch schritt der König voran, diesmal aber ohne die Berater sondern mit seiner Familie. Dahinter gingen Aloysius und Boron und anschließend folgten alle an­deren. Naria, Salim, Yonah, Senn und einige andere Wächter eskortierten die königliche Familie, der Rest von ihnen hatte sich der Gruppe angeschlossen. König Arik führte sie um den Palast herum und durch einen großen, mit Kletterpflanzen überwachsenen Torbogen. Dann gingen sie einen brei­ten Weg entlang, zu dessen Seiten im Frühjahr und Sommer die Rosenbüsche blühten. Der Weg be­schrieb einen weiten Bogen nach links und verbreiterte sich schließlich zu einem großen Platz, um­geben von hohen Bäumen und anderen Pflanzen. Im Winter blühten zwar weder die Blumen, noch waren die Bäume grün, doch irgendwie war es den talentierten Gärtnern des Palastes trotzdem ge­lungen, den Garten auch zu dieser Jahreszeit schön aussehen zu lassen. Naria konnte nicht genau er­klären warum, doch die kahlen Zweige, die an größeren Ästen auf sie herabhingen und mit Eiskris­tallen überzogen waren, gefielen ihr und übten eine eigenartige Faszination auf sie aus. Auf dem Platz war ein Podest aus Holz errichtet worden, das bis auf einige Stühle leer war. Auf dieses Podest bewegte sich der König nun zu und stieg über die kleine Treppe, die an der Seite angebracht war, hinauf. Ihm folgten Aloysius, Boron, Siras und zwei andere Berater. Für die Gäste waren davor vie­le Stuhlreihen aufgebaut. Naria und der Rest der Eskorte begleiteten Königin Maidred, Liviane und die Prinzessinnen zur ersten Reihe, die für sie vorgesehen war. Plötzlich blieb Siara stehen und Yo­nah wäre beinahe in sie hineingelaufen.

„Was ist los?“, fragte Ileanna, die neben ihrer Schwester ging, diese leise und eindringlich, doch sie antwortete nicht. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie panisch umher und atmete hektisch ein und aus. Dann drehte sie sich plötzlich um, rannte los und verschwand auf einem kleinen Weg zwi­schen zwei großen Weiden. Yonah lief sofort hinterher und Ileanna folgte ihm nach einem Blick auf ihre Mutter. Auch Naria und Salim wechselten einen Blick und als er ihr zunickte, entfernte auch sie sich.

Sie fand die drei einige Meter weiter auf dem schmalen Pfad. Siara stand mit gesenktem Kopf am Wegrand und ihre ältere Schwester redete eindringlich auf sie ein, während Yonah etwas hilflos da­neben stand und sich anscheinend überflüssig vorkam. Naria war bei ihnen angelangt und blieb ste­hen.

„Siara, was ist denn los?“, fragte Ileanna gerade. „Rede doch mit mir.“ Ihre Schwester schüttelte nur abwehrend den Kopf.

„Es ist nichts!“ beteuerte sie. „Es tut mir leid, ich hätte nicht einfach weglaufen sollen, aber irgend­wie war auf einmal alles zu viel und ich konnte nicht...ich konnte einfach nicht dableiben! Es tut mir so leid!“

„Schon gut. Aber jetzt sag mir doch bitte, was mit dir los ist!“ Siara atmete tief durch.

„Es ist nichts“, antwortete sie dann mit fester Stimme. „Ich schätze, die letzten Tage waren einfach zu viel für mich. Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen, es tut mir wirklich leid.“ Stirnrun­zelnd blickte Ileanna sie an und dachte nach. Ihr war klar, dass ihre Schwester ihr irgendetwas verheim­lichte, doch sie wusste auch, dass Siara sehr verschwiegen war und selten mehr von sich preisgab, als sie musste.

„In Ordnung“, sagte sie deshalb nach einer Weile. „Sollen wir dann zurückgehen?“ Siara nickte und gemeinsam machten sich sich auf den Weg. Yonah und Naria gingen ein Stück hinter den beiden. Naria konnte ihrem Freund ansehen, dass auch er mit Siaras Antwort nicht zufrieden war und dar­über nachgrübelte. Da erinnerte sie sich an etwas und fragte ihn leise: „Weißt du eigentlich etwas über eine angebliche Freundin von Levent? Ich habe da etwas gehört aber konnte nichts rausfin­den.“ Bevor Yonah antworten konnte, brach Siara vor ihnen zusammen. Erschrocken blieben die an­deren stehen und starrten die auf dem Boden hockende und weinende Prinzessin an.

„Ich bin es!“, stieß sie zwischen zwei Schluchzern hervor. „Ich bin seine Freundin!“ Tränen flossen ihr über das ganze Gesicht und sie bedeckte es mit den Händen. Fassungslos und mit offenen Mün­dern starrten Ileanna, Naria und Yonah sie an und versuchten, das eben Gehörte zu verarbeiteten. Nie im Leben wäre Naria auf die Idee gekommen, die schüchterne und zurückhaltende Siara könnte die geheimnisvolle Freundin des prahlerischen jungen Wächters gewesen sein. Ileanna hockte sich zu ihrer Schwester auf den Boden, nahm sie in den Arm und wiegte sie hin und her wie ein kleines Kind.

„Es tut mir so leid!“, flüsterte sie mitfühlend. „Ich hatte ja keine Ahnung!“ Narias Blick wanderte zu Yonah, der noch immer ungläubig auf seinen Schützling hinunterstarrte.

„Ich – ich - “, stotterte er und raufte sich die Haare. „Nie hätte ich gedacht – wäre ich auf den Ge­danken gekommen – was bin ich nur für ein lausiger Wächter! Das erklärt natürlich alles!“ Er hatte Recht. Die Tatsache, dass für Siara nicht nur irgendein Wächter, sondern ihr Freund gestorben war, machte ihre abwesendes und trauriges Verhalten in der letzten Zeit verständlich. Sie hatte ihren Freund verloren und niemand von ihnen hatte es mitbekommen, niemandem hatte sie sich anver­traut. Ein Diener kam vom Platz aus auf sie zu und Ileanna richtete sich auf und ging auf ihn zu. An ihrer statt kniete sich nun Yonah zu Siara auf den Boden.

„Ich hatte keine Ahnung, es tut mir so unglaublich leid!“, murmelte er, während er ihr beruhigend über das Haar strich.

„Es war ja auch geheim“, gab sie zurück.

„Ja, aber ich hätte es wissen müssen, ich bin dein Wächter! Ich hätte doch was merken müssen. Ich war viel zu abgelenkt in letzter Zeit wegen Cobalt und allem, ich hätte viel aufmerksamer sein müs­sen!“

„Ist schon gut“, beruhigte nun Siara ihrerseits Yonah. „Du hättest es nicht wissen können, dafür habe ich schon gesorgt.“ Sie lächelte unter Tränen.

„Ich habe ihm gesagt, dass sie anfangen sollen“, verkündete Ileanna, die zu ihnen zurückgekehrt war. „Das ist doch ok, oder?“

Siara nickte. „Ich würde das jetzt nicht verkraften.“ Mit Yonahs Hilfe richtete sie sich auf und strich ihr Kleid glatt.

„So“, sagte sie. „Jetzt wisst ihr es. Und ihr seid gar nicht so schockiert, wie ich erwartet hätte.“ Ileanna lächelte sie an. „Du bist nicht halb so schlimm wie Melva, die hat mir immerhin meinen Verlobten ausgespannt.“

„Und wer sagt, dass du nicht auch mal Spaß haben darfst? Aber Cobalt und mir hättest du es ruhig sagen können, wie hätten dich schon nicht verraten.“

„Eure Sprüche hätte ich mir nicht anhören wollen“, gab Siara zurück. „Außerdem“, sie holte tief Luft, „außerdem wollte Levent das nicht.“ Als sie seinen Namen aussprach, brach ihre Stimme und Ileanna legte ihr mitfühlend den Arm um die Schulter.

„Woher hast du es eigentlich gewusst?“, wandte sich Siara an Naria. „Mit seinen letzten Worten hat er die Bitte geäußert, seiner Freundin zu sagen, dass er sie liebt“, antwortete sie leise. „Und dass sie glücklich werden soll. Aber bis jetzt wusste niemand, wer das war.“ Siara stiegen wieder die Tränen in die Augen, doch sie lächelte auch. Und Naria war glücklich, dass sie Levents letzten Wunsch er­füllen konnte.

„Lasst uns reingehen“, sagte Yonah, hakte sich bei Siara unter und legte seinen anderen Arm um Naria. „Im Palast ist es jetzt menschenleer. Wir könnten die Treppengeländer runterrutschen. Oder in der Küche Zucker und Salz vertauschen. Die anderen mussten lachen.

„Du hast wirklich nur Schwachsinn im Kopf“, tadelte ihn Naria und gemeinsam gingen sie durch den Garten zurück zum Palast. 

Kapitel 25

 

Am Abend von Levents Bestattung hatte es wieder begonnen, zu schneien. Drei Tage später war im­mer noch alles weiß. Ileanna, Siara, Naria, Salim, Yonah und Senn hielten sich in Ileannas Wohn­zimmer auf. Auch Cleva war anwesend und machte sich am Kamin zu schaffen. Außer Ileanna, Na­ria und Yonah wusste nach wie vor niemand etwas von Siaras und Levents Beziehung. Die beiden Wächter und Ileanna hatten nichts darüber verlauten lassen, ohne dass Siara sie darum hätte bitten müssen, und die junge Prinzessin war dankbar dafür. Es ging ihr auch schon wieder viel besser. Es hatte ihr anscheinend gut getan, sich jemandem anvertraut zu haben. Bei Cobalt hingegen war im­mer noch keine Besserung eingetreten. Es wurde nicht viel darüber gesprochen, aber langsam brei­tete sich im Palast der Gedanke aus, dass das Mittel vielleicht gar nicht mehr wirken würde und es für Cobalt zu spät war. Naria versuchte, nicht darüber nachzugrübeln, doch nachts, wenn sie alleine in ihrem Zimmer lag und in die Dunkelheit starrte, kamen ihr oft die Tränen. Sie weinte um Cobalt, von dem sie immer noch hoffte, ihn nicht endgültig verloren zu haben.

 

„Dann bleibt das Feuer halt aus und wir erfrieren hier!“, schimpfte Cleva gereizt und stocherte mit dem Schürhaken brutal im Kamin herum.

„Warte, ich helfe dir“, erbot sich Senn, ging zu ihr hinüber und kniete sich ebenfalls vor den Kamin. Als sie beide gleichzeitig nach demselben Holzscheit griffen, der in einem Korb zwischen ihnen lag berührten sich ihre Finger ein bisschen zu lange. Naria und Ileanna, die das beide registriert hatten, grinsten sich verschmitzt zu.

Ohne dass angeklopft wurde, wurde die Tür zum Vorzimmer geöffnet und gleich darauf kam Livia­ne herein, ihre beiden Wächter im Schlepptau.

„Also hier seid ihr alle“, sagte sie fröhlich und blickte sich im Zimmer um. Naria musste sehr an sich halten, um angesichts Livianes sehr bunt gefiederten Kleids nicht laut loszulachen. Auch Salim grinste breit.

„Larak, du hast da eine Feder auf deiner Jacke.“

„Vielen Dank“, knurrte der Angesprochene, wischte sich die Feder vom Jackett und funkelte Salim zornig an. Livianes Blick blieb am Kamin hängen, vor dem immer noch Cleva und Senn knieten und im Feuer herumstocherten.

„Schätzchen, was macht denn dein Wächter da mit Ileannas Zofe im Kamin?“, fragte sie Siara. „Ach so ja, er hat mich heute morgen fast eine halbe Stunde lang bekniet, damit wir Ileanna besu­chen, weil er sie unbedingt treffen wollte“, erwiderte diese, ohne den Blick von ihrer Lektüre zu heben. Senn fuhr erschrocken herum und errötete bis unter die Haarspitzen. Cleva ihrerseits starrte den Wächter mit großen Augen an.

„Oh, das durfte ich ja keinem verraten, entschuldige, Senn“, sagte Siara ungerührt, während Senn noch immer auf dem Boden kniete und sie hilflos anstarrte. Völlig undamenhaft brachen Ileanna und Naria in lautes Gelächter aus.

„Ileanna, Kind, benimmt sich so eine Prinzessin?“, erklang eine vorwurfsvolle Stimme von der Tür her. Königin Maidred stand im Türrahmen und blickte ihre älteste Tochter vorwurfsvoll an. Als die­se nichts erwiderte, machte die Königin ein paar Schritte in den Raum hinein und sprach weiter. „Ich habe mir überlegt, dass wir für nächste Woche ein Abendessen ausrichten könnten. Wir könn­ten Lord Melvrick einladen, was meinst du? Und gestern war meine Freundin Breanne bei mir zum Tee, kannst du dich noch an sie erinnern, sie war auf dem Ball von Fürst Traian letztes Jahr, dem Vater von Torn, ach ja, den könnten wir doch auch einladen, naja, jedenfalls hat sie mir von einem netten jungen Mann erzählt, der - “

„Mutter!“, rief Ileanna, um den rasanten Redeschwall der Königin zu unterbrechen. „Meine Verlo­bung wurde gerade erst gelöst, du musst mir nicht gleich den nächsten anschleppen!“

„Aber Ileanna, du - “

„Außerdem haben wir ja gesehen, wo es hinführt, wenn ihr Männer für mich aussucht. Ich will dir jetzt mal etwas sagen: Meinen Ehemann werde ich mir selber aussuchen und nicht du, nicht Vater, nicht seine Berater, nicht deine Freundinnen oder sonst irgendwer!“

„Ileanna, du bist einundzwanzig, du brauchst einen Ehemann!“

„Und ich werde mir auch einen suchen. Aber nicht heute und nicht jeden Tag und ich werde auch nicht alle meine Gedanken daran verschwenden, einen passenden Mann für mich zu finden.“ Die Königin seufzte.

„Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, das kann ich dir versprechen. Ich werde mit deinem Vater darüber reden.“ Und sie verschwand wieder.

„Pffff..“ machte Ileanna genervt und ließ sich tiefer in ihren Sessel sinken.

 

Cleva, die versonnen vor sich hin lächelte und Senn, der immer noch knallrot im Gesicht war, hat­ten es inzwischen tatsächlich geschafft, ein ansehnliches Feuer zu entfachen. Sie standen vom Kamin auf und die Zofe verschwand durch die Schlafzimmertür, um sich die schmutzigen Hände zu wa­schen. Senn ging hinüber zur Fensterbank. Als er an Salim vorbeikam, stieß dieser ihm grinsend in die Seite. Yonah auf der anderen Seite des Zimmers zog vielsagend die Augenbrauen hoch. Senn blickte beide abwechselnd wütend an und wandte sich dann ab. Liviane platzierte sich auf dem Sofa und orderte bei Tevanon einen Sherry. Im Vorraum gab es einen Tumult. Etwas fiel klirrend zu Bo­den und jemand fluchte laut. Neugierig blickten alle zur Tür, durch die ein paar Sekunden später Melva gestolpert kam. Sie trug ein sehr auffälliges, sehr goldenes und sehr glitzerndes Etwas, wel­ches am Oberkörper eng anlag und sich darunter in einen Reifrock verwandelte der sehr ausladend und sehr starr war. Hinter der Prinzessin richteten sich Beagor und Domek keuchend auf. Fröhlich drehte Melva sich im Kreis um den perplexen Zuschauern ihr Kleid zu präsentieren. Am Rücken, etwa auf Höhe der Schulterblätter waren nebeneinander sieben vergoldete Stäbe fixiert, die sich mit zunehmender Länge voneinander entfernten und circa dreißig Zentimeter über ihrem Kopf endeten. Dazwischen war ein silbernes Netz aus hauchdünnem Stoff gespannt.

„Na?“ fragte Melva gespannt. „Was sagt ihr?“

„Ähm“, machte Ileanna grinsend. „In Pink hätte es mir glaube ich besser gefallen.“

„Du spinnst ja“, schnaubte Melva. „Naria?“

Die Wächterin hielt sich beide Hände vors Gesicht und kniff die Augen zusammen. „Ich würde dir ja gerne meine Meinung zu deinem Kleid sagen, aber ich werde gerade von irgendetwas total ge­blendet!“

Melva verdrehte genervt die Augen und wandte sich an Yonah, der plötzlich sehr interessiert die Bäume vor dem Fenster betrachtete. Siara blickte von ihrem Buch auf.

„Oh“, sagte sie überrascht. „Hallo, Melva. Hattest du schon immer ein Geweih oder ist das neu?“ „Ihr seid so - “, stieß Melva hervor. „Ihr alle!“ Erbost drehte sie sich um, fegte dabei Beagor und Domek mit ihrem herumschwingenden Rock von den Füßen und wollte durch  die Tür davonstür­men. Ihr Rock war aber zu breit und so prallte sie zurück und fiel um. Sie landete auf dem Rock, dieser gab aber nicht nach und so kippte sie immer weiter nach hinten, bis sie mit dem Rücken auf dem Boden aufkam und hilflos mit den Beinen in der Luft zappelte. Ihre Wächter saßen zu ihren Füßen und pflücken sich gegenseitig den Blumenstrauß, der mit ihnen zu Boden gegangen war, aus den Haaren.

„Das ist so lustig“, sagte Naria durch zusammengebissene Zähne „dass ich nicht glauben kann, dass das gerade passiert ist.“ Yonah schnappte verzweifelt nach Luft, Ileanna lachte so heftig, dass sie auf dem Boden hin und her kugelte und sich den Bauch hielt, Liviane kicherte begeistert und Salim, Senn und Larak strömten Lachtränen über das Gesicht. Siara blickte mit schräg gelegtem Gesicht auf ihre Schwester herunter. „Ich bin mir sicher, dass sie noch kein Geweih hatte, als sie geboren wurde. Oder?“

Beagor und Domek rappelten sich auf und halfen Melva auf die Füße. Zu zweit versuchten sie, sie wieder durch die Tür zu schieben, doch es klappte nicht.

„Das kann doch nicht sein!“, rief Beagor verzweifelt aus. „Rein ging es doch auch.“

„Ihr geht falsch an die Sache ran.“, erklärte Liviane und hievte sich vom Sofa hoch. „Weg da!“

Die beiden Wächter beeilten sich, aus dem Weg zu kommen. Liviane ging bis an die hintere Wand des Zimmers, dann rannte sie los und prallte im selben Moment von hinten in ihre Enkelin rein, in dem die Tür vom Gang geöffnet wurde. Melva wurde durch die Tür gepresst und ging zu Boden. Halt suchend klammerte sie sich an dem nächstbesten fest, was sie finden konnte und riss dem gera­de eintretenden Tevanon die Hose herunter. Liviane indes hatte mehr Schwung als ihre Enkelin und schoss über sie hinweg auf den nun hosenlosen Tevanon zum, der mitsamt Liviane und dem Tablett mit Sherryflasche und -glas rückwärts aus der Tür kippte, aus der er gerade gekommen war und sich der gesamte Sherry über sein Jackett ergoss. Liviane blieb bewegungslos auf ihm liegen. Es regnete Federn. Im Wohnzimmer brüllten alle so laut vor Lachen, dass von überall her alarmierte Menschen angerannt kamen. Angesichts der ihr sich bietenden Katastrophe fiel Königin Maidred in Ohnmacht.

 

Zwei Diener und Cleva hatten alle Hände voll zu tun, das angerichtete Chaos wieder zu beseitigen. Im Wohnzimmer war durch Melvas Wächter eine Vase zerschlagen worden, deren Inhalt – ein bom­bastischer Blumenstrauß – im Umkreis von zwei Metern verteilt war. Im Vorraum war so ziemlich alles zerstört, was zerbrechen konnte und ein Bild war von der Wand gerissen worden. In der Tür la­gen Teile von Tevanons Hose,  das Tablett und die zersplitterte Sherryflasche samt Glas, deren In­halt sich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Außerdem waren überall haufenweise Federn. Nachdem alles wieder hergerichtet war, verabschiedeten sich Siara, Yonah und Senn. Liviane und ihre Wäch­ter waren direkt verschwunden und auch Melva in ihrem zerstörten Kleid war beleidigt abgedampft.

 

„Ich liebe solche Tage“, sagte Salim versonnen, als sie nach dem Abendessen wieder im Wohnzim­mer saßen.

„Das sagst du nur, weil Tevanon so übel zugerichtet wurde“, entgegnete Naria. Bei der Erinnerung daran grinste ihr Partner in sich hinein.

„Neeein.“ widersprach er dann. „Stimmt nicht.“

„Du bist unmöglich!“, schalt ihn Naria.

„Ich denke, ich werde ins Bett gehen“, verkündete Ileanna. „Morgen muss ich ausgeschlafen sein, weil meine Mutter wieder mit mir über Ehemänner sprechen wird. Diese Frau ist eine Plage, meint ihr, sie gibt jemals auf?“ Unisono schüttelten Naria und Salim die Köpfe. Ileanna stöhnte auf. „Manchmal wünschte ich, ich hätte Nor einfach geheiratet“, sagte sie. „Ich hasse ihn zwar, aber dann hätte ich endlich, endlich Ruhe.“

„Du willst auch immer das, was du nicht haben kannst“, stellte Salim fest. Er und Naria warteten noch, bis die Prinzessin ins Bett ging, dann verabschiedeten sie sich und verließen ihre Gemächer. Gemeinsam schlenderten sie zum Speisesaal der Wächter, wo Domek gerade seine Zeichnungen von dem Vorfall bei Ileanna im Wohnzimmer herumzeigte. Sie holten sich etwas zu essen und setz­ten sich nebeneinander etwas abseits an den mittleren Tisch. Als sie aufgegessen hatte, gähnte Ilean­na.

„Oh Mann, bin ich müde“, sagte sie. „So viel zu lachen schafft einen doch mehr, als man denkt.“ Salim blickte sie von der Seite an.

„Dann geh doch ins Bett.“ Sie wusste, dass sein Vorschlag vernünftig war, doch es widerstrebte ihr, alleine in ihrem Zimmer zu liegen und wieder ins Grübeln zu kommen. Ihre gute Laune wäre im Nu verschwunden und ehe sie sich's versah, läge sie wieder weinend im Bett.

„Noch nicht“, antwortete sie deshalb nur und schüttelte den Kopf. Seufzend legte Salim einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Naria hatte ihm nicht erzählt, wie es ihr abends regelmäßig ging, doch er kannte sie gut genug um zu merken, dass etwas nicht stimmte und er konnte zwei und zwei zusammenzählen. Und Naria musste zugeben, dass es sehr gut tat, jemanden zu haben, der sie ohne Worte verstand. Eine Weile saßen sie noch so da, dann machte sich Naria doch auf in ihr Zimmer.

 

Sie verließ den Speisesaal und ging den Gang entlang. Als sie schnelle Schritte näherkommen hörte, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Yonah kam um die Ecke gerannt und machte erst direkt vor ihr Halt. In seinen Augen glitzerten Tränen und er strahlte über das ganze Gesicht. Narias Herz machte einen Sprung. Sollte es tatsächlich so weit sein?

„Yonah, was ist?“, fragte sie aufgeregt. „Ist er - “

„Er ist wach!“, rief Yonah überglücklich und Naria spürte, wie auch ihr Tränen in die Augen traten. „Wirklich?“, flüsterte sie.

„Er ist wach und es geht ihm gut!“ Jubelnd hob er Naria hoch, drückte sie fest an sich und drehte sie im Kreis herum. „Ich kann es immer noch nicht fassen! Du hast es wirklich geschafft, du hast ihn gerettet!“ Er strahlte sie an.

„Der Arzt hat gesagt, heute kein Besuch mehr“, sagte er dann und Naria schaute ihn zutiefst ent­täuscht an. „Aber für dich macht er eine Ausnahme!“ Das Strahlen breitete sich auch wieder auf ih­rem Gesicht aus.

„Na los, geh schon“, befahl Yonah. „Du hast lange genug gewartet.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und stürmte in Richtung Speisesaal davon. Naria wartete keine Sekunde länger und rannte los.

 

Vor der Tür blieb sie stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Vorsichtig drückte die die Klinke herunter, öffnete die Tür und schlüpfte in den Raum. Außer Cobalt war niemand dort. Der Licht­schein einer einzelnen Kerze, die in einem Glas auf dem Nachttisch stand fiel genau auf Cobalts Gesicht. Wie bei Narias letzten Besuchen hatte er die Augen geschlossen, doch diesmal hob und senkte sich seine Brust in gleichmäßigen Abständen. Naria atmete erleichtert auf. Das Gegenmittel war also tatsächlich nicht zu spät gekommen. Leise trat sie an das Bett heran und blickte auf ihn hinunter. Seine Haut war noch immer viel heller als sonst, hatte aber wieder etwas mehr Farbe be­kommen. Die Bettdecke war bis knapp über Cobalts Hüfte hochgezogen und er trug ein blaues, sehr weites Leinenhemd, welches viel von seinem  muskulösen Oberkörper zeigte. Vorsichtig setzte Na­ria sich auf die Bettkante und strich ihm mit der rechten Hand sanft eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie weich seine Haut war! Mit dem Rücken ihres Zeigefingers strich sie ihm zärtlich über die Wange.

Cobalt öffnete die Augen und erschrocken zog Naria ihre Hand weg und ihr Herz machte einen Sprung. Er grinste die schief an.

„Ich weiß, was du gemacht hast“, sagte er schelmisch mit einem leichten Kratzen in der Stimme. „So?“, fragte Naria und musste lächeln, unglaublich froh darüber, dass er schon wieder fast der Alte zu sein schien. Ächzend begann Cobalt, sich aufzusetzen. Sie eilte ihm zu Hilfe, indem sie ihre Arme unter seinen Rücken schob, ihn vorsichtig aufrichtete und an die Wand lehnte. Dabei berühr­ten sich ihre Oberkörper und in Naria breitete sich ein wohliges Kribbeln aus. Diese Muskeln!

„Vielleicht sollte ich mich öfter vergiften lassen, wenn danach immer eine schöne Frau in meinem Bett sitzt“, überlegte Cobalt und seine Augen funkelten fröhlich.

„Idiot“, gab Naria zurück, doch auch sie musste unweigerlich lachen.

 

„Yonah hat mir erzählt, was passiert ist“, begann er nach einer Weile. „Er hat mir erzählt, wie die Prinzessin  - also, wie du – und, dass er glaubt, du und dieser – ihr hättet, also, als er ich - “ Er stockte und blickte Naria forschend ins Gesicht. Das Funkeln war aus seinen Augen verschwunden und er sah beinahe traurig aus. Naria nickte langsam.

„Yonah hat Recht. Bevor er mich ausgeschaltet hat, hat er mich – aber ich habe gemerkt, dass ir­gendwas nicht stimmte. Dass du nicht so bist. Bei dir ist es – anders. Nur dummerweise war es da schon zu spät.“

„Anders?“ Das Funkeln kehrte in seine Augen zurück. Naria seufzte ergeben.

„Besser“, gab sie schließlich zu. „Bei dir fühlt es sich besser an.“

„Tut es das?“, fragte es und schaute ihr nun direkt in die Augen. „Mhmm“, machte Naria nur, die bei seinem durchdringenden Blick schon wieder schwach zu werden drohte und zu keiner schlagfer­tigen Antwort mehr fähig war. Als er seine Hand hob und damit zärtlich über ihr Gesicht strich, war es endgültig um sie geschehen. Ohne weiter darüber nachzudenken, drehte sie sich über ihn, sodass sie auf seinem Schoß saß. Dann nahm sie sein Gesicht in die Hände und küsste ihn, erst vorsichtig und zurückhaltend und dann immer fordernder. Er erwiderte den Kuss, aber wie! Seine Zunge strich keck über ihre Unterlippe und suchte dann den Weg in ihren Mund. Seine Hände waren überall, sie wanderten über ihren Körper und machten sie schier wahnsinnig. Doch Naria wollte ihn nicht schon wieder die alleinige Führung übernehmen lassen, wie er es sonst immer tat, löste sich deshalb von ihm, und begann, von oben nach unten Küsse über seinen Hals zu verteilen. Cobalt sog scharf die Luft ein und sie jubelte innerlich. Mit ihrer einen Hand umspielte sie seine Brustwarze und als sie schließlich sanft hineinbiss, stöhnte er auf. Unbeeindruckt umkreiste sie seine andere Brustwarze mit der Zunge und pustete dann darüber, bevor sie auch diese mit ihren Zähnen liebkoste. „Naria, du bist - “, stieß er schwer atmend hervor, als sie ihm das Hemd mit einer fließenden Bewegung über den Kopf zog und sich dann seiner Hose zuwandte, ohne ihre Küsse zu unterbrechen.

 

„Ich kann nicht glauben, was du da eben getan hast!“, sagte Cobalt, als die beiden, immer noch schwer atmend, nebeneinanderlagen. Ihre Kleider lagen im ganzen Zimmer verteilt auf dem Boden, auf dem Tisch und dem Schrank. Die Kerze war inzwischen runtergebrannt, im Zimmer war es des­halb fast schwarz und man konnte nur noch schemenhafte Umrisse erkennen.

„Wieso?“, fragte Naria und hob den Kopf von seiner Schulter. „Das wolltest du doch die ganze Zeit.“ „Ja, aber du bist doch – du hast doch immer - “

Naria seufzte. „Betrachte es einfach als meine Entschuldigung, okay?“

„Hm…“ Cobalt überlegte. „Also wenn ich so darüber nachdenke, gibt es noch eine ganze Menge anderer Sachen, für die du dich noch nicht bei mir entschuldigt hast…“

„Idiot.“, Naria boxte ihm auf die Brust, was ihm ein Lachen entlockte.

„Aber mal ernsthaft, wofür willst du dich denn entschuldigen?“, fragte er verwundert.

„Naja, immerhin war das alles auch meine Schuld. Wenn ich besser aufgepasst hätte und nicht so – dann wäre Ileanna nicht entführt worden, du wärst nicht fast getötet worden, Levent wäre nicht - “ Sie schluckte.

„Du weißt selber, dass das Blödsinn ist, oder?“, fragte er und seine Stimme klang jetzt sehr ernst. „Wenn du nicht gewesen wärst, würde Ileanna vielleicht gar nicht mehr leben und ich auch nicht. Vielleicht sollte ich mich deshalb noch schnell bei dir entschuldigen…Wobei - “

„Was?“, fragte sie verwundert, als er nicht weitersprach.

„Ich habe mich gerade gefragt, ob du dich schon bei Ileanna entschuldigt hast, und wenn nicht, ob ich dann vielleicht dabei sein könnte.“ Naria konnte es nicht erkennen, wusste aber, dass er bis über beide Ohren grinste. Zur Strafe stieß sie ihm mit ihrem Ellenbogen in die Seite. „Aua!“, protestierte er. Naria ließ ihren Kopf wieder auf seine Schulter sinken und eine Weile sagte niemand etwas. Co­balt fuhr mit der Hand durch ihre Haare.

„Was ich da gesagt habe“, setzte er an „dass ich für dich – also als wir – und als du meintest, du würdest – das habe ich – ach, verdammt.“ Er brach ab.

„Was?“, fragte Naria und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

„Lach nicht“, murrte er.

„Mach ich nicht“, lachte sie und richtete sich etwas auf. „Was wolltest du jetzt eigentlich sagen?“

„Ich - “, begann er erneut und atmete tief durch. „Als ich gesagt hab, dass ich für dich auf alle ande­ren verzichten würde, hab ich das ernst gemeint“, ratterte er dann so schnell herunter, dass Naria Mühe hatte, mitzukommen.

„Mhm“, machte sie und legte sich wieder hin. Dann erst wurde ihr bewusst, was er da gerade gesagt hatte. „Äh – was?“ Sie setzte sich auf und starrte ihn perplex an.

„Jetzt guck nicht so. Ist das denn so schwer zu glauben?“

„Irgendwie schon, ja. Aber ich find’s süß.“

„Süß?“ Ruckartig richtete er sich auf und blickte ihr fassungslos ins Gesicht. „Süß? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Ich bin doch nicht süß!“

„Also ich find schon“, gab sie gelassen zurück. „Jetzt reg dich doch nicht so auf.“

„Du nimmst mich nicht ernst“, jammerte er und ließ sich resigniert zurückfallen. Naria legte sich ebenfalls wieder hin.  Cobalt begann erneut, mit der Hand durch ihre Haare zu fahren.

 

Eine Stunde später lagen sie immer noch so da. Naria lauschte Cobalts regelmäßigen Atemzügen und vermutete, dass er wieder eingeschlafen war. Seine Hand ruhte in ihren Haaren. Sie lächelte und kuschelte sich noch enger an ihn.

„Ich bin froh, dass du das ernst gemeint hast“, flüsterte sie leise.

Als sich daraufhin Cobalts rechter Arm um ihren Körper schlang, konnte sie sein triumphierendes Grinsen förmlich spüren.

Namensverzeichnis

 

Die Königsfamilie

 

Arik – König von Catalanien

Ileanna – Kronprinzessin von Catalanien, älteste Tochter Ariks und Maidreds

Liviane – ehem. Königin von Catalanien, Ariks Mutter

Maidred – Königin von Catalanien, Ariks Ehefrau

Melva – Prinzessin von Catalanien, jüngste Tochter Ariks und Maidreds

Siara – Prinzessin von Catalanien, zweitälteste Tochter Ariks und Maidreds

 

 

Die Wächter

 

Beagor – Melvas Wächter

Cobalt – Siaras Wächter

Domek – Melvas Wächter

Gareth – Wächter der Stadtwache

Jacob – Wächter der Stadtwache

Kallan – Wächter

Larak – Livianes Wächter

Levent – Wächter der Stadtwache, jüngster Sohn von Aloysius

Naria – Ileannas Wächterin

Parvel – oberster Wächter der Stadtwache

Rasvan – Wächter der Stadtwache

Salim – Ileannas Wächter

Senn – Wächter

Tevanon – Livianes Wächter

Yonah – Siaras Wächter

 

 

Im Palast und in der Stadt

 

Aloysius – erster Berater des Königs

Alva – Frau von Gareth

Cleva – Ileannas Zofe

Endrin – Diener im Palast

Farla – Stute aus dem Stall des Palastes

Maaje – Frau von Rasvan

Nirin – Maidreds Zofe

Nor – junger Fürst aus Catalanien

Siras – zweiter Berater des Königs

 

Außerhalb

 

Boron – zweitältester Sohn von Aloysius

Breanna – Freundin von Maidred

Crenn – ältester Sohn von Aloysius

Mariela – jüngste Tochter von Siras

Melvrick – Lord aus Catalanien

Salaara – mächtige Hexe aus Catalanien

Torn – Sohn von Traian

Traian – Fürst aus Catalanien

Veramae – älteste Tochter von Siras

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: schokomuffin
Bildmaterialien: schokomuffin
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2013

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Widmung:
Für Lena zum Geburtstag :)

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