Filomena De Luca
Ich hatte mir schon vor Jahren vorgenommen ein Buch zu schreiben, konnte mich aber nicht entscheiden, welches Thema ich mir vornehmen sollte. Mich beschäftigten so unterschiedliche Dinge. Über welche also, sollte ich schreiben?
Über Krieg?
Über Frieden?
Oder doch lieber einen Roman?
Je mehr ich überlegte, desto klarer wurde mir, dass ich um das mir Vorherbestimmte nicht herum kam. Ich brauchte mir keine Geschichte für einen Roman auszudenken. Ich musste meine ganze Kraft dafür zusammennehmen und begann, die wahre Geschichte über mein Leben zu schreiben. Von der Kindheit bis zur Jugend, vom Christentum zum Islam. Die Pläne und Wünsche von Mena, einem Mädchen, das in Secondigliano, in Neapel geboren wurde.
Da fing auch alles an.
In den 1980er Jahren wanderte mein Vater nach Deutschland aus. In Deutschland sollte die Arbeitssituation viel besser sein, als bei uns im Süden von Italien. Meine Mutter zog ihm nach kurzer Zeit hinterher und fand sich plötzlich im kalten Frankfurt wieder. Es war eine große Umstellung für sie. 1984 verließ meine Mutter die graue Stadt am Main und kehrte nach Italien zurück. Mein Vater blieb alleine zurück und stürzte sich in die Arbeit.
Er lebte sehr bescheiden, sparte, wo er konnte und so war es ihm möglich, seine Familie zu unterstützen und sogar zweimal im Monat in seine Heimat zu fahren. Ein paar Monate ging das so hin und her. Bis zu dem Tag, an dem ihn meine Mutter anrief und ihm diese lebensverändernden Worte in den Hörer sprach: „Ich bin schwanger!"
Mein Vater brach seine Zelte in Deutschland sofort ab und kehrte nach Italien zurück. Als ich am 07. Juni 1986 in einem neapolitanische Krankenhaus zur Welt kam, war das Familienglück erst einmal perfekt. Schnell wurde meinem Vater aber klar, dass er seine Familie nur dann würde durchbringen können, wenn er wieder in Deutschland arbeitete. Da er aber seine Frau samt kleinem Baby nicht alleine lassen wollte, nahm mein Vater uns kurzerhand mit nach Frankfurt. Dort lebten wir ein unauffälliges Leben und waren zufrieden. Bis ich 1987 mit hohem Fieber ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Im Krankenhaus angekommen, wurden meine Eltern durch die lange Wartezeit immer ungeduldiger. Der Doktor untersuchte mich, hatte aber keine Diagnose. Erst tippte er auf eine Mittelohrentzündung, konnte seinen Verdacht aber nicht bestätigen. Schließlich wurden meine Eltern mit einer Flasche Fiebersaft nach Hause geschickt. Der Saft ließ das Fieber nicht so recht sinken. Erst nach einigen Tagen wurde es besser. Leider hielt die Erleichterung meiner Eltern nicht lange an, denn nur eine knappe Woche danach schoss die Temperatur so hoch, dass ich mich in Fieberkrämpfen schüttelte. Mein gesamter, kleiner Körper zuckte rhythmisch. Ich bekam Schaum vor dem Mund und verdrehte die Augen. Ein Anblick, den man keinen Eltern wünscht!
Eilig fuhren wir wieder ins Krankenhaus. Dieses Mal wurde ich direkt stationär aufgenommen. Als ich das Krankenhaus nach einigen Wochen und etlichen Tests endlich verlassen durfte, hatte ich einen offiziellen Ausweis, gegen dessen Vorlage meine Eltern in der Apotheke ein Notfallmedikament erhielten. "Falls die Krämpfe erneut auftreten sollten.“
Das taten sie. Meine Eltern gewöhnten sich zwar an die Krämpfe, hatten aber trotzdem jedes Mal Angst. Als ich fünf wurde, verschwanden die Krämpfe und kamen nie wieder. Nachdem meine Krämpfe verschwanden und meine Eltern sicher waren, dass sie auch nicht mehr auftraten, konnte ich, wie jedes Kind, in den Kindergarten gehen. Ich ging zwar nur ein Jahr in den Kindergarten, aber ich freute mich sehr. Der erste Kindergartentag war für mich ziemlich komisch, denn alles war anders als zu Hause. Es gab andere Regeln als zu Hause. Es gab etwas anderes zu essen als zu Hause. Aber ich gewöhnte mich sehr schnell daran und so verging die Zeit im Kindergarten sehr schnell. Nach diesem einen Kindergartenjahr wurde ich eingeschult.
Der erste Schultag bedeutete eine große Veränderung für mich, denn alles war anders als im Kindergarten. Ich bekam eine große Schultüte von meiner Mutter und einen Schulranzen, und alles, was ein Kind noch so braucht. Der erste Schultag begann, in dem wir uns alle in der Halle versammelten. Der Schuldirektor hieß und willkommen und redete wie ein Wasserfall über alles mögliche. Er redete über die Schule und mir wurde es langweilig dabei. Nach knapp einer Stunde war alles vorbei und es wurde uns die Schule gezeigt, der Klassenraum und alles, was es noch gab in der Schule. Nach ca. vier Stunden waren wir fertig und ich war froh da raus zu sein. Ich war fertig und müde und ich wusste, dass ich am nächsten Tag um 8 Uhr in der Schule sein musste. Die Kindergartenzeit war vorbei und es begann die Schulzeit.
Am nächsten Tag klingelte der Wecker schon um 7 Uhr und ich hatte keine Lust aufzustehen. Aber ich wusste, dass ich aufstehen muss, denn ich war kein Kindergartenkind mehr, das bis um 10 Uhr schlafen konnte. Ich musste mir einen Ruck geben und mich für die Schule fertig machen.
Der Weg zur Schule war von zu Hause aus ein weiter Weg. Ich musste zu Fuß gehen, da kein Bus fuhr. Ich hatte jeden Morgen fast 40 Minuten Schulweg zu gehen. Mir machte das nichts aus, denn ich liebte es zu laufen. Als ich in der Schule ankam war alles sehr anders als am Tag der Einschulung. Es konnte aber auch die Aufregung gewesen sein.
Als ich in der Klasse 1b ankam, wusste ich, dass es meine Klasse war. Der Klassenraum war noch leer aber ich nahm trotzdem Platz. Nach und nach kamen immer mehr Klassenkameraden dazu, bis alle Plätze besetzt waren. Zuletzt kam eine junge, freundliche Frau in die Klasse und wartete bis alle aufpassten, sodass sie anfing sich vorzustellen.
„So, ihr Lieben. Ich würde gerne erst Mal eine Vorstellungsrunde mit euch machen. Bevor wir loslegen zuerst etwas über mich. Ich bin eure Klassenlehrerin und ich heiße Frau Kirchhorn. Ich werde euch die nächsten Schuljahre begleiten.“
Nach dieser kurzen Rede stellten sich alle Kinder vor, bis ich an der Reihe war. Alle sahen mich an, bis auf die Lehrerin. Ich bekam kein Wort heraus und es war, als ob ich eine Blockade hatte. Aber ich gab mir einen Ruck und stellte mich kurz und knapp vor.
Die Zeit in der Schule verging recht zügig, jedoch konnte ich nicht richtig schreiben, sodass man bei mir eine Rechtschreibschwäche feststellte. Ich kam kaum noch im Unterricht mit und war viel zu langsam, sodass man mich zu einem Schulpsychologen schickte. Nach vielen Tests kam heraus, dass ich eine Lernschwäche hatte. Auch wenn ich ganz viel lernte, war ich immer die Letzte. Aus diesem Grund wurde entschieden, dass ich auf eine Förderschule gehen musste. Ich hatte auch eine Lernbehinderung. Das bedeutet aber nicht, dass ich behindert war, sondern ich kam lediglich mit dem Stoff nicht vorwärts. Ich war zu langsam beim Lernen. In der Förderschule lernte ich alles, was ich in der Gundschule lernte. Am Ende konnte ich meinen Hauptschulabschluss nachholen. Jedoch schaffte ich ihn nicht und erhielt lediglich ein Abgangszeugnis.
Ich wusste nach der Schule nicht genau, was ich machen sollte. Würde ich einen Ausbildungsplatz finden ohne einen Hauptschulabschluss in der Tasche? Mein Lehrer machte mir wenig Mut. Er meinte, dass er mir nicht zutraut, eine Ausbildung abzuschließen und riet mir, mich beim Arbeitsamt zu melden. Dort gäbe es Psychologen, die testen könnten, ob ich einer Ausbildung überhaupt gewachsen wäre. Ich fühlte mich fürchterlich, als ich meinen Lehrer so reden hörte. War ich so schlecht? Hatte ich wirklich keine Chance auf eine berufliche Perspektive? Seine Worte trafen mich wie Schläge ins Gesicht und ich kam mir vor wie eine totale Versagerin.
Warum wollte denn niemand an mich glauben? Ich war doch davon überzeugt, dass ich in Begleitung eines Sozialpädagogen, eine Ausbildung bestimmt würde schaffen können. Beim Arbeitsamt angekommen, erhielt ich ohne große Kommentare in zwei Wochen einen Termin bei einem psychologisch geschulten Mitarbeiter. Die zwei Wochen zogen sich wie Kaugummi. Als es nach zwei Wochen endlich soweit war und ich die langen, grauen Flure herunter ging, war ich nervös und meine Gedanken spielten verrückt. Ich hatte Angst. Angst vor den Fragen. Angst davor, was bei dem Termin herauskommen würde. Angst, wie diese Tests wohl aussehen würden. Was sie wohl überhaupt mit mir vorhatten?
Als ich endlich den Raum betrat, hörte ich mein Herz bis zum Hals schlagen. Zum Glück legte sich die Aufregung ganz schnell wieder und ich beruhigte mich etwas. Der Raum war so hell ausgeleuchtet wie in einem Drogeriemarkt. In der Mitte stand ein schlichter Tisch mit zwei Stühlen. Eine Ärztin stand vor mir. Sie sah mit ihrem Kittel und ihrer überdimensional großen Brille so bizarr aus, dass ich einmal laut auflachte. Mist. Das hätte ich mir verkneifen sollen. Sie bemerkte mein Lachen zwar, sagte aber nichts. Stattdessen gab sie mir die Hand und stellte sich vor. Die Befragung ging mit einem Deutsch- und Mathetest weiter. Nach einer Stunde gab ich die Zettel ausgefüllt zurück. Ich sollte 30 Minuten auf die Auswertung warten und ging nervös den langen Flur auf und ab. Die Minuten wollten nicht vergehen. Der Sekundenzeiger auf der großen Uhr an der Wand schien sich rückwärts zu bewegen. Nachdem sich die Ärztin mit ihren Kollegen besprochen hatte, wurde ich aufgerufen und in den Raum hinein gebeten.
„Unser Fachteam hat sich beraten. Für uns steht fest: Eine klassische Ausbildung kommt für Sie unter keinen Umständen in Frage. Eine begleitete Ausbildung wäre da deutlich realistischer für Sie.“
Die Erklärungen, wie so eine begleitete Ausbildung in der Praxis aussehen würde, hörte ich, wie unter Wasser. Ich stand unter Schock. Ich konnte mich zumindest noch bedanken und taumelte aus dem Raum. Auf dem Weg nach Hause konnte ich es noch immer nicht fassen. Ich fühlte mich wie gelähmt. Zudem malte ich mir Horrorszenarien aus, wie meine Mutter auf mein Ergebnis reagieren würde.
Ich hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Als ich zu Hause ankam, merkte meine Mutter sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich muss wohl ziemlich bedrückt ausgesehen haben.
"Mein Kind, was ist los mit Dir?“, fragte sie mich mit besorgter Stimme. Ich wollte es ihr sagen, fand aber keine Worte. Erst musste ich mich sammeln. Dann stammelte ich nur: „Mama, ich kann keine normale Ausbildung machen.“
So jetzt war es raus. Völlig unerwartet reagierte sie total bedacht. Sie setzte sich auf den Küchenstuhl, trank einen Schluck aus ihrem Wasserglas und sagte: „Dann ist das so, mein Kind."
Auch wenn von ihr aus kein Druck aufgebaut wurde, irgendwie wurde mir doch alles zu viel. Ich überlegte einige Wochen hin und her und versuchte herauszufinden, was ich wirklich wollte. Brauchte ich Ruhe und Abstand? Vielleicht Urlaub von allem? Ich entschied mich gegen eine Pause und für eine Arbeit.
In einem großen Elektromarkt konnte ich relativ kurzfristig anfangen. Nach kurzer Zeit hatte ich mich gut eingearbeitet. In meine Arbeit vertieft, fiel mir im Augenwinkel ein Junge auf. Seine Art zu reden, zu gestikulieren und seine Körpersprache gefielen mir und ich ertappte mich dabei, wie ich ihn musterte. Als er zu mir schaute, tat ich geschäftig und kramte in der Auslage herum. Dann sprach er mich an. Ich fühlte mich geschmeichelt, und obwohl ich versuchte ganz locker zu bleiben, spürte ich, wie ich rot wurde. Ich wäre sehr sympathisch, sagte er. Ob man mich kennenlernen könnte, fragte er.
„Klar, warum nicht?", antwortete ich schnell.
Wir tauschten Telefonnummern aus und begannen uns regelmäßig zu schreiben, um uns so besser kennenzulernen. Ich war schon ein bisschen verschossen in ihn. Er schmeichelte mir. Ich fühlte mich hübsch und interessant und himmelte ihn an. So ging es eine Weile hin und her zwischen uns. Bis uns eines Tages meine Mutter auf die Schliche kam. Sie fragte mich ganz direkt, ob die Gerüchte stimmen, dass ich einen Freund hätte. Ich verneinte es sofort und tat es als dummes Gerede ab. Gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich wollte meine Eltern doch nicht anlügen. Erst, als noch ein paar Wochen vergangen waren, nahm ich meinen Mut zusammen und beichtete meinen Eltern, dass ich mich in einen türkischen Jungen verliebt hatte. Ich wusste, dass sie auf einen Freund schon nicht begeistert reagiert hätten. Aber dann auch noch nicht christlich, das war zu viel. Sie waren schockiert und enttäuscht, was ich im Nachhinein verstehen kann. Allerdings nur auf meine Heimlichtuerei bezogen. Denn, was ich ganz und gar nicht verstehen wollte, dass sie ein Problem mit seiner Religion hatten. Schließlich wusste ich schon damals, dass wir alle nur Menschen sind. Völlig egal, ob Christ, Jude oder Moslem. Wir waren doch gleich. Nur glaubte ich normal an Jesus und er an Allah.
Ich wollte um den Segen meiner Eltern kämpfen. Es wäre die Krönung meines Glücks gewesen, hätten sie hinter mir gestanden. Monatelang diskutierte ich, weinte und war verzweifelt.
Ob sie es eines Tages doch akzeptieren konnten? Ich liebte ihn und wollte ihn heiraten. Entgegen vieler Erwartungen schafften wir es wirklich 2005 zu heiraten und zogen nach Mühlheim am Main in eine kleine Wohnung. Es war eine große Hochzeitsfeier mit allem, was dazugehörte. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin und war endlich irgendwie angekommen. Jetzt konnte das Leben losgehen. Während mein Eheglück Monat für Monat wuchs, entwickelte sich die Beziehung zu
meinen Eltern leider nicht so positiv. Nach einem knappen Jahr hatte ich kaum noch Kontakt mit ihnen. So sehr ich auch versuchte, sie mit einzubinden, auf dem Laufenden zu halten und durch regelmäßige Anrufe an unserem Leben teilhaben zu lassen, sie wollten es scheinbar nicht und meldeten sich nur noch sporadisch. Ich fühlte mich wie ausgesperrt. Natürlich bekam ich durch die räumliche Distanz nicht mit, was in meinem Elternhaus passierte und so traf mich die Nachricht wie ein Schock: Mein Vater lag im Koma. Eine Welt brach in mir zusammen. Niemals hatte ich ihn schwach gesehen. Ich wollte sofort zu ihm und machte mich auf den Weg ins Krankenhaus. Natürlich, ich hatte drei Brüder. Aber zu mir, seiner einzigen Tochter, war sein Verhältnis immer besonders innig gewesen. Ich ließ alles stehen und liegen und eilte zu meinem Vater nach Frankfurt. Im Krankenhaus angekommen, schlug ich hastig die Tür zum Flur der Station auf und suchte mit schnellen Augen seine Zimmernummer. Da hinten musste es sein. Warum standen so viele Leute vor seiner Tür? Mein Herz rutschte mir in die Hose. Ich atmete schnell und flach und hatte unfassbare Angst, vor dem Anblick, der mich im Zimmer erwarten könnte. Als ich mich langsam auf die Ärzte und Schwestern zu bewegte, machten sie mir Platz. Mit zitternden Händen drückte ich die Türklinke hinunter. Ich sah meine Mutter am Bett meines Vaters. Sie war am Boden zerstört. Ich schaute in die Runde, doch alle blieben stumm und schauten auf den Boden. Ich bekam Schiss. Das große Schild an der Tür 'Intensivstation' ließ mich noch unruhiger werden. An die Scheibe der Tür konnte ich vor Angst erst nicht herantreten. Aus dem Augenwinkel sah ich aber schon etliche medizinische Geräte und einen Monitor. Der Raum war abgedunkelt und das Piepsen der Überwachung ließ mir das Herz in die Hose rutschen. Als ich es endlich schaffte an die Scheibe zu gehen, standen mir schon die Tränen in den Augen.
Ich sah das Bett. Mein Vater sah aus wie tot. Ich fühlte wie meine Beine schwer wurden. Ich spürte die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter. „Geh rein, Dein Vater wartet auf dich", flüsterte sie leise.
Nickend öffnete ich die Tür. Ich musste jetzt für ihn stark sein, nahm ich mir vor. Er schlief so tief, sein Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus der piepsenden und schnaufenden Geräte. Sonst war es ganz still. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Als ich seine Hand nahm, war sie ganz warm und fühlte sich kraftlos an. Ganz schwer lag seine Hand in meiner. Ich wollte ihm etwas sagen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich wusste nicht, ob er mich überhaupt hören konnte. Er sah so unfassbar weit weg aus. Die Tür hinter mir öffnete sich leise und ich hörte die ruhige Stimme einer Krankenschwester: „Sprich mit ihm. Hab keine Angst. Er kann Dich hören."
So sehr ich es auch wollte, ich konnte es einfach nicht. Es war bizarr und beängstigend, ihn so zu sehen. Ich wollte nur noch raus aus dem Krankenhaus. Als ich das Zimmer verließ, spürte ich die Blicke der anderen. Ich konnte ihnen aber nicht standhalten und senkte meinen Blick auf den Boden. Mit bebender Stimme konnte ich mich noch verabschieden und verließ wie in Trance die Klinik. Als ich die Klinik verlassen hatte, wusste ich zuerst nicht, wohin mit mir. So durcheinander und verzweifelt wie ich war. Stundenlang lief ich wie ferngesteuert durch die Stadt.
Irgendwann fand ich mich vor meiner Haustür wieder. Statt Verständnis, empfing mich zu Hause leider nur schlechte Laune. Das war zu erwarten. Mein Mann und ich stritten uns mittlerweile fast täglich. Es hatte sich soviel zwischen uns verändert in kurzer Zeit. Er wurde immer häufiger handgreiflich. Er hasste es, wenn ich zu meiner Familie ging. Schließlich würden sie, so glaubt er, ihn sowieso niemals akzeptieren. Er dachte, ich würde mich in allen Bereichen des Lebens von ihnen beeinflussen lassen. Er sperrte mich ein, schlug mich und nahm mir sogar das Telefon weg, damit ich niemanden um Hilfe bitten konnte. Die Demütigung waren unerträglich. Ich kam mir vor wie ein Stück Dreck. Er hatte scheinbar panische Angst die Kontrolle über mich zu verlieren, und so rastete er jedes Mal aus, wenn es zu einem Gespräch kam. Selbst bei Nichtigkeiten. Ich schämte mich für ihn und für mich. So sieht keine islamische Ehe aus! Leider passiert etwas, was ich keiner Frau wünsche. Mein Mann veränderte sich. Er war nicht mehr der Mann, den ich geheiratet hatte. Immer, wenn ich mit ihm unterwegs war, z.B. bei seiner Familie, dann war er ein Traummann. Er machte alles für mich. Sobald wir aber wieder zu Hause waren, wurde er ein anderer. Es kam mir vor, als wäre er ein Monster aus einem Horrorfilm. Er behandelte mich sehr schlecht und kommandierte mich rum. Ich fühlte mich wie in dem Film von Aschenputtel. Ich musste den Boden auf Knien sauber schrubben und ich musste kochen, wann er es wollte. Am Ende hatte ich keine Kraft mehr, etwas für mich zu machen. Wenn ich nicht machte, was er wollte, schlug er mich blau. Leider hatte ich nie den Mut und die Kraft abzuhauen. Die Angst und die Panik in mir, war viel zu groß, um es alleine zu überstehen. Ich verließ die Wohnung nur noch sehr selten, sodass die Nachbarn sich fragten, wo ich denn geblieben wäre. Meine Träume von einer Familie mit ihm zerbrachen. Ich stand vor einem Scherbenhaufen. Mir wurde klar, dass ich ihn verlassen musste. Es war im Jahr 2006, als ich den Entschluss fasste, mich von ihm zu befreien. Aber wo sollte ich hin? Mit meinen Eltern hatte ich ja seit meiner Hochzeit nur noch selten Kontakt. Zu ihnen konnte ich also nicht zurück. Zumal er mir ja drohte, sollte ich es wirklich wagen, ihn zu verlassen. Bei meinen Eltern würde er mich sofort vermuten. Mein Vater lag noch immer im Koma und war schwach. Ich konnte meinen Eltern mein Scheitern einfach nicht gestehen und wollte sie nicht noch mehr belasten. Viele Freunde hatte ich zu der Zeit auch nicht.
Zumindest niemanden, der mich hätte aufnehmen können.
Eines Tages, als mein Mann mich nach einem furchtbaren Streit einsperrte und die Wohnung verließ, witterte ich meine Chance. Ohne sein Wissen hatte ich mir einen Ersatzschlüssel besorgt und versteckte ihn seit Wochen. Ich kramte ihn hervor und drehte ihn zwischen meinen Fingern. Sollte ich es wirklich tun? Die Ehe einfach hinter mir lassen und verschwinden?
An einem Tag, als ich mich entschloss abzuhauen, hatte ich die Möglichkeit mir am PC Hilfe zu holen. Als ich am PC war, wusste ich nicht, was ich eintippen sollte. Ich tippte „Frauen in Not“. Ich stieß dabei auf die Frauenberatungsstelle in Fulda. Schon auf dem Link sah ich die Nummer. Ich schaute die Nummer eine Weile an und überlegte: „Soll ich anrufen oder es lieber lassen?“
Es dauerte etwas bis ich mich tatsächlich entschließen konnte, die Nummer zu wählen. Eine freundliche Frauenstimme meldete sich mit: „Frauenberatungsstelle Fulda. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Ich bekam kein Ton heraus. Als die Frau merkte, dass ich nicht antwortete, legte sie ohne ein Wort zu sagen, auf. Ich sah in den Schlafzimmerspiegel und fragte mich: „Warum ist es so schwer für mich, Hilfe zu holen? Warum lass ich mir das alles gefallen?“
Ich hatte Angst vor der Flucht. Ich hatte Angst vor der Trennung. Ich hatte Angst, alleine da zu stehen und ich war sehr unsicher. Was sollte nur aus meinem Leben werden?
Das Einzige, was ich wusste war, dass ich weg wollte. Es könnte sein, ich würde sonst eines Tages nicht mehr leben. Ich hatte zu keinem Menschen Vertrauen, um über meine Probleme zu sprechen. Ich wollte meine Probleme selber meistern. Meine Angst war, dass, wenn ich mit jemandem rede, sie sofort die 110 rufen würden. Das wollte ich nicht.
Ich versuchte daher weiterzumachen. Es war leider die falsche Entscheidung. Einige Monate später wurde ich von meinem damaligen Lebenspartner so zugerichtet, dass ich überall blaue Flecke hatte. Mein Körper war von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken übersät. Es war so schlimm, dass ich die Wohnung nicht mehr verlassen konnte, nachdem er mich zusammengeschlagen hatte. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Ich wollte abhauen, ohne dass die Nachbarn es mitbekamen.
An dem Tag, an dem ich abhaute, war es sehr heiß und daher konnte ich mir keine Jacke und Mütze anziehen. Meine letzte Möglichkeit war, meine beste Freundin anzurufen, denn nur sie konnte mir jetzt noch helfen. Ich rief sie sogleich an. Meine Freundin konnte noch nicht mal „Hallo“ sagen, so schoss es aus mir heraus.
„Hol mich bitte hier raus. Ich kann nicht mehr. Er bringt mich um. Ich habe eine Platzwunde am Kopf“ , sagte ich.
Sie wusste sofort, sie musste mich rausholen.
„Ist er weg?“, sagte meine Freundin.
„Ja!“ , sagte ich.
Sie zögerte nicht und sagte: „Leg auf. Ich bin gleich da!“
Keine zehn Minuten später stand meine Freundin vor meiner Haustür. Ich ließ sie rein. Als sie die Haustür hinter sich zu machte und mich sah, bekam sie einen Schock.
„Oh mein Gott. Was er mit Dir gemacht? Du blutest ja am Kopf. Ich versorge Dir die Wunde und dann packst Du ein paar Sachen zusammen. Ich fahre Dich ins Frauenhaus. Raus aus Mühlheim. Ich fahre Dich nach Fulda“, sagte meine Freundin.
Eine halbe Stunde später nahmen wir meine Sachen und fuhren nach Fulda zur Beratungsstelle. Ich sah meine Freundin im Auto an und dachte, ohne ihre Hilfe, hätte ich es nie geschafft abzuhauen.
Nach ca. zwei Stunden Autofahrt kamen wir in Fulda an. Ich fühlte mich sehr unwohl und mir tat alles weh. Von Kopf bis Fuß. Ich war vorher noch nie in Fulda. Fulda hat ungefähr 64.000 Einwohner, obwohl es eine kleine Stadt ist. Als ich aus dem Auto ausstieg, sah ich den großen Dom von Fulda. So etwas Schönes hatte ich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7464-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wenn man sich auf die Suche nach seiner religiösen
Identität macht, dann kann es sein, dass der
Weg steinig ist. Besonders dann, wenn man Eltern
hat, die Katholiken sind.
Filomena hat eine tolle Familie, die egal, was ihr
passierte, immer zu ihr hielt.
Es bedurfte drei Anläufe incl. Flucht, um den richtigen
Mann zu heiraten. Filomena hat zwei Kinder.
Das Leben ist ein Abenteuer.
Manchmal ist es einfach Muslima zu sein und
dann kommen wieder Tage, da ist was anderes interessanter.
Nicht, weil der Islam langweilig ist oder unterdrückt,
sondern, weil etwas richtig zu machen
auch mal anders laufen muss.