Es war Tag 1114.
Der 1114. Strich, den ich an die kahle Wand gezeichnet hatte.
Der Tag, an dem er einmal ganz kurz unachtsam war.
Es war diese eine Chance, die mich wieder zum Leben erweckte.
Diese eine Chance die ich nutzen musste um daraus zu kommen.
Ich nutzte sie.
Summer
Gelangweilt saß ich auf den unbequemen Chemiebänken unserer Schule. Mein Blick glitt sehnsüchtig nach draußen, wo die Sonne warm schien und kein Wölkchen am Himmel zu sehen war.
Seufzend drehte ich mich zu meiner besten Freundin Carry um, die aufmerksam dem Unterricht folgte. Wie konnte sie nur? Es war Freitag Nachmittag und unvorstellbar heiß. Ich hatte jetzt wirklich keinen Bock mehr auf Schule.
Ich war nicht schlecht in der Schule, ich war sogar ziemlich gut, sodass mir schon angeboten wurde, die achte Klasse zu überspringen, ich lehnte jedoch ab.
So schlau war ich auch nicht und ich hatte keine Lust mich nur mehr anzustrengen weil ich die Klasse übersprungen hatte. Dann machte ich lieber ganz locker die Highschool durch, ohne große Anstrengung. War doch viel besser.
Endlich erlöste mich der Gong der Schulklingel und ich nahm schnell meine Sachen um aus diesem Pumakäfig zu kommen. Carry ließ sich Zeit , weswegen ich schon vorging um vor dem Raum auf sie zu warten.
Ich packte meine Sachen schon in die Tasche und stand genervt vor dem Raum. Carry musste ja noch mit den anderen aus unserer Klasse quatschen. Plötzlich legten sich zwei warme Hände vor meine Augen.
„Jason!“ kicherte ich.
Mein Freund nahm seine Hände von meinen Augen, stellte sich vor mich und gab mir einen kurzen Kuss auf den Mund.
„Summer!“ machte er mich übertrieben nach und kicherte blöd, was ihm einen leichten Stoß in die Seite einbrachte.
Er tat so als ob ihm das weh getan hätte, was ich aber nur unbeeindruckt beobachtete. Und endlich kam Carry auf uns zu.
„Schneller gings nicht?“ fragte ich.
Sie zuckte mit den Schultern.
Ich verschränkte meine Hand mit Jasons und zog ihn leicht hinter mir und Carry hinterher.
Wir liefen schnell aus dem Schulgebäude, auf den vorderen Schulof, wo die Sonne ohne Erbarmen auf die Erde knallte und noch viele Schüler standen und sich unterhielten. Unter anderem stand dort auch Christian, der sich mit seinen Nerd-Freunden unterhielt.
Meiner Meinung nach, konnte er viel cooler sein und auch mehr aus sich machen, aber das war ja nicht mehr mein Problem. Seid unserem Streit vor ca. 2 Wochen, ignorierten wir uns strickt. War ja sein Problem, wenn er so einen Scheiß erzählte!
Um nicht weiter über den Streit mit meinem besten Freund nachzudenken, erhöhte ich mein Tempo, woraufhin Carry und Jason auch schneller wurden.
„Man Summer, rede mit ihm! So bringt das doch nichts!“sagte Carry aufgebracht.
Ich lachte nur auf und schüttelte mit dem Kopf.
„Lass sie. Ist seine Schuld.“ meinte Jason knapp.
Jason mochte Chrissi nie sonderlich und er war sogar etwas froh, dass Christian und ich momentan keinen Kontakt hatten.
Wir trafen auf Jasons Freunde, mit denen wir noch etwas redeten.
„Summer, ein paar aus unserer Klasse und ich, wollten heute ins Freibad. Habt ihr Lust mitzukommen?“ fragte Carry in die Runde.
Ich sah Carry fragend an, woraufhin sie lächelnd nickte.
Ein paar von Jasons Freunden und Jason selber, wollten auch kommen.
Dann verabschiedete ich mich von ihm, da er nicht mit dem Bus nach hause fahren musste, wie ich und Carry, sondern immer zu Fuß nach Hause lief.
Wir fuhren in dem stickigen Bus in das Stadtviertel, in dem wir beide wohnten, ich musste jedoch eine Haltestelle vorher aussteigen.
Carry und ich einigten uns noch auf eine Uhrzeit, zu der wir dann mit dem Fahrrad zum Freibad fahren würden. Dann stieg ich aus und lief auf das kleine, süße Einfamilienhaus meiner Familie zu. Durch den Vorgarten, der mit vielen bunten Blumen besäht war und dann die Treppen zur Haustür hoch, wo ich die Tür aufschloss und meine Ballerinas auszog.
Ich lief in die Küche, wo meine Mum gerade unser Essen auf den Tisch stellte.
„Hallo mein Schatz.“ sagte sie lächelnd, als ich mich an den Tisch setzte.
„Hi Mum.“ entgegnete ich.
Dann hörte ich den Roller meines Bruders Tobias, der kurze Zeit später auch ins Haus gepoltert kam.
„Hallo!“ rief er aus dem Flur und setzte sich daraufhin an den gedeckten Tisch.
„Hi.“ murmelte ich.
Als wir alle saßen, verkündete ich, dass ich ins Freibad gehen würde.
Meine Mum nickte nur einverstanden, Tobi jedoch war da hartnäckig. Große Brüder halt.
„Wie lange willst du denn wegbleiben?“ fragte er.
„Weiß nicht neun oder so.“ sagte ich schulterzuckend.
„So spät? Du bist erst 13 Summer.“
„Nein ich bin SCHON 13! Ich kann alleine auf mich aufpassen.“ konterte ich genervt.
Er war selber erst 16, er sollte sich nicht so aufspielen.
Ich aß schnell auf und verschwand oben in mein Zimmer. Da es schon 4 Uhr war und wir in einer halben Stunde los wollten, packte ich meine Sachen und verschob meine Hausaufgaben aufs Wochenende.
Ich zog meinen roten Bikini unter mein schwarzes , trägerloses Kleid und schlüpfte in meine ebenfalls roten Flip Flops und schnappte mir meine Pilotenbrille. Meine Kinnlangen, goldblonden Haare band ich zu einem wirren Dutt hoch und trottete dann die Treppe runter , da es Zeit war loszufahren.
Um einer Diskussion aus dem Weg zu gehen, rief ich , als ich schon im Türrahmen stand, dass ich um 9 wieder zuhause sein würde und knallte dann die Haustür zu.
Carry wartete schon auf mich, ich begrüßte sie und holte mein Fahrrad, damit wir losfahren konnten.
Es war brechend voll im Freibad und ich sah, als wir bereits den Eintritt bezahlt hatten, wie Jason mit seinen Kumpels auf der Wiese lag und direkt daneben, ein paar unserer Klassenkameraden.
Ich musste unweigerlich grinsen, als ich ihn sah. Er sah so gut aus!
Sie lagen ganz gemütlich unter einem Baum und lachten. Er hatte eine Sonnenbrille vor den Augen und trug eine knallblaue, knielange Badeshorts.
Carry und ich liefen auf unseren Leuten zu, während unsere Flip Flops im Takt an unsere Füße schlugen.
Als wir bei allen angekommen waren, schlängelte ich mich als erstes zwischen meinen Freunden zu Jason durch, der dabei war aufzustehen. Er umarmte mich erst und gab mir dann einen Kuss, der meine Lippen zum brennen und meiner Haut eine Gänsehaut verschaffte.
Ich schlängelte mich zurück zu Carry. Wir legten unsere Handtücher auf den Boden und zogen unsere Klamotten aus, sodass wir uns im Bikini auf unser Handtuch legen konnten.
An diesem Spätnachmittag war es einfach wunderschön gewesen. Wir schwommen, lagen einfach auf der Wiese und hörten Musik. Chrissi war heute nicht hier, warscheinlich lernte er mal wieder. War mir aber in diesem Moment völlig egal. Ich war glücklich.
Wir waren mittlerweile wieder umgezogen und bewegten uns Richtung Ausgang. Meine vom Wasser schrumpelige Hand lag in Jasons und meine feuchten Haare tropften auf meine Schultern. Carry und die anderen gingen vor uns um an den Fahrradständern stehen zu bleiben. Ich verabschiedete mich von ihnen und Jason küsste ich diesmal länger als sonst. Als hätte ich schon etwas geahnt. Ich sagte ihm noch, dass ich ihn liebte und dann ging er und mein Herz raste im Rekord wegen diesem Jungen.
Carry brachte mich noch nach hause. Ich verabschiedete mich mit einer Umarmung von ihr und dann fuhr sie weg.
Hätte ich gewusst, was mir am nächsten Tag passieren sollte, hätte ich Carry so wie Jason gar nicht erst los gelassen.
Ich schleppte mich müde die Treppenstufen hinauf und traf im Wohnzimmer auf meine Mutter, die Fern sah. Sie hatte nichts dagegen, wenn ich mal fünf Minuten zu spät kam, Tobi schon, deswegen war ich froh, dass er gerade nicht Zuhause war. Er nahm für mich eine Art Vaterrolle ein. Oder er wollte es zumindest, nachdem mein richtiger Vater uns verlassen hatte, war er halt der Mann im Haus. Ich gab Mum einen Kuss auf die Wange, bevor ich in mein Zimmer hochtrottete.
Nachdem ich mich bettfertig gemacht hatte, klingelte mein Handy. Eine SMS von Jason.
'Schlaf schön mein Engel. Ich liebe dich!' Ich grinste leicht dümmlich und schrieb ihm ähnliches zurück. Friedlich schlief ich traumlos ein.
Sonnenstrahlen kitzelten meine Haut am Morgen, sodass ich meine Augen langsam öffnete. Als ich einen Blick durch mein Fenster warf, dessen Rolladen ich vergessen hatte runter zu machen, sah ich einen strahlend blauen Himmel. Ich freute mich schon jetzt auf einen schönen Tag. Komischerweise fiel es mir unheimlich schwer aus meinem Bett zu steigen. Als hätte mein Körper gespürt, an diesem Tag würde etwas passieren. Schwerfällig schaffte ich es doch, mich zu überwinden und stand auf. Da heute Samstag war, ken Plüschpantoffeln runter. Mein Ziel war die Küche, denn mein Magen knurrte wie ein wildgewordener Hund. Ich erschrak etwas, als ich auf der Küchenuhr las, dass es bereits halb eins war.
Schnell bereitete ich mir fettarmen Jogurt mit Früchten vor uns ging damit in den Garten, um mich etwas in die Sonne zu legen.
Als ich raus ging, sah ich meine Mum, die auf einer der beiden Liegen lag und ein Buch las. Ich legte mich dazu und wir redeten etwas. Danach machte ich Hausaufgaben.
Nach anderthalb Stunden war ich dann auch endlich mit meinen Hausaufgaben fertig. Ich beschloss noch in die Stadt zu gehen, vielleicht würde Carry auch mitkommen.
Sie stimmte am Telefon zu. In einer halben Stunde würden wir uns in der Stadt treffen.
Ich duschte, föhnte meine Haare, zog meine Lieblingsshorts mit einem Fledermausarmoberteil und Ballerinas an. Ich schnappte mir meine Tasche und kontrollierte ihren Inhalt. Eigentlich war das unnötig , da ich nie etwas herausnahm, aber das war ein kleiner Tick von mir. Ich könnte allein mit der Tasche auswandern. Ich hatte alles drin. Taschentücher, Handy, Labello, Notizblock, 3 Kugelschreiber, Handcreme, Nagellack, Geld natürlich, eine Flasche Wasser, Kaugummis, Haargummis, Bürste, Haarklammern... ja das war's. Vielleicht etwas übertrieben, aber wer wusste schon, was einem unterwegs alles passieren konnte? Ja, wer wusste das schon...
Nachdem ich Mum Bescheid gesagt hatte, ihr versichert hatte, dass ich auf mich aufpassen würde (was im Nachhinein ja nicht so ganz geklappt hatte) und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben hatte, lies ich die Haustür hinter mir zufallen und lief gut gelaunt die Straße hinunter. Plötzlich hörte ich ein Motorrad und ich wusste sofort, wer der Fahrer war. Ich sah das schwarze Gefährt immer näher kommen, bis es entgültig vor mir stehen blieb. Der Fahrer nahm seinen Helm ab und musterte mich eingehend.
„Wo willst'n du hin, vor allen Dingen in diesem Aufzug?!“ fragte Tobias stirnrunzelnd.
Ich verdrehte die Augen und ging einfach weiter. Konnte er nicht einmal aufhören, den Möchtegern Vater raushängen zu lassen?
„Summer!“ rief er.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und stöhnte genervt.
„Nerv nicht Tobi.“ rief ich zurück und dachte gar nicht erst daran, stehen zu bleiben Ich hörte, wie er seine Maschine wieder anschmiss und wegfuhr. Endlich.
Es war nicht mehr weit bis zur Bushaltestelle und ich überlegte schon, was ich mir alles schönes kaufen könnte, aber daraus wurde dann nichts.
Es war ein Busparkplatz, hinter einem Lebensmittelladen. Eine Abkürzung, die ich immer ging. Doch dieses Mal, war es nicht wie immer.
Ein Arm, der sich um meinen Hals klemmte, woraufhin ich nach hinten umfiel. Ein Schrei von mir und ein kleiner Picks in meinen Hals und plötzlich wurde alles schwarz.
3 Jahre später
Mein Herz schlug unkontrolliert schnell. Meine Beine setzte ich planlos voreinander. Ich war lange nicht gegangen. Aber in dieser Situation sollte ich schneller laufen, nein rennen , nein um mein Leben fliehen! Mittlerweile liefen Tränen über die Wangen. Aus Freude? Aus Angst oder aus Verzweiflung? Ich wusste absolut nicht, was ich fühlte.
Ich atmete stoßweise aus. Mein Körper schmerzte aber ich lief Trotzdem die Treppen ins Erdgeschoss hoch. Ich hatte nur einen Gedanken : FLIEHEN
Ich hatte panische Angst, dass ER aufwachen würde. Wie lange hielt die Betäubung? Hatte ich ihn richtig getroffen? Hatte ich überhaupt eine Chance?
Meine nassen Wangen vibrierten von meinem Schluchzen. Ich lief den altmodischen Flur entlang und hoffte, dass die Tür auf die ich zusteuerte meine Rettung war.
Ich griff nach der kalten, eisernen Türklinke und drückte sie runter. Hektisch öffnete ich die Tür und ich sah nach drei Jahren nach draußen. Die Sonne schien leicht zwischen den weißen Wolken hindurch. Ich war so überwältigt von der Schönheit der Natur, dass ich gar nicht bemerkte , dass ich schon einige Momente dastand und nach draußen starrte. Schnell fing ich mich wieder und sprintete in das endlose Grün.
Hier war nichts, dass nach Zivilisation aussah. Nichtmal eine Straße, nur Wiese weit und breit nichts anderes als Wiese. Nichts desto trotz lief ich keuchend weiter. Panisch drehte ich mich alle paar Sekunden um, aber aus meinem kleinen Gefängnis kam niemand.
Wie viel Zeit lief ich schon? Ich wusste es nicht, aber der Wald in dem ich mich mittlerweile befand, wurde es allmählich immer düsterer. Meine wackelnden Beine taten auch nicht mehr dass was sie sollten. Meine nackten Füße schlurften über den feuchten Waldboden. Mein Herz schlug immer noch unkontrolliert schnell und ich sah immer wieder nach hinten. Nichts. Wenn er mich verfolgen würde, könnte er sich hier überall verstecken!
Vereinzelt liefen mir aus Verzweiflung Tränen über mein kaltes Gesicht. Hatte ich überhaupt eine Chance?
Ich trottete langsam weiter und spürte die eisige Kälte in Form von Windes an meinen fast nackten Beinen. Welche Jahreszeit mochte sein? Herbst? Winter? Ich wusste es nicht.
Meine mit Gänsehaut übersähten, dürren Arme und Beine zitterten. Meine alte, dreckige Shorts und mein verlumptes Oberteil wärmte meinen schmalen Körper kein bisschen.
Was hatte ich überhaupt für ein Ziel? Ich hatte nichts bei mir außer, dass was ich trug. Wie würde es weitergehen wenn ich es schaffen würde? Dann würde meine Sehnsucht nach meiner Familie und meinen Freunden und Jason endlich gestillt sein! Ich bemerkte schnell, dass das alles ein bloßer Traum war und schier unmöglich. Meine anfängliche Zuversicht und Freude über die Flucht starb augenblicklich. Es war unmöglich. Hier war nichts und lange würde ich auch nicht mehr in meinem Zustand weiterkommen.
Langsam glitt ich zu Boden und legte meinen Kopf in meine Hände. Verzweifelt schrie ich auf und weinte bitterlich. Sollte er mich doch hören, sollte er mich töten, mir war es egal. Ich würde meine Familie und Freunde nie wiedersehen. Ich schluchzte noch einmal schmerzverzerrt und plötzlich sank ich in das tiefe Schwarz. Ohne Schmerzen, ohne Sorgen und Ohne IHN.
Ich spürte Hände, die mich berührten. Ich wollte sie wegschlagen, aber beim ersten Versuch reagierte mein Körper nicht. Panik packte mich und wie von selbst schlug ich um mich herum. Aber nicht lange, plötzlich wurden meine Arme fest an meinen Körper gedrückt. Es tat so weh, es sollte aufhören! Ich schrie und weinte gleichzeitig und wimmerte, dass es aufhören sollte. Meine Augen kniff ich fest zusammen, aber meine Tränen krochen noch ungehindert unter meinem geschlossenen Lidern hervor. Auf einmal spürte ich keinen nassen Waldboden mehr unter mir, was mich noch mehr zum Weinen und Schreien brachte. Wer war das? Wer war es der mir meine Glieder so fest an den Körper drückte? Mein schlimmster Feind oder meine Rettung? Ich weinte laut und schluchzte wie verrückt. Mein Körper zitterte vor Angst und Kälte. Die Hände trugen mich und ich hörte einen aufgeregten Herzschlag in der Brust des Jemanden, der mich trug. Kurze Zeit später muss ich ohnmächtig geworden sein, ich wusste es nicht mehr. Ich bekam generell nicht viel mit. Meine Schmerzen ließen nach, aber ich schätzte nicht das kam davon das sie so schnell heilten, sondern weil mein Körper Stück für Stück tauber wurde. Es war alles so gedämpft und ich bekam auch nur halbwegs mit, wie ich wieder abgelegt wurde und ich konnte überhaupt nicht deuten, was ich sah. Plötzlich hörte ich gedämpfte Stimmen, viele Stimmen und auch noch andere viel zu laute Geräusche. Was war das? Ich konnte mich aber nicht mehr darum kümmern, da auch ich komplett taub und nun auch wieder bewusstlos war.
Plötzlich sah ich wieder Licht und es war so unglaublich laut. Ich merkte, wie mein Körper zitterte durch Kälte und unglaublicher Angst. Ich bekam kaum mit, wie ich unkontrolliert Schluchzte. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, was um mich herum passierte und es klappte. Ich hörte mehrere Leute um mich herum, die sich lautstark unterhielten, nein sogar anschrieen. Es war gleichzeitig beeindruckend und beängstigend nach drei Jahren wieder andere Menschen zu hören als IHN. Aber wer waren sie? Brachten sie mich womöglich zurück zu IHM? Sie sollten aber bitte aufhören so rumzuschreien. Und ich merkte schon wieder wie mein Körper versagte. Ich versuchte krampfhaft wachzubleiben aber es gelang mir nicht. Wieder mal empfing mich das Schwarz, dass mittlerweile fast wie mein Zuhause war.
Wieder mal spürte ich, wie ich wieder Kontrolle über meinen Körper bekam und ich hoffte das ich nicht schon wieder ohnmächtig wurde, dieses Hin und Her war ziemlich anstrengend. Und mit der Kontrolle über meinen Körper, kamen auch meine Schmerzen zurück, woraufhin ich leise aufstöhnte. Ich wollte nicht wissen, wie viele meiner Knochen gebrochen waren und wie viele Wunden ich hatte. Vorsichtig öffnete ich meine schweren Augenlider. Sie fielen jedoch sofort wieder zu, woraufhin ich sie wieder öffnete und sich meine Augen erst einmal an meine Umgebung anpassen mussten. Es war hell hier, aber wenn man jetzt erwartete ich würde sagen ich läge in einem Krankenhauszimmer, war das falsch. Es sah anders hier aus. Das stellte ich fest, als ich mich hier panisch nach jemanden umsah. Nichts, hier war niemand. Langsam realisierte ich, dass es ganz danach aussah, das mich jemand gefunden hatte und irgendwo hingebracht hatte, wo man mir helfen wollte.. Ich hoffte es, denn ich lag auf einer Liege mit mehreren Wolldecken zugedeckt in einem Raum, den ich nicht zuordnen konnte. Plötzlich ging die Türklinke runter, ganz langsam und ich beobachtete diese Bewegung mit schreckgeweiteten Augen.
Eine ziemlich kleine Frau, mit jedoch einer großen Ausstrahlung kam leise in den Raum. Sie trug eine Polizeiuniform und nahm, während sie auf mich zukam ihre Dienstmütze vom Kopf. Ich verkroch mich unbewusst an die hinterste Kante der Liege.
„Hey. Keine Angst ich tu dir nichts.“ Sagte sie leise und hob die Hand.
Ich nickte angespannt.
„Du müsstest mir ein paar Fragen beantworten... Könnten wir das jetzt machen?“ Fragte sie.
Ich nickte wieder, aber meine Anspannung viel nicht von mir ab.
Sie nahm sich einen Stuhl und stellte ihn ohne jegliche Geräusche neben meine Liege, mit einem akzeptablen Abstand. Sie setzte sich lautlos und nahm neben sich von einem Tisch ein Klemmbrett mit einem Stift und sah mich an.
„Also zu deiner Information, du bist auf einer Polizeistation und bist hier bei uns im Krankenzimmer, da dich das Krankenhaus nicht annahm, da sie deinen Namen nicht wussten und sie so auch keine Versicherung für dich identifizieren konnten und dich wegschickten, trotz deines Zustandes.“ Sie schüttelte verärgert den Kopf.
„Deswegen bist du jetzt hier. Und damit du ins Krankenhaus kannst um deinen körperlichen Zustand untersuchen zu lassen, müsstest du uns deinen Namen sagen.“
Ich brauchte etwas Zeit um das Gesagte zu verstehen.
Sie hatten mich gerettet. Ich war auf einer Polizeiwache und ich lebte!
Das Räuspern der Polizistin veranlasste mich dazu schnell zu antworten.
„Summer Livsey.“ Krächzte ich. Meine Stimme hatte ich ewig nicht mehr benutzt. Ich hatte ja niemanden zum Reden gehabt.
Die Polizistin kniff ihre Augen leicht zusammen und von Sekunde zu Sekunde wurden sie größer, bis sie mich mit weit aufgerissenen Augen von oben bis unten musterte.
„Summer Livsey?“ Fragte sie nach und schien sichtlich geschockt.
Vorsichtig nickte ich.
Und schon war sie verschwunden. Sogar die Tür knallte sie laut zu. Und außerhalb des Raumes vernahm ich eine enorme Aufruhe. Viele Menschen riefen durcheinander, Telefone klingelten und ich hörte wie Schritte auf das Krankenzimmer zukamen.
Die Tür ging ein zweites Mal auf.Als erstes kam die kleine Polizistin und hinter ihr noch zwei männliche Polizisten die mindestens einen ganzen Kopf größer waren als sie.
Ich verfolgte dieses ganze Theater auf der hintersten Kante meiner Liege. Hier war es meiner Meinung nach am sichersten. Die Hälfte meines Gesichts und mein Körper war unter der Decke versteckt.
Die drei Polizisten nahmen auf drei Stühlen vor meiner Liege Platz und einer der beiden Männer räusperte sich, was mich zum Zusammenzucken brachte.
„Du bist Summer Livsey, Geboren am 20.1.1998 richtig?“ fragte er sachlich.
ich nickte vorsichtig.
„Du bist seit dem 18.9.2011 als vermisst gemeldet, woraufhin viele Monate mehrere Suchtrupps nach dir auf der Suche waren, diese aber nach zwei Jahren ohne Hinweise wieder zurückgerufen worden sind. Seit einem Jahr ist dein Fall auf Eis gelegt worden, da sich keine Spur von dir gefunden hast.“ Diese Informationen las er von einem Blatt Papier ab und sah mich danach an.
Mir lief eine einsame Träne über meine Wange. Ich nickte wieder mit zugekniffenen Augen. Das veranlasste ihn dazu weiter zu reden.
„Die Annahme war, dass eine Straftat vorliege und wir dachten, du wärest längst nicht mehr am leben. Dennoch bist du wieder aufgetaucht.“ Abwartend sah er mich an.
„Ich..Ich.“ Ich brach in Tränen aus. Es war alles zu viel.
„Hey, lassen wir sie für heute in Ruhe.“ Meinte die kleine blonde zu den Polizisten. Diese nickten und gingen beide raus. Die blonde blieb jedoch drin und streichelte meinen Arm und redete beruhigend auf mich ein, was mich erst zum Zurückzucken brachte, ich mich jedoch daran gewöhnte und es mir gut tat.
Tobias Sicht
Ich saß am Esstisch mit meinem Smartphone in der Hand und wartete ungeduldig auf das Abendessen.
„Ker Junge, jetzt leg doch mal dein blödes Ding da weg.“ Mum sah verärgert auf mein Handy, was ich nach einem Zögern weglegte und mich über mein Essen hermachte. Meine Mum betete derweil noch. Sie betete seid Summers Verschwinden fast stündlich und vorm Essen generell. Ich kommentierte dies immer mit einem Augenverdrehen. Wenn sie überhaupt irgendwann mal zurückkommen würde, dann schon mal gar nicht durch Gottes Hilfe. Wenn der da oben überhaupt exestierte, dann hätte er nicht zugelassen, dass sie uns genommen wurde. Mum dagegen hoffte immernoch, dass sie noch lebte. Meine Hoffnung starb mit jedem Tag mehr.
Ich schlang meine Spaghettis nur so herunter. Mummys Essen war immernoch das Beste.
Plötzlich klingelte das Telefon. Ich seufzte genervt auf und Mum stand schnell auf um das klingelnde Ding leise zu bekommen.
„Livsey?“ Sagte meine Mum freundlich in den Hörer.
Ab da hörte ich nicht mehr zu und nutzte die Gunst mein Handy am Esstisch zu benutzten.
Doch plötzlich hörte ich ein Poltern. Verwirrt sah ich zu meiner Mutter, die wie erstarrt dastand und den Hörer hatte fallen lassen.
„Mum.. was?“ währenddessen hob ich den Hörer hoch.
„Hallo? Hallo? Frau Livsey?“ fragte eine Person an der anderen Seite der Leitung.
„Ehm Hallo?“ fragte ich während ich meiner Mutter über die Schulter streichelte.
„Aso ja gut. Kommen sie dann bitte so schnell wie es geht zur Polizeiwache. Tschüss.“ Und schon tutete es.
„Mum?“ fragte ich eindringlich .
Plötzlich erwachte Mum aus ihrer Starre.
„Wir müssen...Wir müssen zur Pollizeiwache.. Wir fahren bis dahin...6 Stunden.. Sie-sie haben gesagt...“ weiter redete sie nicht, da sie aus irgend einen Grund unter Schock stand.
„Mummy geh ins Auto uns beruhige dich ich fahre.“
Kurze Zeit später saßen wir im Auto und Mum saß die ganzen sechs Stunden vollig aufgewühlt auf dem Beifahrersitz. Sie sagte keinen Ton, sondern starrte stumm aus dem Fenster. Nicht einmal das Radio durfte ich anmachen.
Nach sechs Stunden waren wir in dem Ort mit der besagten Polizeiwache. Meine Mum sprang aus dem Auto und rannte schnell auf die Polizeiwache zu. Ich stieg verwirrt aus und ging unsicher auf das Gebäude zu. Was ging hier vor?
Als ich drin war, sah ich meine Mutter mit einem Polizisten am diskutieren.
Bevor ich bei ihnen ankommen konnte, lief sie schon mit dem Polizisten in einen der mehreren Fluren. Ich lief hinter ihnen her, da sie gerade eine Tür öffntete und hinter dieser verschwanden, musste ich mich beeilen. Die Tür öffnete sich wieder und ein ziemlich breiter Polizist sah mich von oben herab ziemlich misstrauisch an. Verdammt.
Freudentränen und Schmerztränen
Summers Sicht
Die blonde Polizistin war die ganze Zeit über bei mir gewesen und ich hatte mich inzwischen auch beruhigt. Plötzlich wurde ruckartig die Tür aufgerissen. Verschreckt sah ich zu der Tür. Und da stand sie. Meine Mum. Ich konnte es kaum fassen. Jegliche
Spannung aus ihrem Gesicht wich, als sie mich sah.
War das alles nur ein Traum? Oder sah ich nach drei Jahren, nach scheinbar endlosen Höllenqualen, nach einer hoffnungslosen Zeit meiner Mum wieder? Ich betete so sehr, dass wirklich meine Mum vor mir stand und das sie keine Einbildung war.
Ich hatte sie sofort erkannt, sie hatte sich jedoch etwas verändert. Ihre Haare waren kürzer und grauer und sie hatte mehrere Falten obwohl sie noch gar nicht so alt war.
Sie stand dort außer Atem und starrte mich an. Nach einigen Sekunden legte sie ihre Hände vor den Mund und ihre Augen fingen an zu tränen. Langsam kam sie auf mich zu und streckte ihre Hand nach meiner Wange aus. Ich stand währenddessen ruckartig auf und trennte die letzten Meter zwischen uns. Zitternd lag ihre Hand auf meiner Wange und ich schmiegte mich mit meinem Gesicht in ihre warme Handfläche. Sie nahm ihre Hand von meiner Wange wieder weg, schlug kurz orientierungslos die Hände vor ihren Mund und strich daraufhin mit ihren Händen meine Arme.
„Du bist es.“ flüsterte sie leise zitternd und es klang so, als ob eine riesen Last von ihren Schultern fiel, denn darauf hin umarmte sie mich stürmisch und schlang ihre Arme fest um meinen Körper, was mir fast schon weh tat, aber ich dachte erst gar nicht daran mich aus dieser lang ersehnten Umarmung zu befreien.
„Mama.“ schluchzte ich in ihren Armen
Ich hörte wie sie selber schluchzte und mir über den Kopf strich.
Sie nahm ihren Kopf von meiner Schulter und sah mir mit ihren verweinten Augen in meine.
„Mein kleines Mädchen.“ schluchzte sie leise. „Du bist zurück. Du lebst.“ flüsterte sie.
Oh mein Gott du lebst!“ Lächelte sie schluchzend. Ich nickte mit zugekniffenen Augen. Sie wischte mir mit ihren warmen, zitternden Händen meine Tränen weg.
„Ich bin ja da. Es wird alles wieder gut. Es wird alles wieder gut.“ flüsterte sie.
Und da war sie wieder. Die Geborgenheit, die ich ganze drei Jahre vermisst hatte. Ich hätte nie gedacht sie wieder zu sehen. Nie. Ich hatte meine ganze Hoffnung verloren. Es war nicht mal mehr ein Funken Hoffnung den ich noch hatte und jetzt lag ich hier in den Armen meiner Mama.
Tobias Sicht
Ich musste noch ein paar Minuten mit dem Polizisten diskutieren und ihn überzeugen, dass ich da in diesen Raum zu meiner Mum musste aber nicht wusste warum. Irgendwann hatte ich dies auch geschafft und da sah ich in dem Raum ein komisches Zenarium vor mir.
Meine Mum umarmte unter Tränen ein schwarzhaariges Mädchen, dass ebenfalls weinte. Sie flüsterten sich gegenseitig etwas zu, dass ich unter den lauten Schluchzern nicht verstand. Das Mädchen war sehr dünn, schon abgemagert und hatte viele blaue Flecke an ihrem Körper.
Ich räusperte mich einmal, woraufhin das Mädchen heftig zusammenzuckte und Mum sich zu mir umdrehte. Sie ging komischerweise aus dem Weg, sodass zwischen dem Mädchen und mir kein Hindernis mehr war. Das abgemagerte Mädchen sah mich unter gequälten, nassen Augen an.
Was sollte das hier? Was hatte dieses Mädchen mit uns zu tun? Ich denke ich hatte damals tief im inneren eine Vorahnung gehabt, der ich aber zu diesem Moment keinen Funken Glaubhaftigkeit schenken konnte.
„Tobi.“ weinte das Mädchen, woraufhin ich verwirrt eine Augenbraue hochzog.
„Was soll das? Wer bist du?“ fragte ich etwas patzig. Ich war gerade zu verwirrt und genervt von dieser mir unklaren Situation.
Das Mädchen sah mich verletzt an, was mich noch mehr verwirrte und plötzlich sank sie zu Boden und weinte. HÄ?
Mum sprang sofort auf uns hockte sich neben sie und streichelte beruhigend über ihren Rücken.
Nach einigen Momenten in denen ich immer noch verwirrt dastand, stand das Mädchen mit wackeligen Beinen auf und Mum stützte sie.
„So noch einmal, wer bist du?“ Fragte ich genervt. Was sollte diese Scheiße? Mum funkelte mich anklagend an, was ich mit einem hilflosen Schulterzucken kommentierte.
Das Mädchen atmete langsam zitternd aus und sah mir fest in die Augen.
„Ich bin es, deine kleine Schwester.“ Flüsterte sie.
Ich riss meine Augen auf und taumelte ungewollt etwas zurück.
„Was?“ Ich fuhr mir fassungslos mit meinen Händen durch mein Gesicht. „Ach du Scheiße Summer..“ Sagte ich geschockt und nahm sie fest in meine Arme. Zu Anfang erstarrte sie sehr aber das sollte sie nicht! Ich war wieder da und beschützte sie. Nach einer gefühlten Ewigkeit schlungen sich ihre kleinen dürren Arme um meinen Körper und ich konnte es kaum fassen, dass ich gerade meine kleine Schwester umarmte, die drei Jahre verschwunden war
Sie vibrierte, da sie an meiner Brust schluchzte. Ich strich ihr wie meine Mutter zuvor über ihren Kopf. Jetzt, wo ich wusste, dass sie es war erkannte ich sie auch wieder. Dies war aber sehr schwer. Ihr Gesicht war zusammengefallen und unter ihren Augen waren tiefe, dunkle Augenringe zu erkennen. Außerdem hatte sie Haare bis zum Rücken, die komischerweise schwarz waren. Ihre Naturhaarfarbe war aber blond?
Ich nahm sie eine Armlänge von meinem Körper weg und betrachtete sie von oben bis unten. In meinem Griff versuchte sie ihren Körper zu verstecken, dass merkte ich. Sie trug nur eine kurze Hose, die ziemlich dreckig und kaputt war. Wegen dieses wenigen Stoffes, konnte ich ihre abgemagerten Beine gut erkennen und die Wunden und Blutergüsse und das getrocknete Blut das ihre Beine zierte. Mein Blick verdüsterte sich mit jeder Verletzung an ihrem Körper, die ich sah mehr. Ich war wütend. Wer hat meiner kleinen wehrlosen Schwester soetwas angetan? Ich wollte sie doch immer vor alles und jedem beschützen und ich hatte es nicht geschafft. Irgendwer hatte Summer drei Jahre lang in seiner Gewalt. Ich war wütend auf die Person, die ihr das angetan hatte und auf mich, da ich sie nicht beschützt hatte.
„Wer hat dir das angetan?“ zischte ich uns sah ihr eindringlich in die Augen.
Sie gab keine Antwort , sondern fing wieder an zu weinen, was meinem Herzen wehtat. Ich merkte selber, wie mir die Tränen über die Wangen liefen.
„Entschuldigen sie bitte, aber wir müssten das jetzt mit der Klinik abklären, damit sie in stationäre Behandlung kommen Miss Summer.“ Sagte eine blonde Polizistin. Ich ließ sie Summer los und wir klärten das mit dem Krankenhaus, während Summer mittlerweile auf meinem Schoß eingeschlafen war. Nachdem wir alles besprochen hatten, trug ich sie vorsichtig ins Auto. Bevor wir noch losfahren konnten, brabbelte Summer leise irgendetwas unverständliches. Sie wurde immer lauter, bis sie losschrie und um sich schlug. Sie weinte und schrie die ganze Zeit „Nein, Nein ,Nein“. Mum und ich schauten uns erschrocken an, bis wir panisch versuchten sie zu beruhigen. Ich hielt ihre Arme fest, während meine Mum sie versuchte wach zu machen. Nach einigen Momenten blinzelten Summers Augenlider und sie sah mich aus verweinten Augen an. Sie zitterte am ganzen Körper. Als sie scheinbar die Situation verstand. Schüttelte sie weinend mit dem Kopf und legte ihren Kopf in ihre kleinen Hände.
Ich stand neben der Autotür und sah völlig geschockt in das innere des Autos auf mein kleines Wrack an Schwester. Meine Mum stand hinter mir und hatte ebenfalls Tränen in den Augen.
„Alles Ok bei ihnen?“ fragte die blonde Polizistin aus dem Polizeiauto hinter uns, da sie uns zum Krankenhaus begleiten wollte um ein paar Fragen zu klären.
„Sie, sie hatte einen Albtraum und hat geweint und geschrien...“ stammelte ich.
Besorgt musterte die blonde Polizistin meine Schwester, die immer noch weinend im Auto saß.
Ich wusste überhaupt nicht was ich machen sollte. Meine Schwester hatte vor drei Jahren nie geweint und hatte sich auch nie verletzlich gezeigt. Das war alles zu viel für mich.
Ich wollte nur noch hier weg. Ohne mich umzudrehen, lief ich davon. Der Autoschlüssel müsste noch stecken, so hoffte ich zumindest. Ich hörte noch wie mir meine Mum mit weinerlicher Stimme nachrief. Das war mir egal. Ich musste das jetzt erst einmal alles verdauen. Das war zu viel.
Summers Sicht
Ich hörte, wie meine Mum den Namen meines Bruders rief. Ich nahm meinen Kopf aus meinen Händen und blinzelte die Tränen weg. Wie sollte ich normal leben mit dieser Vergangenheit und mit diesen Bildern im Kopf? Wie? Plötzlich stieg meine Mum ins Auto und wie fuhren los, gefolgt von den Polizeiauto.
Nun lag ich hier. Mit drei gebrochenen Rippen, hunderten von Blutergüssen und einem Trauma. Sie wussten, dass ich entführt wurde. Warum auch immer aber sie wussten es. Ich schämte mich so sehr. Sie kümmerten sich alle so liebevoll um mich und ich wusste nicht wie ich reagieren sollte. Ich fühlte mich wie ein Eisklotz. Seit den drei Tagen die ich hier bin, schaue ich nur nach draußen. Ich wusste ich sollte glücklich sein, dass ich daraus war. Aber es fühlte sich so an als seie ich noch da. Als säße ich noch Tag für Tag in diesem dunklem Raum und würde auf die Sonne warten, die mir ein kleines bisschen Hoffnung schenken könnte. Selbst in diesem Moment, als ich die Sonne tatsächlich sah, hatte ich keine Hoffnung.
Ich hatte ein sehr schlechtes Gewissen gegenüber meiner Mum, da ich kein Wort redete. Sie verstand es nicht und wollte immer wieder mit kleinen Annäherungsversuchen, ein paar Wörter aus mir kitzeln. Es klappte nicht. Warum auch immer ich redete seitdem ich gefunden wurde nicht mehr.Es war so schwer. Ich hatte in diesen drei Jahren all meine Gefühle verdrängt und tief in meinem Herzen verschlossen. Ich konnte nicht von jetzt auf gleich so sein wie früher. Es ging nicht. Selbst als meine Mama mich weinend umarmt hatte und mir gesagt hatte, wie froh sie wäre, dass ich wieder da war... ich saß stocksteif im Bett und sagte nichts.
Auf einmal kam mir dieser Gedanke. Ich bemitleidete mich hier seit drei Tagen selber, ohne an meine Freunde zu denken! Die warscheinlich nicht einmal wussten, dass ich noch lebte! Carry, Chrissi und Jason... mein Freund Jason. Mir kamen die Tränen in die Augen. Ich wollte sie sehen, aber wollten sie mich sehen? Vielleicht fühlten sie sich im Stich gelassen? Eigentlich war dieser Gedanke völliger Quatsch, da ich ja nichts dafür konnte. Aber ich machte mir trotzdem Gedanken drüber. Ich war ja nicht einmal wie ich früher war. Ich war anders. Ich war eine völlig neue Person. Das komplette Gegenteil von meinem alten ich. Die stummen Tränen rollten über meine Wangen, bis sie an meine Kinn abtropften.
„Mum?“ kratzte ich mit meiner eingerosteten Stimme.
Meine Mum, die seit drei Tagen Tag und Nacht an meinem Bett verbracht hatte und mich bei Albträumen beruhigt und bei Heulkrämpfen versucht hatte mich zu trösten, schreckte aus ihrem Halbschlaf und sprang sofort von ihrem Stuhl auf.
„Was ist denn los mein Schatz?“ lächelte sie liebevoll. Ihr Gesicht war in den letzten Tagen mehr und mehr zusammengefallen aber das Funkeln in ihren Augen war teilweise zurückgekehrt und ich wusste, dass ich der Grund war.
„W-wissen Carry, Jason und Chrissi, dass ich... Das ich wieder da bin?“ flüsterte ich.
„Nein mein Schatz. Und das sollen sie auch vorerst noch nicht. Die Ärzte meinten zu viel Aufregung könnte dir imens schaden...“ Erklärte sie traurig.
Ich nickte zitternd. Vielleicht hatten sie mich ja auch vergessen. Hatten sie mich überhaupt vermisst? Hatten sie um mich geweint, wie ich um sie geweint hatte? Es war alles zu viel für mich aber ich wollte sie wiedersehen. In würde ich aus dem Krankenhaus rauskommen. So lange musste ich noch warten. Bei dem Gedanken an Jason klopfte mein Herz ungewöhnlich schnell. Doch im Kopf hatte ich noch den 14- Jährigen Teenager Jason. Wie er jetzt wohl aussah?Ob er sich verändert hatte? Hätte ich ihn zu diesem Zeitpunkt schon gesehen, hätte ich über meine Gedanken gelacht. Ob er sich verändert hatte? Nicht im geringsten.. welch Ironie...
Vier Tage später hatte sich mein Zustand nicht verändert. Krasse Albträume und Flashbacks und Vorstellungen, dass er mich finden könnte. Über IHN hatte ich mir kaum Gedanken gemacht. Aber was wäre, wenn er mich finden würde? Ich konnte mich doch nicht mein lebenlang in meinem Haus einsperren. Die Polizei fahndete zwar nach ihm aber ich war mir sicher, dass man ihn nicht finden würde. Hatte man die drei Jahre vorher doch auch nicht. Aber er würde mich finden.
Ich wimmerte leise auf. Er wird wütend sein. Er würde mich gnadenlos umbringen.
Plötzlich wurde ich hochgehoben. Ich erstarrte aber fast im selben Moment saß ich wieder. Mein behandelnder Arzt hatte mich in einen Rollstuhl gesetzt. Er lächelte entschuldigend und wand sich direkt wieder ab.
Ich würde nun nach Hause kommen. In mein Zuhause. Ich freute mich schon darauf wieder in meinem Bett zu schlafen. Ok....wenn ich überhaupt schlafen könnte..
Meine Mum fuhr mich aus dem Krankenhaus. Die Ärzte meinten, zu Laufen wäre zu anstrengend für mich. Pah! Zu anstrengend? Dann hätten die mich mal sehen sollen wie ich geflüchtet war. Ich sah vor dem Krankenhaus eine dunkelblauen Opel anfahren. Aus dem Inneren stieg mein Bruder, der sich die ganze Woche über nicht einmal gemeldet hatte. Er lächelte unsicher. Ich war schwer enttäuscht von ihm und würdigte ihn keines Blickes, was irgendwie schwer war, weil er mich ins Auto trug und ich sah aus meinem Seitenblick, dass er mich die ganze Zeit traurig musterte.
Schweigend fuhren wie los.
„Wie geht es dir?“ fragte mein Bruder an mich gerichtet und durchbrach so die angenehme Stimme.
„Sie redet ni...“ setzte meine Mum an.
„Du fragst mich ernsthaft wie es mir geht?“ sagte ich emotionslos und musterte ihn kurz durch den Rückspiegel. Er hatte ein eigenes Auto und hatte einen Führerschein. Zufällig wusste ich, dass er schon immer dieses Auto wollte. Wie schön, dass er sich seine Träume erfüllen konnte...
Tobi sah bedröppelt zur Straße und sah schuldbewusst ab und zu durch den Rückspiegel. Wir waren fast Zuhause. Ich erkannte alles wieder, es war, als wäre ich nie weg gewesen.
„Bitte, haltet an!“ sagte ich laut bestimmend. Der Supermarkt war am späten Nachmittag nicht sehr voll.
„Summer ich denke..“ versuchte Tobi mich umzustimmen.
„Halt an!“ rief ich lauter.
Tobi parkte auf dem Parkplatz für Pkws während ich wie hypnotisiert hinter das Gebäude des Geschäfts zu lief. Ich hörte wie meine Mum und mein Bruder die Autotüren zuknallten und mir hinterher liefen
Ich bog um die Ecke und starrte genau auf die Stelle, an der alles begonnen hatte. 1-2 Meter neben der Stelle stand ein Kreuz und alte Kerzen, die man vor längerer Zeit aufgestellt hatte. Ich lief mit schnellen Schritten auf da Kreuz zu.
Es war aus Holz und es war ein Spruch eingraviert.
-Unsere Augen haben dich verloren, aber unser Herz wird dich immer sehen
Salzige Tränen stiegen mir in die Augen. Die vielen Kerzen waren vergammelt und alt. Es stand eine kleine Holztruhe da, die sehr alt war und dabei war zu zerfallen. Ich kniete mich nieder und öffnete sie. Dort drin war alle noch trocken und alles war noch heile.
Es befanden sich Bilder darin. Das erste von Carry und mir, das zweite von Chrissi und mir und das dritte von Jason und mir , wie wir uns küssten. Auch ein Zettel lag darin.
Summer wir lieben dich, komm zurück!
Stand in Carrys Handschrift drauf.Ich schluchzte heftig. Und weinte daraufhin hemmungslos los. Ich spürte wie mir jemand im Rücken stand.
„Bis hierhin hatten sie deine Spuren verfolgen können, dann warst du wie vom Erdboden verschluckt.“ sagte Tobi mit trauriger Stimme, ehe er weiter redete : „ Wir dachten alle du wärst tod.“ flüsterte er beinahe. Ich hasste mich dafür, dass sie wegen mir leiden mussten. Ich sah hoch und schaute wieder auf all die Kerzen. Zwischen dem ganzen Vergammelten sah ich verwunderlicherweise eine frische rote Rose liegen, meine Lieblingsblume. Ich konnte gar nicht darüber nachdenken, denn ich hörte weitere Schritte. Ich drehte mich um und sah zwischen Tobi und meiner Mum, die inzwischen auch dazu gekommen war, einen Jungen, der in unsere Richtung schlenderte. Er war groß, hatte dunkelblonde Haare und hatte einen guten Körperbau. Er kam immer näher. Mein Bruder hatte ihn mittlerweile auch bemerkt und sah nervös zwischen uns hin und her, bis er auf den Jungen zuging und mit ihm sprach. Ich bemerkte erst da, dass er eine rote Rose in der Hand hielt.
Ich hörte wie die beiden miteinander diskutierten. Plötzlich ließ der Junge die Rose fallen und sah meinen Bruder fassungslos an. Nach einigen Sekunden schob er meinen Bruder zur Seite und rannte, ja rannte auf mich zu.
Mich packte Panik. Was wollte der Junge von mir? Ich kannte ihn nicht einmal. Was wollte er an meinem Kreuz mit einer Rose?
Ich wimmerte und kniete mich auf den Boden und schlug mir meine Hände über den Kopf. Jeden Moment rechnete ich mit Schmerz, den ich aushalten musste.
In diesem Moment dachte ich nicht einmal dran, dass das völlig übertrieben war. Meine Mum und Tobi waren immerhin da.
Ich verweilte in dieser Haltung während ich mitbekam wie meine Mum mit dem Jungen redete.
„ Bitte, lass sie. Sie versteht das alles nicht. Das wird ihr zu viel!“ redete sie schnell und aufgeregt. „Und deswegen verschweigt ihr uns, dass sie wieder da ist?!“ schrie der Junge.
Diese Stimme... Diese Stimme! Ich zwischen dem Aussehen von dem Jungen einen Zusammenhang mit der Stimmer zu finden.
Ich kannte diese Stimme und ich wusste auch von wem sie war aber das konnte nicht sein!
Ich wagte mit einem Auge an meinem Arm vorbei zu dem Jungen zu sehen.
„Chrissi..?“ krächzte ich zaghaft.
Überrascht sah der Junge zu mir und lächelte leicht, während ihm Tränen in die Augen stiegen.
„Sum..“ lächelte er unter Tränen, die ihm mittlerweile über die Wangen liefen.
In seinen Augen spielten sich so viele Gefühle wieder. Freude, Unsicherheit, Glück, Ungläubigkeit alles mögliche. Vorsichtig kam er auf mich zu. Ich sah, dass er mich nicht anfassen würde, nachdem ich erst so schreckhaft auf ihn reagiert hatte. Ich stand vorsichtig auf und nahm eine seiner Hand in meine Hände, um etwas Geborgeheit zu spüren.
„Wie geht es dir?“ fragte ich leise.„Im Moment könnte ich vor Glück platzen und irgendwie begreife ich das alles nicht..Das ist so krass.“
„Ich bin so froh dich zu sehen.“ heulte ich.
„Ich auch. Unsagbar froh Summer. Das ist so unglaublich.“ Eine Weile standen wir nur so da sahen uns fassungslos an und hielten Händchen.
„Was ist mit Carry wie geht’s iht?“ fragte ich. Ich wusste, dass ich ihn besser nicht auf Jason ansprach. Ich wusste noch genau, wie sie sich damals schon hassten. Ich dachte nicht, dass das nach drei Jahren anders war.
Chrissi lächelte etwas mehr, als er ihren Namen hörte. „Sie hat sich verändert.“ fing er an.
„Du auch.“ murmelte ich und musterte meinen früheren besten Freund. Er war das komplette Gegenteil von seinem alten ich. Er sah verdammt gut aus und war gut trainiert. Wo war mein kleiner Streberfreund?
„Da bist du nicht ganz unschuldig dran.“ lachte er leise auf. Und ich konnte nicht aufhören ihn zu mustern. Ich hatte ihn zuerst nicht wiedererkannt so sehr hatte er sich verändert!
„Du sagtest doch immer, dass ich mehr aus mich machen sollte.. ja und als du verschwunden warst... ach das hört sich so bescheuert an.. Ja ich dachte an letzte erweisen und so. Keine Ahnung ist ja auch egal.“ murmelte er schnell.
Während wir unsere ersten Gespräche nach drei Jahren führten, standen wir ungewöhnlich weit auseinander abgesehen von seiner Hand, die ich hielt und das war auch gut so. Er verstand wohl das ich keine Nähe wollte. Mein Herz schrie danach ihm vor Freude heulend in die Arme zu fallen, aber mein Verstand hatte Angst. Große Angst. Nicht speziell vor Chrissi sondern vor Männern.So vermutete ich. Gegenüber meiner Mum war ich nicht so ängstlich wie gegenüber zu Tobi.
„Zurück zu Carry..“ sprach er das wieder an. „Nachdem du verschwunden warst, sind wir irgendwie beste Freunde geworden und gaben uns gegenseitig Halt. Nur zu mir ist sie wie sie früher war. Sonst ist sie eiskalt.“ erzählte ich.
Es war alles so komisch. Wir redeten gegenseitig davon wie sehr wir uns vermisst hatten und standen nach drei Jahren endlich wieder gegenüber und berührten uns nicht einmal...weil ich es nicht ertragen konnte.. es hatte sich auch alles geändert. Nicht nur ich war anders , alle meine Freunde auch. Carry eiskalt? Sie war das liebevollste Wesen das ich kannte! Zu jedem freundlich und offen. Aber eiskalt? Das war so unreal.
Und Carry und Chrissi beste Freunde? Damals hatten sie nur durch mich etwas Kontakt, aber Carry mochte Chrissi nicht. Sie fand ihn komisch. Und dann sind sie beste Freunde? Hatten sie mich einfach vergessen? Nein das konnte ja nicht sein, Chrissi kam gerade mit einer Rose um die Ecke... aber … Ich konnte es nicht beschreiben... es fühlte sich so an als würde ich nicht mehr hierhin gehören. Es hatte sich alles wieder eingependelt und plötzlich kam ich und wirbelte alles wieder auf...Mit jeder Begegnung meines alten Lebens wurde es mir klarer. Ich passte nicht mehr in das Puzzle. Ich wurde hinaus genommen und trotzdem war das Puzzle ganz und jetzt kam ich wieder und passte nicht mehr hinein, da es ohne mich ja irgendwie ganz war.
Das Auto bog in unsere Straße ein und mein Herz schlug schneller. Ich würde nach Hause kommen. Chrissi war nach der Bitte von mir mitzukommen ins Auto gestiegen. Ich wusste nicht wieso, aber zu wissen, dass er da war tat mir gut. Ich merkte wie er mich die ganze Fahrt über musterte.
Ich drehte mich verwundert zu ihm. „Was ist?“
„Du sitzt grad wirklich neben mir. Das ist so unglaublich.“ hauchte er. „Das ist es.“ stimmte ich ihm zu und sah erneut nach draußen.
Es hatte sich so gut wie nichts geändert. Alles sah genauso aus wie damals. Aber es war nicht wie damals.
Die Steine unter den Reifen knartschten, als wir in unsere Einfahrt einbogen. Ich atmete erleichtert aus und lächelte auch leicht, als ich unser kleines Häuschen sah. Es war so wie immer.
Langsam trat ich aus dem Auto. Ich trug Klamotten und Schuhe von meiner Mum, die mir an meinem Körper schlabberten.
Plötzlich berührte mich sanft eine Hand am Rücken, woraufhin ich mich sofort versteifte.
Ich wusste das es Chrissi war und versuchte mich zu beruhigen. Ich atmete durch und ging auf mein Zuhause zu.
Tobi, von dem ich immer noch enttäuscht war, da er mich alleine gelassen hatte, schloss die Tür auf. Daraufhin gingen wir fünf hinein. Wir liefen rein und schwiegen einfach. Es war so eine komische Situation. Wir sahen uns 3 Jahre nicht und schwiegen uns hier an. Sollten wir uns nicht tagelang weinend in den Armen liegen?
So hatte ich mir das immer vorgestellt, als ich noch Hoffnung hatte meine Familie wiederzusehen.
„Kann ich in mein Zimmer?“ fragte ich.
„Ja alles was du willst mein Schatz. Ich mach uns etwas zu essen.“ lächelte sie und es erinnerte mich beinahe alles an früher.
Ich war auf dem Weg zur Treppe, die nach oben in mein Zimmer führte, bis ich mich noch einmal umdrehte. „Chrissi?“ murmelte ich leise. Ich wusste nicht warum aber ich wollte, dass er bei mir war.
„Ja-ja warte.“ er sprang von seinem Stuhl auf, der daraufhin mit einem Krachen zu Boden fiel. Hektisch stellte er ihn wieder hin und kam zu mir gepoltert. Ich war in der zwischenzeit schon die Treppe hochgelaufen und saugte dieses vertraute Gefühl von Heimat in mir auf.
Ohne es wirklich bemerkt zu haben, war ich zu meiner Zimmertür gelaufen und drückte wie ich es immer getan hatte den Türgriff hinunter.
Es sah alles aus wie damals. Alles stand an seinem Platz. Nichts hatte sich verändert.
„Deine Mutter wollte, dass niemand hier etwas anrührt.“ schmunzelte Chrissi.
Ich nickte nur und sah mir alles genau an. Es war wie damals. Ich setzte mich langsam auf mein Bett und ich merkte, wie die Matratze neben mir schwer wurde, Chrissi hatte sich neben mich gesetzt. Mir brannte eine Frage auf der Zunge die ich ohne noch weiter drüber nachzudenken stellte.
„Was ist mit Jason?“
Chrissi schien überrascht zu sein und lachte dann kopfschüttelnd auf. „Das willst du nicht wissen.“ Mein Blick war wohl in diesem Moment ziemlich traurig und ich glaubte sogar glasige Augen zu bemerken. Es war so unklar, was ich fühlen sollte aber wenn ich an meinen, jetzt wohl Ex-Freund dachte, meine ich mein Herz schneller schlagen zu spüren.
„Seit deinem Verschwinden ist er Macho, Arschloch und Playboy höchst persönlich:“ knirtschte er mit den Zähnen. Ich war erschrocken. Mein Jason? Das konnte nicht sein. Wieso sollte sich alle wegen mir so verändern.
Plötzlich klingelte es an der Haustür. Aber nicht nur einmal sondern Sturm! Ich hörte, wie Tobi fluchend die Tür öffnete.
„Ist das war?“ hörte ich eine eiskalte Frauenstimme fragen.
„Woher...?“ fragte Tobis gedämpfte Stimme durch die Tür.„Christian. Ich bin ihre verdammte beste Freundin Tobias!“ schrie sie.
Plötzlich ging alles ganze schnell. Ich hörte, wie jemand die Treppen hochgelaufen kam und dann wurde auch schon die Tür aufgerissen. Und da stand sie. Meine beste Freundin Carry. Sie hatte sich vom Aussehen wirklich verändert. Sie war groß geworden. Sicher um die 1,75m. Sie hatte lange dunkelbraune Haare und große, geschminkte Augen. Die Schminke hielt nur nicht lange, denn kurz daraufhin tränten ihre Augen und ihre Schminke floss davon. Meine Augen taten das gleiche, nur dass keine Schminke verlief.
„Oh Gott es ist also war.“ hauchte Carry weinerlich.
„Oh mein Gott.“ nuschelte sie zwischen ihren Händen, die sie auf ihren Mund gelegt hatte.
Sie nahm ihre Hände von ihrem Mund Gesicht und kam mir vorsichtig immer näher. Da sie versuchte zu lächeln, sah ihr Gesicht etwas zerknautscht aus, da sie immer noch wie aus Strömen weinte.
Ich starrte das Mädchen, dass vor drei Jahren meine beste Freundin war an. Ich starrte sie stumpf an. Ich merkte zwar wie mir Tränen über die Wangen liefen aber eine Gesichtsregung wollte ich nicht wahrnehmen.
Sie sah so anders aus. War sie noch wie früher? Chrissi meinte sie hätte sich verändert und so sah sie auch aus.
Mit immer noch ungläubigem Blick im Gesicht setzte sie sich vorsichtig neben mich.
„Carry.. Oh Gott ich hab dich so vermisst.“ schluchzte ich plötzlich und fiel ihr um den Hals.
**
Chrissi war gegangen nachdem er versprochen hatte am nächsten Tag wieder zu kommen. Carry übernachtete diese Nacht bei mir und ich war so froh sie wieder bei mir zu haben.
Ich ging gerade die Treppen wieder hinauf, nachdem ich Christian zur Tür begleitet hatte.
An den Wänden hingen Bilder. Viele Bilder von mir, die wo ich noch da war noch nicht dort gehangen hatten. Treppenstufe für Treppenstufe ging ich hinauf. Jedes Bild hatte seine eigene Geschichte. Aber wir waren immer nur zu dritt. Ich spürte, dass da jemand fehlte. Ich hatte es seit meiner Kindheit gespürt, dass irgendjemand in unserer Familie fehlte. Ich kannte ihn nicht einmal. Einfach weg. Von heute auf morgen war mein Vater verschwunden während meine Mum mit mir schwanger war. Kopfschüttelnd darüber, dass ich mir in diesem Moment Gedanken über meinen Vater machte, ging ich die letzten Treppen hinauf in mein Zimmer, wo Carry auf mich wartete.Sie saß auf meinem Sofa und ich setzte mich schweigend auf mein Bett. Es herrschte Stille. Sonst hatte zwischen uns nie Stille geherrscht. Ich spürte richtig, wie die Luft dicker wurde und sie würde sich nur lockern, wenn einer von uns anfing zu sprechen. Wir hatten uns so viel zu sagen, dass wusste ich.
„Du und.. Chrissi ihr seid beste Freunde.?“ durchbrach ich die unangenehme Stille.
„Komisch nicht war..?“ lächelte Carry zaghaft.„Ja etwas...du..“ ich grinste bei dieser Erinnerung. „Du hast ihn immer als Streber bezeichnet, der keine Freunde hat und ein Opfer höchsten Grades ist.“
Ich sah wie Carry ihren Blick auf ihrem Schoß hatte und sich versuchte ein Grinsen zu verkneifen. Als sie dachte, das Lachen verdrängt zu haben, sah sie hoch und fing an zu lachen, als sie mir in die Augen sah.
„Bitte sag ihm das nicht.“ kicherte sie.
„Versprochen!“ lächelte ich.
Plötzlich wurde Carrys Miene traurig. „Nachdem du zu unserem Treffen nicht gekommen warst, war ich zuerst voll wütend auf dich, da ich dachte du hättest mich versetzt.
Aber die nächsten Tage kamst du nicht einmal zur Schule. Deine Mutter rief mich täglich an, ob du bei mir wärst. Irgendwann hingen überall Suchzettel in der Stadt und du warst in allen Nachrichten. Mich wollten sie immer interviewen , genau wie deine Mum, Chrissi, Jason und Tobi. Die Reporter waren nur da um die Story mit den meisten Details
rauszubringen.
Es waren überall Suchtupps unterwegs, da sie von einem Gewaltverbrechen ausgingen. Aber sie fanden dich einfach nicht du warst spurlos verschwunden.
Wir sind alle beinahe verzweifelt und irgendwie sind Chrissi und ich dann Freunde geworden, da du von uns beiden die beste Freundin warst.. naja.. Jason...“
Während Carry erzählte liefen mir mal wieder die Tränen über die Wangen. Ich wollte nie irgendwem schaden, NIE.
„Was ist mit Jason..?“ fragte ich zitternd. Ich wollte ihn so gerne wiedersehen, aber ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich gegenüber ihm verhalten sollte. Das war so eine komische Situation.
„Ich glaube, dass erzähle ich dir nicht jetzt... Aber ich denke er weiß nicht einmal, dass du wieder da bist...der bekommt eh nichts mehr von seiner Umgebung mit...“ murmelte sie und schüttelte am Ende verärgert mit dem Kopf.
Ich war ziemlich verunsichert über ihre Aussage, sodass ich auf Carrys nächste Frage überhaupt nicht vorbereitet war.
„Was ist in den drei Jahren passiert?“ Ich sah ungeheure Neugier und Traurigkeit in ihren Augen.
Ich wand meinen Blick von ihrem Gesicht ab und sah nach draußen, wo es bereits stockdunkel war. Die Sterne strahlten hell und der Mond gab dem klaren Himmel den letzten perfekten Schliff.
„Summer..?“ hakte sie nach.
„Ich...Er hat mich...Er...“ es überraschte mich selber, dass ich überhaupt nicht darüber reden konnte, es war wie eine unsichtbare Blockade in meinem Hals, die nicht wollte, dass die Menschen von meiner Vergangenheit wussten.
Die Polizei wusste auch nur, dass ich entführt wurde und meine nicht sehr genaue Personenbeschreibung von ihm, woraufhin wir ein Phantombild erstellten. Sie suchten nach ihm, dass hatte meine Mum erzählt. Ich glaubte nicht, dass sie ihn finden würden. Ich wusste, zu was er fähig war..
„Ich kann nicht..“ seufzte ich gequält und sah Carry entschuldigend an.
Plötzlich klopfte es an der Tür und der Kopf meiner Mum lugte durch den Türspalt.
„Hey.“ flüsterte sie.
Völlig überraschend kam sie auf mich zu und nahm mich in den Arm.
„Ich hab dich so lieb mein Schatz, Gute Nacht.“
Sie lächelte mich an und verschwand dann auch wieder.
„Ich hab dich auch lieb mein Schatz.“ kicherte Carry.
„ Mach mir keine Angst.“ grinste ich. Es tat so gut zu lachen, wieder meine Familie um mich zu haben.
Nach einer halben Stunde gingen wir schlafen. Vorher flüsterte Carry noch etwas in den dunklen Raum.
„Ich bin so froh, dass ich meine beste Freundin wieder habe, ich kann es immer noch nicht glauben, dass du wieder da bist.“
„Ich auch nicht.“
Ich wachte auf und zwar von meinem eigenen Schreien. Schwer atmend öffnete ich meine Augen und hatte schon die gewohnte Umgebung im Sinn, aber ich sah nicht den kahlen Raum, sondern mein Zimmer. An meinem Bett saßen Leute. Ich blinzelte ein paar mal und sah meiner Mutter ins Gesicht, die panisch über mein Gesicht strich. Carry saß an meinem Fußende und sah geschockt auf mich während Tobias mich fetshielt
Mit einem Mal prasselten alle Erinnerungen auf mich ein und ich beruhigte mich. Ich war in Sicherheit. Ich war Zuhause. Über diese Erkenntis lächelte ich und meine Tränen verwandelten sich in Freudentränen.
Verwirrt sahen mich die drei an und ich setzte mich langsam auf. Ich räusperte mich einmal und wischte mir die Tränen weg. Ich merkte, dass mir von diesem Albtraum abartig schlecht war , aber ich war so froh , dass ich Zuhause war.
„Alles Ok...“ versuchte ich möglichst überzeugend zu sagen.
Wie von alleine legte ich mich wieder zurück und schlief kaum später wieder ein.
Ich lag schon ca. eine Stunde wach, da ich nicht mehr schlafen konnte. Die Sonne war in dieser Zeit aufgegangen, dass ich durch einen Schlitz meiner Rolos beobachten konnte.
Carry schlief noch tief und fest auf meiner Schlafcouch und ich beobachtete meine beste Freundin.Sie war früher ziemlich klein und hatte kinnlange hellbraune, fast dunkelblonde Haare, mit einem Pony. Sie war immer die kleine süße Carry. Und jetzt sah sie aus wie ein Topmodel.
Sie hatte eine Modelgröße und scheinbar endlose Beine. Ihr Gesicht war schmal und reif. Ihre Augen, die in diesem Moment geschlossen und ungeschminkt waren, waren groß und schön. Ihre Haare waren Schokobraun und gingen ihr bis unter die Brust.
Sie hatte sich so krass verändert. Sogar ihr Stil war vollkommen anders. Krass, wie sie sich verändert hatte, einfach nur krass.
Ich entschloss mich dazu, duschen zu gehen. Ich ging zu meinem alten Kleiderschrank um meine veralteten Klamotten zu durchwüsten. Ich nahm mir meine graue Jogginghose, die mir damals zu groß war und ein grünes Langarmshirt, wo ich einfach die Ärmel hochkrempeln konnte, so sah niemand, dass die Klamotten eigentlich zu klein waren. Perfekt.
Meine Unterhosen würden wohl noch passen, aber meine BH's garantiert nicht, stellte ich frustriert fest. Also nahm ich mir einfach ein Bustier , dass sogar etwas vorgeformt war.
Ich ging ins Bad und band bevor ich unter die Dusche ging meinen Verband der knapp unter meinem Brustkorb wegen meiner gebrochenen Rippen war ab und stellte mich unter die Dusche, wo ich das Wasser, dass auf meine Haut rieselte genoss. Nach einer halben Stunde stieg ich aus der Dusche und sah mich das erste mal seit drei Jahren bewusst im Spiegel. Mein Gesicht war eingefallen und unter meinen Augen zierten sich dicke Augenringe. Meine Haut war fast weiß, nur meine Augen und Lippen stachen heraus. Meine klaren blauen Augen sahen im Vergleich zu meiner Haut aus wie Farbklekse. Meine Lippen waren dunkelrot. Ich hatte immer schon sehr rote Lippen gehabt und im Gegensatz zu meiner Haut, sahen sie noch roter aus. Mein Haar war schwarz und ging mir bis zur Mitte des Rückens. Es sah jedoch etwas komisch aus, da man mir die Haare von Blond auf schwarz gefärbt hat. Seine Vorstellung , wie auszusehen hatte, beinhaltete unter anderem schwarze lange Haare.
Mein Körper war dünn, nicht schön dünn, sondern ungesund dünn. Man konnte meine Rippen schon sehen. Und meine blauen Flecken, schimmerten auch noch in bunten Farben auf meinem Körper. Meine gebrochenen Rippen taten gar nicht mehr so weh.
Oder ich sah den Schmerz, den ich empfand gar nicht mehr als Schmerz an, da ich viel schlimmeres gewohnt war.
Ich sah im Ganzen einfach nur schrecklich aus, wie eine Leiche.
Ich zog mir meine Unterwäsche an und föhnte meine Haare. Was ein Luxus, dachte ich.
Plötzlich ging die Tür auf und Carry kam in das Badezimmer und schloss wieder die Tür.
Ich war so erschrocken, sodass ich einfach nur dastand.
Sie setzte sich auf den Klodeckel und musterte mich und ihr Gesicht wurde immer trauriger.„Was hat man mit dir gemacht?“ hauchte sie verzweifelt.
Ich legte mir eine Hand auf dem Mund um das verzweifelte Wimmern nicht nach draußen zu lassen. Es gelang mir jedoch nicht.
Sie nahm mich plötzlich in den Arm und sie war die einzige, bei der ich mich kein bisschen versteifte bei ihren Berührungen. Ich klammerte mich an sie, als seie sie meine Rettung.
„Ich mach dir den Verband neu.“ flüsterte sie und legte den weißen, schmalen Stoff wieder um mich.
„Zieh dich erst einmal an, ich warte in deinem Zimmer.“Ich tat wie mir geheißen und zog meine Klamotten an und fand Carry vor meinem Kleideschrank wieder. Ich hatte mich in Zwischenzeit wieder beruhigt.
„Ich glaube deine Mum, du und ich, sollten mal deinen Kleiderschrankinhalt auffrischen.“ schmunzelte sie.
„Wieso ? Hast du was gegen meine Klamotten?“ fragte ich ebenfalls schmunzelnd.
Prompt hatte ich ein gelbes T-shirt mit einem flauschigen Pinguin vor meiner Nase und Carry sah mich mit einer erhobenen Augenbraue an. Hey, früher konnte sie das nicht.
„Jaja schon gut.“ gab ich mich geschlagen.Wir gingen nach unten, wo ich eine mir noch nicht ganz vertraute Stimme hörte. Die blonde Polizistin saß mit meiner Mum an dem Küschentisch. War nicht Sonntag? Wieso war sie hier? Ich stand hier mit Carry, wo Mum und die Polizistin uns nicht sehen konnten.
„Denken sie bitte darüber nach und bringen sie es Summer bei, um mit ihr zusammen die beste Lösung zu fingen.“
Meine Mutter nickte nur.„Ich werde dann auch mal wieder los fahren. Ich wollte sie nicht stören.“ sagte die Polzistin freundlich und ich bemerkt erst jetzt, dass sie keine Uniform trug. Die Tür wurde zugemacht und meine Mum setzte sich seufzend an den Küschentisch.
Ich tat so, als ob ich das Ganze nicht mitbekommen hätte und ging ganz normal mit Carry die Treppe hinunter, die auch etwas verwirrt schien.
„Guten Morgen Mama.“ lächelte ich warm.
„Schätzchen!“ sagte sie erschrocken. „Guten Morgen. Ich- ich habe dir dein Lieblingsfrühstück gemacht. Siehst du? Das Essen im Krankenhaus war ja auch nichts.“ murmelte sie.
„Danke.“ entgegnete ich verwirrt.
Wir setzten uns alle und schwiegen uns an. Ich hasste das. Es war so unglaublich, dass ich nach drei Jahren wieder bei ihnen sein konnte, und dann schwiegen wir uns an? Hatten wir uns so voneinander entfernt, sodass wir nicht einmal über das Wetter sprachen oder über andere banale Dinge?
Ich räusperte mich kurz um die Aufmerksamkeit der zwei schweigenden Personen auf mich zu richten. „Wo ist Tobias?“
Mum kaute noch zu Ende, ehe sie sprach: „Bei seiner Freundin. Er ist eben zu ihr gefahren.“ erzählte sie. „Ach...du weißt ja noch gar nichts von Kim.“ Ich nickte langsam. Mein Bruder hatte eine Freundin? Ich war nicht mehr das einzige Mädchen um, dass er sich Sorgen machte? Mein Egoismus regte mich schon in der ersten Sekunde auf, in der er gekommen war. Er hatte es verdient glücklich zu sein.
„Marlies? Summer hat gar nichts mehr zum anziehen.“ behauptete Carry meiner Mum gegenüber und meine Mum verstand auch sofort, worauf diese Feststellung hinauslaufen sollte.
„Heute ist Sonntag Carry.“ meinte Mum.
„Verkaufsoffen.“ grinste Carry und meine Mum schüttelte lächelnd mit dem Kopf. „Ich komme auf jeden Fall mit und Summer darf sich nicht zu überanstrengen. Sie muss sich wegen ihren Rippen auch schonen...“ Ich trug zu dem Gespräch in dem es um mich ging reichlich wenig bei, wie mir aufgefallen war. Über meine Rippen hatte ich auch nicht mehr nachgedacht, außer heute morgen, als ich geduscht hatte.
„Summer willst du überhaupt?“ fragte meine Mum sanft und bedachte mich sofort mit einem sorgenden Blick. „Oder ist dir das zu anstrengend? Wir können auch...“„Mum, nein schon ok. Lasst es uns hinter uns bringen.“ seufzte ich und Carry zauberten meine Worte ein Lächeln ins Gesicht.
Meine beste Freundin und ich gingen die Treppen hinauf um uns fertig zu machen.
Sie gab mir eine Hose von sich, die sie mit hatte, da ich schlecht in Jogginghose losgehen konnte. Die Hose schlabberte an meinen Beinen und füllten die Hose nicht aus. Es sah einfach nicht schön aus. Ich fühlte mich wie eine verdammte Spagetti in den Klamotten.
Carry überredete mich dazu, dass sie mir die Haare flechten durfte. Als sie fertig war, sah ich erst gar nicht in den Spiegel. Ich wollte diese Person nicht sehen, die ich selber sein sollte.
Schuhe bekam ich von meiner Mutter , die mittlerweile die gleiche Schuhgröße wie ich hatte. Ich ging langsam zur Tür hinaus, wo ich eine irre Gänsehaut bekam. Draußen gab es keinen Schutz. Das wusste ich genau. Das Haus bot auch nie richtig Schutz aber wenigstens da fühlte ich mich sicher.
Plötzlich hakte sich ein Arm unter meinen und ich sah meiner Mum ins Gesicht, die mich besorgt musterte. „Alles gut?“
Ich nickte seufzend und sie begleitete mich mit dieser Haltung bis zum Auto, wo sie mich beinahe rein trug! Bevor sie sich selber die Rippen oder andere diverse Knochen brach, befreite ich mich aus ihrem Arm und stieg selber ein. Kurz wollte sie zum Protest ansetzten, aber als ich sie aus dem Auto sitzend ansah, und es mir wohlauf gut ging, setzte sie sich auf die Fahrerseite. Carry saß hinter mir und ich sah im Seitenspiegel, dass sie ein Handy in der Hand hatte und schnell darauf rumtippte. Wie konnte sie nur so schnell tippen? Tobi hatte auch so eins und er konnte auch seine Finger so schnell über den Display schwingen lassen. War dieser Touchscreen Trend? Mein letztes Handy war ein Schiebehandy von LG und ich fühlte mich damals zugegebenermaßen ziemlich cool damit... Warum zerbrach ich mir den Kopf über Handys? Sinnlos..
In der Stadt war es brechend voll. Wir hatten ziemliche Probleme einen Parkplatz zu finden, da die komplette Innenstadt gesperrt war.
Wussten die Leute, meine Freunde, meine Familie überhaupt, dass ich wieder da war? Eigentlich wussten nur Tobias, Mum, Carry und Chrissi und die Polizisten und Ärzte, dass ich wieder da war. Nicht einmal Jason wusste etwas. Ich wollte ihn so gerne sehen. Aber wie sollte ich an ihn ran kommen, wenn Carry ihre Geheimnistuerei nicht aufdeckte und Mum mich nicht aus dem Haus lies? Irgendwas war da ganz faul.
Ich öffnete nach einigen Momenten die Autotür und stieg langsam aus.Diese ganze Situation war so unglaublich komisch. Ich war ganz alleine. Ich konnte niemanden fragen, ob ich richtig reagierte in meiner Situation. Und jetzt nach endlosen drei Jahren war ich bereits eine Woche Zuhause und ging mit meiner Mama und meiner besten Freundin shoppen. Als wäre alles normal. Für mich klang das alles mehr als absurd.
Unsicher schritt ich zwischen Mum und Carry hinauf zur Fußgängerzone. Man hörte schon Musik, die wahrscheinlich von der mehr oder minder begabten Sängerin live gesungen wurde, so wie es immer gewesen war.
Wieder spürte ich einen Arm, der sich bei mir einhakte, nur dieses Mal war es Carry, die dies tat und mich aufmunternd anlächelte. Ich verzog meinen Mund ebenfalls zu einem Lächeln und wir gingen weiter. Die Menschen wurden immer mehr und man rückte immer mehr aneinander, sodass man sich beinahe durch die Menschen durchquetschen musste.
Mein Puls war die ganze Zeit über auf 180. Ich fühlte mich zwischen dieses ganzen Menschen nicht wohl, deswegen war ich sogar froh, dass wir oft in Läden gingen um mir etwas zu kaufen, da diese nicht so überfüllt wie die Innenstadt waren.
Ich zählte mittlerweile Laden sechs aus den wir gingen und fünf randvolle Einkaufstüten, die womöglich nicht mehr lange halten sollten, da schon Löcher in dem billigen Plastik waren. Ich war ziemlich erschöpft von dem ganzen umziehen und den Meinungsverschiedenheiten von Mum und Carry. Zu Anfang wussten wir nicht einmal meine Kleidergröße. Aber jetzt hatte ich meine neue Kleidergröße und meiner Meinung nach auch genug an Hosen, Oberteilen, Schuhen, Jacken, Unterwäsche, Duschgelen und Shampoos und noch mehr.
Ja, die letzten 4 Stunden waren anstrengend und mittlerweile bemerkte ich auch meine Rippen, was ich aber für mich behielt, da meine Mum sonst vor Sorge durchdrehen würde. Ich wollte aber auch nicht wissen, was meine Ärzte zu meinem Powershoppen sagen würden. Ich meine, schonen und nicht viel bewegen sah anders aus. Jetzt war es eh zu spät.
Die Stadt war so voll mit Leuten, die ich nie gesehen hatte, sodass mir kein einziges bekanntes Gesicht über den Weg lief. Es wunderte mich doch sehr, da man sich in unserem Städtchen relativ gut kannte. Es waren wohl einfach zu viele Leute da und ich hatte meinen Blick zu weit nach unten gerichtet. Niemand wusste, dass ich wieder da war. Nicht einmal meine Großeltern wussten etwas von meiner Rückkehr. Das war nicht richtig. Ich fühlte mich schlecht gegenüber ihnen. Generell gegenüber all meinen Freunden und Bekannten fühlte ich mich schlecht. Wie sollte ich ihnen denn gegenübertreten? Sie alle einladen und mich als Überraschungsgast verkünden und sagen: Hey, Hallo ich bin wieder da! Hey, die letzten drei Jahre waren scheiße, aber ach, vergessen wir das doch. Alles soll so wie früher sein! Nein. Das war absolut unvorstellbar und unreal. Gott, was war das alles kompliziert. Das keiner von meiner Rückkehr wusste, wurde dann aber schneller geändert als mir lieb war.
„Miss Summer Livsey!“
Es war nur mein Name, der gerufen wurde. Es war auch keine Frage sondern ein Ausruf meines Namens. Dieser weibliche Jemand musste genau wissen, dass ich es war.
Ich sah von meinem Bodenblick hoch in die große Linse einer Kamera. Und schon kam das schaummierte Mikrofon, dass so nah an mein Gesicht gedrückt wurde, dass man meinen könnte sie wolle es mir komplett in den Mund stecken.
Verschreckt und geschockt sah ich in die schwarze Linse der Kamera und plötzlich blitzte es aus der Kamera. Ich zuckte heftig zusammen und tippelte einige Schritte zurück,
sodass ich mich unbemerkt hinter Carry verstecken konnte.
„Wie geht es ihnen nach ihrer Entführung?“ Sie schrie so laut, sodass auch die umliegenden Passanten von der kreischenden Reporterin Wind bekamen und einen großzügigen Kreis um uns bildeten.
Was wollte sie von mir? Sie sollte mich in Ruhe lassen!
„Miss Livsey! Stimmt es, dass ihr Entführer sie jahrelang körperlich missbrauchte?“ Eine weitere männliche Stimme kam hinzu und der Kamera mit seiner Riesenkamera nahm eine Aufnahme von meinem völlig verängstlichten Gesichtsausdruck. Was sagte er da? Woher wussten sie von mir? „Miss Livsey was geht ihnen nach der Entführung durch den Kopf?“ Ein weiterer Reporter samt Kameramann kam in den Kreis, der sich um uns gebildet hatte. Ich bemerkte erst jetzt, dass sich Mama mit den anderen beiden Reportern auseinandersetzte und dabei ziemlich wütend aussah.
Wahrscheinlich hatten mich die Reporter die ganze Zeit beobachtet und diese dumme Reporterin gab dann den Startschuss für den Reporterüberfall und die Bestätigung, dass ich wirklich die verschollene Summer Livsey war.
„Scheiße!“ gab Carry dann äußerst intelligent von sich.
Die Menschen um uns herum schienen immer näher zu kommen und ihre Augen ruhten erbarmungslos auf mir. Die Neugier und Ungläubigkeit in ihren Augen versuchten sie nicht einmal zu verbergen.
„Carry ich will hier weg.“ schluchzte ich in den schützenden Rücken meiner besten Freundin.
„Komm.“
So unauffällig wie möglich schlich sie mit mir an den Rand des Kreises, was die neugierigen Passanten trotzdem bemerkten und uns wie Zootiere zu begaffen.
„Jetzt verschwindet doch! Verdammt nochmal!“ rief Carry wütend in die Menge, die sich nur widerwillig dazu bewegte uns Platz zu machen.
Sie grummelte irgendetwas nicht sehr nettes vor sich her und führte uns aus dem Gedränge der Newsgeilen Menschen. Schnell und unauffällig schlichen wir uns in eine schmale Seitenstraße. Hier war keine Menschenseele, was mich einmal zitternd durchatmen ließ. Gleichzeitig brachte mir diese ununterbrochende Stille Angst ein. Gott, ich war echt durch den Wind wenn nicht sogar Tornado oder Hurrikan.
Nach ein paar Minuten klingelte Carrys Handy. Sie nahm es raus und steckte es kurz danach wieder in ihre Hosentasche. An diesen Handytrend musste ich mich erst einmal gewöhnen. Alle hingen vor diesen kleinen Bildschirmen sogar Mama.
„Deine Mutter.“ sagte sie. „Wir sollen irgendwo auf sie warten, wo dich niemand sieht. Die ganze Innenstadt ist voll mit Reportern die dich sehen könnten. Sie versucht das alles zu klären.“
Musste ich mich wundern, wieso Carry und meine Mum gegenseitig ihre Handynummern hatten und schrieben? Ich hatte wohl echt was verpasst.
Die schmale Seitenstraße hatte viele kleine Gässchen an den Seiten, wo wir gut auf meine Mum warten konnten. Wir steuerten auf eine dieser besagten Gässchen zu und bekamen, als wir um die Ecke bogen, eine Darbietung, die ich mir hätte liebend gerne sparen wollen. Aber dann war es schon zu spät.
An der Wand lehnte ein wild knutschendes Pärchen. Sie hatten wohl gehofft in der Gasse ein ungestörtes Plätzchen gefunden zu haben, aber das war es wohl nun doch nicht.
Der Junge hatte das leise stöhnende Mädchen auf dem Arm und drückte sie mit ihrem Rücken gegen die Wand. Sie bemerkten uns nicht... noch nicht .
„Scheiße!“ wieder einmal diese intelligente Aussage von Carrys Seite.
Plötzlich zog sie mir hastig an den Arm. „Komm jetzt!“ zischte sie eindringlich doch es war zu spät. Das Pärchen trennte sich und das Mädchen, was zuvor die Zunge von dem Jungen in ihrem Hals stecken hatte, fuhr sich peinlich berührt durch die Haare uns lachte nervös. Der Junge dagegen, auf dem mein Blick unentwegt klebte, schien unbeeindruckt und lehnte sich mit einem Arm gegen die Mauer und musterte Carry kalt aber gelangweilt.
„Verdammt.“ murmelte Carry und gab es dann schlussendlich auf mir am Arm zu ziehen. Sie stellte sich halb vor mich und streckte ihren Rücken durch.
„Carry.“ sagte der Junge unbeeindruckt und blickte sie starr an.
Das konnte nicht sein. Bitte das konnte doch nicht war sein.
Carry sog scharf Luft ein. „Jason.“ zischte sie kalt.
Das war's. Meine Vermutung war bestätigt. Der gefährlich aussehende Junge, der zuvor mit einer wasserstoffblonden 'tschuldigung Schlampe rumgemacht hatte, war mein verdammter Freund, naja Ex- Freund.
Mit aufkommenden Tränen in den Augen musterte ich meine Jugendliebe. Ich hatte drei Jahre lang unsere letzte Begegnung im Kopf. Am Freibad, wo ich ihn komischerweise nicht hatte gehen lassen wollen. Wo er mich so verliebt angelächelt hatte. Dieses Sonnenscheinlächeln, das jedes Mädchen damals zum entzückten Seufzen brachte.
Von dem Sunnyboy war rein gar nichts mehr übrig.
Ich musste mir schweren Herzens eingestehen, dass er nichts mehr mit dem alten Jason gemeinsam hatte. Seine Haare waren zwar noch braun, befanden sich aber in einer anderen Frisur. So ähnlich wie Chrissi sie hatte. An den Seiten kurz geschoren und in der Mitte waren die Haare hochgestylt. Nur sah es bei Jason gefährlich aus. Er war breiter geworden und sah mit seinen ganzen Muskeln aus wie ein Bodybuilder. Sein Körper war in größtenteils schwarzen Klamotten gesteckt und ließ das ganze Bild noch bedrohlicher wirken.
Trotz der Veränderung erkannte ich meinen Ex-Freund sofort auch wenn ich es mir erst nicht eingestehen wollte. Er sah so gefährlich aus, was ihn auf irgendeine Weise verdammt sexy aussehen ließ. Bad Boy. Und als mir der Aspekt mit dem Mädchen schmerzlich bewusst wurde, konnte ich ihn wohl auch als Arschloch und Playboy bezeichnen, da ich davon ausging, dass dieses Mädchen nicht seine Freundin war. Nur eine von vielen. Woher ich das wusste? Schon einmal Teenie Liebesfilme gesehen? Der Bad Boy, mit seinem unbeschreiblich sexy Aussehen, wo keine Frau widerstehen konnte, was der Bad Boy natürlich schamlos ausnutze. Ja wahrscheinlich war das ziemlich weit ausgeholt aber ich vermutete lieber das schlimmste um dann besänftigt zu werden als was gutes zu vermuten und dann eiskalt auf die Fresse zu fallen.
„Du störst.“ meinte Jason trocken.
„Deswegen wollten wir gerade gehen nicht war Sum?“ sie wandte sich zu mir, der die Tränen leise über die Wangen schlichen. Verräterische Flüssigkeit.
Carry schien erst jetzt zu bemerken, dass sie meinen Namen gegenüber Jason erwähnt hatte. Sodass, sie aufgeregt an meinem Arm zog. Doch ich blieb regungslos stehen und sah ihn an, starrte ihn an
„Wie hast du sie gerade genannt?“ zischte Jason und ich sah Schmerz in seinen Augen. Schmerz, der wegen mir entstanden war. Schmerz, der ihn zu dem gemacht hatte, wer er jetzt war.
„Das geht dich nichts an.“
„Du hast sie 'Sum' genannt verdammt!“ schrie er.
Das Mädchen, dass eben noch die Aufmerksamkeit von Jason genossen hatte, verschwand einfach, ohne ein Wort des Abschieds.
„Wieso nennst du dieses Mädchen Sum? Wieso?!“ er wurde richtig wütend und schrie hysterisch rum.
„Niemand verdient diesen Namen außer sie. Wieso nennst du dieses Mädchen so!?“ Carry sah ihm misstrauisch entgegen, als er sie anschrie und kurz davor war durchzudrehen, da sie nicht antwortete. Ich musste zugeben, er machte mir Angst. Nicht nur sein Äußeres, dass in den Schatten der Gasse noch bedrohlicher wirkte , auch sein hysterisches Rumgeschreie. Meine Tränen liefen immer noch. Still und leise wie flüssige Kristalle rannen sie meine Wangen hinunter.
„Schrei mich nicht so an.“ entgegnete Carry nun monoton. „Schau lieber genauer hin, bevor du hier so eine Show abziehst. Oder verpiss dich zurück zu deiner neuen Flamme.“
Jason schrie wütend auf. Dieser einfache Spitzname,der mir galt, hatte ihn so aus der Bahn geworfen.
„Wieso machst du das Carry? Ich will sie vergessen! Wieso sagst du ihren Namen? Wieso?“
Er wollte mich vergessen? Als wäre ich nie da gewesen? Das war sein Ziel?
„Vergessen?! Was ist bei dir falsch?“ fragte Carry aufgebracht.
„Ja vergessen! Drei Jahre Rumgeheule reichen! Sie ist weg und wird auch nie wiederkommen. Check das Mal!“
„Check du das Mal: Summer ist wieder da und sie steht direkt vor dir!“ warf sie ihn an den Kopf und schüttelte verärgert mit dem Kopf und wollte mich weg ziehen. Ich blieb immer noch standhaft und senkte den Blick.Ich sah wie Jason sichtlich verunsichert war. „Das ist nicht war.“ Er wollte mich einfach nicht erkennen. Ich wollte ihm so gerne sagen, dass ich Summer war aber meine Kehle war von meinen Tränen wie zugeschnürt. „Das ist nicht Summer! Sie ist tot!“
„Du bist so ein Idiot! Du willst es nicht glauben.“ Sie zog an meinem Arm. „Komm Sum. Hey alles wird gut.“ Sie nahm mich in den Arm, als sie meine Tränen sah, doch ich entwand mich der Umarmung. Ich musste Jason klarmachen, dass ich es war, die er mal geliebt hatte.
Mein Blick glitt wieder hoch und ich sah, wie Jason sich weggedreht hatte und sich durch die Haare raufte. Das nahm ihn wohl alles ziemlich mit.
„Jason.“ flüsterte ich so laut, wie es meine Stimmbänder zuließen. Sie schienen wie angeschwollen.
Er drehte sich kurz zu mir und dann schnell wieder zurück. Er schüttelte mit dem Kopf und raufte sich wieder durch die Haare. Dabei murmelte er etwas unverständliches. Er stützte sich mit beiden Händen an der Mauer ab und schüttelte mit dem Kopf. Was dachte er wohl gerade?Mit einem Blick an Carry zeigte ich ihr, dass ich das machte.
Ich ging langsam auf ihn zu. Dabei beschlich sich mir etwas Angst und Gänsehaut machte sich auf mir breit. Ich hatte so lange auf diesen Moment gewartet. Nur hatte ich mir das alles anders vorgestellt...
Ich stand mittlerweile direkt neben ihm , aber er ignorierte mich gekonnt.
„Sie ist tot. Das Mädchen ist nicht Summer. Sie ist tot. Tot, tot, tot. Sie sieht nicht aus wie sie. Das kann nicht sein.“ brabbelte er vor sich hin und kniff schmerzverzerrt seine Augen zusammen. „Sie ist tot!“ schrie er plötzlich und schlug hart gegen die Wand.
Ich konnte nicht zusehen, wie er litt. Das tat meinem Herzen weh. Ohne zu überlegen nahm ich seine beiden Hände von der Wand und umschloss sie mit meinen. Auch wenn dieser Körperkontakt von mir ausgegangen war, verspürte ich plötzliche Angst und Panik. Aber ich unterdrückte sie.
Jason wand seinen Blick ab. Er wollte mich nicht ansehen.
„Jason sie mich an.“ Er tat es nicht. „Bitte.“ sagte ich nachdrücklich und unbewusst Schwang auch eine volle Packung Schmerz mit in das Wort.
Langsam, wie in Zeitlupe, wand er seinen Blick zu mir hinunter. Der pure Schmerz, Unsicherheit, Verzweiflung und Hoffnung standen in seinen Augen.
Und plötzlich war ich wie in einem Flashback. Wir standen genauso vor drei Jahren vor dem Freibad. Es waren dieselben Augen. Sie hatten sich kein bisschen verändert. Er hielt meine Hände und lächelte mich an. Zu dieser Zeit war alles in Ordnung. Alles war perfekt. Langsam veränderte sich die Umgebung wieder und auch Jasons altes Aussehen veränderte sich in sein neues. Der dunkle, böse Jason. Durch diesen Flashback, hatte ich den direkten Vergleich. Auch wenn das nur Einbildung gewesen war.
Als alles wieder klar wurde, sah ich wie zuvor in die gleichen Augen. Ich schüttelte leicht den Kopf und lächelte gequält. Er sollte was machen verdammt.
Als hätte er gerade auch so einen ähnlichen Flashback gehabt, schüttelte er ebenfalls mit dem Kopf und sah weg. „Das kann doch nicht sein.“ hauchte er gequält. Wieder sah er zu mir. „Bitte sag mir, dass du es wirklich bist und keine Einbildung.“
„Jason ich bin es. Ich werde nicht mehr gehen. Ich bin vor ihm weggelaufen. Ich habe es geschafft. Ich bin wieder da.“ weinte ich.
Plötzlich ohne Vorwarnung, riss Jason mich in seine starke Arme. „Du lebst.“ nuschelte er in mein Haar. Das war mir zu plötzlich. Zu viel Körperkontakt. Er sollte mich loslassen. Hilfe!
Plötzlich stand Carry neben uns.
„Jason lass deine Griffel bei dir.“ -keine Reaktion.
„Lass sie los.“ sagte Carry lauter und eindringlicher.
Merkte er gar nicht, wie sehr ich mich versteifte?
„Jason, sie verträgt keinen Körperkontakt!“ schrie sie ihn an.
Auf einmal löste sich seine Umarmung und er sah mich prüfend an.
Ich stand versteift und mit einem schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck da und konnte mich nicht bewegen. Zu viele Berührungen.
Jason sah ungläubig zu mir hinunter.
„Sie verträgt meine Berührungen nicht..?“ murmelte er.
„Es ist zu viel passiert. Gib ihr Zeit.“ besänftigte ihn Carry, was mich verwunderte nachdem ich gesehen hatte, wie sie sich eben begrüßt hatten. Eiskalt.
„Zeit? Ich musste schon genug warten verdammt!“ meinte er wütend. Er war wütend auf mich. Aber ich konnte nichts gegen meine Panik tun. Wie Carry schon sagte; Es war zu viel passiert.
„Sorry ich kann das grad echt nicht. Das ist alles ein bisschen viel“ Das waren seine letzten Worte, ehe er verschwand. Einfach so. „Oh Carry.“ weinte ich und krallte mich an ihr fest. „Ich kann nicht mehr.“
„Psssscht.“ machte sie und plötzlich hielt da das Auto meiner Mama.
„Ist er verschwunden?“ fragte Mum.
„Ja er ist weg.“
------drei Tage später-----
Frisch geduscht und in meinen neuen Klamotten verpackt, tapste ich die Treppe hinunter.
Außer Mama und mir war keiner Zuhause. Sie hatte sich diese Woche extra für mich frei genommen, da ich sonst ganz alleine wäre. Carry und Chrissi mussten ja zur Schule, wo ich ehrlich gesagt auch gerne hingehen würde. Ich wollte Normalität in meinem Leben. Aber ich war krankgeschrieben...wenn man das so nennen konnte ich war ja nicht mal an irgend einer Schule angemeldet. Naja auf jeden Fall sollte ich laut der Ärzte und der Polizei Zuhause bleiben. Mein Körper verheilte zwar so langsam und ich nahm auch etwas zu, jedoch litt ich immer noch an Albträumen, Berührungsängsten und Panikatacken.
Und momentan hatte es die Presse auf mich abgesehen. Seit Sonntag, an dem Tag wo mich die Reporter „entdeckt“ hatten und mich fotografiert hatten, waren tagtäglich diese Fotos in den Zeitungen und sogar im Fernsehen. Teilweise waren in den Berichten viele Lügen, manchmal aber auch Vermutungen und Feststellungen. Aber da ich mich noch kein einziges Mal geäußert hatte, zu niemanden, würde es bei den Vermutungen bleiben.
Meine Familie war mittlerweile auch auf mich aufmerksam geworden. Doch waren meine Familienmitglieder auf fünf Leuten beschränkt, da ich den kompletten Teil der Familie meines Vaters nicht kannte. Also war da nur die Seite meiner Mutter. Meine Oma und Opa, mein Patenonkel und seine Frau und mein kleiner Cousin. Sie wohnten zwei Stunden von uns entfernt, hatten mich aber trotzdem gestern besucht. Und mal wieder wussten wir uns nichts zu erzählen. Diese Situation war immer wieder aufs neue zum Haare raufen.
„Hallo Schätztchen.“ begrüßte mich meine Mum Freude strahlend. Sie war jeden Morgen aufs neue überrascht, dass ich wirklich wieder da war, dass hatte sie mir zumindest erzählt.
Ich bedachte sie nur mit einem müden Lächeln. Die Nacht war anstrengend gewesen. Diese Albträume waren beinahe schlimmer als die Realität.Es war so ungerecht. Ich konnte fliehen, aus meiner Hölle ausbrechen, hatte es endlich geschafft wegzukommen und jetzt war ich Zuhause, bei meiner Familie, wo ich immer sein wollte und ich konnte meine Vergangenheit immer noch nicht vergessen. Nur diese verdammten Erinnerungen waren Schuld an meinem Seelischen Zustand. Wieso war das Schicksal so grausam?
Mal wieder hatte Mama mir mein Lieblingsfrühstück gemacht; Toast mit Marmelade, dazu ein Spiegelei und eine Tasse Milch.
Ich wurde seitdem ich aus dem Krankenhaus war, mit Essen nur so vollgestopft, sodass ich ordentlich zunahm und eine beinahe wieder eine gesunde schlanke Figur hatte.
Bei meinen 1,70 hatte ich vor kurzem noch 43 Kilo gewogen. Und mittlerweile war ich auf die 50 Kilo gekommen. Ja es ging ziemlich schnell mit dem zunehmen, was mich selber überraschte und freute. Ich wollte keinem Skelett ähneln.
„Mama?“
„Ja?“ fragte sie überrascht, da ich nicht wirklich oft redete.
„Hat sich die Polizei gemeldet? Ich meine..wie laufen die Ermittlungen?“ Ihr Gesicht wurde traurig. „Nichts. Die Polizei hat kaum Anhaltspunkte und Hinweise...“
„Was ist wenn er mich wieder zu sich holt?“ fragte ich unter aufkommenden Tränen.
„Das wird nicht geschehen mein Schatz. Wir passen auf dich auf. Nie wieder musst du dahin. Nie wieder.“ nuschelte sie in meine Haare, als sie mich in die Arme nahm.
„Was passiert denn jetzt mit mir? Ich meine ich kann ja jetzt nicht für immer Zuhause bleiben und mich vor der Welt verstecken.“
Mum blieb still. Sie wollte was sagen, das spürte ich. „Ich weiß es nicht.“ sagte sie schlussendlich, aber in ihrem Blick sah ich, dass sie log. Wie sich später herausstellte, sollte ich mich wohl öfter auf mein Gefühl verlassen.
Es war gerade zwei Uhr Nachmittags, als es an der Tür klingelte. Ich saß mit Mum vor dem Fernseher und wir sahen uns Filme an. Da wir gerade bei Dirty Dancing unterbrochen wurde stöhnte ich genervt auf und Mum erhob sich auch nur schwerfällig vom Sofa. Sie öffnete die Tür und zuckte dann überrascht zusammen, als sie die Person vor der Tür sah.
„Kann ich bitte zu Summer?“ Jason. Es war Jason, der da vor meiner Tür stand.
„Ich denke nicht das das so eine gute Idee ist.“ erwiderte Mum kalt. Sie war nicht mehr so von ihm angetan, wie sie es vor drei Jahren war. Er hatte sich zu sehr verändert und war nicht mehr der nette Junge von nebenan, wie sie sagte.
„Bitte ich...ich brauchte Zeit um zu verstehen, dass sie naja.. dass sie wieder da ist und... das sie sich so verändert hat.“ meinte er zögernd.
„Ja da ist sie ja nicht die einzige, Ich meine-“ „Mum, es ist ok. Er kann reinkommen.“ Ich stand neben ihr und konnte direkt auf Jason sehen. Er hatte eine helle verwaschene Jeans an, ein weißes V-Ausschnitt Shirt und eine schwarze Lederjacke. Gott, wo war der Sunnyboy hin? Er war ja durch und durch zu einem Sexobjekt mutiert. Frauen standen halt auf Badboys.
Dankend lächelte er mich unsicher an.
Mum bedachte mich mit einem zögernden Blick. „Bist du dir sicher? Kannst du das denn? Ich meine wi..-“ „ Mum es ist alles gut ich schaff das schon.“ versicherte ich ihr.
Sichtlich unsicher trat sie zurück und begab sich wieder in das Wohnzimmer um sich ohne mich ihren Lieblingsklassiker anzuschauen.
„Hey.“ riss mich Jason aus meinen Gedanken.
„Hi.“ entgegnete ich.
„Ich...Was ich sagen wollte..ich wollte mich entschuldigen für Sonntag..“
„Schon Okay.“„Nein nichts ist Okay. Ich...können wir das drinnen besprechen? Könnte etwas länger dauern und es ist arschkalt hier draußen.“ sagte er und rieb sich dabei die Hände.
Ich zuckte mit den Schultern und machte die Tür weiter auf, damit er eintreten konnte.
Ich ging einfach die Treppe hinauf, da ich davon ausging, dass er mir folgte. Ich stieß die Tür meines Zimmers auf und wartete bevor ich die Tür wieder schloss, dass Jason reinkam.Erstaunt sah er sich um.„Krass...Es hat sich ja nichts geändert. Alles noch an seinem Platz.“„Ja, Mum hat in den drei Jahren niemanden hier rein gelassen.“
„Ich weiß.“
Schweigen.
Er sah sich weiter um und entdeckte Fotos von uns beiden an meiner Wand. Das war mir unangenehm. Ich hätte sie doch abnehmen können. Wieso hatte ich sie hängen lassen.
„Du hast noch alle Fotos von uns.“ meinte er und trat näher ran.
„Ja. Du nicht?“
„Nein.“ Er sah mich entschuldigend an. „Verbrannt. Hat zu sehr weh getan sich immer wieder die Fotos anzusehen.“
Ich schluckte und nickte daraufhin.
Ich zeigte auf eines der Fotos, wo ich in seinen Armen lag. Wir lächelten glücklich und verliebt in die Kamera. Es war an Jasons 14 Geburtstag gewesen.
„Das hier hatte ich in meinem Portemoinee als...du weißt schon. Ich hatte es die ganzen drei Jahre bei mir und habe drauf aufgepasst als wäre es mein größter Schatz.“ murmelte ich. Wieso sagte ich ihm das? Das war völlig unangebracht. Verdammt.
Jason lächelte leicht. „Das war an meinem Geburtstag.“ „Ich weiß.“ Wir schwiegen eine Weile. „Es war alles perfekt.“ murmelte ich eher für mich als an ihn gerichtet.
„Ja, war es.“
„War...Es wird nie mehr so sein.“ sagte ich traurig und sah ihm in die Augen.
„Was meinst du?“„Ich bitte dich, sieh mich an. Es ist nichts mehr von meinem alten Ich übrig. Ich kann nichts mehr tun, ohne von meinen Erinnerungen aufgefressen zu werden. Und mein Aussehen ähnelt eher einer Katastrophe als der Summer von vor drei Jahren.“ entgegnete ich bitter.
„Ich hab mich auch verändert. Wenn auch zum schlechten hin..aber drei Jahre sind eine lange Zeit ..alle haben sich verändert.“
„Ja...Bitte lass uns da nicht drüber reden.“ meinte ich dann noch.
Mir fiel auf, dass wir immer noch standen. Ich setzte mich dann auf mein Bett und Jason setzte sich auf meinen Schreibtischstuhl.
„Du bist jetzt 16 nicht war?“ fragte er? Ok. Belanglose Themen. Fand ich gut.
„Ja, wenn ich richtig mitgezählt hatte, dann ja.“ meinte ich bitterer als ich eigentlich klingen wollte. „Du bist 17?“ schob ich noch schnell hinterher.
„Ja.“
Schweigen.
Ich wusste, dass jeder meinem seelischen Zustand zu Liebe mich nicht auf die Entführung ansprach oder wissen wollte, was alles passiert war, aber ich sah jedem an, dass sie es wissen wollten.
„Du bist in alles möglichen Zeitungen und Nachrichtensendungen.“ sagte er.
„Ich weiß.“ Damit das Ganze nicht wieder zum Schweigen mutierte, erzählte ich einfach mehr. „Die Reporter hatten mich in der Stadt gesehen, wo auch die ganzen Fotos gemacht wurden. Ja und dann bin ich mit Carry abgehauen und tja dann sind wir auf dich und deine Freundin gestoßen.“„Sie ist nicht meine Freundin.“ verbesserte er mich.
„Sah aber ganz so aus.“
Jetzt zuckte er nur mit den Schultern. Irrte ich mich oder mutierte ich hier zu einer Eifersüchtigen? Ich hatte kein Recht und keinen Grund eifersüchtig zu sein. Um Himmels Willen.
„Ehm ich geh mal kurz auf's Klo.“ meinte er. Ich nickte. „Weißt ja wo es ist.“
Oh Gott. Wir redeten als würden wir uns gerade fünf Minuten kennen und wüssten nicht worüber wir reden sollten. Das war doch beschissen. Zwischen uns standen einfach diese drei Jahre, die uns scheinbar auseinander drängte. Das war doch zum Haare raufen.
Plötzlich hörte ich laute Stimmen von unten. Und zwar von Tobi und Jason.Unsicher lief ich die Treppen hinunter um unbemerkt ins Wohnzimmer schauen zu können. Dort befanden sich die beiden Streithähne, die sich aufgebracht etwas an den Kopf warfen, was ich aber nicht wirklich verstand. Zu meiner Verwunderung waren auch Carry und Chrissi inklusive meiner Mum anwesend. Die arme, jetzt konnte sie wieder nicht ihren Film gucken.
"Das könnt ihr doch nicht machen!" sagte ein ziemlich sauer klingender Jason. "Wir können und wir werden! Es ist das beste für sie!" erwiederte ein ebenfalls wütender Tobi. Ein Schnauben kam von Jason. Carry unn Chrissi saßen nur still auf dem Sofa uns beobachteten das Ganze. Mum versuchte sich immer wieder in das Gespräch mit einzubringen , wurde aber immer wieder von einen der beiden Männer unterbrochen.
"Summer ist doch nicht bescheuert! Ist doch klar das sie das erst alles verarbeiten muss! Und wir sollten ihr dabei helfen! Ihre Freunde und Familie und nicht irgendwelche Psychologen die sie gar nicht kennt! Wie könnt ihr nu.." - "Jason!" Jasons Ausbruch wurde von meiner Mum lautstark unterbrochen. Man sah wie sie versuchte , sich selber zu beruhigen, indem sie tief durchatmete. Im normalen Ton sprach sie dann weiter. " DU hast nicht gesehen was für Albträume Summer Nachts hat. Sie schreit, weint und brabbelt irgendwas wie 'lass mich in Ruhe' oder 'Bitte nicht' . Es tut mir in meinem Herzen weh ihr nicht helfen zu können! Aber es gibt Menschen, die es können! "
"Wann wird sie gehen?" fragte Jason zähneknirschend.
"In 3 Monaten erst. Früher hatte die Psychatrie keinen Platz...Es gibt da aber noch einen Haken..." erzählte meine Mum.
Jason lachte freudlos "Ein noch größerer als, dass sie in die Psychatrie muss?"
Meine Mum ignorierte diesen Kommentar. " Die Psychatrie zieht es vor, die Therapie ohne die Ahngehörigen zu machen, das bedeutet, dass wir Summer 4 Monate nicht sehen dürfen. "
Tobi nickte zur Bestätigung und Jason, Carry und Chrissi sahen die beiden fassungslos an. Ich selber konnte auch nur ungläubig vor mich hinstarren. Ich fasste mich wieder und kam aus meinem Lausch-Versteck. 5 Augenpaare schauten mich überrascht an. "Hast du..?" begann meine Mum zu fragen, doch ich unterbrach sie. -"Ja, Mum ich habe alles mitgehört. Äußerst schön das alles zu wissen." Ich lächelte unecht und machte auf der Stelle kehrt um in mein Zimmer zu verschwinden.
Ich sezte mich auf mein Bett und dachte an Jason, wie er versucht hatte mir zu helfen... er war der einzige, der wenigstens versucht hat, ihnen auszureden , dass sie mich wegschicken..leider ohne Erfolg. Ganze 4 Monate werde ich weg sein. Ohne jeglichen Kontakt.
Mich wunderte schon das ich das jetzt einfach so hinnahm und seelenruhig auf meinem Bett saß und nur nachdachte. Früher hätte ich solange diskutiert bis ich meinen Willen gekriegt hätte. Aber früher ist eben früher, und heute ist heute und ich bin nicht mehr wie früher.
Ich hörte wie Schritte die Treppe hoch kamen, und sich meinem Zimmer näherten. Plötzlich erklang ein leises, zaghaftes Klopfen an meiner Tür und obwohl es so leise war , zuckte ich unweigerlich zusammen. Ohne eine Antwort zu geben ,wurde meine Zimmertür geöffnet und der Kopf meiner besten Freundin lugte zaghaft rein. Mein kurz zu ihr gewandter Blick glitt wieder zu meinem Schoß.
"Hey." sagte sie leise
Mein Blick ging wieder hoch zu ihr und ich sah wie sie sich unsicher auf die Lippe biss.
----- 1 Woche später----
Müde schlug ich meine Augen auf. Der Alltag war bei allen wieder eingekehrt. Nur bei mir nicht. Ich hatte keinen Alltag. Die letzten drei Jahre waren für mich kein Alltag. Nur Angst, Zweifel und Schmerz.
Mum war arbeiten , wo Tobi war wusste ich nicht, er war jedenfalls weg, Carry, Chrissi und Jason waren in der Schule und ich? Ich war Zuhause. Warum ich nicht zur Schule konnte? Weil ich angeblich so doof war wie ein 7. Klässler. Die wussten NICHTS, gar nichts. So und bis zu meiner Therapie , musste ich mich 'schonen' , damit sich mein geistiger Zustand nicht verschlimmert. Das hieß sich so gut wie möglich nicht an die Entführung zu erinnern.
-Ups zu spät
Ich habe mich mit allen wieder vertragen. Sogar mit Jason. Mit Carry habe ich den Abend noch lange geredet. Ich war zwar immer noch nicht überzeugt davon zur Therapie zu gehen aber die nächsten 3 Monate alle, die ich liebe zu ignorieren würde mir nur unnötig zur Last fallen.
Auch wenn ich jetzt Zuhause war, ich war nicht glücklich. Klar ich war froh darüber alle wieder zu haben und nicht mehr bei IHM sein zu müssen. Aber es ist eben passiert und die Erinnerungen bleiben für immer.
Reden tat ich auch fast gar nicht mehr. Auch wenn Mum mir immer wieder sagte, dass sie mich liebe und so froh war mich wieder zu haben. Keine Miene verzog ich. Ich machte gar nichts mehr. Nur noch Leben. Und das nur weil mein Herz schlug.
Ich fühlte mich Tag für Tag schwächer, ist ja auch klar , ich war jede Nacht wach um nicht einzuschlafen und wieder an alles erinnert zu werden. Und wenn ich es auch veruchen würde , ich würde nicht einschlafen. Mein Körper konnte sich nicht ausruhen und so sah ich auch aus. Dunkle Augenringe, zerzauste Haare und mein dürrer Körper, der zwar nicht mehr so mager war aber immer noch dürr. Ich sah kaputt aus.
Am Anfang war ich noch abgelenkt gewesen und musste nicht immer an die Entführung denken, abgesehen davon, dass ER mir ein Messer in den Bauch gerammt hatte, aber ich wurde umsorgt und alles und ich war für diese paar Tage wirklich glücklich, aber jetzt? Ich hatte wieder Zeit über alles nachzudenken, und dass machte mich kaputt.
-Man sagt die Zeit heilt alle Wunden, doch bei mir reißt sie sie wieder auf.
Carry's Sicht
Ich stieg mal wieder nach der Schule an Summer's Bushaltestelle aus , um sie zu besuchen. Es ging ihr nicht gut, überhaupt nicht gut. Seit der letzten Woche hat sich ihr Verhalten heftig verändert. Sie redet kaum -oder eigentlich gar nicht mehr. Sie sitzt nur rum und starrt an die Wand. Wenn ich komme , lächelt sie etwas. Dieses Lächeln bedeutet mir echt viel , weil ich weiß, dass es ihr Scheiße geht, aber sie hat trotzdem ein Lächeln für mich über. Meistens erzähle ich ihr was in der Schule so war. Auf Antworten warte ich eigentlich gar nicht mehr. Manchmal sagt sie kurz was aber mehr auch nicht.
Nun stand ich vor ihrer Haustür. Ich holte meinen Schlüssel raus, den Summer's Mum mir gegeben hatte, weil sie um diese Uhrzeit noch arbeiten war. Ich schloss auf und trat ein, zog meine Schuhe aus , hängte meine Jacke an die Gaderobe.
"Summer ich bin da." rief ich.
Ich ging die Treppe hoch , in ihr Zimmer. Wie erwartet saß sie auf ihrem Bett. Wie sie aussah erschrak mich jedes mal. So fertig und kaputt..
Kurz hob sie ihren Kopf und lächelte
"Hey Carry."
Ich lächelte ebenfalls und wunderte mich das sie überhaupt ewas sagte.
"Hey" gab ich zurück
Ich erzählte ihr mal wieder was, worauf sie immer wieder nickte oder etwas murmelte. Nach ca. eineinhalb Stunden kam ihre Mum und sagte ihr jeden Tag das sie sie liebte und ob alles ok wäre. Es war klar das Summer nickte, aber ihre Mum und ich wussten beide das es nicht so war.
Summer's Sicht
Mit offenen Tränenverschleierten Augen lag ich mal wieder in meinem Bett. Mein Körper zitterte. Mein Atem ging schwer. In einer Woche würde ich zur Therapie gehen. Wie das fand? Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte das Gefühl nicht mehr zu leben.
Das Fenster stand weit offen und es wehte kalter Wind in mein Zimmer. Doch das war mir egal. Alles war mir egal. Die Erinnerungen machten mich kaputt. Tag für Tag wird es schlimmer. Für die anderen bin ich sozusagen unantastbar, ich lasse keinen mehr an mich heran. Nicht mal Carry oder meine Mum. Die Erinnerungen fraßen mich auf.
Manchmal bekam ich Panikatakken... Aber zum Glück hat das noch niemand mitbekommen. Entweder war keiner Zuhause oder hörten es einfach nicht. Was mich aber ziemlich wundern würde...Naja egal.
Jason, Chrissi und Carry wechselten sich damit ab mich zu besuchen. Ich rechnete ihnen das hoch an, denn sie hatten ja noch ihr eigenes Leben und kamen mich trotzdem alle drei Tage für ca. 4 Stunden besuchen. Also ich hätte keine Lust neben einem halb toten Menschen zu sitzen und ihm Dinge zu erzählen. Ich meine ich gebe noch nicht einmal eine Reaktion von mir. Es ging irgendwie nicht. Die Erinnerungen erlaubten mir es nicht glücklich zu sein.
***
Meine Zimmertür ging leise auf. Tobi's Kopf lugte in mein Zimmer. Kurz wandte ich meinen Blick von der Wand ab um ihn anzusehen. Ein gequältes Lächeln..
"Hey Sum' wir müssen gleich los in die Klinik. Machst du dich fertig? Soll ich dir helfen?"
Ich schaute ihn verständnislos an um ihn zu zeigen, dass ich das auch alleine schaffen würde und diese Frage unnötig gewesen war.
Er verzog kurz seinen Mund und nickte. "In einer Stunde fahren wir. Pack einfach alle deine Klamotten in einen Koffer. Bis gleich ." Er lächelte wieder unecht , schloss die Tür und ging.
Müde von der schlaflosen Nacht, setzte ich mich auf. Mein Zimmer sah noch so aus als wäre es gerade frisch renoviert worden. Benutzen tat ich nur das Bett. Es sah kalt aus. Überhaupt nicht persönlich eingerichtet, so wie ein Jugendzimmer eigentlich eingerichtet sein sollte. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und ging zu meinem Schrank, wo einige wenige Pullover, T-Shirts und Hosen waren. Viele Anziehsachen hatte ich noch nicht. War mir aber auch nicht so wichtig.
Ich ging ins Bad, duschte und genoss das warme Wasser, dass meinen Körper hinunterlief. Nachdem ich das Wasser noch ein bisschen auf mir rumplätschern ließ, stieg aus der Dusche. Der Spiegel war ganz beschlagen von dem warmen Wasserdampf. Ich wischte über den Spiegel und schaute in das nun einigermaßen vertraute Gesicht. Aber es war immernoch komisch. Ich meine wenn man sich 3 Jahre lang nicht im Spiegel sah, war es schon komisch wenn man plötzlich wie ein anderer Mensch aussah. Meine schwarzen Haare waren meiner Meinung nach viel zu lang und an den Spitzen auch nicht mehr gesund. Ich sollte mal zum Friseur gehen, ich hatte aber in letzter Zeit keine Lust dazu. Und wenn ich einfach nicht in den Spiegel sah, bemerkte ich ja auch nicht das der Friseurbesuch nötig war.
Ich kämmte meine Haare ordentlich durch und föhnte sie. Nach 20 min Föhnen ging ich zurück in mein Zimmer.Wahllos kramte ich einen roten Pulli und eine schwarze Hose aus dem Schrank. Meiner Meinung nach saß die Hose viel zu eng, aber Carry meinte das wäre schön. Ich band meine Haare zu einem lockeren Dutt und schaute nochmals in den Spiegel. Lange hatte ich mich nicht mehr richtig fertig gemacht. Jetzt sah ich wenigstens gepflegt aus. Ich wollte ja nicht als der letzte Assi da ankommen.
Schnell packte ich alles Nötige in den von Tobi bereit gestellten Koffer und ging mit ihm die Treppe runter in die Küche, wo ich sicher vor einer Woche das letzte mal war. Meine Mum und Tobi schauten mich ein wenig überrascht an, da ich seit Monaten nur in Jogginghose und Schlabbershirt rumgelaufen war.
"Du siehst hübsch aus Süße." lächelte meine Mum mich an. Ich nickte nur und setzte mich. "Willst du etwas essen?" Fragte sie. Ich schüttelte mit dem Kopf. Sie seufzte.
Nach ein paar Minuten klingelte es. Tobi stöhnte genervt und stand schwerfällig auf, um zur Tür zu gehen. Carry, Jason und Chrissiy standen kurze Zeit später in unserer Küche und unterhielten sich mit meiner Mum, mich sprachen sie erst gar nicht an, da sie wussten, dass ich sowieso nicht antworten würde.
"So genug gelabert wir müssen jetzt los. Verabschiedet euch noch schnell und dann fahren wir!" sagte Tobi bestimmend. Innerlich verdrehte ich die Augen. Er stand auf, nahm meinen Koffer und ging aus dem Haus um meinen Koffer ins Auto zu bringen. Meine Mum lief ihm eilig mit dem Autoschlüssel hinterher, den er dummerweise vergessen hatte.
Ich saß mit dem Rücken zu den dreien und spürte genau , wie ihre Blicke auf mir lagen. Ich stand von meinem Stuhl auf und drehte mich zu ihnen um und schaute sie an. Wir standen eine Weile so, bis Carry auf mich zukam und mich umarmte. "Ich werd' dich vermissen Sum..." schluchzte sie leise in mein Haar. Ich lächelte ganz leicht, was aber keiner sah. Carry löste sich von mir und schon kam Chrissy und umarmte mich. "Du machst das kleine." aufmunternt lächelte er mich ebenfalls an. Nun kam Jason auf mich zu und flüsterte so leise, sodass nur ich es hören konnte. "Ich werde jeden Tag an dich denken." Dann gab er mir einen federleichten Kuss auf die Wange und trat ebenfalls zurück.
"Danke.." brachte ich mit rauer Stimme raus. Es war doch erstaunlich , dass ich meine Stimmer erst wiederfinden musste, da ich länger nicht gesprochen hatte.
"Danke für alles! Ihr seid die Besten..." sagte ich mit etwas stärkerer Stimme.
Überrascht schauten mich alle drei an, lächelten mich aber danach warm an.
Eine kleine Träne verirrte sich den Weg aus meinem Auge. Daraufhin umarmte mich Carry noch einmal. "Du musst Summer..." Ich nickte und wischte mir die Träne weg. Schnell ging ich mir meine schwarzen Chucks und meine Jacke anziehen. Von den dreien gefolgt lief ich nach draußen, wo Mum schon im Auto saß. Tobi schloss die Tür ab und stieg ebenfalls ins Auto. Ich drehte mich nochmals um, winkte den dreien kurz und lächelnd zu und stieg ebenfalls ins Auto. Tobi startete den Motor und durch das Fenster sah ich, wie die drei mich immernoch ansahen. Bevor wir losfuhren wunk ich noch einmal und schon rollte das Auto los und fuhr mich zu meiner warscheinlich letzten Chance.
Wir fuhren sehr lange und ich hatte mittlerweile auch überhaupt keine Ahnung mehr wo wir waren. Der Motor brummte und leise Musik drang aus den Lautsprechern. Meine Mum las ein Buch und Tobi fuhr viel zu schnell die Autobahn entlang. Was meiner Mum nun auch auffiel. Sie wand ihren Blick von dem gedruckten ab , schaute sich nach einer Geschwindigkeitsbegrenzung um und kontrollierte dann unsere fahrende Geschwindigkeit. Ihre Augen weiteten sich kurz , ehe sie Tobi schon leicht panisch anmeckerte.
"Mensch Tobias , fahr doch nicht so schnell! Du fährst wertvolle Fracht!"
Tobi verdrete leicht die Augen und ging etwas vom Gaspedal herunter. Er schenkte meiner Mutter einen Blick, der so viel wie 'zufrieden?!' heißen sollte und fuhr in angemessener Geschwindigkeit weiter. Meine Mum war beruhigt und widmete sich wieder ihrem Buch.
Ich starrte schon die ganze Fahrt über nach draußen und dachte an Nichts. An gar nichts. Das war gar nicht mal so einfach, mal abzuschalten aber es tat mal gut.
Nach einer weiteren Stunde fahrt verkündete Tobi feierlich, dass wir 'schon' gleich da wären. Ich tauchte aus meiner 'Nicht-Denk-Phase' auf und blickte aufmerksam aus dem Fenster. AUf dem ersten Blick war das eine ganz normale Kleinstadt. Nichts besonderes. Einfamilienhäuser, ein paar Mehrfamilienhäuser, Supermärkte, Tankstellen, Imbisse und so weiter. Wir fuhren weiter durch das Städtchen und kamen sonst noch an einem Park und einem schönen Marktplatz vorbei.
Komischerweise stand hier ein Schild, dass hier das Ende de Ortes war. Fragend glitt mein Blick umher. Durch den Rückspiegel schien Tobi meinen fragenden Gesichtsausdruck zu sehen und sagte das die Klinik außerhalb dieses Städtchens liegen würde. Ich tat dies mit einem Nicken ab und sank wieder in meine 'Nicht-Denk-Phase'.
Geschätzte 10 min später bemerkte ich, dass der Moter ausgeschaltet wurde. Ich hörte, wie Mum und Tobi sich abschnallten und ausstiegen. Meine Tür wurde von Tobi aufgemacht.
"Los Sum." sagte er
Ich seufzte schwer und schnallte mich ebenfalls ab und stieg aus. Meine Beine taten nach der langen Fahrt etwas weh und ich musste mich erst einmal strecken. Mit einegschlafenen Beinen versuchte ich den beiden vorausgelaufenen zu folgen, was gar nicht so einfach war. Ich holte sie ein und gemeinsam gingen wir vom Parkplatz umd die Ecke. Vor uns war ein großes modernes Gebäude. Es war weiß und hatte viele Große Fenster. Über dem Eingang stand 'Psychatrie Butterfly' . Butterfly? War das deren Ernst?
"Butterfly? Was ist das denn für ein alberner Name??" sagte Tobi etwas belustigt, dass was ich gerade gedacht hatte.
"Also ich finde den Namen schön." entgegnete meine Mutter "Und du Summer? Wie findest du es? Sieht doch alles ganz toll aus " meinte sie.
Ich zuckte mit den Schultern.
Skeptisch verzog Tobi sein Gesicht. "Im Ernst wer nennt eine Psychatrie Butterfly?"
Genervt von allem und jedem auf dieser Welt, ging ich Schritt für Schritt auf das große Gebäude zu. Es war schon irgendwie beängstigend. Und wenn ich mir vorstellte, das alles ohne jemanden Vertrauten durchstehen zu müssen, wurd mir schlecht. Ne alleine konnte ich da nicht reingehen. Da wartete ich doch lieber auf Tobi und Mum. Als diese auch endlich kamen , hatte ich schon nicht mehr so ein schlechtes Gefühl
Zu dritt gingen wir nun in das Monstrum an Haus. Innen war es auch wirklich sehr modern. Alles in schwarz uns weiß gehalten. Inmitten der großen Eingangshalle , befand sich die Rezeption. Eine junge blonde Frau mit streng nach hinten gebundenen Haaren lächelte uns freundlich an. "Schönen Guten Tag, was kann ich für sie tun?" fragte sie nett. "Meine Tochter Summer soll hier in die Klinik kommen." antwortete meine Mum. "Jaaa" sagte die Rezeptionistin langgezogen und tippte schnell etwas in ihren Computer ein. "Wie heißen sie mit vollen Namen Miss Summer?" Ich bemerkte erst ein paar Sekunden später, dass sie mich angesprochen hatte, als Tobi mir leicht in die Seite pieckste. "Eee-hm wie bitte?" meine Stimme klag komisch. "Dein ganzer Name.." flüsterte Tobi.
"Eh Summer Jamie Livsey." antwortete ich. Ich hatte schon ewig nicht mehr meinen ganzen Namen ausgesprochen. Ja mein Zweitname war Jamie. Gegen den Namen selber hatte ich nichts...gegen die Bedeutung aber schon.
Jamie kam von James. James Livsey. Meinem Vater. Er hatte meine Mutter kurz vor meiner Geburt sitzen gelassen und trotzdem wollte Mum das ich eine abgewandelte Form seines Namens trug. Sie war zu dieser Zeit halt noch in ihn verliebt. Tobi hatte diesen Verräter noch gekannt. Naja so wie man Leute halt mir 3 Jahren kannte.
So die Geschichte war eingentlich ganz simpel. Meine Mutter war während der Schwangerschaft von der Treppe gefallen. Auf den darauffolgenen Ultraschallbildern, konnte der Artzt nicht versprechen ob ich gesund zur Welt kommen würde. Das hieß, die Möglichkeit, dass ich behindert zur Welt gekommen wäre, war relativ groß. Meinem Vater zu groß. Er wollte kein behindertes Kind das ihm den Rest seines Lebens am Bein festhingt und ist dann mal von heute auf morgen abgehauen. Tja als ich dann doch überraschenderweise putzmunter und unbeschädigt auf die Welt kam , war er über alle Berge. Und trotz der Scheiße , die er uns angetan hatte, trug ich Seinen Namen! Ungerecht? JA!
Die Rezeption-Tante tippte derweil wieder etwas in ihren Computer und druckte irgendwas aus. "So Summer , du wirst für 4 Monate hier wohnen. Hier sind die Hausregeln." sagte sie an mich gewandt , drehte sich dann zu meiner Mum. " Und sie müssen hier noch unterschreiben. Dann wäre das auch schon geregelt." Mum nickte und ich bekam die Hausregeln, die ich mir noch durchlesen müsste.
Mum setzte die nötigen Unterschriften an die vorhergesehenden Stellen und gab die Papiere wieder ab. Tobi war gerade auf dem Weg zum Auto um meine Koffer zu holen.
Das alles passierte irgendwie in Zeitlupe. Ich begriff erst jetzt so richtig , dass ich wegen meiner Entführung hier war. Und ich musste mich jetzt dem stellen, vor dem ich Monate weggelaufen war. Und zwar alleine. Ganz allein. Vier verdammte Monate an einem fremden Ort.
Ich musste mich echt zusammen reißen, dass mir nicht die Tränen kamen. Mum schien dies zu bemerken und streichelte sanft über meine Schulter.
Die Türen gingen auf und Tobi kam mit meinem Koffer. Er stellte ihn neben mich , lehnte sich an die Rezeptionstheke und schaute mich traurig an.
Eine helle, nette Stimme unterbrach das Schweigen. „Summer Jamie?“ Ich schaute in ein nettes Gesicht einer ca. 25 jährigen Frau. Sie hatte braune schulterlange Haare und sah mich lächelnd an. „Summer.“ korrigierte ich sie. Sie nickte und lächelte immer noch. „So Summer ich bringe dich jetzt zu deinem Zimmer. Ich bin übrigens Lissy.“ Jetzt wurde ihr Gesichtsausdruck etwas bemitleidend. „ Du müsstest dich jetzt von deiner Familie verabschieden.“ Ich nickte leicht und drehte mich zu meiner Mum , der schon Tränen über die Wangen liefen. „Du schaffst das Maus. Und dann wird alles wieder gut.“ schluchzte sie und nahm mich dabei in den Arm. Wieder nickte ich, denn das war das einzige , was ich in diesem Moment zu Stande brachte. Sie löste sich von mir und schon hatte Tobi mich hochgehoben und sich mit mir einmal im Kreis gedreht, was mir ein leichtes Lachen entlockte. „Chiau Kleines. Und mach blos keinen Unsinn.“ Sagte er noch gespielt ernst.
Man sah ihm an das er nur 'lustig' war um seine Trauer zu verdecken.
Nun meldete sich Lissy wieder. „Summer kommst du?.“ Ich nahm meinen Koffer und ging mit Lissy mit. Kurz drehte ich mich noch um , um Tobi und Mum zu winken. Diese wunken auch zurück.
Lissy und ich stiegen mittlerweile in einen Aufzug, wo sie auf die oberste Zahl, die 4 drückte. Die Türen gingen langsam zu und prompt hatte ich Gänsehaut. Ich war sozusagen eingesperrt in einem kleinen Raum. Glücklicherweise hatte der Aufzug Wände aus Glas , dann war es nicht so schlimm, dennoch war mir mulmig zumute. Deswegen war ich auch heilfroh als wir oben ankamen und sich die Türen öffneten.
Lissy lief raus, und wartete kurz auf mich, damit ich mit meinem Koffer hinterher kam. Wir bogen in einen Flur ab, der wie alles hier sehr modern und hell war. Die Decken waren sehr hoch und sie waren wie gewöhnlich nicht verputzt sondern mit Fenstern ausgestattet, dass hieß man konnte in den Himmel sehen.
„ Hier in diesem Flur sind alle in deinem Alter und jedes Zimmer hier ist ein Doppelzimmer. Deine Zimmergenossin ist auch erst vor ein paar Stunden hier eingezogen. Am Ende des Flurs ist ein großer Aufenthaltsraum für alle die hier in diesem Flur wohnen. Ab 22 Uhr ist Nachtruhe aber dieser ganze Kram steht in den Hausregeln“ erklärte sie.
Ich hatte eine Zimmergenossin? Na super.
Der Flur hier war wirklich lang und wenn ich mir überlegte , dass in jedem dieser Zimmer zwei Personen waren, müssten das insgesamt wirklich viele in meinem Alter sein.
Plötzlich blieb Lissy stehen. „Hier ist dein Zimmer.“ Sie deutete auf die Tür, vor der wir standen. Nummer 350. Das Zimmer befand sich ungefähr in der Mitte des Flurs. „Dein Schlüssel.“ Sie gab mir einen Schlüssel. „Und deine ganzen Termine für Therapien, Kurse und so weiter. Du musst auch noch ein paar Wahlkurse belegen.“ Sie gab mir ein paar Zettel in die Hand. „Bitte bring das Zeug morgen ausgefüllt vor deiner ersten Therapiestunde an der Rezeption vorbei.“ Ich nahm alles an mich und Lissy schloss für mich die Tür auf, da ich keine Hand mehr frei hatte. „Bis dann Summer wir sehen uns.“ lächelte sie und wunk mir noch kurz zu ehe sie verschwand.
Mit dem ganzen Papierkram zwischen meinen Lippen und meinen Koffer an der Hand, öffnete ich die Tür. Ich schleppte den Kram rein und machte mit meinem Fuß die Tür zu. Jetzt galt es erst einmal mein Neues Zimmer zu betrachten.
Das Zimmer war relativ groß und wurde durch ein Regal etwas von der anderen Hälfte des Raums abgetrennt. In jeder der beiden Hälften stand ein Bett. Das Zimmer war komplett weiß und die Möbel ebenfalls. Meiner Meinung nach, sah das alles hier ziemlich kalt aus.
Erst nach dem zweiten Umschauen, bemerkte ich, dass da ein schwarzhaariges Mädchen auf einem der Betten lag. Sie lag einfach nur da und starrte an die Decke. Genau wie ich immer. Ich wusste, wenn ich sie jetzt ansprach, was ich sowieso nicht getan hätte, da ich nicht hier war um Freunde zu finden, würde sie mir nicht antworten.
Deswegen begab ich mich auf die Seite, wo das leere Bett stand , legte den Papierkram auf den weißen Schreibtisch und legte mich ebenfalls in mein neues Bett.
Ohne es bemerkt zu haben, war ich eingeschlafen. Ich war gerade aufgewacht , atmete noch etwas schneller mit erhöhten Puls, wegen dem Alptraum und blickte noch etwas irritiert in die noch nicht vertraute Umgebung, bis ich langsam realisierte , wo ich war. Sofort sank meine nicht vorhandene Motivation noch ein Stückchen. Als ich auf die Uhr schaute, war es bereits 15 Uhr. Ein kurzer Blick auf die andere Seite des Zimmers, zeigte mir, dass ich alleine war. Und ein weiter Blick auf meinen Schreibtisch, zeigte mir, dass ich jetzt viel zu lesen und auszufüllen hatte.
Als erstes die Hausregeln..
Klinik Butterfly- Hausregeln
Da Sie jetzt für einen bestimmten Zeitraum in unserem Hause leben werden, erwarten wir von Ihnen ein tolerantes..- bla bla bla uninteressant...
...und bitten Sie folgene Regeln einzuhalten.
Tolerantes Verhalten allen Bewohnern gegenüber
Nicht rauchen und keine alkoholischen Getränke konsumieren
Das Gelände ohne eine Erlaubnis der Therapeuten nicht zu verlassen
Auf Elektrische Geräte zu verzichten
Keinen Kontakt zu Familien, Freunden etc. zu haben
Ab 22 Uhr ist konstante Nachtruhe einzuhalten
Bei aggressiven oder nicht akzeptablen Verhalten, müssen Sie damit rechnen, in vorhergesehene Einrichtungen zu kommen. Solche Vorkommnisse, werden umgehend der Familie gemeldet.
Jeden Monat, wird Ihr Therapeut ihnen ein Psychologisches Gutachten, über ihre Therapeutischen Fort- oder Rückschritte und ihr allgemeines Verhalten erstellen, was auch Ihre Familienangehörigen zugeschickt bekommen.
Unpünktlichkeit wird unter anderem auch in dem Gutachten erwähnt.
Wir hoffen auf ein gutes Zusammenleben und Ihnen viel Glück bei der Therapie.
Leitung des Hauses Butterfly
Rupert
Seufzend legte ich diese blöden Hausregeln weg und machte mich daran, meine Pflicht kurse zu wählen.
Ich musste insgesamt 3 Wählen und ich entschied mich für Musik, Boxen und Selbstverteidigung.
Diese drei Wahlfächer hörten sich am besten an. Die anderen waren sowas wie Stricken oder Yoga oder sowas. Dann machte ich lieber Musik oder Boxe und die Selbstverteidigung war vielleicht auch nicht schlecht, dann wusste ich nächstes mal was ich besser machen könnte...
Das kam mir hier son bisschen vor wie in einer Schule. Ich hatte so etwas wie einen Stundenplan und auch die Regeln …
Aber ich musste das durchziehen, denn ich wollte wieder normal leben können und nicht von meiner Vergangenheit aufgefressen werden.
Ich stand auf und hängte meinen „Stundenplan“ an die Wand. Morgen, also Montag würde es losgehen. Aber zum Glück erst um 10 mit meiner ersten Therapiesitzung. Die ging ganze anderthalb Stunden! Danach kamen dann meine Wahlkurse Musik, Boxen und Selbstverteidigung und dann nochmal eine anderthalb Stündige Therapiesitzung...
Um 9, um 12 und um 18 Uhr gab es dann Essen
Also sah mein morgiger Plan so aus:
-Halb 9 aufstehen und fertig machen ; 9 Uhr frühstücken
-Um 10 zur Sitzung
-11:30 Sitzung zuende, halbe Stunde frei
-12 Uhr Mittagessen
-12:30 Boxen
-13:30 Musik
-14:30 Selbstverteidigung
-Eine Stunde frei
-15:30 zur Sitzung
-Um 17 Uhr Sitzung zuende
-Um 18 Uhr Abendessen
Was für ein Tag...
Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich in einer halben Stunde zum Abendessen musste.
Eine halbe Stunde hatte ich also noch Zeit um mich hier ein bisschen einzurichten. Nach einer Viertel Stunde , war mein Koffer leer und meine Klamotten im Schrank verstaut.
Plötzlich hörte ich ein Schloss klacken und meine Mitbewohnerin kam in das Zimmer. Sie sah kurz zu mir und sagte leise 'Hallo', worauf ich mit einem Hi antwortete und dann legte sie sich ins Bett und las ein Buch.
Ich widmete mich darauf meinem Schreibtisch, in dem ich noch ein paar Sachen von mir verstaute.
Nach ein paar Sekunden merkte ich das meine Blase ziemlich drückte und dass ich mal so langsam eine Toilette aufsuchen sollte. Da in unserem Zimmer anscheinend nur ein Waschbecken vorhanden war, ging ich auf den Flur. Hier war es kälter und es breitete sich sofort eine Gänsehaut auf meinen schmalen Körper.
Ich lief den Gang entlang und mir kamen ein paar Personen entgegen. Einmal Lissy, die mich freundlich anlächelte, dann ein ganz schwarz angezogenes Mädchen, ein großer Junge, mit tiefen Augenringen und ein kleines Mädchen , mit langen blonden Haaren und einem viel zu dünnen Körper. Sie waren alle ungefähr in meinem Alter und alle hatten den Blick nach unten auf den Fußboden, dennoch beobachtete sich hier jeder gegenseitig. Kurze Zeit später fand ich dann endlich die Toilette, erledigte mein Geschäft , wusch mir die Hände und schaute meinem Spiegelbild in die Augen. 'Du schaffst das' sagte ich mir. Ich atmete durch und ließ meine Gedanken über den morgigen Tag schweifen. Gedankenverloren schlenderte ich den Flur zurück in mein Zimmer, wo ich meine Zimmergenossin vorfand, die sich gerade eine Jacke überzog.
Sie schaute auf und fragte „Willst du mitkommen zum Abendessen?“
Ich nickte nur und machte mir noch schnell die Haare zu einem hohen Pferdeschwanz.
Zusammen liefen wir den Flur entlang und redeten kein Wort.
Hinter uns kamen noch ein paar aus ihren Zimmern und folgten uns. Es war eine Totenstille. Nur unsere Schritte, die in dem Flur mit den hohen Decken hallten, waren zu hören.
Nach ein paar Treppen, die unsere kleine Truppe in das Erdgeschoss gebracht hatte, waren wir im Essensraum oder Kantine wie man das auch immer hier nannte.
Nach einem Abendessen, wo alle an dem Tisch nur in ihrem Essen rumgestochert haben und keiner etwas gesagt hatte, war ich wieder in meinem Zimmer.
In der Kantine waren große Tische , die in den jeweiligen Altersklassen besetzt waren. Unseren Tisch nannte man den 'Kindertisch', weil die Altersklasse hier von 13-17 ging.
Aber momentan saßen nur von 15-17 jährige dort. Also so alt schätzte ich die Leute, die an meinem Tisch gesessen hatten. Ich hatte erfahren, dass unser Flur also der ganze Trupp in unserem Alter, erst die letzten Tage angekommen waren. Wir waren alle ungefähr gleichlang hier.
Ich wusste auch nicht warum ich soviel darüber nachdachte, was andere machten oder wie lange sie hier sein würden. Aber irgendwie fühlte ich mich von ihnen verstanden. Sie akzeptierten einfach, dass man gerade einfach nicht reden wollte und das man einen einfach lassen sollte. Wir hatten Wohl oder Übel alle eine schwere Vergangenheit hinter uns.
Ich konnte nicht schlafen. Schon seid 2 Stunden, zählte ich die Minuten auf dem Wecker. Schon 2 Uhr nachts. Ich musste doch morgen fit sein.. Aber ich wollte nicht schlafen. Das Mädchen würde etwas von meinen Alpträumen mitbekommen.
Verzweifelt seufzte ich auf. Ich schaltete mein kleines Nachttischlämpchen an und erschrak mich zutiefst. Ich wurde anscheinend die ganze Zeit von meiner Zimmergenossin beobachtet, denn sie hatte ihre Augen offen und beobachtete mich. Ich atmete schwer und sie zuckte sogar ganz leicht mit ihren Mundwinkeln. Sie hatte mich zu Tode erschreckt und lachte darüber?
Als ich mich dann endlich beruhigt hatte, setzte ich mich im Schneidersitz auf mein Bett.
„Du hast mich erschreckt.“ sagte ich nüchtern
„Tut mir leid.“ erwiderte sie
Stille.
„Kannst du auch nicht schlafen?“ fragte ich. Und gleich daraufhin hätte ich mir eine klatschen können. Klar konnte sie nicht schlafen, sie war doch noch wach.
„Nein.“ antwortete sie trotzdem „Hast du auch Albträume?“ fragte sie daraufhin.
Ich seufzte ergeben und nickte etwas.
„Ich auch. Ich habe schreckliche Angst zu schlafen.“
Wieder nickte ich.
„Wie heißt du ?“ fragte ich.
„Alisson. Du?“
„Summer.“
Sie nickte und drehte sich daraufhin um.
Ich legte mich auch wieder hin und wand mich der Wand zu. Ich wusste , dass sie noch nicht schlief und sie wusste garantiert das ich es auch nicht tat.
Trotz allem schlief ich nach einiger Zeit doch ein. Auch wenn ich von Alpträumen meiner Vergangenheit heimgesucht wurde, konnte ich trotzdem etwas ruhen.
Aufgrund meines Alptraumes, wachte ich auf. Noch etwas außer Atem von den schrecklichen Vorstellungen, drehte ich mich auf die andere Seite, um meinen Wecker zu sehen. Es war 8 Uhr. Ich wischte die Tränen weg, die mir wohl wegen der Nacht gekommen waren und stand schon auf , denn schlafen konnte ich eh nicht mehr.
Alisson schlief noch und ich entschied mich dafür , zu duschen. Die Duschen befanden sich auf dem Flur. Als ich mit noch nassen Haaren in mein Zimmer kam, saß Alisson auf ihrem Bett und streckte sich.
„Hallo.“ sagte ich und ging zu meinem Kleiderschrank um mir Klamotten für den Tag hier raus zu suchen, denn ich hatte nach dem Duschen wieder meinen Schlafanzug angezogen. Ich entschied mich für einen grauen normalen Pullover und eine schwarze Jeans.
Ich föhnte noch meine Haare und ging danach mit Alisson nach unten in die Kantine zum Frühstück. Inzwischen konnte man an unserem Tisch ein leises Gemurmel unter den Zimmergenossen wahrnehmen, dennoch wurde warscheinlich nur das nötigste geredet wie bei Alisson und mir. Aber ich mochte sie irgendwie.
„Bis dann und viel Glück.“ sagte Alisson und ging schon aus dem Raum um ihre erste Therapiesitzung zu haben. Ich musste jetzt auch los, sonst würde ich noch zu spät kommen. Ich nahm den ganzen Papierkram mit, den ich noch ausfüllen sollte und einen Zettel wo die Raumnummer meines Therapieraums war. Ich hatte ein wenig Angst, wie ich an meinem etwas zu schnellen Herzklopfen bemerkte. Wieso ich Angst hatte? Ja sie wollen mir helfen... aber was ist wenn sie mir nicht helfen können? Sie können mir meine Erinnerungen nicht nehmen. Was ist wenn ich nicht geheilt werden kann und ich so bleibe wie ich bin? Was ist , wenn ich mein Leben lang diese schrecklichen Alpträume habe, wegen denen ich kaum schlafen möchte? Was ist wenn ich mein Lebenlang an Panikatacken leide? Was ist wenn ich wegen jedem bisschen Angst und Panik bekomme?
Ich hatte einfach Angst, dass ich schon verloren war.
Mittlerweile hatte ich die Papiere abgegeben und war nun auf dem Weg ins Nebengebäude, wo sich alle Therapieräume befanden. Durch einen kurzen Tunnel aus Glas , musste ich gehen, um in das andere Gebäude zu kommen.
Ich öffnete die Tür zum Therapiehaus und kam erst einmal in eine kleine Eingangshalle.
Hier würde ich die nächsten 4 Monate fast jeden Tag den ganzen Tag verbringen. Meine Wahlkurse wurden hier alle gemacht und die Therapiesitzungen. Das alles erinnerte mich ein bisschen an Schule.
Die Therapieräume meiner Altersklasse befanden sich im zweiten Stock. Ich ging die Treppen hoch und suchte den mir angegebenen Raum. Hier war alles aus Glas und somit total hell. Auf einmal stand ich in einem Kreis, wo ringsrum Türen waren. In der Mitte des Kreises befand sich ein kleiner Springbrunnen. Hier war es schön fand ich. Und schon sah ich auch die gesuchte Raumnummer. Raum 40a. Ich hatte mich schon gefragt warum auf meinem Zettel, der mir gegeben wurde 'Im Kreisel 40a' stand. Naja egal.
Schüchtern klopfte ich nun an die Tür. Ein freundliches Herrein erklang von innen des Raumes. Ich trat ein und eine ca. 30 jährige Frau kam lächelnd auf mich zu.
„Hallo du musst Summer Jamie sein. Ich bin Viktoria Tayton.“ sagte sie und hielt mir dabei ihre Hand hin.
„Ehm bitte nur Summer.“ erwiderte ich schüchtern und ergriff die Hand leicht.
„Oh okey Summer. Ich bin deine Therapeutin. Wie wäre es wenn wir uns erst einmal
setzten?“
Ich nickte und wir setzten uns auf das Quietsch grüne Ecksofa, dass in dem Raum stand. Dieser Raum sah meiner Meinung gar nicht wie ein Therapieraum aus. Ich hatte zwar noch nie einen gesehen aber ich hatte sie mir immer grau und trostlos vorgestellt.
Hier war es sehr bunt eingerichtet. Abgesehen von dem grünen Sofa, waren an einer der weißen Wände viele bunte Punkte in mehreren Farben angemalt. Außerdem befand sich hier noch ein Schreibtisch, mit Computer und Stühlen ,die ebenfalls bunt waren.
Sogar ein Balkon war draußen und ein großes Fenster ersetzte eine ganze Wand. Es war ziemlich schön hier, wie ich fand.
Etwas unbeholfen saß ich jetzt auf einem grünen Sofa, in einem Therapieraum, mit meiner Therapeutin, in einer Psychatrie, die mir helfen sollte ein neues Leben anzufangen.
Ich konnte mir in dem Moment echt nichts besseres vorstellen. Welch Ironie.
„Summer.. deine Mutter sagte mir bereits alles was sie weiß über deine Entführung...Ich weiß, dass es nicht viel ist, weil du nicht darüber reden möchtest beziehungsweise kannst. Trotzdem möchte ich, dass du mir das erzählst, was du im Moment erzählen kannst. „
Sie sah mich ermutigend an. Ich jedoch, hatte schon vor der bloßen Vorstellung etwas davon zu erzählen, was ich Monate verdrängt hatte, Herzklopfen.
Ich atmete tief durch, jedoch brachte das nicht viel. Mein Herz schlug immer Schneller und ich atmete immer schwerer. Oh nein bitte nicht jetzt.
„Hey Summer alles ist gut. Du musst nicht, wir können auch mit etwas anderem anfangen.“
beruhigte mich Viktoria.
Ich nickte stumm. Und versuchte meine Panik zu unterdrücken. Nach ein paar mal durchatmen war alles wieder ok. Ich fühlte mich in diesem Moment einfach schlecht und deprimiert. Und ich schämte mich. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle und bekam bei blossen Gedanken Panik.
„Es ist alles gut.“ sagte Viktoria.
Ab da redeten Viktoria und ich über Gott und die Welt, verloren aber kein Wort über die Entführung. So langsam taute ich auf und lächelte sogar. Viktoria redete zwar fast die ganze Zeit aber ab und zu musste ich auch zu Wort kommen.
„Ach wie schnell die Zeit vergeht. Deine erste Sitzung ist zuende.“ lächelte sie. „Wir sehen uns am Nachmittag noch einmal zur Sitzung.“ Sie brachte mich zur Tür und schloss sie hinter mich wieder.
Nun stand ich wieder im Kreisel und der Springbrunnen plätscherte munter. Ich war zufrieden mit meiner Psychologin. Sie war total nett und man konnte wirklich gut reden. Bis jetzt waren das zwar nur belanglose Themen, aber irgendwann würde ich ihr vielleicht sogar alles erzählen können.
Als ich gerade aus dem Kreisel gehen wollte, um meine Kurse zu besuchen, ging die Tür vom Raum 40c auf, und niemand anderes als Alisson trat hinaus. Sie verabschiedete sich von einer ebenfalls jungen Frau. Sie drehte sich um und sah mich. Leicht lächelnd kam sie auf mich zu.
„Hallo.“ sagte ich.
„Ganz Ok hier oder?“ fragte sie ohne mir auf meine Begrüßung zu antworten.
„Ja.“
„Was für Wahlkurse hast du?“ fragte sie weiter.
„Eh ich habe jetzt Boxen, danach Musik und dann Selbstverteidigung.“ antwortete ich ihr.
„Ich habe auch Boxen, dann Zeichnen und dann auch Selbstverteidigung. Wir können ja nachher zusammen zum Boxen gehen.“ sagte sie lächelnd.
Und so liefen wir die Treppen nach unten ins Erdgeschoss um zu gucken wo sich der Boxraum befand, damit wir nachher wussten, wo wir hinmüssten, denn jetzt hatten wir erst eine halbe Stunde frei und dann Mittagessen.
Wirt gelangten durch den Glastunnel zurück in unser Wohnhaus und liefen die Treppen bis in den 4. Stock und dann in unser Zimmer.
Ich warf mich sofort auf mein Bett. Dabei beobachtete ich Alisson, wie sie sich ihre dicke
Jacke und ihre warmen Schuhe anzog.
„Wo willst du hin?“ fragte ich verwundert.
„Hier soll es eine kleine Parkanlage geben. Ich will mich nur etwas umschauen. Kommst du mit?“
Das hörte sich gut an fand ich. Ich zog auch schnell meine warmen Sachen an und nach kurzer Zeit befanden wir uns im Erdgeschoss.
Wir gingen durch die Hintertür raus und liefen gerade zwischen den Gebäuden der Klinik entlang. Nach ein paar Metern, standen wir vor einem großen schwarzen Metalltor.
Ich griff nach den kalten, eisernen Torknauf und öffnete das Tor. Es quietschte laut beim öffnen und beim schließen. Heute war strahlend blauer Himmel und die Sonne schien, dennoch war der Wind eisig kalt. Alisson und ich liefen nun den Kiesweg entlang, der schlängelnd zwischen den Bäumen entlanglief. Nur vereinzelnd standen hier Bäume, die im Sommer Schatten spenden konnten. Der Rest hier war Wiese. Es war so schön ruhig hier. Nur das Knierschen der Kieselsteine unter unseren Schuhen, konnte man hören.
Zwischendurch standen am Rand Holzbänke, die aber schon ziemlich moderig aussahen.
Plötzlich hörte der Kiesweg auf und eine Wiese, mit nur einem einzigen ziemlich großen , alten Baum und einem kleinen Teich befand sich dort drauf. Ein kleines Paradies, dachte ich mir.
Die Wiese, war mit einem Wald umgeben, sodass keiner einen sehen konnte.
Alisson und ich sagten die ganze Zeit nichts, sondern bestaunten dieses wunderschöne kleine Fleckchen Paradies.
Unter dem Baum befanden sich ein großer Holztisch und viele kleine Baumstumpfe , die wohl die Stühle waren und sich um den Tisch reihten.
Wir sahen uns an und lächelten etwas. Ich fragte mich warum hier keiner war. Hier war es so wunderschön und es war alles so groß und einfach traumhaft.
„Lass uns wieder zurückgehen.“ sagte Alisson
Und wie liefen wieder zurück.
Nun stand ich wieder vor'm Raum 40a im Kreisel. Ich war noch etwas zu früh, also setzte ich mich auf einen Stuhl, der neben dem Raum stand.
Nachdem wir beim Mittagessen waren, sind Alisson und ich zum Boxen gegangen.
Wir waren zu dritt. Alisson, ein Junge namen Matt und ich. Bis jetzt war es noch ziemlich langweilig, da wir nur das Ausweichen lernten. Unser Lehrer war ca. 35 Jahre alt und auch nett. Er hieß Marc. Dann hatte ich Musik, wo ich ganz alleine mit meiner verrückten Lehrerin Anni Clark war. Sie meinte ich müsste aus mir rausgehen und mein Leid aus meinen Körper singen. Ich habe mich geweigert, ich schämte mich viel zu sehr. Dann hörte ich ihr viel lieber beim Klavier spielen zu. Sie meinte das käme noch. Ich meine das nicht.
Dann hatten Alisson und ich wieder einen Kurs zusammen. Selbstverteidigug. Außer mir und Alisson, war noch ein anderes Mädchen dabei, sie hieß Melody. Melody war sehr nett und verbrachte die Pause mit Alisson und mir in dem Aufenthaltsraum unseres Flurs, in dem wir auch Matt , dem vom Boxen und ein paar andere trafen. Mittlerweile kannte man sich vom sehen. Alle waren hier so unterschiedlich. Einige waren still und leise und einige waren laut und fröhlich. Die einen waren ganz in schwarz an gezogen und die anderen normal. Manchmal konnte man auch Narben an Armen von einigen sehen. Ich hatte mich noch nie geritzt, auch wenn ich manchmal dran gedacht hatte.
Alisson hatte auch solche Narben auf ihren Armen. Ich hatte es heute morgen gesehen als sie noch nicht ihre vielen, bunten Armbänder darüber gelegt hatte.
Ich war froh schon ein paar Bekanntschaften geschlossen zu haben.
Ich war jetzt sogar froh, dass Tobi und Mum mich hierhin geschickt hatten, denn wenn ich jetzt noch zuhause wäre, hätte ich immer noch nicht viel gesagt und läge wieder in meinem Bett. Hier war ich gezwungen zu reden und hatte gar keine Zeit über irgendetwas, was die Entführung betrifft, nachzudenken. Ja das hier alles tat mir gut, jetzt musste ich nur noch meine Vergangenheit bezwingen, dann wäre alles wie vorher. Hoffentlich..
So langsam wurde der Holzstuhl, auf dem ich saß unbequem und ich fragte mich wo Viktoria blieb. Plötzlich ertönte das Klackern von Schuhen auf dem Boden und die aufgeregte Stimme von Viktoria war zu hören. Sie trat in den Kreisel, sah mich und lächelte mich an. Sie nahm ihr Handy vom Ohr ,mit dem sie gerade mit jemanden telefoniert hatte und sagte Hallo. Sie entschuldigte sich für die kleine Verspätung und bat mich rein. Wir setzten uns wieder auf das grüne Sofa und schon fing sie an.
„So Summer. Jetzt reden wir mal über etwas anderes. Allein über dich.“
Ich nickte unsicher.
„Ich will sehen, wie du vor der Entführung warst und wie du jetzt bist , sozusagen ein Vergleich.“
Ich nickte wieder und dachte gar nicht darüber nach, was das für einen Sinn machte.
Sie strich ihre langen, braunen, leicht gelockten Haare hinter die Ohren und sah mich gebannt an. Sie war hübsch, dachte ich.
„Nun ja.. also...“ stammelte ich
„Okey machen wir es anders. Nenne mir drei Eigenschaften, die du hattest vor deiner Entführung, denn ich nehme an, dass dieses Ereignis dich vollkommen verändert hat.. und wir wollen versuchen, dein altes ich wieder aus dir heraus zu kitzeln.“
„Naja ich war halt anders als jetzt...“ Ich dachte nach. Wie war ich denn? Ich war das komlette Gegenteil von meinem jetzigen ich. „Ich war glücklich...“ fing ich an „.. und nunja wie soll ich sagen.. ich hatte eine große Klappe..“ dabei musste ich etwas lächeln. „ Ich war zufrieden mit mir und meinem Leben.“ endete ich.
Viktoria schrieb sich etwas auf ihren Block und fragte: „ Nenne mir drei Eigenschaften von dir, nach der Entführung...“
„Unglücklich, hässlich und zerbrochen.“ sagte ich emotionslos.
Wieder schrieb Viktoria mit.
„Hat sich denn dein Aussehen, verändert?“ fragte sie nach.
Ich nickte „Ja..“
„Wie? Beschreibe dein Aussehen, vor ca. 3 Jahren.“
„ Kinnlange, mittelblonde Haare, normale Figur, stolze Haltung, hübsches Gesicht , leicht gebräunte Haut naja und man sagte ich hätte immer ein Lächeln im Gesicht gehabt.“
„Wieso siehst du jetzt so aus?“
„Er wollte es so.“ war meine knappe Antwort.
Wieder schrieb sie.
„Beschreibe, was du fühlst oder siehst, wenn du in den Spiegel siehst.“
„Ich sehe eine fremde Person. Ich sehe eine hässliche, fremde Person in meinem Spiegelbild.“ antwortete ich mit dünner Stimme.
„Wieso hässlich?“
Konnte sie nicht aufhören zu fragen? Ich konnte nicht mehr. Ich antwortete kurz daraufhinn, denn ich behielt immer im Kopf das das alles für mich wäre und ich mich jetzt endlich mal meiner Vergangenheit stellen musste.
„Ich habe keine Austrahlung, alleine das ist hässlich. Der Glanz ist aus meinen Augen und ich sehe immer in lustlose, traurige Augen wenn ich mich im Spiegel betrachte. Mein ganzes Gesicht sieht zusammen gefallen aus. Mein Körper ist so abgemagert und voller Verletzungen und Narben und meine Haare erst..Da muss ich sowieso noch etwas dran machen...“ Den letzten Satz sagte ich eher zu mir als zu ihr.
Plötzlich legte Viktoria ihre übereinander geschlagenen wieder auseinander und trat mit ihrem einen Schuh, laut auf den Boden. Ich zuckte unmerklich zusammen und sah in Viktorias grinsendes Gesicht. Verwirrt sah ich sie an, denn ihre hochgezogenen Mundwinkel passten gerade gar nicht zu der Situation
„Wir machen morgen keine Sitzung, wir gehen morgen in die Stadt.“ sagte sie entschlossen.
Verwirrt hob ich eine meiner Augenbrauen.
„Zumindest dein altes Aussehen, möchte ich wieder zum Vorschein bringen. Ich bin mir sicher, das das viel ausmachen wird und dir sehr viel helfen wird.“
Ich nickte leicht lächelnd, denn Viktoria schien sich schon total zu freuen und ihr Lächeln war echt ansteckend.
„Ein Umstyling sozusagen..?!“
„Genau das.“ beantwortete sie. „Ich werde das für Morgen alles klären. Wir werden wohl, so schätze ich, deine beiden Sitzungen hintereinander hängen, somit haben wir dann mit deiner halben Stunde Pause und der halben Stunde Mittagspause 4 Stunden Zeit. Deine Wahlkurse werden dann danach Stattfinden. Ist das ok?“
„Ehm ..ja?“
„Super. Ich hoffe wirklich, dass wir damit schon einmal ein Stückchen weiter kommen. Ich bin mir sogar sicher.“ sie lächelte zuversichtlich. „Dann sehen wir uns morgen um 10. Wir treffen uns im Kreisel.“
„O-ok.“
Und schon stand ich vor der Tür, im Kreisel. Was war das denn jetzt? Ein Umstyling?! Was sollte das den bringen? Naja mal schauen was das so bringen würde.
Ich lachte leise auf. Mit meiner Therapeutin in die Stadt gehen.. was eine Therapie.
Gegenüber ging die Tür auf und Alisson trat aus ihrem Therapieraum.
„Hi.“ sagte ich.
Wir redeten nie viel. Die meiste Zeit schwiegen wir, es war aber keines Falls ein peinliches Schweigen. Es war einfach angenehm , jemanden bei sich zu haben und trotzdem einfach in Ruhe gelassen zu werden. Melody, das Mädchen aus dem Selbstverteidigungskurs, war auch so still. Vielleicht sogar stiller als Alisson und ich. Aber ich mochte sie. Und wie auf Kommando ging die dritte Tür im Kreisel auf und Melody trat aus dem Raum.
Wir drei lachten leise über diesen Zufall, dass wir drei , die Therapieräume im Kreisel besuchten.
Mehr sagten wir dann auch nicht mehr. Wir liefen zurück ins Wohngebäude. Wir hatten jetzt erst einmal eine Stunde Zeit, bevor wir zum Abendessen mussten. Ich wollte noch ein bisschen Zeit alleine verbringen. Das sagte ich den Mädchen auch und ging. Melody ging noch mit Alisson in unser Zimmer und ich lief nach draußen in den Park.
Schon stand ich auf der großen Wiese, mit dem großen alten Baum und dem Teich. Ich lief auf den Baum zu und wollte mich auf die Baumstumpf-Stühle setzten, als ich sah, dass man ganz einfach auf den Baum klettern konnte. Also kletterte ich hoch und suchte einen Platz, wo ich mich hinsetzen konnte.
Es war anstrengender als gedacht, den Baum hochzuklettern, dennoch fand ich ein perfektes Plätzchen. Anscheinend wurde der Baum mal radikal gekürtzt und der Baumstamm ist dann an den Seiten, mit neuen Ästen weitergewachsen, und nicht nach oben. So hatte ich hier oben eine kleine Sitzfläche und ich war mir sicher, dass man mich nicht sehen konnte.
Irgendwie freute ich mich auf morgen. Vielleicht, würde es ja wirklich etwas bringen, mein Aussehen zu verändern.
Was wohl Jason, Carry znd Chrissi machten...? oder Mum und Tobi... Ich vermisste sie jetzt schon, obwohl ich erst einen Tag hier war. Ganze 4 Monate musste ich ohne sie auskommen..ohne Kontakt zu ihnen. Das würde sehr schwer werden.
Angst, dass mir hier etwas passieren konnte, hatte ich komischerweise nicht. Ich war hier sicher. Auch wenn ich wusste, dass ER noch frei rumlief , (Bei diesem Gedanken zitterte ich ein wenig und atmete schwerer) wusste ich, dass er mir hier nichts antun könnte. Ich war nicht allein.
Der Wecker klingelte , es war halb 9.
Ich ging mal wieder duschen und ging zurück ins Zimmer, wo Alisson sich ihre schwarzen Haare kämmte. Zu ihr passte diese Haarfabe, zu mir allerdings nicht.
Ich zog mich unspektakulär an und föhnte mir die Haare. Als ich den Föhn ausmachte, drehte ich mich zu Alisson um.
„Ich werde heute keine Sitzungen haben. Viktoria möchte mit mir in die Stadt gehen, um mein altes Aussehen aus mir zu kitzeln.“ Bei dem letzten Satz, hob ich meine Finger um imaginäre Gänsefüßchen zu symbolisieren.
„Wieso altes Aussehen?“ fragte sie.
„Vor der En- … Ich sah mal anders aus, aber dann ist etwas passiert, weswegen ich hier bin und weswegen ich verändert wurde.“ sagte ich stumm.
Sie nickte verständnisvoll und ging daraufhin aus der Tür um zum Frühstück zu gehen. Ich lief ihr hinterher und fand sie im Flur an der Wand lehnend vor. Bevor ich fragen konnte, sagte sie schon etwas.
„Ich hab mit Melody verabredet, dass wir uns hier morgens Treffen, um zusammen zum Frühstück zu gehen.“
Ich nickte und lehnte mich neben sie.
Dann ging die Tür neben unserer auf und Melody kam heraus.
Dann liefen wir zu dritt zum Frühstück. Melody erzählte ich auch von den Vorhaben meiner Therapeutin. Sie wünschte mir viel Erfolg, fragte zu meinem Glück auch nicht weiter nach, was mein Aussehen, oder besser gesagt, wer mein Aussehen so wollte.
Wie verabredet , stand ich im Kreisel und wartete auf Viktoria. Ein paar Sekunden später, ging die Tür 40a auf , und Viktoria kam aus der Tür.
„Hallo Summer.“ sagte sie lächelnd „ komm mit.“
Ich lief ihr hinterher und bewunderte sie, dafür, dass sie auf diesen hohen Schuhen laufen konnte, sodass es nicht wie ein Selbstmordversuch aussah.
In ihrer einen Hand hielt sie eine Nietentasche und in der anderen Autoschlüssel.
Wir liefen aus dem Gebäude und standen auf dem Angestellten Parkplatz und steuerten auf einen weißen Audi zu, auf dem auf der einen Seite groß 'Klinik Butterfly' stand, mit einem süßen Schmetterling hinter. Nachdem Viktoria aufgeschlossen hatte, setzten wir uns rein. Und schon fuhr sie mit Quietschenden Reifen vom Parkplatz. Ich erschrak etwas, wegen der hohen Geschwindigkeit und dem Quietschen der Reifen, lächelte daraufhin Viktoria gespielt anklagend an, sie zuckte daraufhin nur mit den Schultern und drehte das Radio auf.
Nach ca. einer halben Stunde, befanden wir uns in einer größeren Stadt und parkten gerade in einem Parkhaus. Nach dem wir ausgestiegen waren, liefen wir die Treppen zurück nach unten.
„Wir gehen in ein ein Einkaufszentrum, damit wir nicht hin und her laufen müssen.“ sagte sie. „Ich habe gestern mit deiner Mutter telefoniert, mit dem Geld was sie mir überwiesen hat, bezahlen wir das hier. Ich soll dich von ihr grüßen.“
Ich nickte stumm. Ich hatte mich auch schon gefragt von was für einem Geld wir das bezahlen wollten .. naja hatte sich ja jetzt auch geklärt.
„Es ist schon öfters vorgekommen, dass wir mit den Bewohnern der Klinik, ein kleines Umstyling gemacht haben, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Bei dir ist es eher dein altes ich das wir wieder wollen.“ erklärte sie mir. Ich tat das ebenfalls mit einem Nicken ab. Wie gesagt ich redete nicht viel.
Mittlerweile standen wir vor dem Einkaufzentrum. Wir gingen rein und warme, angenehme Heizungsluft und viel Gerede empfing uns.
Viktoria stöckelte vor mir her und ich lief einfach hinter ihr her, wobei ich mir etwas doof vorkam, deswegen lief ich jetzt neben ihr. Wir fuhren eine Rolltreppe hoch und nun steuerte Viktoria schnurstracks auf einen Laden zu , der 'Own Style' hieß. Als wir den Laden betraten, kam eine kleine ca. 40 jährige Frau auf uns zu.
„Haallo Viktoria, schön dich zu sehen.“ rief sie glücklich und umarmte Viktoria.
Dann wandte sie sich zu mir und hielt mir ihre Hand hin.
„Ich bin Andrea und du bist?“
„Summer.“
„Schön dich kennen zu lernen. Was führt euch zu uns?“
„Summer wohnt seid gestern in unserer Klinik..“
Andrea nickte und schaute dabei etwas mitleidig zu mir hoch.
„Ja ich.. Ich möchte wenigstens vom Aussehen mein altes ich wieder bekommen oder wenigstens zufrieden mit mir sein.“
Kurz war ihr Blick fragend, dann verstand sie wohl, dass ich nichts weiter sagen würde.
Sie brachte mich zu einem Stuhl, und verhing den Spiegel mit einem schwarzen Tuch.
Ernsthaft?
Dann wand sie sich zu mir.
„Hast du irgendwelche Wünsche oder willst du dich überraschen lassen?“
„Ehm Überraschen?“
„Ich hatte gehofft , dass du das sagst.“ lachte sie.
Und schon ging es los. Meine Haare wurden gewaschen und durgekämmt.
„Ein bisschen Farbe muss sein...dann kommt das Glück von ganz allein..“ trällerte Andrea während sie wohl die besagte Farbe mischte. Dann strich sie die Pampe in mein Haar und legte mir ein Handtusch über die Schultern, damit keine Farbe auf meine Klamotten tropfte. Die Farbe musste jetzt erst einmal einwirken. Viktoria saß dabei auf dem Stuhl neben mir und las eine Modezeitschrift.
Jetzt war mein Gesicht dran. Ich war es überhaupt nicht gewohnt, mich zu schminken oder geschminkt zu werden. Mit 13 wollte ich das noch nicht. Und die darauffolgenen 3 Jahre hatte ich keine Chance Dazu.
Mit einem weichen Schwamm verteilte sie irgendwas auf mein Gesicht. Danach kam sie mit einer Pinzette und zupfte mir die Augenbrauen, was mir etwas weh tat, denn ich hatte so etwas noch nie gemacht. Daraufhin malte sie mit einem Stift meine Augenbrauen nach.
Dann waren meine Augen dran. Mit schnellen Bewegungen verteilte sie die Farbe auf meinem Lid. Dann spürte ich einen feuchten Pinsel auf meinem Lid. Andrea zog ihn vom Anfang bis zum Ende meines Auges. Unter meinen Augen dasselbe. Nun kam eine Wimpernzange und daraufhin die Wimperntusche, die sich etwas ungewohnt anfühlte.
Dann spürte ich einen Lippenstift auf meinen Lippen und daraufhin einen fetten Puderpinsel, der über mein Gesicht gefegt wurde.
„Dein Gesicht ist schon einmal fertig. Hach sieht das hübsch aus.“ schwärmte Andrea.
Viktoria hob ihren Kopf und begutachtete mein Gesicht und nickte anerkennend.
Dann ging es weiter. Andrea machte nun meine Fingernägel. Sie feilte sie und lackierte sie daraufhin rot. Nachdem sie fertig war, wusch sie mir wieder die Haare um die überschüssige Farbe auszuwaschen und föhnte sie dann.
Jetzt kam die Schere zum Einsatz. Ca. 20 min hörte ich das klappern der Schere, bis Andrea endlich fertig war.
„Fertig.“ rief sie fröhlich.
Viktorias Augen weiteten sich ein bisschen, als sie mich sah. Beschämt schaute ich weg.
„Na dann werden wir mal das Tuch da wegmachen“ sagte Viktoria, woraufhin Andrea das Tuch vom Spiegel entfernte.
Mir stockte der Atem. Ich fuhr die Konturen meines Gesichts nach und lächelte. Das ehrliche Lächeln von früher, war mit einem Schlag wieder da. Zumindest für diesen Moment.
Andrea hatte ganze Arbeit geleistet.
Meine Haare waren wie früher Mittelblond uns fielen in leichten Wellen bis zu meiner Brust. Mein Gesicht, hatte durch das Make up wieder etwas mehr Farbe bekommen und durch das Rush sah ich etwas lebendiger aus. Meine Augen waren von schwarzen getuschten Wimpern umrandet und und von einem Lidstrich unterstützt. Meine Lider waren leicht mit brauntönen geschminkt und meine Augenbrauen sahen auch toll aus. Was allein das schon ausmachte.
Und zum Schluss zierte ein leicht roter Lippenstift meine Lippen.
Ich schüttelte ungläubig , lächelnd den Kopf. Dann sprang ich spontan auf und umarmte Andrea. Danach lief ich zu Viktoria und flüsterte ihr 'Danke' ins Ohr.
Ich sah so aus wie damals. Als wäre in den 3 Jahren nichts passiert. Ich sah aus , als hätte ich in den 3 Jahren nur längere Haare bekommen und mich geschminkt. Ich fand mich hübsch, ohne eingebildet klingen zu wollen.
Endlich erkannte ich mich wieder.
Ich bedankte mich noch mehrmals bei Andrea und lief dann mit einem breiten Grinsen aus dem Laden.
„Wie ich sehe , hat das Umstyling ja wirklich was gebracht!“ lachte Viktoria.
Ich grinste und drehte mich einmal im Kreis. „Danke“ sagte ich nochmal.
„Und jetzt noch ein Outfit und dann bist du fertig.“
Etwas verwundert hob ich meine Augenbraue.
„Wir haben noch Geld über.“ sagte sie, und wackelte dabei mit den Augenbrauen.
Und schon schleppte sie mich in verschiedene Geschäfte. Am Ende hatte ich ein komplett neues Outfit. Eine Kaki farbene Skinny jeans, ein schwarz-grau milierter lockerer Pulli, mit Reißverschluss auf dem Rücken und ein passendes Tuch dazu. Dann noch ein paar Accsesoires und ein paar schicke Schuhe, im Wanderstiefelstyle, sie sahen aber nicht zu klobig aus.
Und Viktoria bestand darauf, dass ich die Sachen schon anziehen sollte. Also befand ich mich gerade auf dem Klo und zog mich um.
Als ich aus der Toilettenkabine kam, betrachtete ich mich in dem Spiegel, der über den Waschbecken hing.
Ich konnte nicht anders als zu Lächeln. Ich war wieder ich. Ich fühlte mich so wohl, mit meinem neuen/alten Aussehen und die Klamotten passten auch perfekt zu mir.
Ein einziger Besuch bei Andrea hat mich zum positiven verändert, vom Aussehen her.
Um den Rest würde sich Viktoria kümmern. Ich hatte wieder Zuversicht und war wenigstens ein bisschen glücklicher als vorher.
Ich ging hinaus zu Viktoria, die auf mich wartete.
„Du siehst toll aus Summer. Du bist wirklich hübsch.“ sagte sie mir ehrlich.
„Ach Kind, jetzt steh zu dir und geh aufrecht und nicht wie so eine verkrüppelte Omi.“
Verwirrt, wegen diesem Vergleich, hob ich meine Schultern, die unbemerkt wirklich ziemlich weit runtergehangen hatten.
Ich streckte meinen Rücken durch und war nun so groß wie Viktoria.
„So ist super. Sei stolz , sodass auch keiner ahnt, was du schon alles durchgemacht hast. Du brauchst kein Mitleid, du brauchst Achtung und die bekommst du nur, wenn du dich dementsprechend verhältst. Du brauchst dich nicht verstecken Summer. „
Ich nickte leicht verunsichert.
„Komm.“ sie machte eine Bewegung mit ihrem Kopf, die Richtung Ausgang ging. Und so war mein Umstyling abgeschlossen und es hat wirklich mehr gebracht, als ich gedacht hatte.
***
Ich hatte heute alleine mit Marc, meinem Box-Lehrer Unterricht, da ich wegen dem Umstyling völlig aus meinem Stundenplan war. Also war ich heute in allein Kursen alleine.
Als ich in den Trainingsraum gekommen bin, musste Marc erst einmal nachfragen ob ich wirklich Summer Livsey seie. Was die Haarfarbe, Haarschnitt und Schminke so ausmachte. Er sagte dann noch, dass sich der Ausflug mit Viktoria gelohnt hatte.
Ich lächelte beschämt, dann fingen wir aber schon mit dem Training an.
Der Boxsack war mein Gegner und ich schlug mit meinen fetten Boxhandschuhen etwas unbeholfen gegen den harten Boxsack.
„Summer. Du kannst ihm nicht wehtun. Jetzt schlag schon zu!“ erklärte Marc.
Ich tat wie mir gesagt und schlug zu, was mir ein Lob von Marc einbrachte. Ich schlug noch einmal, fester zu und noch einmal und noch einmal. Mit der Zeit machte es richtig Spaß einfach meinen ganzen Frust in die Fresse zu schlagen. Naja ich schlug zwar auf den Boxsack ein, aber trotzdem tat es gut.
„So! Das wars für heute. Gute Arbeit Summer. Wir sehen uns morgen, dann sind die anderen beiden wieder dabei.“
Ich war so vertieft in meinem Zuschlagen , dass ich gar nicht bemerkte, wie die Zeit verging . Und auch erst jetzt bemerkte ich erst wie sehr ich aus der Puste war. Ich war ja zu einer regelrechten Kampfmaschine geworden. Peinlich berührt, lief ich in die Umkleide und zog meine neuen Sachen an und schminkte mich etwas nach.
Wie ungewohnt das für mich war. Andrea hatte mir die Schminke, die sie bei mir benutzt hatte, mitgegeben und so konnte ich gerade den etwas verschmierten Eyeliner nachziehen.
Ich kam mir etwas komisch vor, mit der Schminke im Gesicht. Aber es sah wirklich schön aus. Ich glaube ich würde mich jetzt jeden Tag schminken. Aber nicht viel. Warscheinlich nur etwas Wimperntusche und Eyeliner.
Ich wusste nicht, ob ich das tat um einfach hübscher auszusehen, oder die Summer, der das alles passiert war, zu vergessen , denn mit ein bisschen Farbe um den Augen und im Gesicht, sah ich komplett anders aus und erwachsener sah ich auch aus.
Ich lächelte mein Spiegelbild an und fuhr mir durch die Haare. Sie waren wieder blond. Haargenau der gleiche, natürliche Haarton wie vor 3 Jahren. Die Länge fand ich auch einfach perfekt. Damals, als ich noch Kinnlange Haare hatte, wollte ich sie mir eh wieder wachsen lassen. Ich fragte mich, was Jason, Carry,Chrissi, Tobi oder Mum sagen würden, wenn sie mich jetzt, so sehen könnten. Aber ich würde sie erst in knapp 4 Monaten wiedersehen. Ein Stich in meinem Herzen , so fühlte sich der Gedanke an.
Aber ich machte meiner Meinung nach schon Fortschritte. Ich meine ich sehe wieder aus wie früher , rede viel mehr, lache sogar und denke nicht mehr so oft an die Entführung. Nur Nachts, wenn ich an nichts denken muss, schleichen sich die Albträume in meinen Kopf.
Ich habe zwar bis jetzt nur eine Nacht hier verbracht, ich wusste aber das die nächsten Nächte nicht anders seien würden.
Ich wusste zwar nicht wie lange ich schon Gedankenverloren vor dem Spiegel stand, aber ich wusste, dass ich viel zu spät dran war. Ich hatte doch jetzt Musik!
Hektisch packte ich meine Sachen in die Tasche und lief zum Musikraum. Ich hörte von draußen schon die Klänge eines Klaviers und Gesang dazu. Als ich in den Raum trat, fand ich meine Musiklehrerin am Flügel sitzend , singend und mit geschlossenen Augen vor.
Ich musste leicht schmunzeln , denn sie war so vertieft in der Musik , sodass sie nicht einmal merkte, wie ich mich hinter sie stellte, um zu sehen, was sie da sang.
Ich kannte das Stück nicht aber sie konnte traumhaft schön singen. Das hätte ich von der durchgeknallten Anni nicht gedacht. Ich verstand die Sprache , auf der sie sang auch nicht aber trotzdem war ich verzaubert davon. Es ging mir wortwörtlich unter die Haut, ich hatte Gänsehaut.
„Ich weiß, dass du hinter mir stehst.“ kam es von der immer noch spielenden Anni.
Erschrocken sog ich Luft ein und trat ein paar, kleine Schritte von ihr weg.
„'Tschuldigung.“ brachte ich leise heraus.
Anni hörte auf zu spielen und drehte sich zu mir. „Wie fandest du es?“ fragte Anni, nachdem sie mich kurz gemustert hatte. „Ehm.. schön.. sehr schön.“
Sie lächelte mich glücklich an. „Was genau?“ fragte sie.
Ich wusste nicht worauf sie hinaus wollte, antwortete aber. „...Die Melodie?“ Es war mehr eine Frage als eine Antwort aber Anni lies sich daran nicht stören.
„Nein mein Kind..“ begann sie kopfschüttelnd. „Die Melodie ist Nebensache. Es sind die Gefühle, die Musik ausmacht. Ohne Gefühle, kannst du keine Musik machen.“
„O-ok.“ flüsterte ich beihnahe.
„Meine Gefühle, kommen tief aus meinem Herzen. Ich lasse alle glücklichen Momente, die ich erlebt habe, in die Musik fließen.“
Ich nickte unsicher. Worauf wollte sie hinaus?
„Du dagegen, schließt deine schlechten Gefühle und Erinnerungen in dein Herz ein. Sie machen dein Herz doch ganz krank!“ Sie schien auf eine Reaktion zu warten Ich jedoch fand in diesem Moment meine Schuhe viel interessanter. „Musik tut nicht weh. Sie hilft dir mehr als du denkst. Lass deine schlechten Gefühle raus. Was meinst du woher diese Liebeskummer Lieder herkommen? Die Leute denken sich den Schmerz nicht aus, sie verarbeiten ihn in der Musik!“
„Wenn es nur Liebeskummer wäre...“ nuschelte ich leise und wusste nicht, ob sie es überhaupt gehört hatte.
„Es kommt nicht auf die Art von Schmerz an Liebes...“ Oh sie hatte es doch gehört.
„Egal ,was dir auf dem Herzen liegt, lass es raus! Ehm..kannst du ein Instrument spielen?“
„Ich habe 3 Jahre Klavier gespielt...“ Bis ich 13 war um genau zu sein. Tja und dann wurde ich gezwungen es aufzugeben. Ich hätte gerne weiter Klavier gespielt.
„Ich bin mir aber nicht sicher ob ich das noch kann...“
„Ach papperlapap! Das verlernt man nicht. Das ist wie Fahrrad fahren!“ Sie stand auf, und führte mich an den Schultern bis zum Flügel, wo sie mich dann auf den Stuhl runterdrückte.
„Spiel!“ forderte sie mich auf.
Ich musste erst noch einmal meinen Blick über die Tasten schweifen lassen, bevor ich anfing, die 'zauberhafte Welt der Amelie' zu spielen. Das war das einzigste Stück, das ich damals gut konnte.
„Nein, nein, nein.“ meckerte Anni, woraufhin ich erschrocken aufhörte zu spielen.
„Du weißt, dass du in dieses Lied keine echten Gefühle stecken kannst. Und wieso spielst du nicht etwas modernes, worauf du singen könntest? „
„I-ich kann nicht singen.“ antwortete ich schnell.
„Jeder kann singen.“ war ihre knappes Kontra. Und dann hatte ich nichts mehr zu sagen.
Die Stunde war zu ende und Anni entlies mich. Die Stunde heute hatte sich meiner Meinung nach sehr lang gezogen. Jetzt hatte ich noch Selbstverteidigung. Ich stöhnte genervt auf und bewegte mich in Richtung Turnhalle.
In diesem Kurs unterrichtete mich Marc ebenfalls und ich war echt froh, dass er es tat,
denn ich mochte ihn und er war ein guter Trainer.
Nach vielen neuen Ausweich und Grifftechniken, zog ich mich wieder um. Die Kurse heute, haben sich alle unendlich lang gezogen, da ich alleine war. Zum Glück war ich morgen wieder mit den anderen zusammen. Zumindest beim Boxen mit Ryan und Alisson und bei der Selbstverteidigung mit Melody und Alisson. Musik musste ich Wohl oder Übel alleine durchstehen.
Ich wusste nicht, wie oft ich heute schon vor dem Spiegel stand. Aber ich tat es in der Umkleide wieder. Wieso konnten Chrissi, Jason, Carry, Mum und Tobi mich jetzt nicht so sehen? Wieso durfte ich ihnen nicht zeigen, dass ich wieder vom Aussehen die Alte war.
Ob sie mich hübsch finden würden?
Jetzt würde ich erstmal Alisson gegenübertreten müssen . Was sie wohl sagen würde? Sie kannte mein altes ich ja nicht, sie kannte nur die Summer, die ER aus mir gemacht hatte. Wer weiß, vielleicht mochte sie mein altes/neues Ich ja gar nicht..
Ich schüttelte etwas verärgert über mich selber den Kopf. Ich machte mir wieder zu viele Gedanken!
Ich nahm meine Tasche und ging ins Wohngebäude. Ich lief die Treppen hoch, denn Aufzüge machten mir Angst. Als ich oben angekommen war, war ich ziemlich aus der Puste, da ich bis in den 4. Stock musste und meine Tasche erleichterte diesen Aufstieg nicht. Ich ging den Flur entlang und drückte die Türklinke runter, als ich an meinem Zimmer angekommen war. Kurz atmete ich durch und spielte im Kopf alle Reaktionen ab, die ich mir bei meinem neuen Aussehen von Alisson vorstellen könnte. Dann stieß ich die Tür auf und fand eine lesende Alisson und eine aus dem Fenster starrende Melody vor.
Keine von den beiden bemerkte oder beachtete mich. Ich stellte meine Sporttasche ab und zog die Aufmerksamkeit der beiden Anwesenden mit einem schüchternen Räuspern auf mich.
Melody, die ihre Augen weitete, wanderte mit ihrem Blick meinen ganzen Körper entlang. Alisson lächelte leicht und nickte mir zu, lenkte dann ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Buch. Melody dagegen starrte mich immer noch an, woraufhin, ich heiße Wangen bekam und beschämt den Boden betrachtete. „Summer....du siehst..du siehst toll aus.“ brachte sie stotternd hervor. Die Lesende nickte, zwar in Richtung ihres Buches, aber es sollte wohl eine Zustimmung zu Melody's Aussage sein. Ich zuckte mit den Schultern und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Ich merkte, wie meine Wangen noch heißer wurden und ich schätzte, sie würden jetzt hässlich, rot werden. „Und wieso naja wieso siehst du jetzt so aus?“ fragte Melody. Ich wunderte mich darüber, dass sie fragte und neugierig war, denn sie war sonst immer so still.
„Ich sehe wieder aus wie früher.“
Sie war verwirrt und ich sah ihr an, dass sie am liebsten alles wissen wollte.
Anstatt ihr irgendetwas zu erzählen, holte ich ein Bild aus meiner Schreibtischschublade hervor und gab es ihr in die Hand. Dort waren meine leider schon verstorbene Oma, mein Bruder, Chrissi, Carry, Jason, Mum und mein Patenonkel Dave, der an diesem Tag extra zu mir gekommen war, denn er wohnte ca. 8 Autostunden von uns entfernt und ich zu sehen.
Dieses Foto wurde an meinem 13. Geburtstag aufgenommen und ich hatte es kürzlich bei uns im Haus gefunden und eingesteckt.
Zu dieser Zeit war noch alles perfekt.
„Bist du die...?“ fragte Melody und zeigte auf mich.
Ich nickte.
„Du siehst da so aus wie jetzt.. nur jünger.“ murmelte sie.
Ich nickte wieder.
Ich nahm Geraschel von der anderen Seite des Zimmers war. Alisson stand auf und stellte sich neben Melody um sich das Bild anzugucken.
„Wie lange ist das her?“ fragte sie.
„Mehr als 3 Jahre.“ antwortete ich und legte das Bild zurück in meine Schublade.
„Ich nehme an in diesen drei Jahren ist etwas passiert..?“ fragte Alisson weiter.
„So sieht's aus.“
Danach gingen wir zum Abendessen und unterhielten uns ein wenig.
Es war verrückt. Jeder hier in diesem Raum hatte seine eigene Geschichte, seinen eigenen Grund warum er hier war und niemand wusste etwas über den anderen. Oberflächliche Dinge ja, doch die Erlebnisse des anderen, wusste man nur selber.
Hier in der Klinik, war man nicht allein. Man war nicht der einzige, der eine schwere Vergangenheit hatte, hier hatten alle eine, dennoch waren die schweren Vergangenheiten hier von keinem das Gesprächsthema, dennoch wusste jeder hier, dass man nicht alleine war, man hatte immer im Hinterkopf, die hatten es genauso schwer wie ich.
Hier fühlte ich mich nicht wie ein Zootier, dass von allen angeguckt und bemitleidet wurde.
Ich ließ den Blick an jedem, der hier am Tisch saß hergleiten. Ein paar kannte ich von ihnen. Okey nein, ich kannte gerade mal 3 von geschätzten 45, Matt Melody und Alisson. Matt kannte ich ja vom Boxen aber viel geredet hatten wir bisher auch nicht, war auch nicht nötig. Hier redete eh niemand viel.
Mit den anderen hatte ich nichts zu tun.
„Kommst du Summer..?“ meine Gedankengänge wurden von Melody's schüchterner Stimme unterbrochen. Ich nahm mein Tablett und stellte es in den Tablettwagen und lief den beiden Mädchen hinterher.
Ich öffnete meine schweren Augenlider. Ich erkannte kaum etwas, aber ich sah schwaches Licht. Vor meinem Augen tanzten viele bunte Farben hin und her. Ich spürte noch nicht viel und mein Verstand war auch noch nicht vollständig zurück.
Nach ein paar Minuten ließ die Wirkung nach und ich wünschte mir ich würde meinen Körper nicht mehr spüren, denn unglaubliche Schmerzen durchfuhren mal wieder meinen Körper woraufhin ich schmerzerfüllt aufstöhnte.Ich wollte mich aufsetzten , wurde aber durch Fesseln, an Armen und Beinen daran gehindert. Plötzlich öffnete sich die schwere Tür und grelles Licht strömte für einen kurzen Augenblick in den beinahe düsteren Raum. Ich wimmerte leise.
ER kam grinsend in den kahlen Raum. „Gut geschlafen Prinzessin?“ fragte er und lachte daraufhin wie eine fiese Hyäne. Schritt für Schritt kam er auf mich zu. Als er direkt vor mir stand, hielt ich die Luft an um kein erbärmliches Wimmern von mir zu geben und um keine Schwäche zu zeigen. ER machte sie an den Fußfesseln zu schaffen und nach kurzer Zeit waren meine Füße frei. Dann kamen die Handfesseln und als sich diese von meinen Handgelenken lösten, fiel ich zu Boden, denn meine Arme waren nach oben getreckt , gefesselt. „Sei nicht so ein Weichei!“ schrie er und packte mich daraufhin grob an den Armen und zog mich hoch. „Du elendes Miststück!“ sein stinkender Atem erreichte meine Nase und ich roch auch, dass ER wieder getrunken hatte. Ich schloss die Augen um die Schmerztränen nicht aus meinen Augen zu lassen. „Sie mich an wenn ich mit dir rede!“ donnerte er unvorstellbar laut. Und schlug mir daraufhin mitten ins Gesicht und daraufhin in den Bauch. Woraufhin ich zitternd und weinend zu Boden ging, da er meine Arme losgelassen hatte. Er polterte mit lauten Schritten aus dem Raum und knallte die Tür zu.
Ich spürte aus meiner Nase warmes Blut fließen und ich spürte auch meine pochende Wange, die er geschlagen hatte. Ich hatte unglaubliche Bauchschmerzen und mein Atem ging auch nur stoßweise. Ich legte mich auf den harten Steinboden und weinte bitterlich.
Auch in der Realität weinte ich bitterlich. Diese Albträume waren eine Qual und es kam mir vor als würde ich das alles noch einmal Hautnah erleben.
Ich spürte eine Hand, die auf meiner Schulter lag. Ich zuckte erschrocken zurück und suchte nach einer Person, die ihre Hand auf meine Schulter gebettet hatte. Nachdem ich meine Tränen weggeblinzelt hatte, erkannte ich Alisson, die auf meiner Bettkante saß und beruhigend über meine Schulter strich.
Ich war überrascht, da ich so etwas nicht von ihr gedacht hatte.
Sie nahm ihre Hand von meiner Schulter und sah mich an.
„Albtraum..?“ flüsterte sie leise.
Ich nickte während dicke Tränen meine Wangen hinunter kullerten.
Ich schätzte es sehr , dass sie sich mitten in der Nacht zu mir setzte und mich tröstete. Es waren die kleinen Gesten, die das Zusammenleben hier ausmachten und hier war es wirklich nicht normal, dass sich der eine um den anderen kümmerte, denn jeder hatte seine eigenen Probleme und Vergangenheit. Und anstatt , dass sich Alisson hinlegte und weiterschlief, saß sie auf meiner Bettkante und war einfach nur da. Sie wusste wie alleine man sich fühlte wenn alte Erinnerungen hochkamen und wie es ist von Albträumen heimgesucht zu werden.
-----1 Monat später-----
Heute würde ich mein erstes Psychologisches Gutachten bekommen. Ich war etwas aufgeregt. Wobei ich aber irgendwie die einzige war, denn Melody und Alisson waren über andere Dinge am quasseln, während ich auf dem Weg zum Kreisel immer nervöser wurde.
Dieses Gutachten wurde bereits zu mir nach Hause geschickt und sicher hatten es sich meine Mum und Tobi schon angesehen, sowie Carry, Chrissi und Jason. Hoffetlich würden sie durch das Gutachten sehen, dass ich große Fortschritte machte und es mir gut ging.
Und wie ich bereits erwähnt hatte , ich machte Fortschritte. Die Therapie lief gut, ich hatte zwar noch nicht wirklich mit Viktoria über die Entführung geredet , aber wir arbeiteten daraufhin.
Mein Ziel bzw. das Ziel von Viktoria und mir war es, dass ich am Ende der Therapie über die Entführung reden konnte und zu akzeptieren, dass es passiert war. Seitdem das Ziel feststand, arbeiteten wir in kleinen Schritten darauf hin. Wir redeten bis ins kleinste Detail über mich, über meine Veränderung oder über meine Wünsche oder meine Verhältnisse zu meinen Freunden. Viktoria sagte immer, ich hätte mich in diesem Monat hier schon sehr verändert und zwar im positiven.
Aber ich war nicht die einzige, der diese Therapie gut tat. Alisson, die sonst immer ein kleines Rätsel für mich war, da ich sie überhaupt nicht einschätzen konnte, war inzwischen viel offener und ähnelte mir immer mehr, meiner Meinung nach. Melody, die so gut wie immer bei uns war, hatte sich auch verändert. Sie war kaum noch schüchtern. Alisson und mir gegenüber, wenn zum Beispiel jemand anderes aus unserem Flur sie ansprach, war sie wieder das schüchterne Mäuschen. Aber in unserem kleinen Kreis, der aus Alisson, Melody, Matt und Matt's Zimmergenossen Ryan und mir bestand, war von dem schüchternen Mädchen nichts mehr übrig. In den Pausen verbrachten wir 5 so gut wie immer im Aufenthaltsraum.
Als wir den Kreisel betraten, wurden meine Schritte unbewusst schneller, woraufhin mich Alisson zurückzog.
„Beruhig dich mal. Es.ist.nur.ein.Gutachten.“ sagte sie eindringlich ,betonte dabei jedes Wort und hielt mich an meinem Pullover fest. Als sie ihn wieder losließ, stürmte ich beinahe zu meinem Therapieraum, woraufhin Alisson und Melody beide kopfschüttelnd lachten.
Ich lachte auch und betrat dann den Raum, wo Viktoria mich warm lächelnd empfing.
„Deine Familie hat es empfangen und ich halte es in meinen Händen.“ Sie wusste, dass ich aufgeregt war.
Dann endlich gab sie es mir.
Ich las es durch, es war sehr lang.
Als ich es zuende gelesen hatte, nahm ich es mir vor der Nase weg und schaute verwirrt in Viktorias Gesicht.
„Das ist ja hammer langweilig.“
„Was stellst du dir denn so vor was darin steht?“
„Keine Ahnung , dass ich mich vielleicht verändert habe oder das ich mich bessere?
Hier steht nur drin , was ich bereits über die Entführung erzählt hatte. Und noch alle unwichtigen Details über mich.“ sagte ich etwas enttäuscht.
Viktoria verdrehte lächelnd die Augen.
„So Summer, wir hatten letztes mal über Jason geredet richtig?“
Ich nickte. Wir hatten letztes mal nur kurz über ihn geredet. Ich musste unweigerlich bei dem Gedanken an ihn grinsen.
Viktoria lächelte mich vielsagend an.
„Du warst mit ihm zusammen, bevor du entführt wurdest richtig?“
Ich bestätigte die Aussage wieder mit einem nicken.
„Du hast ihn geliebt und vertraut?“
Ich grinste immer noch wie eine Blöde und versuchte mein albernes Grinsen zu unterdrücken.
„Ja das habe ich.“ versuchte ich ernst zu sagen, grinste daraufhin aber weiter.
„Verliebten Teenagern ist auch nicht zu helfen.“ schmunzelte sie.
„Ich bin nicht verliebt!“ rief ich eine Oktave zu hoch empört aus.
Das brachte sie noch mehr zum schmunzeln.
„Liebst du ihn noch?“ fragte sie
„Wäre das relevant?“
„Ja ich finde schon.“
„Ich weiß es nicht.“ antwortete ich kleinlaut.
„Wieso?“ war ihre Frage darauf und sie schien dies wirklich zu interessieren.
„Es ist so viel passiert...und wir haben auch noch nicht wirklich darüber geredet.“
Sie nickte und schrieb wie immer mit.
„Was glaubst du hat er gedacht, als er mitbekommen hat, dass du spurlos verschwunden ist?“
„Man hat mir gesagt , er wäre ein Jahr noch allen Hinweisen nachgegangen...anscheinend wollte er das nicht wahrhaben.. wir waren ja auch glücklich zusammen..“ mein Grinsen war jetzt erloschen und ich blickte traurig Löcher in die Wand.
„Du hast ihm sehr viel bedeutet. Wieso sollte das jetzt anders sein?“
„Weil ich nicht mehr die Summer bin, die er geliebt hat.“ rief ich aufgebracht.
„Summer, was machen wir denn hier? Wir wollen die alte Summer wieder aus dir holen!“ antwortete sie ruhig aber eindringlich.
Ich lachte ironisch.
„Er hat sich doch auch verändert.“
„Sei doch nicht so. Ich denke eine Liebe könnte dir vieles einfacher machen.“
„Was du dir so alles denkst.“
Die Sitzung war damit beendet und ich lief etwas schlecht gelaunt aus den Raum. Was hatte die denn für Vorstellungen? Wir befanden uns nicht in irgend einem Kitsch-Film, wo alles ein Happy End hatte. Es war die bittere Realität und wenn ich auf mein Leben zurückblickte, fand ich keine Andeutungen auf ein Happy End.
Ich ließ mich auf den unbequemen Holzstuhl nieder um auf Melody und Alisson zu warten.
Diese kamen nach kurzer Zeit auch. Sie merkten, dass ich nicht so gut gelaunt war, das merkte ich an ihren Mimiken und Blicken. Sie wussten aber auch, dass man mich am besten nicht darauf ansprach. Deshalb gingen Alisson und ich schweigend zum Boxen. Melody hatte jetzt Habkido. Und hätte ich in diesem Moment schon gewusst, was mich erwartet hätte, wäre ich so schnell ich konnte dorthin gerannt.
Wir zogen uns immer noch schweigend um und gingen in die Turnhalle, wo und Marc erwartete. Ein paar Sekunden später, kam auch Matt, den Alisson mit einem freudigen 'hey' begrüßte, ich nur mit einem stummen 'hi'. Ich hörte ,wie Matt, Alisson fragte, was mit mir seie, Alisson sagte , dass sie es nicht wüsste und das er mich am besten in Ruhe lassen sollte.
Ich war aber schon wieder dabei in meinen Gedanken zu versinken. Wegen Viktoria musste ich jetzt die ganze Zeit an Jason denken! Man!
Aber es brachte ja auch nichts die ganze Zeit über 'Was wäre wenn..' nachzudenken. Ich musste es einfach herausfinden, wenn ich wieder Zuhause war. Noch drei Monate..
Dachte er wohl an mich..?
Plötzlich schnipste jemand mit dem Finger vor meinem Gesicht. Es war Matt, der danach laut lachte, als ich zusammenzuckte. Böse sah ich ihn an, woraufhin er sofort verstummte.
Danach lernten wir mehr Techniken und Ausdauer beim Boxen. Ich verwandelte mich wieder in eine Kampfmaschine und prügelte wie wild auf den armen Boxsack ein.
„Leute, die Stunde ist vorbei, wir sehen uns Montag, morgen ist ja Wochenende.“ rief Marc, woraufhin wir alle aufhörten zu boxen und unsere Handschuhe ablegten und uns auf den Weg in die Umkleiden zu machen.
„Ehm Summer?“ Er kam mir hinterher und zog mich zurück.
„Ihr beide könnt euch schon einmal umziehen, ich muss noch mit Summer sprechen.“ sagte er an Alisson und Matt gewandt, die schulterzuckend in die Umkleiden gingen.
Erwartungsvoll sah ich ihn an.
Er schlug sich die Hände vor sein Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Ich glaubs nicht, dass ich das mache, dass könnte mich meinen Job kosten.“ sagte er leicht gequält.
Ich erwartete das schlimmste und hatte auch etwas Angst. Wovor wusste ich nicht.
Er atmete kurz durch und zog daraufhin einen kleinen Zettel aus seiner Hosentasche.
„Hier.“ er gab ihn mir. „Mach ihn auf, wenn du alleine bist.“ Ich nickte leicht ängstlich. „Summer nein, nein es ist nichts schlimmes. Ich glaube es wird dich sogar freuen, nur darf davon hier keiner etwas mitbekommen.“ erklärte er mir eindringlich. „Niemand. Sonst bin ich meinen Job los.“
Stumm nickte ich und ging schnellen Schrittes zur Umkleide, wo ich unbemerkt den Zettel in meiner Tasche verschwinden ließ. Alisson saß fertig umgezogen auf den Umkleidebänken.
„Was wollte er?“ fragte sie.
Ich hatte mir gar keine Ausrede überlegt. Deswegen stotterte ich leicht unglaubwürdig.
„Er hat mir gesagt, dass ich das Boxen gut mache?“ fragte ich eher als zu antworten. Und die Antwort, war so unglaubwürdig, sodass ich mich echt wunderte, dass sie einfach nickte.
Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, verschwand ich schnell, mit der Begründung, dass ich nicht zu spät zu Musik kommen sollte.
Anni und ich, hatten uns auf ein Stück geeinigt, dass ich lernte, auf dem Flügel zu spielen. Anni hat mich eher dazu aufgefordert, ein Lied zu suchen, dass zu mir passt und , wo ich meinen 'Schmerz in Musik verwandele'. Nach einigen Überlegungen und Nachfragen bei Alisson und Melody, kam ich auf 'Russian Roulette' von Rihanna.
Es war fast verblüffend, wie sehr das Lied zu meiner Lebenssituation passte und ich musste zugeben, dass es mir echt mehr Spaß machte , als gedacht. Anni war auch begeistert, weil ich das Lied 'leben' würde und 'sooooo viel Gefühl mit einfließen lies'.
Als ich in den Raum trat, sah ich Anni nicht. Sie würde bestimmt im Geräteraum sein, dachte ich.
So setzte ich ich an den Flügel, wo ich 'Russian Roulette' spielte. Ich konnte es schon auswendig spielen und brauchte nicht einmal mehr Noten.
„Hallo Liebes.“ kam Anni in den Raum gepoltert. Ich mochte sie. Sie hatte so eine mütterliche Art an sich.
„Komm mal von dem Flügel weg, wir machen heute etwas anderes.“ wies sie mich an.
Verwirrt hörte ich auf zu spielen und ging auf Anni zu, die mindestens einen ganzen Kopf kleiner als ich war.
„Spielen kannst du ja das Stück. Jetzt wird dazu gesungen.“ verkündete sie feierlich.
Ich dagegen starrte sie mich geweiteten Augen ungläubig an.
„Bitte was? Ich kann nicht singen und den Text kann ich auch nicht.“ plapperte ich leicht hysterisch. Das war gelogen. Ich konnte den Text, er stand direkt unter den Noten, als ich diese gelernt hatte.
Anni sah mich mit erhobener Augenbraue an.
„Du kannst den Text. Das weißt du ganz genau.“ innerlich ärgerte ich mich, dass meine Lüge aufgeflogen war. „Außerdem, hast du eine schöne Sprechstimme. Sie ist in letzter Zeit sehr viel stärker geworden. Also kannst du ja wohl da Lied singen.“
Mit einem lautem Seufzer, simbolisierte ich, dass ich es machen würde, aber trotzdem nicht damit einverstanden war.
Anni lächelte nur triumphierend. „So dann singen wir dich erst einmal ein.“
Dann begann sie komische Melodien zu singen, die von den höchsten Tönen bis in die tiefsten gingen. Das hörte sich ziemlich bescheuert an. Mit einer Handbewegung, zeigte sie mir, dass ich mit in ihr SingSang einsteigen sollte.
Widerwillig tat ich dies auch, jedoch mit einer 'Nullbockstimme',die auch noch sehr leise war.
Anni verstummte woraufhin ich dies auch sofort tat.
„Sing weiter!“ forderte sie mich auf.
Genervt stöhnte ich auf und summte leise die Melodie.
„Lauter!“
Ich erhöhte die Lautstärke etwas.
„Mit mehr Gefühl.“
Ich wusste zwar nicht wie man in dieses SingSang Gefühl mit einbringen sollte, aber ich versuchte es, was Anni ein zufriedenes Nicken entlockte. Trotz allem kam ich mir ziemlich blöd vor.
Mit einer Handbewegung unterbrach sie mich endlich.
„Jetzt das Lied.“
Ich seufzte noch einmal, um meine Meinung dazu zu verdeutlichen und fing leise an zu singen.
„Lauter!“ wieder diese Anweisung.
Etwas lauter sang ich die erste Strophe weiter.
„Schließ die Augen und fühle das Lied!“ ich versuchte das umzusetzen, was sie mir sagte.
Ich schloss die Augen und es war viel schöner als mit offenen Augen. Ich spürte die Musik, fühlte das Lied, verstand jetzt richtig die Bedeutung den Liedes.
Refrain. Ich setzte an und sang, um mein Leben, mit all meinen Gefühlen und Emotionen. Ich wusste nicht ob das gut war, aber es fühlte sich gut an.
Zum Ende des Liedes , wurde ich wieder leiser und ließ es geschmeidig ausklingen.
Langsam öffnete ich meine Augen und blickte in das Gesicht von Anni, die mit großen Augen und etwas geweiteten Mund zu mir hochsah. Beschämt schlang ich meine Arme um mich.
„D-das war ja wundervoll! Ach du meine Güte Summer! Ich ...Das war Großartig! Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so eine gute Sängerin gesehen haben.“
Ich grinste schüchtern, konnte ihren Worten aber nicht ganz glauben.
„So viel Gefühl. Sag nie wieder , dass du nicht singen kannst! Du bist quasi ein Naturtalent!“ rief sie begeistert.
Nach der Stunde, musste ich grinsen. Ich hatte noch nie so viel Lob bekommen. Und es hat sich so schön angefühlt, zu singen!
Immer noch mit einem Lächelndem Gesicht, machte ich mit Alisson und Melody den Selbstverteidigungskurs, wo Marc mich des öfteren prüfend ansah. Doch darauf achtete ich gar nicht.
Nach der Stunde sprachen mich Alisson und Melody auf meine Stimmungsschwankung an. Ich antwortete schulterzuckend, dass Musik heute ganz gut war.
Mit dem Gedanken, dass ich jetzt noch eine eineinhalb stündige Sitzung hatte, änderte meine Laune schlagartig, in genervt sein. Heute war ich echt ein bisschen ..nunja schwierig.
Die Sitzung lief besser als erwartet und wir redeten nicht über Jason.
Jetzt war meine Laune wieder gut. Wir hatten Wochenende und morgen würde unsere Altersklasse einen Ausflug machen. Einmal im Monat fand so ein Ausflug statt, jedoch wussten wir nicht wo es hinging.
Wir hatten eine Stunde frei, bevor es zum Abendessen ging. Wie immer in letzter Zeit saßen Melody, Alisson, Ryan, Matt und ich im Aufenthaltsraum. Wir spekulierten, wo der Ausflug hinging, kamen aber auf keine Lösung.
Danach gingen wir zu fünft zum Abendessen. Wir wollten noch alle kurz in den Park. Ich wollte noch kurz meine Jacke holen und lief alleine die Treppen hoch um sie zu holen.
Ich schloss die Tür auf und trat die meine Sporttasche weg, die direkt vor der Tür lag. Schnell schnappte ich mir meine Jacke und wollte gerade aus der Tür raus, als ich plötzlich den Zettel sah, der leicht aus der Tasche aufblitzte. Ich rang mit mir selber, ob ich ihn jetzt lesen sollte oder nicht. Am Ende gewann meine Neugier und ich zog ihn ganz aus der Tasche. Langsam und vorsichtig öffnete ich das Stück Papier.
Summer!
Hey :-)
Wenn dir mein Cousin diesen Brief gegeben hat, ließt du das jetzt.
Ich weiß das hört sich ziemlich blöd an, aber ich vermisse dich so und will dich sehen!
Ich weiß das ich dir auch nicht schreiben darf und wir auch eigentlich nicht im Kontakt stehen dürfen...aber ich halt es nicht aus!
Komm bitte diese Nacht in den Park. Ich werde da sein.
In Liebe,
dein Jason
Ungläubig starrte ich das zerknitterte Zettelchen an. Das gab es doch nicht. Konnte das war sein? Träumte ich? Er vermisste mich. Ich musste mir jedes Wort seiner unsäuberlichen Handschrift mehrmals auf der Zunge zergehen lassen.
Ich wusste nicht ob ich mich freuen sollte oder versuchen es zu ignorieren, was aber mehr als unrealistisch war. Ich freute mich insgeheim, ob ich nun wollte oder nicht.
Heute Nacht in den Park. Das müsste ja heißen, dass er schon unterwegs war! Was würde ich damit alles aufs Spiel setzten? Ich wusste ja nicht, wie hier Verstöße bestraft wurden, aber ehrlich gesagt wollte ich das auch gar nicht wissen. Eigentlich störte ich ja auch meine Heilphase, denn Haus Butterfly beharrte darauf, keinen Kontakt zu Familienmitgliedern zu halten. Oh Gott, Oh Gott, Oh Gott. Was sollte ich denn jetzt machen? Es war zum Haareraufen.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich ja nur meine Jacke holen wollte. Mist. Schnell schnappte ich mir meine Jacke und schmiss den Zettel einfach wieder zurück in die Tasche.
Meine Gedanken waren völlig durcheinander. Ich würde heute Nacht hingehen. Würde ich? Ich könnte alles aufs Spiel setzten. Was war wenn mich einer sah? Was würde dann passieren? Wieso wollte er mich überhaupt sehen? Was wäre wenn das alles nur ein blöder Scherz wäre? Nein das würde er nicht machen. Oder?
Schluss jetzt.
Ich musste mich echt zusammenreißen und versuchte einfach mich von den anderen ablenken zu lassen, was dann am Ende besser ging, als ich dachte.
Matt, der immer der Stille von unserer Truppe war, lief neben mir. Er hatte seid er hier war und wir ihn kannten, nie viel gesagt. Das war auch der Grund, warum er erst etwas später zu uns kam. Mittlerweile wussten wir mit ihm umzugehen.
Plötzlich gesellte sich Ally zu uns.
„Dreh dich mal um.“ sagte sie zähneknirschend.
Ich drehte mich um uns sah Melody und Ryan, die Händchen hielten und schüchtern lächelten. Endlich.
„Das wurd ja auch mal Zeit.“ war Matts Kommentar dazu.
Alisson sah das allerdings anders und stöhnte nur. Ironisch meinte sie dann: „Und wer sind die nächsten?“ , und sah von Matt zu mir.
Das war doch nicht ihr Ernst.
Ja ok, sie wusste zwar nichts von meinem Zuhause, meinen Freunden und so weiter, dass wusste keiner aber trotzdem fand ich das gerade echt blöd von ihr. Vielleicht war es auch nicht wirklich angemessen von mir genervt davonzubrausen aber wie konnte sie mich und Matt? Ich meine ach man.
Ich steuerte mit meinem beladenen Tablett auf unseren noch leeren Stammplatz zu. Kaum das ich saß, kamen meine Freunde durch die Tür. Alisson war die, die sofort zu mir rüber sah und erleichtert aussah, als sie mich dort sitzen sah. Keine 10 Minuten später saßen wir wieder vereint da, doch die einzigen die an diesem Abend gut drauf waren, waren Melody und Ryan. Wir beobachteten schon länger das Geturtele der beiden und Melody gab Alisson und mir gegenüber auch einmal rot anlaufend zu, dass sie Ryan sehr mochte. Ich freute mich für die beiden, auch wenn ich nicht genau wusste was da jetzt passiert war aber ich war mir sicher, Melody würde es uns sagen.
Als wir alle fertig waren, blieben wir noch etwas sitzen um uns zu unterhalten. Außer Alisson, die hatte keine Lust noch auf den 'unbequemsten Stühlen im ganzen Haus' sitzen zu bleiben und ging schon einmal auf unser Zimmer. Der geplante Ausflug für morgen war mal wieder Thema.
„Also ich glaube immer noch, dass wir schwimmen gehen.“ äußerte sich Matt.
„Junge, wir haben mehr Mädchen als Jungen in unserer Altersklasse. Ich denke nicht, dass sich unsere Betreuer das Rumgeheule der Mädchen anhören wollen.“ konterte Ryan.
Melody schnaufte darauf ungläubig. „Was für ein Rumgeheule?“
„Das Wasser ist so kalt, Ich bin zu dick, Ich habe meine Tage, Ich will nach hause, meine Schminke verläuft, O mein Gott ich habe Wasser in den Augen.“ äffte Ryan. Woraufhin Melody ihn entrüstet ansah und Matt ein Grinsen übers Gesicht schlich. „Wovon träumst du denn? Wir sind keine verwöhnten Highschool Tussis .“ empörte ich mich lachend.
„Aber ihr seid Mädchen.“ kommentierte Matt.
Wir diskutierten noch etwas, sodass die Stimmung einfach nur lustig und angenehm wurde. Wirklich mal guttuend. Und unser Entschluss wo der morgige Ausflug hingehen würde war nun eindeutig. Zum Mond. Davon ging Ryan nun aus, nachdem ihm keine Vorschläge mehr einfielen zu denen Melody, Matt und ich keine Gegenargumente hatten.
„Bis Morgen Summer.“ verabschiedete sich Melody und verschwand dann in ihrem Zimmer. Ich atmete entspannt aus, als ich die Tür zu unserem Zimmer öffnete.
„Scheiße!“ entfuhr es mir.
„Besser kannst du das hier echt nicht beschreiben.“ entgegnete Alisson die einen mir bekannten zerknüddelten Zettel in der Hand hielt.
„Ach kacke.“ entfuhr es mir frustriert als ich mich auf mein Bett schmiss. Ich hatte nicht einmal Zeit dazu Alisson sauer zu sein, da sie an meine Sachen ging, weil meine Gedanken sofort wieder an den Brief gingen und an dessen Verfasser. Jason.
„Wer ist Jason?“ fragte Alisson wohl schon zum dritten Mal, nachdem sie Melody in unser Zimmer geschleppt hatte um ein Mädchengespräch zu führen, worauf ich ehrlich gesagt keine Lust hatte.
„Wer ist Ja-“ „Jetzt lass sie doch wenn sie nicht will.“ unterbrach Melody Alisson.
Schwer seufzend setzte ich mich in einen Schneidersitz und nahm mein Kissen auf den Schoß und umarmte es frustriert.
Vor meinem Bett hockten Melody und Alisson und sahen mich erwartungsvoll mit großen Augen an.
„Jason ist mein Ex-Freund...naja.“
„Ex Freund?!“ meinte Alisson verwirrt. „Los weiter!“ drängte Melody.
„Muss ich euch echt die ganze Geschichte erzählen?“
„JA!“ kam es dann von den beiden wie aus einem Mund.
Ich seufzte und überlegte wo ich anfangen sollte. Und wie ich am besten um die Entführung drumherum kam. Ich beschloss einfach mal drauf los zu plappern.
„Also...Jason ging in meine Parallelklasse und war ein knappes Jahr älter als ich. Ich war immer schon einer der jüngsten in meiner Klasse. Nunja unsere Klasse hatte im Prinzip eine Clique gegründet, in der auch die Clique aus Jasons Klasse mit eingebunden war. Ich glaube damals waren die Jungs aus unserer Klasse mit denen aus seiner Klasse gut befreundet, sodass wir dann in einer Clique waren.“ „Weiter!“ trieb Alisson. Ich überlegte kurz, da das ja schon alles ein Weilchen her war.
„Wir unternahmen viel in unserer Clique. Damals fand ich Jason schon einfach toll, aber ich dachte immer er würde mich kaum wahrnehmen. An meinem 13. Geburtstag lud ich dann die ganze Meute zu mir nach Hause ein.“ „Moment mal.“ unterbrach Alisson mich. „Wir reden hier von deiner Kleinkind Schwärmerei als du 13 warst?!“ „Jetzt lass sie doch du weißt gar nicht wie es weitergeht.“ Setzte sich Melody für mich ein. Ich schenkte ihr ein dankbares Lächeln und erzählte weiter. „Wie gesagt ich lud alle zu mir nach Hause ein und alle hatten ein kleines Geschenk. Jason auch. Es war ein Briefumschlag mit einem Gutschein zum gemeinsamen Eisessen drin. Ich war so happy darüber das glaubt ihr gar nicht. Naja und dann sind wir halt Eis essen gegangen. Danach sind wir noch in einen Park gegangen und da hat er mich dann geküsst.“ „Süüüß.“ „Dann waren wir halt zusammen. Es war alles perfekt. Wir waren so verliebt auch wenn wir noch wirklich sehr jung waren.“ Ich lächelte bei diesen positiven Erinnerungen. „Und dann... waren wir mit unserer Clique im Freibad. Jason war mittlerweile 14 und ich wäre auch bald 14 geworden. Es war alles gut. Am Ende haben wir uns verabschiedet, aber ich hatte ein ganz schlechtes Gefühl als wir auseinander gingen. Das war auch alles andere als unbegründet. Ich hatte ihn danach 3 Jahre nicht gesehen.“ Alisson und Melody wussten wage, dass ich entführt wurde aber wie, wie lange, warum und alles drum herum wussten sie nicht. Sie zogen beide scharf die Luft ein. „Also warst du das Mädchen das nach drei Jahren wieder aufgetaucht ist.“ schlussfolgerte Melody. „Ich hatte das schon geahnt...Ich war mir aber nicht sicher ob du das Mädchen aus den Medien warst.“ „Doch das war ich bzw. bin ich.“ seufzte ich und fuhr weiter mit meinem Roman. „Ich hatte mich zum nächsten Tag mit meiner besten Freundin zum shoppen verabredet. Auf dem Weg zur Bushaltestelle..-“ Ich schluckte. „Hat ER mich gepackt und mir einen Chloroformlappen vor die Nase gehalten, damit ich ohnmächtig wurde. Als ich das nächste Mal aufgewacht war, befand ich mich in einem grauen Kellerraum mit einer Matratze und meiner Tasche, die ich mit hatte, war glücklicherweise auch noch da. So musste ich drei Jahre in diesem Raum verbringen und...naja der Inhalt meiner Tasche hat mich durchhalten lassen. Ich habe auf einem Notizblock jeden Tag Tagebuch geschrieben, meine Fotos aus meinem Portmonee waren meine größten Schätze. Hätte ich diese nicht gehabt, hätte ich meine ganze Familie wahrscheinlich einfach vergessen, da in diesem Raum irgendwie alles verschlungen wurde. Naja so habe ich es damals gesehen. Mein ganzes Wesen, meinen Charakter, meine Erinnerungen, alles hat er verschlungen. Zurück zum Thema. Ich hatte insgesamt 5 Fotos. Eins von meiner Mama, meinem Bruder und mir, eins von meiner Oma und meinem Opa, eins von unserer Clique, eins von meiner besten Freundin und mir und eins von Jason und mir. Ich habe an meinen Erinnerungen solange festgehalten wie ich konnte. Nach ca. 2 Jahren habe ich es aufgegeben. Ich habe mich dem Raum angepasst. War einfach leer, einfarbig, dunkel, leblos und ohne Gefühle.“ Ich sah gar nicht mehr zu Melody und Alisson. Ich schloss meine Augen während ich erzählte. Das machte es um einiges einfacher. „Es war Tag 1114. Der 1114. Strich, den ich an die kahle Wand gezeichnet hatte. Der Tag, an dem er einmal ganz kurz unachtsam war. Es war diese eine Chance, die mich wieder zum Leben erweckte. Diese eine Chance die ich nutzen musste um daraus zu kommen. Ich nutzte sie. Er hatte seinen Spritzen, die für mich bestimmt waren, die mich in Ohnmacht versetzten sollten, den Rücken zugewandt. Er wusste nicht, dass ich nicht schlief. Er dachte ich hätte mich mit meinem Schicksal abgefunden.
Er legte die Spritzen auf den Boden neben meine Matratze. Dann stand er auf und drehte sich um, um die Türe zu öffnen, damit er mich nachher in den Nebenraum bringen konnte. Ich sprang auf, nahm die Spritze und rammte sie in seinen Hals. Ein paar Sekunden starrte er mich ungläubig an. Dann fiel mein größter Feind, meine Größte Angst einfach um. Ich nahm seine Schlüssel und schloss die Eisentür auf. Ich rannte dann nach draußen und fand mich mitten im Nirgendwo wieder. Nachdem ich ein paar Stunden gelaufen war, bin ich zusammengebrochen. Ich wurde gefunden und zur Polizei gebracht, da mich das Krankenhaus nicht annahm wegen Versicherung und so. Ich war verletzt und als ich wach wurde, wurde ich befragt und dann kam plötzlich meine Mum und mein Bruder in das Krankenzimmer. Nach und nach regelte sich dann alles. Ich sah meine Freunde wieder, meine Familie alle, außer Jason. Meine beste Freundin und mein bester Freund, die in der Zeit als ich weg war auch beste Freunde geworden sind, schwiegen immer als ich sie auf ihn ansprach. Sie wollten alle nicht das ich ihn wiedersah. Nicht einmal meine Mutter.
Dann war ich einen Tag mit meiner besten Freundin und meiner Mama in der Stadt. Die Reporter erkannten mich sofort und ich musste fliehen. Carry, meine beste Freundin schliff mich in eine Seitengasse, wo wir uns verstecken wollten. „Wieso wollten? Was war da? Los erzähl!“ ereiferte sich Alisson. Ich war überrascht über ihr Interesse, aber als ich in Melodys und Alissons gespannten Gesichter sah, wusste ich, dass sie gerade richtig mitfieberten. „Jason war in dieser Gasse.“ sagte ich monoton. „Er war dort nicht alleine.“ Melody und Alisson sogen wieder die Luft scharf ein. „Er hatte ein Mädchen aufgerissen und war dabei es abzuknutschen. Mein ganzes Bild war zerstört. Drei Jahre lang dachte ich tagtäglich an ihn und er hat sich mit Mädchen vergnügt. Ich war völlig geschockt ihn zu sehen und blieb starr stehen. Irgendwann bemerkte er Carry und mich auch. Aber er erkannte mich nicht.“ „Oh mein Gott..“ hauchte Melody. „Es war auch kein Wunder, Ich sah so aus, wie ich hier ganz am Anfang aussah.“ Alisson und Melody nickten verstehend. „Carry und Jason zischten sich irgendwas zu und irgendwann erwähnte Carry meinen Namen, woraufhin Jason total ausgerastet ist. Er hat Carry beschimpft, dass sie niemanden so nennen sollte und das nur ich diesen Namen verdienen würde. Aber er bemerkte nicht wer ich war.“ „Krass..“ kommentierte Alisson. „Dann hat Carry ihn angeschrien, dass er genau hinsehen sollte und das seine Summer vor ihm steht und dann ist er völlig fertig gewesen. Er hat gegen die Wand geschlagen und rumgeschrien das das nicht sein kann. Dann bin ich zu ihm hin und wir haben uns in die Augen gesehen und dann hat er mich erkannt.“ „Ooooh.“ seufzte Melody. „Dann hat er mich plötzlich umarmt aber ich kann bis jetzt körperliche Nähe von Männern nicht ertragen und da war es noch schlimmer als heute. Carry musste ihn von mir wegzerren, da er mich nicht loslassen wollte. Er war völlig aufgelöst, dass ich seine Nähe nicht ertragen konnte. Dann ist er abgehauen. Einen Tag später stand er dann vor meiner Haustür und wollte reden. Aber das ist in die Hose gegangen. Wir haben uns so unterhalten als wären wir Fremde. Naja und dann ist er nach unten gegangen, wo Carry, meine Mama, mein Bruder und mein bester Freund versammelt waren. Als ich ihm hinterher ging, stritten sie sich gerade darüber, dass ich in diese Klinik hier komme. Jason hat sich für mich eingesetzt, nicht hier hin zu müssen aber das hat nicht geklappt. Zum Abschied hat er mir gesagt, dass er jeden Tag an mich denken wird und heute hat Marc mir diesen Zettel gegeben. Ich hab ihn eben gelesen und in meine Tasche geworfen und dann komme ich hoch und du Alisson hattest ihn in der Hand und jetzt sitze ich hier und habe euch gerade meine verdammte Geschichte erzählt!“ Ich atmete durch.
„Krass...“ sagte Melody. „Deine Geschichte ist einfach so krass.“
„Jetzt wissen wir wer Jason ist.“ lächelte Alisson leicht.
„Wow das muss ich erst einmal verdauen.“ murmelte Melody.
„Verdauen? Ich meine ich muss doch jetzt wissen..ob ich hingehen soll oder nicht.“ schnaufte ich verzweifelt.
„Keine Frage. Du gehst dahin.“ bestimmte Alisson. Sie strich sich eine schwarze Strähne ihres Haares zurück und lächelte zufrieden.
„Aber Ally...zum einen gefährdet sie damit ihre Therapie und zum anderen hat sie ihn mit einem anderen Mädchen erwischt.“
„Was soll denn großartig passieren? Er wird sie wohl kaum umbringen.“
„ Und das andere Mädchen?“
„War garantiert nicht seine große Liebe.“ sagte Alisson augenverdrehend.
„Ich gehe hin. Haltet ihr mir den Rücken frei?“ brachte ich frei raus.
„Pass auf, wenn die Betreuer in unser Zimmer kommen, sagen wir du schläfst schon.“ Ally deutete auf das Bett, dass mit Kissen und Decken meinen schlafenden Körper darstellen sollte. „Du bist in der Zeit ja im WC im Flur. Wenn das Licht ausgeht und Lissy und die anderen Betreuer in ihren Zimmern sind, wartest du 10 min und dann kannst du erstmal aus dem Klo raus. Dann bewegst du dich so unauffällig wie möglich in den Empfangsbereich. Um halb 12 macht die Rezeptionstante einen Rundgang durch die Eingangshalle, durch die Mensa und durch die Küche. Wenn sie in die Mensa verschwindet rennst du, und ich meine wirklich rennen, rennst du hinter die Rezeptionstheke schnappst dir den Seiteneingang Schlüssel und verschwindest durch den Seiteneingang nach draußen. Brilliant nicht war?“ grinste Ally siegessicher.
„Meiner Meinung nach mehr als riskant aber wen interessiert hier meine Meinung?“
„Niemand.“ grinste Alisson weiter.
„Ich schwöre dir Ally, wenn das in die Hose geht...“ murmelte ich unsicher.
Ich war mittlerweile in der Empfangshalle angekommen. Das mit den Betreuern hatte besser geklappt als gedacht und jetzt versteckte ich mich hinter einer riesigen Topfpflanze und beobachtete die rundliche Rezeptionstante, die genüsslich an ihrem Schokoriegel knabberte und dabei eine Klatschzeitung las. Sie gähnte ausschwinglich, bevor sie sich schwerfällig erhob und davonwatschelte. In die Mensa. Wieso steckten sie jemanden wie sie in die Nachtschicht? Ich rannte, wie Alisson es mir gesagt hatte hinüber zu dem Rezeptionstisch.
„Schlüssel, Schlüssel, Schlüssel, wo bist du denn?“ summte ich leise, eher um mich zu beruhigen als aus Langeweile.
Wieso hatten die hier nicht so ein Schlüsselbrett, wo alle verdammten Schlüssel geordnet und mit Namen versehen aufgehängt wären?! Nein, ein einfaches Schlüsselbund tats ja auch. Gerade als ich es mit meiner Hand umfasste, hörte ich schlurfende Schritte.
-Scheiße!
Ich duckte mich schnell und verkroch mich unter den Schreibtisch der Rezeptionstheke. Das Rezeptionsmonster schnaufte schwer als sie endlich auf ihrem Stuhl zu sitzen kam. Lange blieb sie jedoch nicht. Sie schnappte sich einen weiteren Schokoriegel und verschwand wieder. Mein Herz raste währenddessen noch unnormal schnell und ich atmete gefühlte tausendmal schneller als sonst. Als ich die Mensatür hörte umfasste ich das Schlüsselbund fest und rannte zum Hintereingang. Ich probierte mindestens 10 Schlüssel aus. Der 11 passte dann endlich und ich befand mich im Handumdrehen vor Haus Butterfly. War ja einfach. Ich lachte geschafft auf und wurde mir plötzlich dem Grund bewusst warum ich das ganze Theater auf mich nahm.
„Was mache ich hier eigentlich?“
Während ich mich mit klopfenden Herzen und stummen Gedanken auf dem Weg machte, fand ich eine Ablenkung, die mir mittlerweile immer half. Ich sang. Zwar leise und nicht wirklich präsentierbar, aber es beruhigte mich. Vor allem, weil ich mittlerweile im Parkwald angekommen war und dieser in Dunkelheit getränkt einfach nur zum Angst machen war. Was, wenn das alles ein Scherz war? Wieso war ich so naiv? Diesen Brief könnte jeder verfasst haben.
Diese Dunkelheit machte mir eine scheiß Angst und ich war mir mittlerweile sicher, dass ich meine Heilungsphase wirklich gefährdete. Ich war so dumm. Ich war wohl doch nicht wieder so erholt wie ich gedacht hatte. Dieser Gedanke deprimierte mich in diesem Moment doch ziemlich.
Mein Herz klopfte schnell und der Verfolgungswahn trieb mich an den Weg zu rennen, anstatt ihn gemächlich singend hinter mich zu bringen. Was war das? Ein Vogel. Nur ein Vogel. Ein Vogel tut dir nichts. Ich sah schon von weitem die große Wiese und die wuchtige Baumkrone der alten Eiche. Es war kurz vor Mitternacht. Der Vollmond, der hoch am Himmel stand und sich in dem Teich spiegelte und die tief schwarze Nacht erhellte, sah wie gemalt aus. Fast verlor ich mich in diesem traumhaften Anblick, bis mir klar wurde was ich hier machte und das ich nun wirklich keine Zeit uns keinen Nerv dafür hatte, den Mond anzustarren. Die Nacht schien still zu stehen. Alles war ruhig. Zu ruhig. Ich schlang meine Arme enger um mich. Ich hatte Angst mich umzusehen. Was war, wenn er nicht da war? Was war, wenn nicht mal er den Brief geschrieben hatte? Was war wenn ER da war?
Ich konnte mich dennoch nicht davon abhalten meinen Blick über die Wiese schweifen zu lassen.
Mein Blick blieb starr auf das gerichtet was ich sah. Ich versuchte meinen Blick zu verschärfen, aber ich wusste genau wer dort zusammengekauert auf der Bank saß. Ich wusste es so genau.
„Jason.“ hauchte ich. Es war wirklich nur ein Hauchen aber der Junge zuckte zusammen und sein Kopf ging ruckartig in meine Richtung.
„W-wer. D-u.“ er stammelte Wirres Zeug, als ich mit klopfenden Herzen und schnellen Schritten auf ihn zukam. Ich blieb ca. einen Meter vor ihm stehen und musterte ihn. Er stand langsam auf und überragte mich so mindestens einen halben Kopf. Seine Körperhaltung aber, war nicht stolz und stark, wie ich ihn die letzten Male gesehen hatte, sondern geknickt und hängend. Mein Blick wanderte hinauf zu seinem Gesicht. Seine Augenlider waren fast zur Hälfte geschlossen und sein leichtes Lächeln sah eher verpeilt aus. „Jason, hast du..-“
„Summer...du.....b-bist wieder du.“ lallte er lächelnd und hob seine Hand. Sie zitterte wie Espenlaub als er sie mir auf die Wange legte. Ich legte meine Hand auf seine und schmiegte mich an sie. Ich war selber erstaunt, dass mir diese Berührung nichts ausmachte. Aber ich vermutete gerade etwas, was ich erst bestätigt haben wollte. So nahm ich seine Hand behutsam von meiner Wange und ging einen Schritt auf ihn zu.
„Jason..-“ „Summer, du...du bist so wuuuunderschön.“ Er umarmte mich plötzlich. Ich ließ es zu.
„Du...glaubst gar nicht wie sehr..wie sehr ich dich vermisst habe.“ er schluchzte laut und vergrub sich in meine blonde Mähne. „Jason..?“ meinte ich verwundert. „Ich habe dich soooo geliebt und dann? Dann warst...du warst einfach weg. WEG!“ „Ja-Jason ich bin doch wieder da.“ Völlig überrumpelt strich ich ihm über den Kopf. „Ja, jetzt bist du wieder da...Aber als ich dich in..in der Gasse gesehen hab...sahst du so anders aus...wie ein anderer Mensch..aber dann..hab ich..hab ich in deine Augen geschaut...Und dann musste ich...an dem Tag im Freibad denken...Und jetzt siehst du wieder so aus wie früher..Ich...du...Mein Herz explodiert gleich..hörst du wie schnell es schlägt? Bam bam..“ Ich löste mich langsam von ihm.
„Jason, sie mich an.“ Seine Pupillen waren geweitet und rot. „Hast du Drogen genommen?“ Ich sah ihm eindringlich in die Augen und versuchte ernst zu bleiben, was schwer war, weil alles was er mir gerade an den Kopf geworfen hatte, spukte mir in meinen Kopf herum. Langsam, wie in Zeitlupe nickte er. Verzweifelt schnaubte ich. „Wieso Jason? “ „Ich..Ich kann nicht mehr ohne.“
Stille. Gesagtes verarbeiten. Denk. Realisier.
„Du bist Drogenabhängig?!“
„Nein...nein ich..“
Meine Angst war völlig verpufft. Stattdessen braute sich eine Mischung aus Ungläubigkeit, Enttäuschung und Verwirrtheit in mir auf.
„Wie lange nimmst du das Zeug schon Jason?“ fragte ich ihn eindringlich. Er taumelte leicht, woraufhin ich ihn versuchte mit meiner Hand auf seiner Schulter zu stabilisieren.
„Als sie dich nicht gefunden h-haaaben war ich traurig...“ stammelte er abwesend. Das durfte doch nicht wahr sein!
„Jason, du setzt dich jetzt verdammt nochmal auf die Bank und wartest, bis ich wiederkomme verstanden!?“ herrschte ich ihn an und drückte ihn an seiner Schulter wieder zurück auf die Bank. So bedröppelt, wie er da saß, kam er mir fast wie ein kleines Kind vor um das man sich kümmern musste. Sein eher angsteinflößendes Aussehen war ein extremer Kontrast dazu.
Schnell wand ich mich von ihm ab und maschierte mit schnellen Schritten von der Wiese.
„Summer! Bitte...laaaass mich nicht wieder alleein! Ich liiiebe dich!“ rief er mir hinterher. Entrüstet drehte ich mich um. „Sei Leise!“ zischte ich und wollte nur noch weg. Weg von meinen Gedanken, die in meinem Kopf brodelten, weg von ihm, der in diesem Moment nicht der war, den ich einst liebte und weg vor meinen Gefühlen die mich beinahe übermannten.
Verzweifelt rannte ich hinauf zur Klinik. Tränen drohten aus meinen Augen zu quillen und meine Selbstbeherrschung verabschiedete sich bestimmt auch bald. Kurz bevor ich die Möglichkeit hatte, die Klinik zu stürmen und Aufmerksamkeit zu erregen, besann ich mich, wieder runter zu kommen und atmete ein paar mal tief durch. Ich musste jetzt genauso strategisch wieder hinein kommen, wie ich auch hinaus gekommen war. So leise wie möglich steckte ich den Schlüssel in das Schloss der Tür. Meine Hände zitterten stark und ich bezweifelte, dass ich mich in diesem Zustand leise und unauffällig durch die Gänge schleichen konnte. Das Schloss klickte und ich drückte leise die Tür auf. Es war nicht stockdunkel, da der Vollmond die gläserne Eingangshalle etwas erhellte. Ich kniete mich auf dem Boden um an der Rezeptionstheke vorbei zu krabbeln. Doch nach genauem Hinhören vernahm ich ein leises Schnarchen. Die war ja mal produktiv.
Nicht mehr ganz so angespannt schlich ich ins Treppenhaus, da ich Bedenken hatte, dass der Aufzug eventuell Geräusche machte. Ich raste die Treppen hinauf zu der Bediensteten Etage. Hier war ich bisher noch nie, aber ich wusste, dass alle Bediensteten hier ihr Zimmer hatten, um immer vor Ort zu sein. Das ich diesen Dienst mal in Anspruch nehmen würde und das nicht mal wegen mir, sondern wegen meinem Ex der Drogenkonsomiert im Park saß, hätte ich auch nie gedacht.
An den Türen der Betreuer hingen Namensschilder, was die Suche um einiges leichter machte. Ich schlich mich zuerst durch den linken Flur. Nichts. Dann war es wohl der Rechte, hoffte ich.
So leise wie möglich klopfte ich an die Tür, die ich gesucht hatte. Wenn ich so leise klopfte, würde er mich nie hören. Ich klopfte lauter und vernahm nach mehrmaligen Klopfen ein müdes Stöhnen und ein darauffolgendes Poltern. Die Tür öffnete sich und Marc blinzelte mir mit müden Augen entgegen.
„Summer?“ fragte er und legte seinen Kopf etwas schief. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
Ich brachte nichts hervor, schaffte es nur arg mit meinem Kopf zu schütteln.
„Verdammte Scheiße!“ fluchte Marc ununterbrochen. „Dieser kleine dumme...! Arrg!“ Wir liefen hastig den Flur entlang. Im Gegensatz zu Marc bemühte ich mich bloß keine Geräusche zu machen, denn er war dermaßen aufgebracht, dass sein kleiner Cousin so ein Idiot war. „Der wird was zu hören kriegen, wenn der wieder normal im Kopf ist! Und dann werde ich ihn höchstpersönlich in eine Entzugsklinik prügeln!“ Das Treppenhaus hatten wir hinter uns gebracht und Marc brauste weiter, ohne wirklich auf mich zu achten in die Eingangshalle, wo Mrs. Unfähig ihr Schläfchen hielt.
Ich konnte meine Gefühle gar nicht ordnen. Von Angst, zu Überglücklich, von mitleidend zu wütend. Ich wusste nicht wo oben und unten war, ich wusste nicht was jetzt passierte, ich wusste nur, dass ich dem hellbraunen Schopf folgen musste.
„Marc, was passiert jetzt?“ flüsterte ich vorsichtig.
„Was wohl? Ich werde diesen Idioten jetzt in mein Zimmer bringen und morgen wird ihn seine Mutter abholen.“
„Und mit mir?“ Er sah mich mitleidig an.
„Summer du kannst da nichts für. Ich bin im Prinzip der Schuldige. Das wird unser kleines Geheimnis bleiben. Es hat uns ja niemand bemerkt.“ Ich nickte. „Ist denn irgendwas? Ich meine geht’s dir nicht gut?“ Seine Augen schienen mich zu durchleuchten und wieder einmal sah ich, wie ernst er seinen Beruf war und, dass er diesen kleinen Brief nur aus reiner Gutmütigkeit weitergegeben hatte.
„Ich bin so durcheinander..ich weiß gerade irgendwie gar nichts.“ sprach ich das aus, was in mir vorging.
„Denkst du, dass du bis morgen wieder klar wirst?“ Ich nickte. Das hörte sich so an als wäre ich die Drogenkonsomierte, wie er das aussprach.
„Gut. Dann denke ich ,dass es das Beste ist, wenn du in dein Zimmer gehst und schläfst. Ich kriege das schon hin mit ihm.“ Dabei warf er einen verärgerten Blick, in die Richtung, wo sich Jason ungefähr befand. „Ok...dann...“ murmelte ich leicht durch den Wind. „Summer, es tut mir leid, ich hätte dir den Brief nicht geben sollen...“ Ich nickte nur noch kurz und verschwand so schnell ich konnte. Ich rannte den Weg wieder hinauf durch die Nacht und wollte einfach nicht wahrhaben, was in der letzten halben Stunde passiert war. Es war einfach zu viel, dass ich ihn wiedergesehen hatte, dass er Drogenabhängig war und, das was er mir gesagt hatte, brachte mich am meisten durcheinander.
Meine Arme hingen müde und schlapp meinen Körper hinunter und mein Gesicht war von stummen, verzweifelten Tränen nass, meinen Mund hatte ich zusammengepresst und meine Augen brannten.
Als ich die Tür öffnete, wollte ich erst gar nicht in diese erwartungsvollen Gesichter meiner zwei Freundinnen sehen. Darum ließ ich die Tür ins Schloss fallen, ignorierend, dass wahrscheinlich der ganze Flur etwas davon mitbekommen hat, und ließ mich aufs Bett fallen. Mein Gesicht drückte ich ins Kissen.
Ich hörte Getuschel von den beiden, die mich wahrscheinlich am liebsten mit Fragen durchlöchern würden.
Irgendwann, nach ein paar Minuten spürte ich eine zarte Berührung auf meiner Schulter. Langsam drehte ich mich auf die Seite und blickte wie vermutet zwei erwartungsvollen, aber auch verwirrten Gesichtern entgegen. Sie blickten stattdessen in ein geknicktes, tränennasses Gesicht.
„Scheiße..“ murmelte Ally sofort, was mich leicht lächeln ließ, was jedoch sehr gequält aussehen musste.
„Summer, was ist..was ist passiert?“ fragte Melody zaghaft. Sie strich sich nervös ihre kurzen rot-blonden Haare hinter die Ohren, um sie sich kurze Zeit später wieder nach vorne zu streichen.
Ich zuckte nur mit den Schultern und schüttelte mit dem Kopf. „Mein Ex ist drogenabhängig, meint er würde mich lieben, und wird jetzt von seinem Cousin zusammengeschissen, weil er high ist.“ Ich sagte das so belanglos und gleichgültig, sodass Mel und Ally mehr als ungläubig dreinschauten.
„Is'n Scherz!“ Ally's rechte Augenbraue wanderte nach oben.
„Nö.“
„Wieso ist dir das so egal?“ hakte Mel nach.
Schulterzucken.
„Dein Ernst?“ Ihre Augenbraue wollte gar nicht mehr in ihre normale Position.
Schulterzucken.
„Summer man!“
„Ja was? Ich will schlafen. Morgen müssen wir wieder früh raus. Gute Nacht.“
Ich drehte mich einfach um und hörte wie sich Ally noch kurz etwas angepisst mit Melody unterhielt, die dann kurz danach in ihr Zimmer verschwand und Ally sich in ihr Bett legte und das Zimmer dann in schwarze Dunkelheit legte.
Keine Ahnung was mit mir los war. Ich fühlte mich einfach mies, zum einen wegen Jason und zum anderen, weil ich gerade meine Freundinnen vergrault habe.
Natürlich war es mir nicht egal was mit Jason war. Ich hatte nur keinen Nerv mich damit auseinander zu setzen. Ich wollte einfach nicht drüber nachdenken. Die gleichgültige Maske ist auch um einiges einfacher als diese verwirrende Gefühlsduselei.
Dieser Tag war echt verdammt anstrengend.
Ich wischte mir die restlichen Tränenspuren weg und schloss die Augen um vielleicht im Schlaf etwas Ruhe zu finden.
Kritisch beäugte ich meine verdammten Augenringe, die mein Gesicht nicht unbedingt verschönerten. Frustriert stöhnte ich auf und schnappte mir eine Bürste um das blonde Vogelnest aus meinen Haaren zu kämmen. Wohl ein wenig zu stark zog ich die Bürste, durch meine Haare, sodass ich mir mehrere Haare auf einmal rausriss.
„Verdammt.“ fluchte ich und fügte im Gedächtnis noch mehrere Schimpfwörter hinzu.
„Was soll es werden, wenn es fertig ist?“ Ally stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und begutachtete mich mal wieder mit einer hochgezogenen Augenbraue.
„Lass mich das mal machen, sonst wird das ja nie was.“ sie schritt auf mich zu und schnappte sich zuerst die Bürste und kämmte meine Haare. Sie warf mir im Spiegel immer Blicke zu, denen ich gekonnt auswich.
„Himmel, ich würde morden für solche Haare!“ meinte Ally kopfschüttelnd.
„Hm.“
„Summer, jetzt hör auf mit deiner 'mir ist alles egal' Phase. Dein Schutzschild kannst du nicht ewig hochhalten. Setz dich mal.“ Sie dirigierte mich zu einem kleinem Holzhocker.
„Wo hast du dein Schminkzeug?“
„Vierte Schublade, das blaue Täschchen.“ Ihre Worte wollten nicht aus meinem Kopf. Grr.
Sie kam mit dem besagtem Täschchen zurück und durchstöberte den Inhalt. Dann sah sie mich mit ihren schwarzumrandeten Augen an und schüttelte mit dem Kopf.
„Deine Augenringe brechen Rekorde. Alter Schwede.“
Erschüttert sah ich sie an „Bitte was-?“ „Pscht. Halt still.“
15 min später betrachtete ich mich wieder. Meine Augenringe waren unter einer wahrscheinlich sehr dicken Concealer Schicht gänzlich verschwunden, meine Wangenknochen sahen höher aus, als sie eigentlich waren, meine Augenbrauen waren ausgefüllt, meine Lippen waren zart rot und meine Augen waren mit Mascara und einem perfektem Lidstrich geschmückt.
„Ich wusste gar nicht, dass du so schminken kannst.“
„Ach du, jeder hat ne Vergangenheit Prinzessin. Nicht nur du.“ Sie zwinkerte mir zu und verschwand aus dem Bad.
Verwirrt lies sie mich zurück. Was sollte das denn jetzt heißen?
Nachdem Ally und ich fertig waren, holten wir Melody ab um zusammen zum Frühstück zu gehen. Wir traten gerade in das Treppenhaus, als Marc die Treppe hinunter gelaufen kam.
„Hi ihr drei.“ lächelte er. Dann wandte er sich zu mir und sah kurz zu den Mädels, um zu wissen ob sie das was nun folgte mitbekommen konnten. Ich nickte nur leicht.
„Jason ist auf dem Weg nach Hause...Ich soll dir von ihm sagen, dass es ihm leidtut.“
„Ok,...danke.“
„Ich hoffe das Tante Regina ihn in eine Klinik steckt. Der ist schon viel zu lange in diesem Teufelskreis.“ Er seufzte und fuhr sich durch die Haare.
„Wie, du wusstest davon?“ schaltete sich nun Ally ein.
„Natürlich, der ist ja schon länger mit Drogen zugange. Mittlerweile müssten es 2 einhalb Jahre sein.“
„Wieso hat man da nicht früher etwas unternommen, und ihm von dem Zeug wegzukriegen?“ Mel war nun ebenfalls im Gespräch.
„Ach, der hat der ganzen Familie vorgeheuchelt er wäre von alleine wieder clean geworden und jetzt finde ich raus, dass der das Zeug immer noch nimmt!“
„Ist...ist ja jetzt auch nicht wichtig. Danke Marc. Gehen wir frühstücken.“ Ich winkte meinen Freundinnen zu und lief ihnen voraus.
2 einhalb Jahre! Dann musste er kurz nach meinem Verschwinden angefangen haben und das heißt er war knapp 15 als er angefangen hat. Wegen mir! Der bittere Geschmack von Schuldgefühlen wollte nicht schwinden. Meine Gefühle fuhren wieder Achterbahn und ich wusste, dass ich heute nicht wirklich in der Stimmung war, um einen Ausflug zu machen, der mir Spaß machen sollte. Ich wollte nicht an ihn denken, ich konnte aber nicht anders!
Diese ganzen plötzlichen Gefühle, die in mir hochkamen und alle gezielt auf Jason gingen, machten mir extreme Kopfschmerzen.
Ich massierte meine Schläfen, nachdem ich mein Tablett auf den Tisch geknallt hatte, und mich auf den Holzstuhl habe fallen lassen.
„Uuh da ist aber jemand schlecht gelaunt.“
Ich warf Ryan einen Todesblick zu, der sich gerade mit Matt an unseren Tisch gesellte.
„Lass sie.“ Ally und Melody trafen ebenfalls ein und setzten sich. Melody setzte sich wie sie wohl hoffte, unauffällig neben Ryan und lächelte ihn an, was er schelmisch erwiderte.
Doch den Adleraugen von Ally, Matt und mir entging nichts.
„Booooh.“ Ich stöhnte laut und ließ meinen Kopf in meine Hände fallen und schloss meine Augen. Dieses Verliebte konnte ich gerade echt nicht mit ansehen.
„Was' denn los Sum.?“ sagte Ryan nun mit etwas mehr Mitgefühl.
Ich hörte wie Ally Luft holte. „Sag nichts, bitte!“ schnitt ich ihr das Wort ab.
„Wohoo, ist ja gut wir sind ja nur Freunde aber hey.“ sagte Ryan beleidigt.
„Maan!“ Ja, ich hatte sie eindeutig und zwar sehr sehr schlechte Laune.
Nach außen sah ich einfach aus wie ein typisches Teenager Mädchen, dass entweder ihre Tage hatte oder einfach und simpel genervt war. Kannte man. War nichts neues. Aber bei mir steckte so viel mehr dahinter. Ich war verletzt. Verletzt und enttäuscht. Ich weiß nicht ob man diese aufgewirbelten Gefühle in mir überhaupt beschreiben konnte.
Hatte er wirklich 'Ich liebe dich' gesagt? Hatte er das wirklich gesagt? War das aus seinem Mund gekommen? Aus dem Mund, der einer so wundervollen Person gehörte, die mich in diesem Moment total verzweifeln ließ? Aber er war zugedröhnt wie sonst was. Das hatte sicher nichts zu bedeuten. Redete ich mir ein. Blöde Angewohnheit, alles schlecht zu machen, wo man gerade zu hoffen begann. Moment, hoffen? Was hoffte ich denn? Was wollte ich überhaupt? Was um Himmels Willen war denn mein Ziel?
Ich bemerkte immer öfter in letzter Zeit, dass mich diese Entführung einfach zerstört hatte. Nicht nur körperlich, auch nicht nur seelisch. Mein ganzes Sein. Ich hatte früher meine Ziele gehabt, meine Träume, wusste meine Gefühle zu deuten. Doch jetzt? Nichts. Rein gar nichts. Klar fühlte ich in Maßen Freude und mehr als genug Schmerz, aber...wie konnte ich das nur beschreiben? Ich konnte nicht einmal sagen, ob ich diesen Jungen liebte. Ich hatte diese lange Zeit, in der ich gefangen war und größtenteils alleine war so unendlich viel nachgedacht, aber irgendwann, gab es einfach nichts mehr zum Nachdenken. Nach ungefähr einem Jahr, hatte ich nichts mehr zum Nachdenken und Däumchendrehen war keine Beschäftigung für drei Jahre. Ab da stellten sich meine Gefühle wie automatisch ab. Einfach so. ich hatte das nicht einmal so wirklich mitbekommen aber irgendwann stand ich allem und jedem vollkommen neutral und emotionslos gegenüber. Wahrscheinlich einfach ein Schutz für mich selber. Hat ja auch geholfen aber ich vermutete, dass ich mich mindestens noch zur Hälfte in diesem Schutzmechanismus befand und einfach aus Angst nicht mehr hinaus wollte. Ich meine ich hatte zwei ganze Jahre hinter diesen Schutzmauern verbracht und hatte alles Schlimme überstanden, also würde mich meine Mauer auch vor jetzigen Problemen schützen. Verklemmt ? Auf jeden Fall.
Meine Gedanken kreisten um alles was man sich vorstellen konnte. Unsere Altersgruppe stampfte gerade zu dem Bus, der uns wo auch immer hinbringen sollte. Wir sollten alle Schwimmsachen mitnehmen, was wohl hieß, dass Matt Recht behielt. Da die Geheimhaltung des Ausflugs so gut wie vorbei war, war auch keiner mehr wirklich aufgeregt, sodass alles gemächlich von stammen ging.
Matt und Melody liefen vor mir und hinter mir trotteten Ally und Ryan. Ich fühlte mich von meinen Freunden auch überhaupt nicht umzingelt oder bedrängt, nein so gar nicht.
Ich schulterte meine Tasche erneut, da sie immer wieder hinunterrutschte und stöhnte zum was weiß ich wie vielten Mal an diesem Tag auf. Was war das alles für ein Dreck!
Plötzlich wurde mir die Tasche abgenommen.
„Wie geht es dir?“ Marc blickte mir sorgevoll in die Augen.
Ich wandte meinen Blick stur ab. „Gut.“ Seine Augen ruhten weiterhin auf mir, sodass ich mich mit extra genervten Blick wieder zu ihm wandte. „Ja verdammt, mir geht’s dreckig, was willst du denn hören?“ zischte ich, sodass es nicht unbedingt jeder mitbekam. Schuldbewusst zuckte er die Schultern. Er verzog seinen Mund etwas und flüsterte leise: „ Seine Mutter hat ihn gestern abgeholt, in eine Klinik wird er in ca. eineinhalb Monaten kommen für einen Monat. Ich wollte es dir nur sagen...“ er beendete den Satz nicht, sah mich einfach unsicher an. „Ja.“
Schön, dass du es mir gesagt hast lieber Marc, jetzt bin ich ja völlig beruhigt, er ist Drogenabhängig, wegen mir, muss nun in eine Klinik deswegen und wenn ich wieder nach hause komme ist er noch in diesem scheiß Entzug, dass heißt wieder sehen wir uns 3 Monate nicht. Danke der Nachfrage mir geht’s blendend!
Im Bus war es stickig und alle wollten einfach hinaus, da das Wetter für Ende März einfach nur wunderschön war. Ich sah zur Seite, wo Ally saß. Sie schaute mich an und beugte sich zu mir hinüber, damit Ryan, Melody und Matt, die mit uns hinten in der 5er Reihe saßen, nichts mitbekamen. „Du weißt schon, dass Viktoria dir ansehen wird, dass etwas nicht in Ordnung ist.“ Ich atmete langsam durch und verzog dann meinen Mund. Was sollte ich schon sagen? „Komm, scheiß mal drauf. Du vergisst den Kerl erstmal. Du bist jetzt hier mit uns. Das wird schon.“ Hätte das jetzt irgendein Außenstehender gesagt, hätte ich ihn angemault, von wegen er hätte keine Ahnung. Aber Ally hatte Ahnung, sie wusste wie es war, Sachen zu verdrängen, die einen fertig machten. Auch wenn ich nicht genau wusste was ihre Vergangenheit war, wusste ich, dass sie eine Meisterin im Verdrängen war, so gut wie sie immer drauf war. Deshalb schenkte ich ihr ein leichtes Lächeln und nickte leicht. Verdrängen Summer. Das schaffst du. Wuw. Ein bisschen Selbstantrieb durfte ja wohl sein...
Wir trauten alle unseren Augen kaum. Strand. Meer. Sonne. Sand!!
Es war der absolute Wahnsinn hier. Wir befanden uns auf einem gemieteten Privatstrand, mit Volleyballfeld, Liegewiese, Strand und wunderschönem Meer. Wann war ich bitte das letzte Mal am Meer gewesen? Vor 5 Jahren schätzte ich grob.
Einige von uns lachten einfach nur, andere riefen wild durcheinander und wir starrten einfach auf das endlose blau. Plötzlich bekam ich eine Art Drang einfach loszulaufen und nicht anzuhalten. Und das war der Startschuss. Ich lief so schnell ich konnte durch den Sand, der meine Schuhe füllte, was mir aber vollkommen egal war. Ehe ich mich versah war ich im Wasser angekommen und befand mich bis zu den Knien im Wasser. Ich drehte mich unbeschwert lächelnd um und sah das ausnahmslos jeder aus unserer Altersstufe mir gefolgt war und nun im angenehm warmem Wasser rumplantschte, sich gegenseitig vollspritzte und sogar weiter hinaus schwamm. Das wir alle noch unsere Klamotten trugen war sowas von egal. Dieses endlose, was das Meer verkörperte war für uns alle eine ungeahnte Zuflucht. Jeder von uns hier, war in seiner Heilungsphase und war schon mehr oder weniger aufgetaut, aber dieses Erlebnis ließ uns alle schmelzen.
Auf einmal bekam ich keine Luft zum Atmen, ich war umzingelt vom Wasser. Ich begriff, dass ich mich unter Wasser befand. Es war so still hier unten, so ungezwungen. Ich versuchte meine Augen zu öffnen. Es brannte ein bisschen wegen dem Salz, aber es ging.
Wie wunderschön es hier war. Ich schwebte förmlich. Meine Luft ging langsam aus und ich tauchte widerwillig auf. Über der Oberfläche bekam sich Ally nicht mehr ein vor Lachen, anscheinend war ich nur für 5 oder 6 Sekunden da unten, da sie sich sonst hätte Sorgen gemacht. Es kam mir aber viel länger vor.
Nur kurz verschwendete ich meine Gedanken an meine Schminke. Zum Glück war sie wasserfest.
Gerade wollte ich in einen Gegenangriff starten, da wurde ich plötzlich von jemanden hinter mir in den Schwitzkasten genommen.
„Na,na, na Sum. Das geht ja gar nicht. Du kannst doch nicht auf die liebe Alisson losgehen!“ gespielt entrüstet schlug sich Ryan die freie Hand vor dem Mund, was Ally noch mehr zum lachen brachte und kurz darauf stolperte und vollkommen ins Wasser plumste. Wie ein begossener Pudel saß sie in dem Knietiefen Wasser. Wir lachten alle, und ich konnte mich aus Ryans Griff befreien, der daraufhin auch hinfiel und nun konnten wir unsere Lachtränen nicht mehr zurückhalten.
Wir breiteten unsere Handtücher an einem wunderschönen versteckten kleinen Plätzchen aus. Wir waren umzingelt von Büschen und Bäumen und nur ein kleiner Eingang führte uns zu den anderen. Es war wie eine Lichtung, die einem sofort gemütlich vorkam.
Meine vier Freunde ließen sich glücklich seufzend nieder und legten sich wie ich auch hin und genossen die Ruhe und die Sonne, die unsere durchnässten Klamotten langsam trocknete.
„Leute..“ Melody seufzte leise. „Ich weiß echt nicht wie ich das grad sagen soll...“ sie verstummte kurz. „Wisst ihr.. wir kennen uns zwar nur ca. einen Monat, aber ich weiß, dass ich euch so verdammt gern hab und nie verlieren will. Und da wir fünf uns schon wie eine Clique sind, die sich ihr Leben lang kennt..also so seh ich das so und...“
„Komm auf den Punkt Mel.“ stöhnte Ally.
„Freunde verheimlichen sich nichts, und sind füreinander da, wenn sie Probleme haben. Ich finde wir sollten das auch, auch wenn unsere Situation speziell ist, da wir alle hier in Butterfly sind, weil unser Leben blöd gelaufen ist. Aber wir sind normale Jugendliche, die Freunde sind und sich vertrauen. Was ich damit sagen will...vielleicht sollte jeder von uns seine Geschichte erzählen...Ich weiß selber, dass es verdammt schwer ist, aber wir lernen hier damit zurechtzukommen und ich denke dadurch könnten wir uns alle besser verstehen und verbinden wisst ihr wie ich das meine?“
Wir waren alle eher abwesend und versuchten mit uns im inneren zu verhandeln, ob wir bereit waren unser schwerstes im Leben preiszugeben. Einige Minuten war es still.
„Ich weiß genau was du meinst.“ seufzte Matt leise.
„Ja, ich meine wir haben alle schwere Zeiten hinter uns uns sind alle hier bei Butterfly angekommen. Wir sind nicht allein. Nicht wie Zuhause, wo man das schwarze Schaaf ist und niemand einen wirklich versteht.“ ungewöhnlich poetisch ratterte Alisson diese Zeilen hinunter. Sie hatte Recht. Wir waren nicht allein.
„Es war vor 2 Jahren.“ Begann Matt, was mich überraschte, ich vermutete die anderen nicht weniger, doch wir blieben ruhig und ließen ihn seine eigene Geschichte erzählen. Er seufzte gequält. „Ich war 15. Dumm, Naiv und Respektlos. Ich glaube es gab kein Kind, dass so schwierig war wie ich. Rechthaberisch, Verwöhnt und gemein. Mein Vater war immer arbeiten und ich sah Mama als meine persönliche Haushälterin. Ich hörte nie auf sie. Es war mir scheißegal, was sie sagte. So rutschte ich ab, kam mit den falschen Leuten in den Kontakt, schwänzte Schule. Drogen, Alkohol und Dealen. Meine Gang war gefürchtet und verdammt cool. Ich war durchgängig high und peilte nichts mehr. Dann kam dieser eine Tag. Es war Abends und ich wollte gerade zu meinen Jungs. Hatte mir gerade noch eine volle Ladung Koks reingehauen und wollte gerade aus der Tür hinaus.“
Er blieb leise, wahrscheinlich um sich innerlich zu sammeln. Ich blieb immer noch ruhig und zeigte keine äußerliche Regung.
„Mama stellte sich mir in den Weg. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und sie flehte mich an zur Vernunft zu kommen und Zuhause zu bleiben. Ich beachtete sie gar nicht und schob sie an die Seite aber sie wollte mich festhalten. Ich wurde wütend. Ich weiß nicht einmal warum, es war völlig unnötig. Sie redete auf mich ein. Irgendwann war es mir zu viel.“
Ich hörte wie die anderen eingeschlossen mir, die Luft anhielten. Wir lagen noch wie vor auf den Handtüchern und starrten in den Himmel, an den sich kleine Wölkchen einschlichen.
„Ich habe sie geschlagen.“ schluchzte Matt in seiner Erinnerung. Ich blieb angespannt liegen. Er musste weitererzählen. Wenn wir ihn jetzt trösten würden, könnte er nicht mehr erzählen. „Ich habe sie in meinem Rausch geschlagen! Aber ich habe das in diesem Moment nicht einmal gecheckt! Ich habe ihr stumm in ihr schmerzverzerrtes, erschüttertes Gesicht gestarrt! Dann bin ich zu meinen Jungs gelaufen, habe sie einfach stehen lassen. Bei meinen Jungs haben wir unseren nächsten großen Deal geplant. Ich war in dieser Sache voll mit eingebunden. Auch etwas völlig Neues für mich. In der abgelegenen Fabrik, wo unser Treffpunkt war, lagerten wir unser Zeug. Alles streng geheim. Nur die Mitglieder der Gang wussten etwas davon und würden es mit ins Grab nehmen. Einmal Mitglied, immer Mitglied.
Zwei von uns machten einen Rundgang um zu überprüfen, ob jemand unser Gebiet betrat. Das war das Schlimmste, was ein Aussenstehender überhaupt machen konnte. Unser Gebiet war unser Gebiet. Der Rundgang war Routine und noch nie hatte jemand es gewagt das Gelände zu betreten. Doch diesmal wurden die Kerle fündig.
Ich handelte derweil mit den mindestens 2-3 Jahre älteren Kerlen über den Gewinn der für mich bei dem Deal herausspringen würde. Es hätte richtig viel Kohle gebracht.
Auf einmal hörte man harte Schritte und die Fabriktür wurde geöffnet. Sie hatten Mama gepackt. Sie war mir gefolgt, wollte mit mir reden, wollte mir helfen aber sie befand sich in den Klauen der 2 Meter Schränke. Ihr war ein Tuch um den Mund gebunden, sodass sie nichts sagen konnte. Ich hatte sie nur angestarrt. Realisierte nur halb, dass sie da war und wusste nicht was ich tun sollte. Die anderen schlichen um sie herum, um sie abzuschätzen. Einer nahm ihr das Tuch vor dem Mund weg. Sie sah mich verängstigt an. Sie weinte. Dann fing sie an zu reden. Sie meinte, dass alles besser werden könnte, wenn ich hier raus war, wenn ich wieder zur Schule ging und wenn ich mit dem Drogen dealen aufhören würde. Sie wusste zu viel. Sie hatte zu viel mitbekommen. Die Kerle wussten nur eine Möglichkeit für das Problem. In ihrem Rausch schlugen sie meine Mama zu Tode. Sie ist qualvoll gestorben, während ich alles aus Entfernung beobachtete. Zum Ende hin wurde ich Klar im Kopf. Ich spürte plötzlich wieder die Liebe und Zuneigung meiner Mutter und wollte meiner geliebten Mutter einfach helfen. Aber es war zu spät. Sie war tot und als nächstes wurde ich verprügelt. Aber ich starb nicht, ich überlebte, leider.“
Ich war geschockt. Einfach nur geschockt. Ich wusste nicht einmal wem mein Mitleid galt. Aber er war noch nicht fertig, er holte noch einmal tief Luft und erzählte weiter.
„Ich kam für ein Jahr in den Knast. Genau wie meine ehemaligen Gangmitglieder. Keine Ahnung wie sie damals dahinter gekommen waren, denn ich war zu dem Zeitpunkt in einer Art Scheinwelt. Ein Trancezustand. Der Knastpsychologe meinte ich hätte einen heftigen Schock. Die Säcke, die meine Mama getötet haben, sitzen immer noch. Mein Vater hat mich rausgeschmissen, dann hat mich meine Tante aufgenommen, die Schwester meiner Mutter, die mich hierhin, in den Schmetterling geschickt hat. Und Leute ohne Scheiß ihr seid das Beste, was mir passieren konnte.“ Seine Geschichte war erzählt. Er hatte sie uns preisgegeben. Er hatte sich uns geöffnet und dafür hatte er meinen vollsten Respekt.
Seine Geschichte hätte auch ein schlechter Horror Film sein können, weswegen ich auch viel darüber nachdachte. Er gab sich die Schuld von dem Tod seiner Mama, aber konnte man das so sagen? Ich wusste es nicht. Ich hatte Mitleid mit ihm. Ich sagte auch bewusst Mitleid, weil ich wirklich mit ihm leidete. Ich wusste, wie sich Gedanken in einen reinfressen konnten und einen zerstören konnten.
„Ich habe jetzt nicht so einen Roman zu berichten.. aber nunja ich fange dann mal an.“
Ryan war also der nächste.
„Vor 4 Jahren hatte ich mit meinem Vater einen schweren Autounfall. Mein Körper war fast komplett im Arsch. Alles kaputt. Ja dann lag ich erst mal 3 Jahre im Koma. Kann mich nicht dran erinnern. Andere berichten, dass sie Stimmen gehört haben oder was weiß ich. Ich hatte nichts. Ja und dann bin ich aufgewacht, nach drei Jahren. Ich hatte auch keinen Gedächtnisverlust, es war als hätte ich ganz normal geschlafen. Aber dann kamen die Nachrichten wie auf einem Schlag. Mein Vater starb damals bei dem Unfall. Meine Großmutter war an Altersschwäche gestorben, vor 2 Jahren und meine ältere Schwester hatte sich umgebracht, wegen dem Tod meines Vaters und weil ich laut den Ärzten nie wieder aufwachen würde. Sie hatte sich umgebracht! Meine Schwester, mein Vorbild, die stärkere von uns beiden. Sie alle waren weg. Auf einen Schlag bekam ich alle diese Nachrichten. Ich fragte Mama zuerst, wieso sie alleine da war, wo Papa war. Er ist tot. Wo meine Schwester war. Sie ist tot. Wo Oma war. Sie ist tot. Antworten, die ich nicht verarbeiten konnte. In dieser Zeit hatte sich so viel angespielt und ich war einfach abwesend. Zu allem Überfluss hatten wir dann auch noch eine ziemliche Geldnot, da meine Mama immer daran geglaubt hatte, dass ich aufwache obwohl die Ärzte schon nach einem halben Jahr die Maschinen ausstellen wollten. Nunja und ich bin das einzige, was Mama übrig geblieben ist und sie will das es mir wieder gut geht. Deswegen bin ich hier.“
Kurz uns knapp und das machte das so schmerzvoll. Er tat mir leid und ich konnte auch mitfühlen. Er sagte er war drei Jahre abwesend und es hatte sich so viel abgespielt. Ich wusste auch bei ihm, wie er sich fühlte.
Nun war es Melody die seufzte.
„Keine Eltern. Heimkind. Depressionen. Mit 14 Jahren Leukämie. Verdacht auf neuen Krebs.“ Ich bewunderte dieses Mädchen. Sie war das liebste und süßeste Mädchen, was ich kannte. Ich hätte nie Gedacht, dass sie solche Laster mit sich schliff. Krebs war einfach ungerecht vor allem in dem Alter. Uns was hatte sie gesagt? Verdacht auf neuen Krebs?
„Mum ist mit nem neuen abgehauen als ich 14 war und ab da hat mein Erzeuger mich geschlagen und sexuell missbraucht. Bevor meine Mama abgehauen ist, war ich ein typisches Barbie Idol. Ich war beliebt und fühlte mihc als was besseres. Blonde lange Haare, viel Schminke und ganz viel Pink! Als mein Erzeuger dann angefangen hat mich zu missbrauchen, hat sich auch mein Ausehen verändert, wie ihr ja sehen könnt.
Bin vor einem Dreivierteljahr weggelaufen und habe ihn angezeigt. Endlich hatte ich mich getraut. Das Jugendamt hat mich hierhin geschickt. Er ist in Untersuchungshaft.“
Ally war mit ihrer Geschichte auch relativ schnell fertig und komischerweise hatte ich mit jedem meiner Freunde eine Art Verbindung mit ihrem Schicksal. Ich konnte mitfühlen bei jedem von ihnen.
Man erkannte auch, dass jeder anders mit seinem Schicksal umging. Alle hatten es bisher anders erzählt, gerade so, wie sie es konnten.
Plötzlich wurde mir klar, dass ich jetzt mit erzählen dran war.
Shit.
„Ich...“ Ruhig Sum, alles ist gut. Sie haben alle ihre Vergangenheit erzählt. Jetzt bist du dran. Na los. „Ich wurde entführt. Vor ca. dreieinhalb Jahren ist es passiert und dann habe ich drei Jahre lang in einen Keller verbracht. Ich wurde geschlagen und auch missbraucht, was ich aber nie mitbekam, er hat mich immer bewusstlos gemacht, entweder mit einer Spritze oder Chloroform und dann hat er sich an mir vergangen. Er hat mich verändert. Hat regelmäßig meine Haare schwarz gemacht und hat mich extrem dünn werden lassen. Ich wusste zuerst nicht warum er das machte.. aber dann bin ich dahinter gekommen. Einen Tag hatte er, als ich wieder zu mir kam, nachdem er mir die Spritze gegeben hatte ein Bild in dem Raum verloren. Auf dem Bild war eine junge, hübsche, schwarzhaarige, extrem dünne Frau. Daneben war ER, als er jünger war. Sie hielten Händchen und lachten. Ich hatte mir alles zusammengereimt und durch seine Reaktionen und emotionalen Ausraster die Bestätigung bekommen. Die Frau auf dem Bild war seine Frau, sie ist gestorben. Er war in eine Art Wahn verfallen und versuchte in mir seine Frau zu sehen. Er wollte mir ihr Aussehen aufzwingen und ihr Wesen. Sie war klug, sie hatte viel studiert und war wissensbegierig. Ich weiß das. Ich kenne diese Frau so, als würde ich sie jeden Tag sehen. Dabei sollte ich sie sein. Er zwang mich auf, dass zu wissen was sie wusste, dass hieß ich musste lernen, sonst wurde ich bestraft. Deshalb werde ich, wenn ich wieder in die Schule gehe auch ganz normal weiter zur Schule gehen. Ich habe den Stoff gelernt so wie die anderen, nur unter anderen Bedingungen und anderen Umständen. Ich wurde geschlagen, wenn ich nicht so sprach wie sie und wenn ich etwas falsch machte. Den Rest der Zeit ließ er mich alleine. Ich hab irgendwann das Zeitgefühl verloren und meine ganzen Gefühle waren irgendwann einfach weg. Als hätte der graue Raum sie aufgefressen. Irgendwann konnte ich entkommen. Das Haus war weit weg von jeglicher Zivilisation. Ich habe es irgendwie geschafft in einen Wald zu kommen, wo ich dann gefunden wurde. Meine Familie und Freunde geben sich alle Mühe mit mir, aber es ist in diesen Jahren so viel passiert und ich bin nicht mehr die die ich war. Und jetzt bin ich hier, weil alle meinen es wäre das Beste für mich.“ Ich hatte es geschafft. Mein Herz klopfte mir zwar bis zum Hals und ich zitterte auch ein wenig, aber ich hatte es geschafft.
Erleichtert lächelte ich.
„Wow.“ sagte Matt. „Hätt ich nicht gedacht, aber irgendwie fühle ich mich besser.“
„Dito.“ seufzte Ally, sie hörte sich ebenfalls befreit an.
Ich setzte mich im Schneidersitz auf mein Handtuch und die anderen taten es mir gleich. Wir lächelten uns gegenseitig an. Es war befreit, sogar etwas schüchtern aber echt.
Ich sah zu Matt. Seine dunklen Haare saßen perfekt und sein Aussehen war auch nicht zu bemängeln mit seinen 1,85 und seiner sportlichen Figur und seinem markanten Gesicht und das ließ es so unwirklich scheinen, dass er ein so schlimmes Schicksal hatte. Ryans dunkelblonden Haare waren hingegen total verwuschelt und er hatte nur Mel im Blick. Seine Vergangenheit hatte Spuren an ihm gelassen, die mir erst jetzt bewusst wurden. Sein leicht rundliches Gesicht hatte an der Schläfe eine circa 5cm lange Narbe. Er war für sein Leben gekennzeichnet.
Mel hatte einen ununterbrochenen besorgten Blick auf Ryan, der diesen unsicher erwiderte. Mels Geschichte machte mich fertig. Sie sagte, sie hatte einen Verdacht auf Krebs. Das hieß, sie hatte ihre Geschichte noch nicht beendet. Sie war noch mittendrin, während wir unser Schicksal 'nur' noch verarbeiten mussten. Ihr süßes Aussehen, was schulterlange, rot-blonde Haare, ein Herzförmiges Gesicht, große Augen und einen Schmollmund beinhaltete, passte ebenfalls nicht zu ihrer Geschichte.
Bei Ally hatte ich mir schon ähnliches gedacht. Ich wusste, dass sie Albträume hatte, dass sie sich geritzt hatte und, dass sie auch zwischendurch auch Angstanfälle hatte. Im Gegensatz zu den anderen, konnte man ihr Aussehen damit in Verbindung bringen. Ihre dunklen Klamotten, ihr Lippenpiercing und ihre schwarzen Haare, waren für sie wohl eine Art Statement.
„...und wir haben alle unsere Geschichte erzählt. Weißt du? Ich habe meine Geschichte erzählt. Ich hab es geschafft!“ begeistert erzählte ich Viktoria von dem vorherigen Tag.
„Wow. Das ist echt beeindruckend.“ Viktoria nickte anerkennend.
„Ja, oder? Und weißt du, Anni will, dass ich singe. Nicht nur Klavier spielen, sondern auch dazu singen. Sie meint sogar ich kann das wirklich gut.“ Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so gut drauf war.
„Ich weiß, sie erzählte mir davon. Ich glaube auch, dass dir das gut tut.“
Abwartend sah ich sie an. Was kam jetzt?
„Aber du weißt, dass wir hier noch lange nicht fertig sind.“ Sie stoppte kurz, als sie sah, dass sich meine Mundwinkel senkten.
„Unser Ziel ist, dass wenn du entlassen wirst, wieder normal leben kannst.“
„Ja.“
„Aber Summer jetzt sei ehrlich. Du hast doch noch Albträume und Berührungsängste nicht wahr?“ Nur vorsichtig sprach sie diese Worte aus.
„Aber doch nicht mehr so schlimm wie am Anfang!“ versuchte ich verzweifelt wen auch immer davon zu überzeugen, dass ich wieder die Alte war, denn mich selber konnte ich damit nicht überzeugen.
„Genau, und das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Es sind auch nur noch knapp 3 Monate, dann darfst du wieder nach Hause.“
Nur noch 3 Monate...Die Frage, wie es generell mit mir weitergehen würde, wurmte mich schon lange. Dürfte ich normal wieder zur Schule gehen? Ich hatte ja im Prinzip genauso weitergearbeitet wie die anderen. Nur mit etwas sehr alten Büchern, mit einer Heiden Angst und einem enormen Druck inklusive Zwang. Aber die Schule beziehungsweise das Lernen war mir nie sonderlich schwer gefallen.
Abgesehen von den Schulischen Aspekten, war die Frage, was mit IHM passieren würde. Soweit ich wusste, hatte die Polizei ihn noch nicht gefunden und auch keinen mutmaßlichen Täter festgenommen. Ich hatte ja generell nicht einmal die leiseste Ahnung, wie es mit den Ermittlungen lief. Auch wenn man mir einredete, dass die Polizei ihn sicher packen würde, war mein Optimismus relativ am Boden. Ich war seit mittlerweile 4 Monaten wieder Zuhause, naja seit 4 Monaten nicht mehr bei IHM. Vier Monate waren eine lange Zeit und in dieser Zeit könnte er überall hin geflohen sein, wie um Himmels Willen sollte die Polizei ihn finden?
Und was war mit meinen Freunden? Vor allem mit Jason? Meine Gedanken spielten verrückt, sodass ich schon Kopfschmerzen inklusive Schwindel hatte. Alles viel zu viel!
Ich sah Viktoria entschlossen in die Augen. „Worauf warten wir?“
Sie lächelte. „Dann versuch mir bitte deine Geschichte zu erzählen.“
Es war nicht so schwer wie beim ersten Mal, trotzdem musste ich mich zusammenreißen nicht einfach den Mund zu halten und den Tränen freien Lauf zu lassen. Ich erzählte so viel ich konnte, wie ich entführt wurde, was mir dort passiert ist, der Grund, wie ich mich gefühlt habe und wie ich entkommen bin. Alles was mir in den Sinn kam.
Als ich endete, sah ich genau, wie Viktoria schluckte und ihr Lächeln war mehr nur bemitleidend als aufbauend.
„Wie fühlst du dich jetzt?“ fragte sie zaghaft. „Wie eine außenstehende, die sich gerade einen Film angeguckt hat, nur dass dieser Film meine Vergangenheit ist.“
„Hm..“ Sich überlegte kurz und stand dann auf. Sie lief zu ihrem Schreibtisch und holte ein Blatt Papier inklusive Stift. Sie setzte sich wieder und gab beides mir.
„Könntest du aufmalen, wie der Raum in dem du die 3 Jahre warst aussah?“ Verdutzt sah ich von dem leeren Papier zu ihr hoch und wieder zurück. „Eh..ja klar.“
Vorsichtig legte ich den Bleistift auf das Papier und begann unverholfen ein paar Striche zu malen, doch je mehr dieser Raum in meinem Kopf Gestalt annahm, desto mehr Details fielen mir wieder ein, je mehr ich diesen Raum vor mir auf dem Papier sah, desto schneller Klopfte mein Herz. Nach 10 min gab ich Viktoria das Blatt zurück.
„Nun gut. Ich stelle dir jetzt zu diesem Raum Fragen, während du dir mit geschlossenen Augen diesen Raum vorstellst ok?“ fragte Viktoria.
Ich nickte einfach und schloss darauf meine Augen und lehnte mich zurück.
„Wie groß ist der Raum in dem du dich befindest.?“
„15 m².“ antwortete ich ohne zu überlegen. Wie oft hatte ich aus Langeweile diesen Raum in seiner Größe, seinem Volumen und seiner Oberfläche gemessen? Meine Schätzungen dürften über die 3 Jahre ziemlich genau sein.
„Da sind zwei Türen in dem Raum, wo führen sie hin?
„Die eine Tür führt in einen Flur, die andere ist keine richtige Tür sondern nur ein Durchgang in einen anderen Raum. Es war eine Art Badezimmer. So etwas wie ein Plumpsklo und ein einfacher Wasserhahn in der Wand, ungefähr auf Hüfthöhe.“
„Wie war es also mit der Hygiene?“
„Ich konnte sooft ich wollte unter diesem Wasserhahn 'duschen', dass war ihm anscheinend egal. Schampoo, Duschgel einen Föhn oder eine Zahnbürste hatte ich nicht. Ich habe meine Zähne immer mit einem feuchten Tuch geputzt und meine Haare einfach allein mit Wasser gewaschen. Als Handtücher hab ich normale Decken benutzt.“ Es war wie ein Bericht, ohne Gefühle einfach und sachlich. Umso leichter war es für mich darüber zu erzählen.
„Gehen wir zurück in den Hauptraum, beschreibe, was die Striche an der Wand zu bedeuten Haben.“
„Die habe ich an die Wand gemalt. Es sind in echt 1114 Striche, für jeden Tag einen.“
„Wie hattest du den Überblick, wann ein Tag vorbei war? Ich sehe hier keine Fenster.“
„Ich habe einmal Täglich etwas zu Essen bekommen. Es war schätze ich Mittagszeit. Jedes Mal wenn ich etwas bekommen hatte, war ein Tag vorbei.“
„In dem Raum sehe ich eine Tasche, was ist der Inhalt?“
„Fotos, mein Portmonee, Notizblock, Kugelschreiber und noch weitere unnötige Dinge.“
„Was haben diese Dinge für einen Bezug für dich gehabt in dieser Zeit?“
„Ja die Fotos waren meine einzige Erinnerung, die ich nicht vergessen konnte. Ohne diese Bilder, hätte ich sie wahrscheinlich irgendwann einfach vergessen oder hätte einfach nicht mehr gewusst, was sie für mich bedeuteten. Der Notizblock war eine Art Tagebuch.“
„Hast du jeden Tag verschriftlicht?“
„Eher jede Woche, ich hatte Angst davor, dass das Heft irgendwann voll sein würde und, dass die Kugelschreiber auch ihren Geist aufgeben würden.“
„Diese Sachen...hast du die dort gelassen?“
„Ja.“
„In den 3 Jahren in denen du da warst, hast du dein 14., dein 15. und dein 16. Lebensjahr erreicht. In diesen Jahren entwickeln Mädchen sich zu Frauen, wie hast du das Erfahren?“
Ich zögerte, aber ich rang mich dazu einfach ohne Scham zu erzählen.
„Ich habe gemerkt, wie sich mein Körper verändert hat, habe Rundungen bekommen, Haare an komischen Stellen und zu guter Letzt auch meine Tage bekommen.“
„Mädchen in deinem Alter haben meist eine Freundin, mit der sie darüber reden können und sich Tipps geben können, wie hast du es geschafft damit umzugehen.“
„Ich wusste ja, was mit mir passiert, außerdem hatten wir in der Schule Sexualunterricht, deshalb hab ich auch keine Panik bekommen. Meine Unterwäsche passte irgendwann dann nicht mehr so gut, aber es war alles auszuhalten.“
„Wie hast du das dann gemacht als du deine Tage bekommen hast?“
„Ehm.. Ich hab eine Decke in mehrere Teile gerissen und wie eine Binde benutzt und dann immer wieder gewaschen...“ Ok ich musste zugeben, dass war keine wirklich schlimme Erinnerung aber es war mir echt peinlich so offen darüber zu reden.
„Ok ich denke das reicht, wir machen heute Nachmittag dann etwas ruhiger weiter.“
Sie lächelte mir aufmunternd zu und ich verschwand aus dem bunten Raum. Einige Sekunden starrte ich den Springbrunnen im Kreisel an, bis die Türen von den anderen Therapieräumen fast gleichzeitig aufgingen.
„Naaaaa?“ fragte Ally langezogen.
Ich schmunzelte leicht „Wir haben Pause, was machen wir also noch hier?“
Wir liefen in die Eingangshalle vom Therapiehaus, bis Mel stehen blieb
„Geht ihr schon mal vor ich warte noch auf Ryan.“ sagte sie leise und wurde rot.
Matts Therapieraum befand sich im Erdgeschoss, genau wie Ryans.
„Ach du, wir können auch mit dir warten, dann nehmen wir gleich den Matt mit, dann seid ihr ungestöhrt.“ grinste ich und wackelte mit den Augenbrauen.
„Ach lass sie doch.“ meinte Ally nur, als sie sah wie entrüstet Mel mich anschaute und zog mich mit in unser Wohnhaus, ich beschwerte mich noch lautstark, was Ally gekonnt ignorierte.
**
„Seht sie euch an.“ sagte Ally leise und starrte auf etwas hinter mich.
Matt und ich drehten uns Zeitgleich um, nur um Ryan und Mel zusammen am Buffet zu sehen. „Dieses Verliebte.“ angewidert verzog sie ihren Mund. „Leider Gottes sind sie auch noch unsere Freunde und ich darf das jetzt Tag täglich mitansehen.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen verfolgte sie die zwei. „Lass sie doch einfach.“ seufzte Matt. „Sie lassen? Die Liebe macht einen nur verletzlich.“ Insgeheim stimmte ich da Ally zu, aber wenn die Liebe da ist, kann sie das schönste auf Erden sein.
„Ha! Da habt ihr's. Wir sind schon abgeschrieben. Sie setzten sich an einen Zweiertisch. AN EINEN ZWEIERTISCH!. Liebe macht einsam. Wer setzt sich denn bitte an einen Zweiertisch? Ich sag's euch Freunde wir sind ab sofort sowas von weg vom Fenster.“ theatralisch fuchtelte sie mit ihren Händen vor Ryans und meinem Gesicht rum.
„Bleib mal locker.“ warf Matt ein und schüttelte schmunzelnd mit dem Kopf.
„Locker? Ich weiß wie das endet, sie werden zusammenkommen, dann nicht mehr zusammen sein können, weil die Therapie vorbei ist, dann versprechen sie sich ewige Liebe, es entwickelt sich eine Fernbeziehung, ein zwei mal besuchen, dann ist vorbei. Freundschaft kaputt, unsere Clique ist getrennt. Und wofür die Kacke? Fürn Arsch meine Lieben.“
„Was ist denn mit dir los?“ fragte ich teils belustigt, teils ernst.
„Was mit mir los ist? Ach das versteht hier doch eh niemand. Ich bin raus. Tschüss.“ Damit stand sie auf, nahm ihr Tablett und verschwand.
Matt und ich sahen uns verwirrter denn je an.
„Was.war.das?“
„Keine Ahnung, aber ich freue mich jetzt schon aufs Boxen mit uns drein.“ meinte Matt ironisch.
„Ja, dass kann lustig werden.“ erwiderte ich und stocherte in meinen Kartoffelbrei herum. Ich war mir sicher, dass sie nicht direkt wegen Mel und Ryan so drauf war, sondern weil irgendwas anderes dahinter steckte.
Matt und ich waren alleine auf dem Weg zur Turnhalle, da Ally einfach weg war. Ich war ziemlich aufgewühlt, wegen der Diskussion am Tisch. Hoffentlich war sie nicht allzu sauer.
In der Frauenumkleide war sie nicht, aber ihre Sporttasche, und als ich mich fertig umgezogen in den Trainingsraum begab, stellte ich mich zu Matt und Marc, die sich wie ich diese Darbietung ansahen.
Alisson schlug und trat wutentbrannt auf den Boxsack ein, zwischendurch schrie sie angestrengt auf und schlug umso fester zu. Sie war schon völlig verschwitzt und außer Atem, aber dass schien ihr nichts auszumachen, sie fixierte nur den armen Boxsack. Sie schien uns überhaupt nicht zu bemerken, nur ihren Feind, den Boxsack.
„Was um Himmelswillen tut sie da?“ flüsterte ich entgeistert.
„Psst sei still. Das ist die Phase, in der sie gegen ihre Erinnerungen kämpft. Sie verarbeitet gerade ihre Erfahrungen in Gewalt.“ Ein paar Sekunden betrachtete er sie weiter. „Was sie wohlbemerkt richtig gut macht.“ begeistert beobachtete er ihre Taktiken. „Jetzt im Ernst das macht sie richtig gut.“ schwärmte er weiter.
„Ihr Gegner ist also sie selbst?!“ fragte Matt verwirrt.
„Ja so ungefähr.“ murmelte Marc.
Plötzlich hielt Alisson inne. Wir drei hielten lautstark die Luft an. Sie lies ihren Kopf gegen den Sack plumpsen und hielt sich an ihm fest. Ganz langsam rutschte sie weiter hinunter und saß kurze Zeit später auf dem Boden. Sie war noch völlig außer Atem und plötzlich hörte man ein Schluchzen.
„Ally!“ rief ich und stürmte auf sie zu, bevor mich Matt oder Marc daran hindern konnten.
Überrascht sah sie auf, fiel mir dann aber in die Arme, als ich mich zu ihr setzte. Es war komisch, mal zu trösten, als getröstet zu werden.
Marc legte seine Hand auf meine Schulter uns bückte sich hinunter zu meinem Ohr.
„Ich glaube es wäre besser, wenn ihr für heute Schluss macht und ich alleine mit Matt weitermache. Ist das Ok?“ fragte er
Ich nickte nur und zog Alisson vorsichtig hoch.
Wir stiegen gerade die Treppen in die 4. Etage hoch. Alisson weinte mittlerweile nicht mehr und stützen musste ich sie auch nicht mehr, sie blickte einfach ohne Gefühlsregung stumpf nach vorne. Seufzend öffnete ich unsere Zimmertür und schlüpfte hinter Alisson in das Zimmer.
„Gott, war da peinlich.“ stöhnte sie und ließ sich auf ihr Bett nieder.
„Was war da mit dir los?“ fragte ich sie ohne auf ihr Gesagtes einzugehen.
„Ach du, wenn ich da jetzt drüber nachdenke macht das gar keinen Sinn mehr.“
„Los erzähl schon.“
„Ach man, ich habe euch doch von meiner Mutter erzählt, die einfach abgehauen ist, als ich 14 war. Sie ist abgehauen, weil sie für meinen Vater keine Liebe mehr empfunden hat. Sie hatte nen besseren gefunden. Es wurd ihr zu stressig einen auf heile Welt zu machen und ist einfach gegangen. Mein Vater hat sie aber so sehr geliebt, dass er etwas für seinen Frust brauchte, Mich.
Wenn es diese scheiß Liebe nicht gäbe, dann wäre meine Mutter nie abgehauen und dann wäre aus meinem Vater nie so etwas geworden. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern von irgendwem Liebe erfahren zu haben und ich kann immer noch gut drauf verzichten. Deswegen hasse ich alles was rot und rosig und frisch verliebt ist. Grässlich! Nur wegen diesem Scheiß an Liebe bin ich jetzt hier.“
„Aber , dass deine Mutter deinen Vater verlassen hat, muss doch nicht heißen, dass es so Standard ist.“ versuchte ich sie zu beruhigen.
„Pah, ich wurde noch nie im meinem Leben vom Gegenteil überzeugt.“
„Liebe ist aber wunderschön wenn man sie erfährt und wenn man sie gibt.“ lächelte ich.
„Summer, du und deine Jungendliebe, was ist denn jetzt mit dem Kerl? Er ist Drogenabhängig und du bist total verwirrt weil du null Ahnung hast, was du willst. Das ist doch Bullshit. Ich verzichte auf diese Gefühlsduselei. Am Ende ist doch eh alles am Arsch. Guck dich doch an!“ pampte sie mich an. Was sollte das denn jetzt?
„Na gut. Du scheinst deine Einstellung ja zu haben, aber man muss auch ein wenig geben, um etwas zurück zu bekommen.“ erwiderte ich trocken und verließ das Zimmer. Dieses sture Kind!
Durch meine Aufgebrachtheit raste ich ziemlich schnell die Treppen hinunter. Ich hatte nicht vor wieder zu Marc und Ryan zu gehen, mein Ziel war der Park, um nachzudenken.
Es war frisch draußen und ein kalter Wind zog an mir vorbei, während ich den Baum hochkletterte. Ich setzte mich hin und kuschelte mich in meine Jacke. Gleich hatte ich noch eine Therapiestunde. Ich seufzte genervt auf und überlegte was Viktoria als nächstes aus mir herausquetschen würde.
Ich ließ meinen Blick nach unten auf die Wiese schweifen, wo Jason noch vor nicht einmal 3 Tagen stand. Jason. Ich wusste überhaupt nicht mit dieser Situation umzugehen. Es war einfach so unrealistisch dieses ganze Szenario. Wieso musste das denn alles passieren? Es hätte mit so viele Probleme erspart wenn ich einfach in meiner Familie weiter aufgewachsen wäre in der Umgebung von meinen Freunden und nicht alleine in einem Kellerraum mit einem Mann, der psychisch gestört war.
Jetzt nach diesen 3 Jahren kamen so viele Probleme auf einmal, sodass ich emotional völlig überfordert war, ich meine wer wusste was war, wenn man 3 Jahre einfach so, ohne Vorwarnung aus seinem Leben gerissen wurde? Was war mit den Freunden, die sich inzwischen damit abgefunden hatten, dass man nicht mehr da war und sich neue Freunde gesucht hatten, was war mit der Familie, die wegen einem so lange gelitten hatte und sich auch langsam damit abgefunden zu scheinen hatte? Was war mit seiner jungen Liebe, wo man als kleines Kind nicht einmal wusste war Liebe wirklich war und auch noch völlig unerfahren war? Was war mit seinem eigenen Leben in dem man selber so viel verpasst hatte? Und was war dann, wenn man plötzlich wieder bei seinem alten Leben vor der Tür stand und alles anders ist? Was war dann? Wer könnte mir diese Frage beantworten? Niemand.
Ich musste alleine, ganz alleine damit klarkommen, denn wer verstand mich schon? Genau, niemand.
Mit Anni begann ich ein neues Lied einzustudieren, „Please don't leave me“ von Pink. Ich fand es schön mal etwas anderes zu singen und ich mochte auch den Text und die Bedeutung des Songs.
Mein Klavierspielen wurde immer besser und Anni war hin und weg von meiner „Musikalischen Fähigkeit“. Mir machte es auch Spaß und während ich sang und spielte, fühlte ich mich frei von allen Sorgen, so war ich knapp 2 Monate später wieder einmal bei Anni und sang mittlerweile mein neues Cover ein. Nach „Stay with me“ wollte ich einmal etwas unschnulziges Singen, wo es nicht nur um Gefühlsduselei ging.
„Und 3,4 los!“
Ich spielte „Blame“ von John Newman und Calvin Harris an. Ich kannte dieses Lied von Matt und es schien relativ neu zu sein. Ich merkte, als ich sang, dass es mal gut tat etwas zu singen, dass nicht zu meinem Schicksal passte. Der Sinn dieses Liedes passte überhaupt gar nicht zu mir. Es ging um einen Mann, der sich auf einer Party anscheinend zu besoffen hatte und in der Nacht nicht schlafen konnte, weil eine besagte Frau nicht neben ihm lag. Schieb es nicht auf mich, gib der Nacht die Schuld. Vielleicht hatte er in dieser Nacht seine Freundin betrogen? Eigentlich war dieser Satz ziemlich feige. Er hatte Angst vor der Wahrheit und wollte der Nacht die Schuld geben, was natürlich eine total billige Ausrede war. Oder sah ich den Songtext zu Oberflächlich? War der Mann vielleicht innerlich zerbrochen und wurde von der Frau verletzt und wollte im Alkohol Halt suchen?
Himmel, über was dachte ich bitte nach? Dieser Song war ein Partylied. Es war ein einfaches Lied mit einer netten Melodie und der Liebe Calvin Harris hatte das Lied auch nicht geschrieben, um poetisch darüber nachzudenken , sondern schlicht und einfach Party zu machen.
Das passierte mir momentan öfter, dass ich über jede Sache ziemlich lange nachdachte. Viktoria meinte, das käme von der Therapie und, dass das ziemlich positiv war wenn ich viel nachdachte, da diese Gedanken tiefsinnig waren und immer realistisch waren. Wenn ich also über die Entführung nachdachte, dachte ich gründlich darüber nach und machte mir jedes mal aufs neue klar, dass es vorbei war ich dachte realistisch. Geweint hatte ich wegen der Sache auch nicht mehr so oft. Manchmal kam es vor, dass mir alles zu viel wurde und dann weinte ich auch mal locker eine Stunde aber dann ging es mir immer besser als vorher. Ich war also auf einem guten Weg, dass sagten auch alle meine Therapeuten und ich merkte auch selber, wie ich der alten Summer immer näher kam. Immerhin musste ich hier auch nur noch einen Monat bleiben und das war nicht wirklich lange.
Das Klavier klang aus und ich sah Anni fragend an.
„Mal etwas anderes.“ murmelte sie. „Aber mir gefällts!“ Grinsend schlug sie in die Hände.
„Danke, mir auch.“ lächelnd drückte ich wahllos Tasten auf dem Klavier.
„Sag mal hast du Lust dieses Lied auch einmal Playback zu singen, ohne Klavier?“
Verduzt nickte ich. „Mir gleich.“
Und schon schob sie die CD mit dem besagten Playback in den Rekorder.
Dann ertönte auch schon der Partybass des Liedes.
Mir viel auf, dass ich noch nie auf einer richtigen Party war. Ich hatte nie mit meinen Freunden feiern gehen können, was meine Freunde in dem Alter bestimmt zu genüge gemacht hatten. Ohne das es die Eltern wussten, im Geheimen Alkohol zu trinken, verrückt tanzen, sich mit der besten Freundin hübsch zu machen, die erste Zigarette rauchen, peinliche Partygeschichten. Ich hatte diese Ganzen Sachen verpasst. Vielleicht stellte ich mir das auch anders vor als es war. Ich war ja auch erst 16, wahrscheinlich erwartete mich der ganze Kram auch noch. Aber trotzdem fragte ich mich was meine Freunde in der Hinsicht schon erlebt hatten.
„...Don't blame it on me.
Don't blame it on me-e-e“
Die Letzten Bässe des Liedes klangen noch weiter bis auch diese verstummten.
„Hmm mir gefällt das mit dem Klavier besser. Du legst unheimlich viel Gefühl in das Spielen.“ meinte Anni nachdenklich. „Nun gut. Die Stunde ist jetzt vorbei. Einen schönen Tag noch Summer.“ Und schon war sie in dem Hinterraum des Musikraums verschwunden.
Kopfschüttelnd nahm ich meine Sachen und trottete zur Turnhalle um zur Selbstverteidigung zu kommen. Ally und Mel befanden sich schon in der Umkleidekabine.
„Hi.“ begrüßte ich sie.
„Hey.“ kam es von beiden zurück.
„Eben als ich kurz in meinem Zimmer war und durch die Eingangshalle zurück zu meinem Kurs wollte, habe ich gesehen wie zwei Polizisten an der Rezeption standen.“ erzählte Melody.
Verwirrt hob ich meine rechte Augenbraue. „Was will denn die Polizei hier?“
„Pff wer weiß vielleicht ist hier wer abgekratzt.“ warf Ally nüchtern ein. „Ally!“ ermante Melody Alisson aufgebracht. Schon seit einigen Wochen war Alisson so negativ drauf. Mel, Matt, Ryan und ich versuchten sie schon länger wieder positiv zu stimmen, aber anscheinend hatte es nichts gebracht. Sie wollte nicht reden sie war einfach stur.
„Ryan hat erzählt, dass die Polizei vor ca. 5 Wochen auch schon mal da war...“ murmelte Mel. „Ja und? Was macht das schon!“ rief Alli, warf aufgebracht ihre Hände in die Luft und rauschte in die Halle.
Verwirrt sahen Mel und ich uns an. „Was war das denn schon wieder?“ seufzte ich. „Keine Ahnung aber ich glaube da steckt was hinter.“ erwiderte Melody.
Bei der Selbstverteidigung beschäftigte sich Alisson die ganze Zeit mit dem Boxsack. Wie damals als sie den Nervenzusammenbruch wegen Mel und Ryan hatte, wo sie mich nachher so blöd angemacht hatte. Marc warf uns immer fragende Blicke zu als Ally immer wieder wütend aufschrie. Wir zuckten mit den Schultern. Wir wussten ja wirklich nicht was los war. Die Stunde ging vorrüber und Ally ignorierte Alles und Jeden. Sie überzog die Stunde auch noch, sodass Mel und ich alleine in die Pause gingen.
Mel und ich setzten uns in den Gemeinschaftsraum von unserem Flur. Draußen war es uns zu kalt. Obwohl wir mittlerweile April hatten, war der Wind noch sehr kalt. Durch die Glastüren konnten wir beobachten wie Ryan und Matt lachend durch den Flur liefen und auf den Gemeinschaftsraum zukamen. Bevor Matt die Tür öffnete schlug Ryan ihm freundschaftlich auf die Schulter.
„Bruder ich sag's dir das ist Party hard.“ lachte Ryan. Nun waren die beiden im Raum.
„Das ist Creepy hard aber auch nicht mehr.“ schmunzelte Matt.
Ryan wandte sich von seinem Freund ab und ging auf Melody zu um ihr einen kurzen Kuss zu geben. Seit eineinhalb Monaten waren die beiden nun ein Paar, was uns alle freute außer Ally, die betrachtete die beiden noch immer argwöhnisch wenn sie die zwei sah.
„Was ist Creepy hard?“ fragte ich.
Ryan lachte laut auf. Er hatte seinen Arm um Mels Schulter gelegt und sie lehnte sich zufrieden an seine Brust. „Ich habe ihm davon erzählt, dass meine Therapeutin heute krank war und ihre Vertretung war ein bisschen Crazy. So ne Art Wahrsagerin war die. Voll krank.“ Er wedelte mit seiner Hand vor seinem Gesicht herum, um zu zeigen, dass diese Frau wohl wirklich nicht ganz bei Verstand gewesen war.
„Aha.“ grinste ich, als ich mir vorstellte wie bescheuert Ryan diese Frau wohl angesehen haben muss, musste ich noch breiter grinsen.
„Wo ist Ally?“ Fragte Ryan und schaute sich in dem bis auf uns vier leeren Raum um.
Mein Grinsen erstarb. „Keine Ahnung die ist wieder ein bisschen komisch drauf...“ sagte ich Schulterzuckend. Matt seufzte und ließ sich auf ein Sofa fallen. „Da ist irgendwas.“ murmelte er.“
Ja, aber was? Fragte ich mich selber, aber ich kam auf keine gescheite Antwort. Ich hatte den Blick auf meinen Schoß gerichtet und bemerkte die kommende Person nicht. Lissy, die mich empfangen und eingewiesen hatte als ich ins Butterfly kam betrat leise den Raum.
„Entschuldigung das ich störe, aber Summer kommst du bitte mit?“ fragte sie an mich gerichtet.
Verwirrt sah ich jeden meiner Freunde einmal an, die mich zurück verwirrt ansahen, aber es war eher der 'was hast du denn verbrochen Blick'.
„Ähm ok, aber wieso?“ erwiderte ich verdutzt.
„Das besprechen wir draußen.“
Mit mulmigen Gefühl ging ich mit ihr vor die Tür und lief ihr hinterher, als sie wegging. Mitten auf dem Gang drehte ich mich noch einmal um, um meine Freunde zu sehen die mir mit ihren Blicken folgten. Zerknirscht winkte ich ihnen zu und ging weiter um Lissy hinterher zu kommen.
Zu meinem Verwundern näherten wir uns meinem Therapieraum.
„Ehm Lissy, meine Therapiestunde ist erst gleich.“ merkte ich an
„Die findet heute nicht statt.“ erwiderte sie
„Weil?“ Sie winkte nur ab und lief schnurstracks auf den Kreisel zu.
Ok, warum auch nicht. Antworten zu geben war auch so schwierig.
Schwungvoll öffnete sie die Tür zu meinem Therapieraum.
„Hier ist sie.“ sagte sie zu Jemanden in dem Raum. Ich vermutete, dass es Viktoria war. Ich war noch nicht am Raum angekommen, weshalb ich auch nicht hineinschauen konnte.
Als ich fast am Raum war, schob mich Lissy mit einer Hand auf meinen Rücken in den Raum und schon hatte ich 3 Augenpaare auf mir. Eines gehörte Viktoria und die anderes beiden zwei Polizisten.
„Hallo Summer.“ lächelte Viktoria. Ich hörte wie Lissy leise die Tür hinter uns schloss.
„Ehm. Hi.“ Unsicher schielte ich zu den zwei Beamten. Es war eine Frau und ein Mann, wie ich feststellen konnte. „Hab ich irgendwas verbrochen?“ fragte ich vorsichtig.
Und schon schnellten meine Gedanken zu dem Abend, als ich Nachts zu Jason geschlichen war, aber 1. war das schon zu lange her, und 2. Wegen so etwas kam doch nicht die Polizei! Als ich kurz weiterdachte, musste ich feststellen, dass ich wirklich nichts illegales getan hatte, also musste es um meine Entführung gehen. Super.
„Nein nein Miss Livsey, es geht um etwas anderes.“ erklärte der dunkelhaarige Polizist mittleren Alters. „Genau. Es geht darum, dass wir einen mutmaßlichen Täter festgenommen haben.“ erklärte die Polizistin weiter. Sie hielt kurz inne um auf meine Reaktion zu warten, die daraus bestand aus dem Fenster zu starren. „Sie müssten mit uns auf die Wache kommen und die Person zu identifizieren.“ Wieder wurde es still und niemand wagte etwas zu sagen. „Ist das in Ordnung für sie?“ Ich nickte. „Summer ich dachte, du wärest bereit für eine Gegenüberstellung und könntest das verkraften.“ flüsterte Viktoria. Ich sah sie an und sagte. „Ja..Ja alles in Ordnung. Ist nur grad... Ach alles in Ordnung.“ Schwafelte ich. Es war wirklich alles in Ordnung aber ich war gerade ein bisschen überfordert. Was war, wenn ich IHM in die Augen sehen musste. „Schaue ich mir nur ein Foto an?“ fragte ich. „Nein. Der Inhaftierte ist auf der Wache, auf die wir sie gleich bringen.“ erklärte der Mann „Also werde ich ihn richtig, lebendig sehen?“ Ich wurde ein bisschen unruhig. „Bewahren sie Ruhe. Möglicherweise ist er nicht einmal der Gesuchte, aber ja, sie werden ihn richtig sehen, aber er wird sie nicht sehen können, nur sie ihn.“ Erzählte dann die Frau. Ich atmete kurz durch. „Ok also...meinetwegen können wir los.“ verkündete ich.
Die Landschaft zog schnell vorbei, während das Polizeiauto die Straße entlangfuhr. Es war komisch Butterfly zu verlassen. Nach dem Umstylingn und nach 3 Ausflügen mit meiner Altersklasse hatte ich die Klinik nicht mehr verlassen.
Nach 20 Minütiger Autofahrt bogen wir auf einen Parkplatz ab, der neben einem Polizeipräsidium war. Mein Herz schlug schneller bei der Vorstellung, das ER sich in dem Gebäude vor mir befand. Wieder mit dieser Gestalt in einem geschlossenen Haus zu sein löste in mir zugegebener Maßen ein unbehagliches Gefühl ein, weshalb ich nun näher an Viktoria ging. Sie war mitgekommen um mir im Härtefall beizustehen, dass hieß übersetzt wenn ich eine Panikatakke bekam. Heulkrämpfe, Schüttelfrost und Einbildungen. Das alle glaubten, dass die Gefahr bestand, dass ich so ausrasten könnte, fand ich irgendwie ziemlich übertrieben. Aber ich hielt lieber meinen Mund ich hatte schließlich nicht die Sicherheit das es nicht doch so kommen konnte.
Als sich die Türen des Präsidiums automatisch öffneten, verschwand mein mulmiges Gefühl nicht, nein es verstärkte sich sogar.
„Wirklich alles in Ordnung?“ flüsterte Viktoria mir zu.
„Ja.“ erwiderte ich kurz angebunden.
Die zwei Polizisten führten uns in einen hell erleuchteten Flur und bogen mehrere Male ab, sodass ich nach kurzer Zeit die Orientierung verlor.
„Sie werden die Person durch ein Spiegelglas sehen. Dass heißt sie sehen die Person, sie wird Sie jedoch nicht sehen können, wie ich bereits sagte.“ erklärte der männliche Polizist, während wir in einen schmales Raum geführt wurden. Durch ein abgedunkeltes Fenster sah man noch einmal den identischen Raum. Da würde ich gleich die Person identifizieren.
„Setzt euch erst einmal. Wollt ihr ein Glas Wasser?“ fragte die Polizistin an Viktoria und mich gewandt. „Ja gerne.“ antwortete Viktoria.
Ich starrte auf das Spiegelglas und konnte nur den leeren Raum vorfinden. Doch auf einmal hörte ich durch Lautsprecher in unserem Raum, wie dir Tür im anderen Raum aufging. Eine dunkelhaarige Polizistin kam alleine in den Raum. Ich konnte sie gut erkennen und ich wusste, dass sie mich nicht sah, was irgendwie komisch war.
„Kameras funktionieren!“ rief die blonde Polizistin aus, die mit uns in dem Raum war und öffnete auf einem Pc eine Seite, wo die braunhaarige Polizistin zu sehen war. Also waren auch überall Kameras.
„1,2 check.“ hörte man die braunhaarige Polizistin sagen.
„Mikrofone funktionieren ebenfalls, ok es kann losgehen.“ sagte die blonde Beamtin zu dem Polizisten, der ebenfalls in dem schmalen Raum war.
Ich sah wie die braunhaarige Polizistin aus dem Raum verschwand.
„Bereit Summer?“ fragte mich Viktoria. „Ja.“
Ich hörte durch die Lautsprecher wie die Tür im Raum gegenüber geöffnet wurde. Ich hielt meinen Atem an. Eine dunkle Gestalt mit gekreuzten Händen auf dem Rücken und mit einer Kapuze tief im Gesicht betrat den Raum. Hinter ihm kam wieder die braunhaarige Polizistin. Sie positionierte den Mann direkt vor mich und stellte sich selber an den äußeren Rand des Raums.
Die Gestalt und mich trennten kein Meter. Nur das Spiegelglas verhinderte, dass wir uns direkt gegenüber standen.
Die männliche Gestalt hatte den Kopf gesenkt, weshalb ich ihn nicht identifizieren konnte.
Ich fixierte ihn. Starrte ihn förmlich an und plötzlich hob er seinen Kopf. Ganz langsam. Und dann konnte ich sein Gesicht sehen. Finster starrte er. Er wusste nicht einmal, dass er mir mitten in die Augen sah.
Nach einigen Sekunden. Fand ich meine Sprache wieder. „Nein.“ Es war nur ein Hauch.
Stille. „Nein ich habe diese Person noch nie gesehen.“ verstärkte ich meine Aussage.
„Nun gut.“ sagte die blonde Polizistin leise „Dann kommt mal bitte mit.“ Sie bewegte sich in Richtung Tür und ich ließ mich von Viktoria mit aus dem Raum schleifen.
„Alles gut?“ fragte Viktoria mich zaghaft. „J-ja.“ antwortete ich nur. Ich konnte gerade nicht viel sagen. Ich brauchte gerade etwas Zeit zum Nachdenken. Zwar war der Mann gerade nicht der, der mir das alles angetan hatte, aber er hätte es sein können. Es hätte gut sein können, dass ich ihm in die Augen gesehen hätte. Aber es war nicht so. War ich erleichtert? Teils. Ich war erleichtert weil ich mir gerade echt nicht sicher war, ob ich bereit war, ihn zu sehen. Aber ich wusste jetzt auch, dass er immer noch frei war und, dass die Polizei ihn weiter suchen müsste. Und er hatte wieder mehr Zeit um sich zu verstecken und um abzuhauen.
„Summer, Summer, hey, hallo?“ Ich blinzelte einige Male bevor ich wieder einen klaren Blick hatte und Mel vor mir erkannte.
„Hi, da bist du ja wieder, in welcher Traumwelt warst du denn gefangen?“ Sie schmunzelte und drehte sich lachend weg.
„Wo willst du hin?“
„Na, zum Abendessen, das hab ich doch gerade schon gesagt.“
Kennst du diese Momente, in denen du dich fragst wo die Zeit geblieben ist? Du kannst es in dem Moment gar nicht richtig nachvollziehen aber in anderen Momenten merkst du, dass wieder so viel Zeit vergangen ist und wenn du überlegst, weißt du nicht einmal richtig was in dieser Zeit alles passiert ist. Es fühlt sich an, als würde alles an dir vorbeiziehen, doch manche Momente sich so unendlich lang und andere vergehen so unendlich schnell. Zeit vergeht jedoch immer gleich, deswegen fragte ich mich in diesem Moment, wie 4 Monate, wohlbemerkt ein Dritteljahr so schnell vorbei sein konnten. Ja, richtig gehört, heute war mein letzter Tag im Haus Butterfly. Man sagt, schöne Momente vergehen schnell und unschöne langsam. Für mich ist diese Zeit hier im Nachhinein vorbei gegangen wie einmal in die Hände klatschen. Klar, es gab auch nicht so schöne Tage hier, dennoch durfte ich hier wieder die ersten schönen Tage nach meiner Entführung erleben. Ich sah in den Spiegel von Allys und meinem Zimmer. Ja, es war eine schöne Zeit und ich war so froh, dass Mum und Tobi mich hierhin geschickt hatten.
„Schaffst du's?“
„Warte, ich habs gleich!“ schnaufte Mel hinter mir.
Ich saß derweil auf meinen viel zu vollen Koffer, den Mel gerade versuchte zu schließen.
Meine ganzen neuen Klamotten hatten meine alten ersetzt und ich hatte schon so gut wie es ging versucht möglichst viele Anziehsachen anzuziehen, damit nicht so viel in den Koffer musste. „Summer, du hast zu viele Klamotten!“ rief Mel aufgebracht. „Zu viele habe ich ganz sicher nicht, alle tragbaren, die ich habe sind in diesem Koffer.“ rechtfertigte ich mich schnell. „Dann ist dein Koffer zu klein!“
Ich zog die Zimmertür hinter mir zu. Mit gesenktem Kopf trottete ich mit meinem Koffer den Gang entlang, die Treppen hinunter bis in die große, helle Eingangshalle, die mir mittlerweile so vertraut vorkam, was ich vor vier Monaten noch nicht behaupten konnte.
Ich schritt weiter und blieb irgendwann vor meinen vier Freunden stehen. Langsam sah ich sie nach der Reihe an. Matt, der morgen die Klinik verlassen durfte, sah mich skeptisch an. Auch wenn er nie über Gefühle redete, wusste ich, dass er mich sehr wohl mochte und deshalb auch etwas traurig war, dass unsere gemeinsame Zeit mit dem heutigen Tag vorüber war. Neben ihm Ally, die mich mit leerem Blick betrachtete. Bei ihr war die Therapie nicht angeschlagen. Nachdem sie mitgeteilt bekommen hatte, dass ihr Vater, der sie missbraucht hatte, aus der Untersuchungshaft entlassen worden ist, ist sie wieder vollkommen zusammengebrochen und war tiefer gesunken, als sie vorher war. Mel und ich kamen gar nicht mehr an sie heran. Sie war durchgehend schlecht drauf und als ich letzten Monat eine blutige Klinge in unserem Badezimmer gefunden hatte, sie daraufhin angesprochen hatte, erzählte sie mir, dass ihr Vater ihr Briefe schreiben würde und er ihr die Schuld an allem geben würde. Nachdem wir dieses klärende Gespräch hatten, waren wir zu ihrer Therapeutin gegangen, die daraufhin Allys Therapie um ganze 5 Monate verlängerte. Seit dem waren Gespräche mit ihr nur auf das Nötigste beschränkt.
Ryan knetete sich nervös die Hände, was damit zu tun hatte, dass Mel beim Arzt war. Plötzlich lief er an mir vorbei. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Mel in diesem Moment durch die Glastür trat. Ryan sah sie fragend an und plötzlich brach sie weinend zusammen.
Es war wieder Krebs. Der Verdacht der Ärzte hatte sich bei Mel mit dieser Kontrolle bewahrheitet. Melody saß schlafend auf Ryans Schoß, während er sich weinend an Mel kuschelte. Auch mir kugelten ein paar Tränen die Wangen hinunter. Ally und Matt saßen auf den beiden Stühlen schweigend neben mir. Wir hatten uns in der Eingangshalle in die Warteecke mit mehreren Stühlen zurückgezogen. Melody hatte nicht viel erzählt, nur das die Vermutung rechtbehielt. Wieder Leukämie, im mittleren Stadium. Mel würde jetzt während sie im Butterfly war behandelt werden und würde Chemotherapien bekommen.
Ich konnte in diesem Moment noch gar nicht richtig begreifen, dass meine Freundin eine tödliche Krankheit hatte, genauso wenig konnte ich in diesem Moment begreifen, dass gerade Carry, Tobi und meine Mum durch die Eingangstür kamen. Sie ließen ihre Blicke durch die Halle schweifen, sahen mich, erkannten mich jedoch nicht. Wie auch. Wieder hatte sich mein Aussehen völlig verändert und das innerhalb von vier Monaten. Mein Körpergewicht war wieder im gesunden Bereich, meine Haare gekürzt und wieder in meine Naturhaarfarbe und mein Klamottenstil hatte sich auch an die heutige Mode angepasst. Außerdem erweckte ich mit meinem leichten Make-up einen reiferen Eindruck.
Gedankenverloren beobachtete ich meine beste Freundin, deren Blick plötzlich wieder direkt mir galt. Leicht hob ich meine Mundwinkel, was wohl in Kombination zu den Tränen im meinem Gesicht etwas komisch aussah. Sie hielt den Blickkontakt stand und kam langsam auf mich zu. Meine anderen Freunde, mit denen ich auf den schwarzen Plastikstühlen saß, bemerkten dies alles gar nicht, sie waren noch mit Melodys Neuigkeit am kämpfen.
Langsam erhob ich mich von dem Stuhl und lief Carry entgegen. Als uns nur noch ca. zwei Meter trennten, blieben wir beide automatisch stehen. Ich musterte sie. Sie sah aus, wie beim letzten Mal als ich sie gesehen hatte. So langsam gewöhnte ich mich an das neue Aussehen meiner besten Freundin, welche sich innerhalb der drei Jahre ja auch vollkommen verändert hatte.
Auf einmal lag ich in ihren Armen und es fühlte sich an...wie früher. Es war, als hätte diese Entführung nie stattgefunden. Ich umarmte meine beste Freundin, wie ein ganz normales Mädchen, ohne schreckliche Gedanken in meinem Kopf. Genau in diesem Moment bemerkte ich, dass mir Butterfly mein Leben zurückgegeben hatte. Es war klar, dass niemand die Vergangenheit rückgängig machen konnte, aber ich konnte dank der wundervollen Zeit hier damit leben und hoffentlich irgendwann komplett damit abschließen.
„Ich erkenne meine beste Freundin wieder.“ flüsterte Carry leise. Sie hatte Recht. Vor vier Monaten war ich nicht Summer. Vor vier Monaten war ich das Wrack, das übrig geblieben war von der alten Summer. Jetzt war ich die neue alte Summer, die sich ihr Leben Stück für Stück zurückholte.
„Und ich erkenne mich endlich wieder. Ich hab dich vermisst Carry.“
„Ich dich auch.“
Lebe wohl sagen. Das war nicht meine Stärke, wie ich vor ein paar Stunden gemerkt hatte. Ich hatte den Kloß in meinem Hals kaum herunter schlucken können, als ich Alisson, Matt, Ryan und Melody verabschieden sollte. Sie waren mir fast unbewusst so ans Herz gewachsen, dass ich kurz davor war Tränen zu vergießen. Die Tatsache, dass Melody uns ihre Diagnose ausgerechnet heute erzählt hatte, wo wir irgendwie alle auseinander gehen würden und uns nicht mehr um sie kümmern konnten, machte es nicht unbedingt besser. Klar hatten wir uns versprochen uns wiederzusehen, dennoch musste jeder, der jetzt wieder in sein gewohntes Umfeld zurückkehrte wieder mit seinem Leben klarkommen, was teilweise auch sehr lange dauern konnte. Ich wusste nicht, wie lange ich dafür brauchen würde, denn jetzt würde für mich wieder ein normales Teenagerleben eingespielt werden. Ich würde ganz normal zur Schule gehen und hätte keine schwerwiegenden Probleme, da ich mich innerhalb der drei Jahre quasi selbst weitergebildet hatte mithilfe von alten Büchern und enormen Druck von meinem Entführer. Nachdem ich Viktoria vor einigen Sitzungen davon erzählt hatte, hatte diese sofort meine Mutter kontaktiert, welche mich dann auf meiner alten Schule angemeldet hatte.
Ein normales Leben. Das war es, was ich mir solange gewünscht hatte und jetzt war es soweit, doch ich konnte kaum begreifen was um mich herum alles passierte. Aber es war gut, dass was hier passierte. Ich spürte, wie gut es war. Ich merkte förmlich, wie mein Bauch am kribbeln war, vor Aufregung, vor dem was jetzt alles passieren sollte.
2 Monate später
„Du weißt was zu tun ist?“ Carry sah mich mit erwartungsvollen Augen an.
„Nein, ich werde es spüren, wenn es so weit ist.“
„Das ist doch ein Witz, Summer. Ein Blinder mit Krückstock kann sehen, dass du in Jason verliebt bist, also komm hier nicht mit deiner 'Ich weiß nicht was ich fühle – Nummer' !“
Ich seufzte nur und betrachtete mich nochmals im Spiegel.
„Jetzt fang nicht auch noch an, an deinem Outfit zu zweifeln. Du siehst gut aus. Nicht zu viel und nicht zu wenig! Perfekt halt.“
Ein letzter Blick auf meine lockere, zerissene Jeans-shorts und meine Weiße Bluse und meinen roten Ballerinas verriet mir, dass sie schon Recht hatte.
Jason war erfolgreich aus der Entzungsklinik entlassen worden. Dann hatte er mich um ein Treffen gebeten, im Park, dort wo wir vor schon fast 4 einhalb Jahren zusammengekommen waren.
Langsam lief ich den Kiesweg entlang, während ich den Jungen auf der Bank betrachtete, der Gedankenverloren die Vögel am Himmel betrachtete. Mit jedem Schritt, den ich näher auf ihn zukam, wurde es mir klarer. Mit jedem Schritt wussten meine Gefühle mehr, wo sie hingehörten. Mit jedem Schritt, klopfte mein Herz schneller.
Nun stand ich direkt neben ihm. Plötzlich öffnete er seine Augen und wir sahen uns stumm an.
Ohne großartig drüber nachzudenken, setzte ich mich rittlings auf seinen Schoß und küsste ihn. Ich versuchte all mein Verlangen und meine Liebe in den Kuss zu stecken.
Zuerst schien er überrascht, aber es brauchte nicht lange, bis auch er sich dem Kusss vollends hingab. Leidenschaftlich küssten wir uns noch eine Weile, sodass mein Herz fast gar nicht mehr hinterher kam mit dem Schnellschlagen. Auf einmal unterbrach er den Kuss. Er streichelte meine Wange und lächelte mich an. „Ich liebe dich.“
Epilog
Ja, mein Happy End habe ich offensichtlicherweise gefunden. Ich musste viele Qualen über mich ergehen lassen, bis ich mein Glück gefunden beziehungsweise wiedergefunden hatte. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist alles gut so wie es ist. Zwar sind diese Erinnerungen, etwas, das ich niemals vergessen werde und auch nicht kann, aber ich habe gelernt damit zu leben und es zu akzeptieren.
Dennoch bemerke ich in Momenten wie diesen, dass ein Happy End niemals für alle Bereiche deines Lebens zu beziehen ist. Menschen, mit denen du zusammenlebst, mit denen du befreundet bist und die du in dein Herz geschlossen hast, die haben nicht alle ihr Happy End gefunden.
„Melody Rose Corry.“
Die erste Träne tropfte mir auf das schwarze Kleid.
„Du wirst hier auf Erden in den Erinnerungen weiterleben und bei Gott, wirst du ein neues Zuhause finden.“
Den Rest bekam ich nicht mit. Ich konnte nur meinen schreienden Gedanken im Kopf Aufmerksamkeit schenken. Abwesend bemerkte ich auch noch die Hand, die Jason um mich geschlungen hatte und wie er mir tröstend über die Schulter strich. Melody war tot. Mel, die mir in meiner Wiederfindungsphase so viel Kraft geschenkt hatte, hatte letzte Woche den Kampf gegen den Krebs verloren.
Als ich meine Augen wieder öffnete, waren viele Menschen schon weg. Ich sah Alisson weiter am Rande stehen wie sie vor sich hin starrte und Matt stand hinter Ryan. Ryan war hier der mit dem ich neben Mel's Eltern am meisten Mitleid hatte. Mel ist in seinem Beisein gestorben. Sie waren bis zu ihrem Tod ein Paar gewesen und jetzt sah ich ihn vor dem Grab zusammengekauert sitzen, während er etwas vor sich hin brabbelte. Wenn ich mir vorstelle, Jason hatte genauso ausgesehen nach meinem Verschwinden, dann tut mein Herz weh.
Es ist jetzt ungefähr ein Dreivierteljahr vergangen, seitdem ich aus der Klinik entlassen wurde. Vor ca. 5 Monaten, war dann der Tag, an dem der Anruf kam, mein Entfüher wäre geschnappt worden. Mithilfe von Fotos konnte ich ihn dann identifizieren und die Sache lief dann über Prozesse weiter, sodass mein Entführer, dessen Name Louis Varianto lautet. In den Medien wird er als 'grausamer Witwer' bezeichnet, als das Motiv seiner Tat ans Licht kam. 15 Jahre Knast. Das war das Urteil. Jetzt konnte ich mein Leben wirklich wieder leben.
Als ich einen warmen Atem an meinem Ohr spürte, schmiegte ich mich noch mehr in Jasons Arme. „Ich liebe dich Jason.“ flüsterte ich mit brüchiger Stimme. „Ich dich auch Summer, über alles.“
ENDE
Texte: Alle Texte von mir
Bildmaterialien: Cover: Bild: Weheartit bearbeitet: Ich
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch EUCH, weil ihr so unglaublich toll seid und mir mit euren Herzchen und Kommentaren immer ein Lächeln ins Gesicht zaubert.