Nacht. Die ganze Stadt schlief tief und fest. Man konnte ihnen die Anstrengungen, die die Hitze des Sommers mit sich brachte anmerken. Er genoss diese Ruhe. Endlich konnte er sich bewegen, ohne Angst zu haben, entdeckt zu werden. Schon seit fast einem Jahr war er auf der Flucht. Ein Gejagter. Von seinem Aussichtspunkt konnte er alles überblicken. Viel zu sehen gab es nicht. In der Nacht herrschte in der Stadt fast vollkommene Finsternis. Nur die reichen Bezirke konnten sich elektrischen Strom leisten. Die Zeiten waren bitter. Leicht strich ihm der Nachtwind durch die Haare. Die kühle Brise war angenehm nach der Hitze des Tages. Im Sommer sollte man das Leben in die Nacht verlegen. Leise sprang er auf seine Füße. Er musste seinen Vorrat auffrischen. Leichtfüßig rannte er auf die andere Seite des Daches und drückte sich ab. Vom nächsten Dach aus begann er seinen Abstieg. Am liebsten würde er nie auf die Straße gehen. Immer nur auf seinen Dächern bleiben. Tagsüber waren die Straßen voller Menschen. Hier oben war er vor ihren Blicken geschützt. Doch nun war es wieder an der Zeit, neue Lebensmittel zu besorgen. Nur so viel, wie er benötigte und nie bei dem Gleichen. Er wollte den Menschen keinen Schaden zufügen. Er ließ sich in einen Hinterhof gleiten. Die Bäckerei hatte an diesem Abend eine neue Lieferung bekommen, hier würde sein Raub nicht auffallen.
Die Sonne schien und die Schülerinnen der B1- Mädchen- Schule standen in kleinen Grüppchen und redeten, lachten und planten ihren freien Nachmittag.
Auf der B1-Mädchen- Schule waren alle Schülerinnen der Stadt, die die erste Hauptprüfung mit dem Ergebnis B1 abgeschlossen hatten. Die erste Hauptprüfung war nach Abschluss der A- Schule, im Alter von 12 Jahren. In dieser Prüfung hatte sich entschieden, ob die Schülerinnen und Schüler nun auf eine B1, B2, B3 oder B4 Schule gehen würden, mit der höchsten Punktzahl, 600-500 Punkten, konnte man die B1-Schule besuchen, 499-400 Punkte reichten für B2, mit 399-200 Punkten kam man auf B3 und mit 200-100 auf B4. Mit weniger als 100 Punkten blieb den Schülern eine Weiterbildung verwehrt und sie begannen gleich zu arbeiten, meist als niedrige Arbeiter in den großen Fabrikhallen. Die meisten dieser Schüler kamen aus den Slums.
Für die Schülerinnen der Abschlussklasse von B1 stand die zweite Hauptprüfung kurz bevor. Diese würde entscheiden, in welche Society sie nach dem Abschluss kommen würden und damit die Berufswahl deutlich reduzieren.
Doch nun wollten die Schülerinnen ihre letzten gemeinsamen Wochen vor der Prüfung noch genießen. Wer wusste schon ob sie sich danach jemals wieder sehen würden. Auch Clea gehörte zu diesen Schülerinnen. Wie die Anderen war sie sechzehn Jahre alt und sichtlich nervös, wenn sie an die Prüfungen in zwei Wochen dachte. Würde sie ihre Familie in der Society der Gerechten verlassen müssen? Und wenn ja, wohin würde sie kommen? In die Society der Handwerker, die all die Berufe ausübten, die man mit den Händen ausüben konnte? In die Society der Mitfühlenden, die Berufe wie Arzt, Lehrer und Pfleger inne hatten? In die der Intellektuellen, die als Forscher, Wissenschaftler, Konstrukteure und Professoren arbeiteten? Oder doch in die der Starken, die das Land verteidigten? Sie wusste es nicht.
„He, Clea! Bist du noch da?“ Ihre Freundin Vany wedelte mit ihrer Hand vor Cleas Gesicht herum. „Hä? Was?“ „Wir haben dich gerade gefragt, was du davon hältst, heute Mittag Picknick am Rhan-Ufer zu machen.“ „Ja, nicht schlecht. Bin dabei.“, meinte sie gedankenverloren. Es klingelte und die nächste Stunde begann – Gesellschaftskunde.
„Hallo, ihr Lieben. Da nun bald eure zweite Hauptprüfung ansteht, habe ich beschlossen, heute mit euch über das Prüfungssystem und die Societys zu reden.“ Unter den Schülern begann leises Murren und Murmeln. Wie oft hatten sie das in ihrem Leben doch schon gehört. „Nun gut, ihr kennt vermutlich schon vieles, aber dennoch werdet ihr jetzt vermutlich einiges erfahren, was euch noch neu ist. Also fangen wir an. In der ersten Prüfung wurdet ihr auf eure Intelligenz getestet. Nun seit ihr hier, das heißt ihr gehört zur Elite unseres Landes und die Chancen stehen hoch, dass ihr in eurer neuen Society einen Studienplatz bekommt oder zum Beispiel in die Society der Intellektuellen. Eure Society wird in der nächsten Prüfung bestimmt werden. Mit dieser werdet ihr zukünftig zusammen leben und arbeiten. Ihr werdet dort neue Freunde finden, könnt eure alten Freunde und Familien, die in einer andren Society sind, am Saisonalen Besuchstag sehen. In eurer Society werdet ihr zuerst ein Jahr auf die Grundsätze ausgebildet werden und mit 17 die 3. Hauptprüfung absolvieren. Diese Prüfung entscheidet über euren Beruf. - Ja, Lynn?“ „Was ist, wenn wir mit unserer Society oder unserem Beruf nicht zufrieden sind?“ In einigen Ecken der Klasse beginnt leises Getuschel. Noch nie hatte sich jemand getraut, das zu fragen. Die Lehrerin lächelte freundlich, doch mit einem geschulten Blick konnte man ihre Anspannung sehen, die zuvor noch nicht da gewesen war. „Das wird nicht passieren!“
Zuhause geisterte Clea diese Frage ununterbrochen im Kopf herum. Sie hatte sich schon ähnliches gefragt, auch wenn die Erwachsenen sagten, sie wären glücklich mit ihren Zuteilungen. Eine bedeutendere Frage erschien ihr allerdings die Sache mit dem Partner und der Familie. Wie sollte sie sich im Alter von gerade mal 20 Jahren an einen Mann binden? Sie, die noch fast nie mit einem Jungen gesprochen hatte. Und dazu noch einer, der für sie ausgewählt wurde. All das machte ihr Angst.
Zum Abendbrot war sie merkwürdig still. Ihre Mutter fragte sie, was los sei. „Ach- es ist nichts. Ich mache mir nur etwas Sorgen wegen der Prüfung.“ „Keine Sorge, meine Große. Jeder ist mit seinem Ergebnis glücklich. Es ist nur eine Bestätigung von dem, was in deinem Innersten steckt.“ „Hmm… Und wie ist das mit dem Partner und so?“ „Davor brauchst du wirklich keine Angst zu haben. Sie vergleichen eure Charakter und Interessen und werten daran aus, mit wem ihr ein glückliches, ruhiges Leben führen könnt.“
Ein glückliches und ruhiges Leben. So wie alle Menschen es führten. Nie Probleme, zufrieden mit der Arbeit, keine zu starken Gefühle, die einen aus dem Gleichgewicht werfen könnten. Ein Traum. Oder? Jedenfalls hatte diese Lebensweise seit dem Neubeginn schon viele Kriege verhindert, von denen es in der alten Welt nur so gewimmelt hatte. Das System würde auch bei ihr funktionieren und sie würde genauso in sich ruhen, wie die Erwachsenen. Musste einfach. Wäre da nur nicht diese seltsame innere Unruhe.
***
Der Mann lief unruhig auf und ab. Die Wände des herrschaftlichen Zimmers waren mit Staatswappen und Bildern des Controlers geschmückt. Einige Assistenten schauten gebannt auf den Mann und warteten, was er zu sagen hatte. Er hatte schlechte Laune. Das war kein gutes Zeichen. Zurzeit hatte er oft schlechte Laune. Seine schneidende Stimme begann leise zu sprechen. Sehr kontrolliert und ruhig, zu ruhig. Sie waren es gewöhnt, dass er sie anbrüllte. Immer. Ohne Grund. Wenn er so ruhig war, musste man sich vor ihm in Acht nehmen. Es bedeutete, dass er seine Wut aufsparte um sie später in voller Wucht an ihnen zu entladen. „Ihr habt den Jungen schon wieder entkommen lassen?“ Betretenes Schweigen. „Antwortet mir!“ „Mhh, ja… Also. Es war dunkel. Er - er war so schnell und dann war er plötzlich weg.“, begann eine zaghafte, stotternde Stimme. Oh-oh, ganz schlecht. Der Antwortende war wohl neu hier. Sonst wüsste er, dass er nun wohl besser den Mund gehalten und abgewartet hätte. „Höre ich richtig? Ihr lasst euch von einem 17-Jährigen Jungen zum Narren halten? Kann man sich auf euch Schnarcher denn gar nicht mehr verlassen? Ihr wart zu zehnt!“, begann der Mann zu brüllen. Die meisten der Assistenten schauten verlegen auf den Boden, an die Decke, oder begannen nervös vor sich hin zu pfeifen. Doch einer hatte durch den ersten Mut gefasst. Nun- vielleicht war es kein Mut, sondern vielmehr eine törichte Dummheit, als er antwortete: „Es war nicht irgendein 17-Jähriger Junge. – Es war Night.“
***
Zur selben Zeit krümmte der Junge sich in seinem Versteck zusammen. Er war nicht mehr dazugekommen, in die Bäckerei einzusteigen. Einen kurzen Moment nur war er abgelenkt gewesen. Hatte im Fenster des Nachbarhauses das Gesicht des Mädchens gesehen. Nur für einen kurzen Moment, bevor sie hinter dem Vorhang verschwunden war, ohne ihn zu sehen. Doch dieser Moment hatte ausgereicht, um ihm das Gesicht des Mädchens für immer ins Gedächtnis zu brennen. Zart und unschuldig und doch wild und widerspenstig. Jung und doch so… weise? Nein das war der falsche Ausdruck, doch sie erschien ihm, als hätte sie die ganze Wahrheit der Welt in sich verinnerlicht. Und wüsste nur noch nicht so richtig, was sie damit anfangen sollte. Den Bruchteil einer Sekunde hatte er ihre Augen gesehen, doch dieser Augenblick hatte ausgereicht, dass sie sich für immer in seine Seele eingebrannt hatten. Trauer, Schmerz, Freude, Unruhe,… So viele Gefühle hatte er in ihrem Blick gesehen, der tief war und wild wie das stürmische Meer. Lange hatte er in keinem Menschen mehr solche Gefühle gesehen.
Dieser kurze, im Laufe eines Lebens so unbedeutende Augenblick, hatte ihn völlig aus der Bahn gerissen. Obwohl er sie nie wieder sehen würde, wollte er nichts stärker als ebendies. Einen Moment war er unaufmerksam, gefangen von diesem Mädchen. Ein Augenblick zu viel, denn in diesem Moment hatten sie ihn entdeckt. Für einen kurzen Moment hatte er vergessen, dass er ein gejagter Verbrecher war, der niemals ein ruhiges, normales Leben führen könnte, erst recht nicht mit diesem Mädchen. Und auch nicht mit sonst jemandem, den er nicht sein Leben lang in Gefahr bringen wollte.
Dann hatte er das Pfeifen gehört. Das Pfeifen einer Pistole. Ein Geräusch, das er im Schlaf erkennen würde. Sofort war er wieder hellwach gewesen, rollte sich auf die Seite. Doch es war zu spät, die Kugel hatte seine Seite noch leicht gestreift, auf der linken Seite, direkt neben seinen Rippen, etwas unterhalb des Herzens. Er war aufgesprungen. Hatte den Schmerz unterdrückt. Das Adrenalin hatte ihm dabei geholfen. War die ganze Nacht weiter gerannt, von Dach zu Dach gesprungen, durch leere Fabrikhallen und enge Gassen gerannt, immer die Richtung gewechselt. Die ganze Nacht war er nicht stehen geblieben. Zweimal in einen Fluss gestiegen und ein Stück weiter wieder raus, um die Spuren, vor allem das Blut, zu verwischen. Er blutete stark. Inzwischen hatte die Blutung etwas nachgelassen. Er hatte sich aus seinem T-Shirt einen notdürftigen Verband angefertigt. Lange Baumwollstreifen. Zuvor hatte er die Wunde im Fluss, der direkt neben ihm lag, gereinigt. Vorerst konnte er hier bleiben, bis er erholt war. Die Ecke war geschützt, es war warm und er hatte Wasser. In der Nacht würde er zu seinem kleinen Lager zurückgehen.
***
Wo bin ich? Alles ist düster. Ich renne. Angst. Höre meinen lauten Atem. Sie verfolgen mich! Männer ohne Gesicht. Hilfe! Hört mich denn keiner? Was soll ich tun? Ich renne schneller. Sie dürfen mich nicht einholen. Ich renne um eine Biegung. Habe ich sie abgeschüttelt? Nein. Sie verfolgen mich immer noch. Rufe-ich soll stehen bleiben. Nein. Ich renne um mein Leben. Weiter und weiter. Habe schon längst die Orientierung verloren. Wie soll ich jemals wieder nach Hause finden? Ich renne um eine weitere Biegung. Eine Sackgasse! Langsam drehe ich mich um. Meine Verfolger kommen mir näher und näher. Sie sehen bedrohlich aus. Ich kann kein Gesicht erkennen. Ihre Gesichter liegen komplett im Schatten. Ich schreie. Ahh!
Ahhhh! Schweißgebadet wachte sie auf. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Nur ein Alptraum. Nichts davon war real. Wie sollte es auch? Sie hatte nichts getan und wer sollte einen Grund haben, sie zu jagen? Langsam beruhigte sie sich. Es war so real. Sie blickte auf ihren Radiowecker. Die Ziffern zeigten 03:28. Wie lange hatte sie geschlafen? 5 Stunden? Sie würde am nächsten Morgen die Augen nicht offen halten können, wenn sie nicht noch ein paar Stunden schlief. Doch sie hatte Angst, noch mal in diesen Traum zu rutschen.
Leise stand sie auf und ging in die Küche. Wie in Trance nahm sie ein Glas aus dem Regal, ging zum Spülbecken und füllte es mit Wasser. Sie setzte sich an den Küchentisch. Trank einen Schluck. Dann noch einen. Sie betrachtete die vertraute Küche. Die teuren, modernen Geräte, die ihrer Mutter alle Kocharbeit abnahmen und zauberhafte Gerichte zauberten. Die alte Küchenuhr, aus echtem Buchenholz, handgeschnitzt und wunderschön verziert – ein Erbstück ihres Großvaters. Langsam beruhigte sie sich. Die vertraute Umgebungtat ihr gut. Dann trat sie ans Fenster und begann nachzudenken.
***
Er machte sich auf den Heimweg. Es war dunkel genug, dass er es wagen konnte, trotz seiner verletzten Seite. Doch er musste noch einmal bei der Bäckerei vorbei. Er war schließlich gestern nicht mehr zum Auffrischen seiner Vorräte gekommen. Er würde zu dem von gestern Nacht gehen, obwohl er dort Gefahr laufen würde, noch einmal auf seine Widersacher zu treffen. Aber er hatte nun schon einen Plan für den Einbruch in dieser Bäckerei. Bei anderen Geschäften wusste er nicht einmal, ob sie im Moment Lebensmittel gelagert hätten, oder ob sie nachts Wachen aufgestellt hatten. Auch wenn das ziemlich unwahrscheinlich war. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er vielleicht auch deshalb dorthin mochte, weil er hoffte, das wundersame Mädchen wiederzusehen. Ein bisschen zumindest.
Er machte sich auf den Weg. Sein Einbruch erfolgte ohne Probleme. Scheinbar waren seine Wächter nicht auf die Idee gekommen, er könnte noch einmal wiederkommen. Wie immer arbeitete er perfekt. Hinterließ keine Spuren, nahm gerade so viel, dass es ihm für die nächsten Tage reichen würde und es nicht auffiel. Dann wandte er sich dem Haus des Mädchens zu. Wäre er eine halbe Stunde früher gekommen, hätte er das Licht in der Küche brennen sehen. Und das Mädchen. Doch nun war das Haus so dunkel, wie alle anderen außenherum. Natürlich. Er befand sich im Gebiet der Gerechten. Niemand von ihnen würde mehr Licht benutzen als notwendig und nachts wach bleiben. Sie hielten sich an die Gesetze. Er betrachtete das Haus genauer. Es war ein schmuckes Einfamilienhaus. Nicht viele Familien konnten sich heute noch solche Wohnungen leisten. Die meisten lebten in kleinen Wohnungen im Zentrum.
Er kam aus den Slums. Sie waren etwas außerhalb der Stadt. Bruchbuden reihten sich aneinander. Und eine solche war dort schon Luxus. Die meisten Menschen lebten auf der Straße. Seine Familie hatte Glück gehabt. Sie hatten lange gespart, um sich eine Wohnung leisten zu können. Doch vor einigen Jahren war sie niedergebrannt und mit ihr alle, die darin lebten. Seine ganze Familie. Er hatte als einziger überlebt. Damals war er 12. Ging auf die A-Jungen-Schule. Seine Prüfungen hatte er nicht bestanden. Was hätte man auch anderes erwarten sollen von einem Jungen aus den Slums. Einmal Slum immer Slum, oder etwa nicht? Ganz davon abgesehen, dass er nie viel von dem System gehalten hatte, dass seine und die vielen anderen Familien so im Stich ließ, schlimmer noch: Unterdrückte. Sie konnten ihn einfach nicht bestehen lassen. Vielleicht hätte es ansonsten sogar für B4 gereicht.
Als sie starben gab es nichts mehr, das ihn noch hielt. Keine Familie, kein Dach über dem Kopf. Und das bisschen Geld, das er verdiente, reichte nie für das Lebensnotwendige. Er hatte schon früh gelernt, dass einem hier nichts geschenkt wurde und auch, wie er in scheinbar ausweglosen Situationen überlebte. Er war sportlich und wusste sich mit einfachen Dingen und Einfallsreichtum zu behelfen. Hätte das Prüfungsergebnis nicht das Gegenteil bewiesen, man würde meinen, er wäre mindestens auf B2, wenn nicht sogar B1.
Nun hatte er schon fünf Jahre überlebt. Immer mit Verfolgern im Rücken. Warum ausgerechnet er, wusste er selbst nicht so genau. Vielleicht sahen sie die Gefahr in ihm, weil er intelligent genug war zu überleben. Weil er sich nicht mit den anderen Slums die Köpfe einschlug, oder bettelnd und willenlos am Straßenrand saß. Weil er nicht verwahrlost durch die Slums kroch. Weil er sich gegen ihre Regeln widersetzte. Weil er den Kopf oben behielt. Seine Mutter hatte ihn von Kindesbeinen an gelehrt, wie wichtig Würde war. Die konnten sie ihm nicht nehmen, egal, wie schlecht es ihm ging. Er behielt den Kopf oben.
„Kommst du mit zum Schwimmen?“ Vany hüpfte aufgeregt vor ihr auf und ab. „Och komm schon Clea! Ohne dich macht es gar keinen Spaß!“ „Ich hab doch gar nichts gesagt. Natürlich komme ich mit!“, lachte sie.
Wie immer war ihre beste Freundin absolut energiegeladen und sie genoss es. Diese Unbeschwertheit. Sie selbst war eher das Mauerblümchen, besonders im Vergleich zu ihrer Freundin. Oft wurde Vany gefragt, warum sie sich überhaupt mit ihr abgab. Vany gehörte zur Elite: Reiche Eltern, beide Wissenschaftler und in der Politik, wie fast alle Intellektuelle. Immer im neusten Trend. Das am besten aussehende Mädchen des Jahrgangs; groß und schlank; lange, glatte, blonde Haare; große grüne Augen, die funkelten wie Smaragde. Immer fröhlich. Alle wollten mit ihr befreundet sein. Und trotzdem wollte Vany nur sie als beste Freundin.
Die Schüchterne. Die Leise. Die Langweilige. Mit den störrischen braunen Haaren und den blauen Augen, die so gar nicht dazu passen wollten. Die nichts tat, was Spaß macht. Sie, die so viel nachdachte und den Sinn doch nicht verstand. Ihre Eltern zwar aus der Society der Gerechten, Richter, erfolgreich und doch fühlte sie sich fremd in Menschenmassen, auf Partys, schlicht: Im Leben.
Vany hatte etwas an sich, das sie all das vergessen ließ: das sie vergessen ließ, dass sie Albträume hatte, das sie ihren Schmerz, ihre Sehnsucht nach dem vergessen ließ, was sie nicht hatte, wovon sie nicht wusste was es war und doch wusste, dass es da etwas gab; sie hatte etwas an sich, das ihr das Gefühl gab – glücklich zu sein.
Die Mädchen hatten sich für drei Uhr nachmittags am Gate 5 verabredet. Gate 5 war eine der U-Bahn-Stationen. Die meisten Menschen bewegten sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln U-Bahn oder Helikoptern. Autos konnte sich kaum jemand leisten. In der Stadt würden sie sich sowieso nicht lohnen, da man die Strecken problemlos zu Fuß oder mit der U-Bahn erreichen konnte. Und in den Außenbezirken der Stadt waren die Straßen sowieso zu schlecht. Für weitere Entfernungen nahm man den Helikopter, sofern man ihn sich leisten konnte und wenn man in eine andere Stadt wollte, musste man die Langstrecken-U-Bahn nehmen. Mit dem Helikopter wäre das viel schneller zu bewältigen, doch seit dem Unglück konnte man die Schutzzonen nicht mehr verlassen.
Das Unglück hatte sich vor genau 30 Jahren zugezogen. Damals hatten die Leute „draußen“ versucht, die ganzen Einwohner des Staates zu vernichten. Sie hatten giftige Dämpfe verteilt, die die Bevölkerung in wenigen Jahren ausgelöscht hätten, wenn die Regierung nicht schnell genug die Schutzkuppeln, elektrostatisch aufgeladene Kuppeln die die Dämpfe außen hielten, über den Städten errichtet hätten. Seither konnte man nur noch unterirdisch und auch nur mit staatlicher Genehmigung von einer Stadt zu einer Anderen.
Die Leute „draußen“ hatten sich mit den Dämpfen selbst vernichtet und waren nun keine Gefahr mehr, doch die Dämpfe würden noch viele Jahrzehnte eine Bedrohung für alle sein, die „draußen“ wären.
Als Clea am Gate ankam, entdeckte sie ihre Freundin nicht sofort. Sie blieb einen Moment stehen und sah sich um. Von überall her strömten Menschen auf sie zu, an ihr vorbei, kreuz und quer, durcheinander. Sie hasste solche Menschenansammlungen. Hatte eine panische Angst davor.
Sie bemerkte, dass sie sich schon mindestens 5 Meter bewegt hatte, obwohl sie doch eigentlich stehen geblieben war. Verdammt! Mussten warum konnten die anderen nicht aufpassen? Sie versuchte gegen den Strom anzukämpfen, doch nach ein paar vergeblichen Versuchen gab sie auf. Ließ sich mitziehen ins Irgendwo.
***
Er saß in den Metallstreben oberhalb des Gates. Er war gerade zurückgekommen von „seinem Ort“. Er hatte die Freiheit genossen, wenn auch nur für wenige Stunden. Nun war er wieder in dieser Enge, zwischen all den Menschen da unten, wenn sie ihn auch nicht sehen konnten, da keiner seinen Blick nach oben gewandt hätte. Dennoch – es war beklemmend. Er betrachtete die Masse, die sich zähflüssig und doch unaufhaltsam wie Brei, der aus einem umgekippten Glas läuft, in Richtung Gleise bewegte. Ja, sie waren eine Masse, gänzlich ohne Individuen und eigene Gedanken. Natürlich, es gab die Intellektuellen, sie entwickelten viele Fortschritte in der Technologie und Wissenschaft, das konnte er nicht bestreiten. Doch im Grunde waren sie genauso wenig Personen wie die anderen, zumindest keine Personen mit persönlicher Meinung, eigenem Wissen. Sie taten auch nur das, was der Staat wollte, entwickelten das weiter, was es sowieso schon gab, lernten das, was man ihnen hunderte Male im Unterricht vorgekaut hatte. Und wer bestimmte, was sie im Unterricht lernten?- Natürlich: der Staat. Keiner von ihnen war echt echt.
Er ließ seinen Blick streifen. Sah viele Köpfe von oben, Haaransätze, Glatzen, Hochsteckfrisuren. Menschen die in Eile waren. Schweißperlen auf der Glatze des alten Mannes direkt unter ihm. Zwei Kinder, die stritten; ihre Mutter, die verzweifelt versuchte, sie auseinander zu zerren und auf sie einredete.
Niemand würde denken, dass all die Menschen, die in so verschiedene Richtungen steuerten, so verschiedene Dinge taten, so verschieden aussahen, ja dass all diese Menschen im Grunde alle auf dieselbe Weise ferngesteuert waren. Sie selbst bemerkten es nicht. Konnten es nicht bemerken. Dachten sie seien glücklich. Das machte ihn traurig. Und wütend.
***
Endlich entdeckte sie Vany. „Hey, Vany! Hier bin ich!“, rief sie und ruderte wild mit den Armen. Ihr viel ein riesiger Stein vom Herzen, als sie sie endlich sah. Gemeinsam stiegen die beiden Mädchen in die U-Bahn, die - wer hätte etwas Anderes erwartet – vollgestopft von vorne bis hinten war. Es war ein Wunder, dass die Beiden überhaupt noch einen Stehplatz ergatterten. Auch die Luft- konnte man es überhaupt noch Luft nennen- war mehr als fraglich: Abgestanden, warm-natürlich fielen die die Klimaanlagen aus, die wären zu teuer- und voller altem Schweiß von 100en Leuten, die sich auf engsten Raum drängten.
Hätte Clea nicht schon am Bahnhof Platzangst bekommen, spätestens hier hätte sie die Panik überrollt. Sie schloss die Augen. Hielt die Luft an. Dachte an den Badesee, zu dem sie nun fahren würden. Nur nicht dran danken, dass sie sich gerade mit mehreren 100 anderen Leuten auf engstem Raum in einem Fahrzeug befand, in das, wenn es entsprechende Sicherheitsvorschriften gäbe, höchstens ein Bruchteil der Menschen, die hier waren, gehen dürfte. Nicht dran denken, dass sie sich unter der Erde befand und was passieren würde, wenn es hier unten einen Unfall gäbe. Nein, ein solcher Unfall war im Staat noch nie vorgekommen. Es würde nichts passieren. Die Technik war viel zu gut entwickelt. Und doch. Sie wurde dieses ungute, beklemmende Gefühl, das immer von ihr Besitz nahm, wenn sie sich in engen Räumen befand, einfach nicht los.
Zum Glück ging die Fahrt nicht allzu lange und Clea und Vany konnten schon bald in die Sonne treten. Geblendet mussten sie erst einen Moment lang stehen bleiben und blinzen. Nun fiel es ihnen erst auf wie dunkel es im U-Bahn-Schacht wirklich war. Vor allem im Vergleich zu so einem schönen Tag.
Am See war erstaunlich wenig los. Außer ihnen war dort nur noch eine Gruppe von Jungs, die auch ungefähr in ihrem Alter war. Vany steuerte direkt auf sie zu. „Vany! Was machst du da?“, zischte ihre Freundin.
Minderjährige durften nicht im Kontakt zu dem anderen Geschlecht, außer Verwandten, sein. Die Gefahr war zu groß, dass sie sich Hals über Kopf verliebten und dadurch ein schweres Trauma erlitten. Und Clea war es noch nie schwer gefallen dieses Jugendschutzgesetz einzuhalten. Im Gegenteil, es war ihr sogar recht, war sie doch schon immer sehr schüchtern und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendein Junge etwas mit ihr zu tun haben wollte. Ihr war es eigentlich ganz recht, dass die zueinander passenden Partner mit 20 entschieden wurden und sie sich da nicht selbst den Kopf darüber zerbrechen musste. Auch wenn 20 für sie viel zu früh war! Nach der Verheiratung durften Frauen und Männer auch untereinander Kontakt haben, da war die Gefahr gebannt.
Soweit das Gesetz. Das einzige Problem an der Sache war, dass Vany nicht so allzu viel davon hielt. „Mensch, Vany! Wir dürfen das nicht!“ „Ach, komm schon Clea, jetzt spiel doch hier nicht so den Moralapostel, lass uns doch ein bisschen leben, solange wir noch jung sind!“
„Hey, Chics! Ihr seht so aus, als wolltet ihr euch gerade zu uns setzen!“ Fing da auch schon einer an. Clea schoss die Röte ins Gesicht, doch Vany ging selbstbewusst auf ihn zu. „Wie kommst du denn darauf, dass wir gerade zu euch wollen?“, neckte sie ihn. „Na, wer will das nicht?“, entgegnete der Fremde und seine Freunde begannen zu grölen.
Clea stand immer noch stocksteif da, als Vany sich schon zu den Jungs gesetzt hatte. Inzwischen hatten sie sich gegenseitig vorgestellt und begannen mit Smalltalk. „Was ist eigentlich mit dem Püppchen da drüben, deine Freundin, wie heißt sie noch gleich…? Clea? Die sieht ja aus, als hätte sie ein Stück Wand verschluckt! Richtig blass. Kipp mir nicht noch um, Mädel, sonst muss ich noch Mund-zu-Mund-Beatmung machen!“, begann einer, Leon oder Lars oder so, Clea war sich nicht sicher. Wieder begannen seine Freunde zu grölen.
Nun war ihr wirklich zu Heulen zumute. Sie wollte nur noch nach Hause. Doch das konnte sie sich nun erst einmal abschminken, denn Vany und die Anderen sprangen ins Wasser und begannen eine ausgedehnte Wasserschlacht. Traurig und allein setzte sie sich an den Rand und ließ ihre Beine herabhängen. Wieso konnte sie nicht einfach auch so locker sein und Spaß haben? Vany hatte ja Recht, sie hatten nicht mehr lange Zeit, ihre Jugend zu leben. Aber musste man denn gleich gegen das strengste Gesetz verstoßen und mit Jungs zusammenhängen?
Sie ließ ihren Oberkörper erschöpft zurückfallen und betrachtete eine Weile den Himmel. Wie gerne wäre sie so frei wie die Vögel dort oben. Oder noch besser, die Wolken, die nicht einmal in den Grenzen der Kuppel gehalten wurden!
Sofort erschrak sie selbst über ihren Gedanken. Die Kuppel war da, um sie zu schützen und alle Gefahren außerhalb zu halten. Und sie wünschte sich „draußen“ zu sein?
***
Die alte Frau öffnete die Augen. Langsam. Erst das eine, dann das andere. Sie hatte lange geschlafen. So lange. Was war in dieser Zeit geschehen?
Sie hatten sie erpresst, bedroht, ausgeraubt. Bis nichts mehr da gewesen war. Doch das Schlimmste: Sie hatten ihren Sohn genommen. Entführt mit den anderen Kindern. Vor 41 Jahren. Er war zwei gewesen. Ob er noch lebte? Hatte er nun eine Familie? Wusste er, woher er kam? Vermutlich nicht. Wieso sollten sie es ihm sagen?
Und dann begann die zerbrechliche, alte Frau bitterlich zu weinen.
***
Er schloss seine Hand um die Münze. Sie war das Einzige, das ihm von seiner Familie geblieben war, nach dem Brand. Er wusste nicht viel über sie, nur dass sein Vater sie immer bei sich getragen hatte, dass sie offensichtlich etwas mit seiner mysteriösen Vergangenheit zu tun hatte, über die er selbst nichts wusste.
Auf der Münze prägte ein Wappen, alt, majestätisch, aus einer Zeit, in der es noch keine Kuppel gegeben hatte.
Er hatte schon viele Bücher gewälzt an „seinem Ort“, war sich sicher, dass die Münze von draußen kam. Er wollte mehr über seine Geschichte erfahren. Über das Leben seiner Eltern und Großeltern, doch jeder seiner bisherigen Versuche war bisher im Leeren verlaufen.
„Mama! Mama!“, brabbelte das kleine Mädchen neben ihr. Sie lächelte. Wie gerne wäre sie selbst noch einmal in diesem Alter. Unbesorgt und fröhlich. Wann hatte sie das letzte Mal so lachen können? Ihr tat das kleine Mädchen leid, wenn sie daran dachte, wie wenig rosig seine Zukunft wohl aussehen würde.
Die Familie kam aus den Slums. Sie würden niemals reich sein. Das Kind würde vermutlich nicht gerade in B1 oder B2 kommen, wenn es soweit wäre. Selbst B3 war für Kinder aus den Slums unwahrscheinlich, da ihre Lernmöglichkeiten sehr eingeschränkt waren. Doch dieses Kind konnte es schaffen, es wirkte so aufgeweckt.
Dennoch würde es hart für sie werden. Und dann, mit 16, würde sie ihre Familie verlassen und nie wieder sehen. Die Menschen aus den Slums durften keinen Kontakt mit denen aus den Societys haben. Doch ihre Eltern würden froh sein, dass sie eine Chance auf ein besseres Leben hätte und ihr nicht sagen, dass sie sie nie wieder sehen könnte, um sie nicht zu belasten.
Clea hatte sich unter die Einwohner der Slums gemischt. Wollte erfahren, wie ihr Leben wirklich war. Sie war schockiert. Man hatte ihnen erzählt, die Menschen wurden unterstützt, wo es nur ging doch vielen von ihnen fehlte es an dem Notwendigsten.
Wieso half ihnen denn niemand? Oder – wieso kam die Hilfe nicht an? Sie fand keine Erklärung.
***
Sie wiegte sich selbst vor und zurück. Einst waren sie ein großes Adelsgeschlecht gewesen. Doch das war lange vor dieser Zeit. Es war ihnen nicht viel geblieben, nach dem Überfall.
Als sie die Kinder holen gekommen waren, hatte siees ihm in sein Jäckchen eingenäht. Sie hatte gehofft, dass er es irgendwann fand und sich erinnerte. Es war das letzte gewesen, was sie besitzt hatte.
***
Der Mann ging in seinem Gemach auf und ab. Konnte sich nicht setzen. Nicht zur Ruhe kommen. Was würde der Controler sagen, wenn er erfuhr, dass sie ihn wieder nicht erwischt hätten? Er würde alles andere als begeistert sein. Und wer war dann natürlich wieder schuld an der Sache? Er natürlich. Ihm war, als hätte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen und allen voran dieser abscheuliche Junge – Night.
Niemand wusste wer er in echt war. Aber er war gefährlich. Und die Sache würde noch gefährlicher werden, wenn die Bürger von ihm erfuhren. In Panik gerieten. Niemand würde der Sicherheit des Staates mehr vertrauen.
Und alles nur wegen diesem Jungen. Er war 16 oder 17 Jahre alt, höchstens 18. Und doch machte er dem Staat Probleme, wie kaum ein anderer. Natürlich gab es immer wieder Einzelpersonen, die unzufrieden waren, aufrührerische Texte verfassten und im Internet veröffentlichten, ja, sogar Bands, die verbotene Konzerte gaben oder andere „Künstler“, wie sie sich nannten. Doch die wurden alle gefasst, bevor sie größeren Schaden anrichten konnten.
Diesem Night traute er nicht über den Weg. Er lebte nun schon einige Jahre im Verborgenen und niemand hatte es je geschafft, ihn zu fassen. Er war für all die Raubüberfälle der letzten Jahre verantwortlich. Nie viel aber dafür umso öfter. Vermutlich plante er einen Widerstand. Und wenn es so weit kam, würde es gefährlich werden: Er tanzte ihm ja jetzt schon gehörig auf der Nase herum.
Nein. Alle bisherigen Versuche, ihn unschädlich zu machen, waren missglückt. Er müsste sich etwas Neues einfallen lassen. Schnell.
***
Er saß in einer dichten Krone eines hohen Baums. Sah hinab auf die Menschen unter sich. Die Menschen der Slums. Seine Familie. Auch wenn seine wirkliche Familie nicht bei ihnen war. Sie waren alle gestorben. Doch er fühlte sich diesen armen Menschen verbunden, als wären sie alle seine Familie. Und irgendwie waren sie das ja auch. Auch wenn sie nichts von ihm wussten. Wer ihn gekannt hatte, hatte ihn im Feuer verloren geglaubt, wie seine restliche Familie und die anderen, die in dem Haus gewohnt hatten.
Doch in der Nacht als es geschehen war, war er nicht da gewesen, konnte ihnen nicht helfen, den lodernden Flammen und dem beißenden Qualm zu entkommen. In dieser Nacht hatte er das erste Mal geraubt. Es war eine schreckliche Hungersnot in den Slums und am Tag war er bei einem Ausflug in die inneren Bezirke an einem noblen Restaurant vorbeigekommen und dem Duft verfallen. Er musste einfach wiederkommen und ein paar Reste mitnehmen. Das hatte ihn vor dem Tod bewahrt und seiner Familie die letzte Überlebenschance genommen.
Als er am frühen Morgen zurückgekommen war, war die Hütte bis auf den Sockel ausgebrannt gewesen und zwischen den bis auf die Unkenntlichkeit verbrannten Menschen hatte er nur noch die Münze seines Vaters gefunden.
Wie immer, wenn er an diese schicksalshafte Nacht zurückdachte, wurde er von tiefer Traurigkeit und Bitterkeit überrollt.
Seither brachte er einmal im Monat ein Paket mit Lebensmitteln in den Slums vorbei, stellte es in einen Hinterhof, legte es in einen Müllcontainer am Rand, dort wo die Reichen ihre Abfälle hinterließen und die Armen aus den Slums nach brauchbaren Dingen suchten. So hatte er es auch heute getan. Und nun beobachtete er, ob sie es fanden.
Er ließ seinen Blick über die Menschen streifen. Eine Mutter mit einer kleinen Tochter. Das Kind lachte und wirkte so unbeschwert. Er hoffte, dass sie sein Paket finden würden.
Etwas weiter weg begann gerade wieder einer der berüchtigten Straßenkämpfe. Die Ärmsten der Slumbewohner kämpften, da dem Gewinner ein Geldgewinn winkte, den jeder hier gut gebrauchen konnten. Es hatten sich schon einige Stars in der Szene hervorgetan. Die Zuschauer wetteten auf den Sieger. Der Wetteinsatz wurde unter dem Sieger der Kämpfenden und den Wettsiegern aufgeteilt. Viele kämpften so lange, bis sie k.o. waren. Er selbst hatte nie viel davon gehalten.
Ein wenig abseits des Geschehens stand das Mädchen. Er sah sie nicht sofort. Sie war zu gut getarnt: Schlamm im Gesicht, auf Armen und Beinen, keine Schuhe an den Füßen, einfache und zum Teil zerrissene braune Kleidung, wie die Leute in den Slums sie trugen. Was tat sie hier? Sie durfte doch gar nicht hier sein. Sie durfte das Alles nicht sehen! Er wünschte, er könnte ihr ein Zeichen geben, aber das ging nicht. Sie wirkte so entsetzt.
***
„Was tue ich hier nur?“, fragte sich Clea entsetzt. Eigentlich durfte sie doch gar nicht in den Slums sein! Wenn ihre Eltern da wüssten. Sie würden sterben vor Sorge. Und nun stand sie auch noch direkt neben einem Slumkampf und musste sich mitansehen, wie die armen Gestalten sich gegenseitig umbrachten! Wie schlecht musste es ihnen gehen? Am liebsten würde sie dazwischen gehen, die Kämpfenden auseinanderzerren. Doch sie wusste, dass sie damit nur unnötig die Wut der Zuschauer auf sich ziehen würde.
Sie ließ sich auf die Straße sinken und vergrub den Kopf in ihren Händen. Sie fühlte sich so hilflos. Man musste diesen Menschen doch irgendwie helfen können, oder etwa nicht?
***
„Hey!“, flüsterte eine kindliche Stimme hinter ihm. „Hey, du! Wer bist du?“ Erst jetzt merkte er, dass das Mädchen ihn meinte und vermutlich direkt hinter ihm saß. Langsam drehte er sich um und betrachtete sie.
Die Fremde war sehr jung, höchstens 10, kam eindeutig aus den Slums. Das sah er sofort.
Sie war erschreckend abgemagert. Hatte vermutlich rötlich schimmernde, blonde Haare, die aber so von einer Dreckkruste überzogen waren, dass man nicht viel davon sah. Hatte beeindruckend strahlende, große, blaue Augen und grinste ihn fröhlich an. „Pst!“, bedeutete er ihr still zu sein, um sich wieder dem Geschehen unten zuzuwenden. Doch das sah die Kleine gar nicht ein. Sie plapperte einfach weiter fröhlich drauf los. „Ich bin Zoe und wer bist du? Was machst du hier?“ „Zoe, hör mir zu. Ich habe jetzt gerade wirklich keine Zeit für dich. Außerdem macht sich deine Familie sicher schon Sorgen, wo du bist. Also klettere doch bitte runter und geh zu ihnen.“ „Nein!“ „Was-Nein?“ „Nein, meine Familie macht sich keine Sorgen: Meine Familie ist tot.“ „Oh-“, er schwieg. „Das tut mir Leid für dich Zoe, aber du kannst trotzdem nicht bei mir bleiben.“ „Warum?“ „Das ist zu gefährlich.“ „Auch nicht gefährlicher, als allein.“
Er gab auf. Irgendwann würde sie schon von alleine gehen. Er wendete sich wieder dem Platz zu. Suchte mit seinen Augen nach ihr. Doch er fand sie nicht. Sie war weg.
Enttäuscht schloss er die Augen, versuchte die Tränen der Enttäuschung zurückzuhalten. Er hätte nie gedacht, dass er so emotional werden könnte. Wäre doch nur die Kleine nicht aufgetaucht! Wie hieß sie noch gleich? Ach ja Zoe.
Diese hatte gerade wieder das Wort ergriffen. „Du? Kann ich bei dir bleiben?“, fragte sie ihn munter. Er war ziemlich sauer auf sie, doch als er sie ansah konnte er ihr einfach nicht länger böse sein, sie war so jung und blickte ihn aus ihren großen Augen so unschuldig an. Er betrachtete sie lange. „Na gut“, gab er endlich nach. Aber dann müssen wir erst mal hier weg.
Er machte sich an den Abstieg. Die Kleine folgte ihm auf den Fuß. Sie war erstaunlich flink. Er müsste sie später einmal fragen, woher sie das konnte. „Wo gehen wir hin?“ „Frag nicht so viel.“ Einen Moment schwiegen Beide. „Ich habe ein Versteck.“
Das Versteck, das er meinte, war ganz in der Nähe. Auf einem Flachdach eines Hochhauses. Auf dem Dach war einiges an Gerümpel von den Bewohnern gelagert. Sie hatten dort oben sogar eine kleine Hütte, doch zum Glück kam kaum jemand auf das Dach. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass überhaupt irgendwann jemand dort gewesen war, seit er sich dort ein kleines Versteck errichtet hatte.
Die beiden kletterten ihren Weg von Dach zu Dach und er war immer beeindruckter, wie geschickt Zoe sich anstellte. Als sie noch ungefähr zwei Blocks von seinem Versteck entfernt waren, hielt er an. „Zoe. Wir sind jetzt gleich da. Du musst mir aber eines versprechen. Erzähle nie in deinem ganzen Leben irgendjemandem von mir oder meinem Versteck! Hörst du?“ „Natürlich. Ich bin ja nicht doof!“ Darauf entgegnete er nichts. Mit Kindern musste man vorsichtig sein. Er ging weiter. Bald würden sie da sein.
***
Sie war gegangen. Hatte den Anblick nicht mehr länger ertragen können. Im Nachhinein war sie wütend auf sich selbst, dass sie nichts dagegen getan hatte. Aber – was hätte sie schon tun sollen? Sie wäre nicht stark genug gewesen um die beiden auseinanderzuziehen, hätte nur den Zorn des Publikums geweckt.
Sie konnte es einfach nicht begreifen. Wollte nur noch nach Hause, unter eine heiße Dusche.
Sie hatte ihr Zimmer abgeschlossen und war aus dem Fenster geklettert, wollte Fragen von ihren Eltern vermeiden. Nun müsste sie wieder durch das Fenster in ihr Zimmer klettern. Das machte ihr Sorgen. Ihr Zimmer lag im ersten Stock. Die ganze Aktion war die dümmste Idee seit Langem.
Sie musterte den großen Jungen. Wie alt war er wohl? Sicher schon 18 oder 19. Vielleicht ja sogar schon 20. Sie bewunderte ihn für sein Geschick, als er vor ihr von Dach zu Dach kletterte. Er kannte sich hier oben aus, wie kein zweiter.
Sie war froh, dass sie ihn gefunden hatte. Er sprach sehr wenig, aber trotzdem war seine Anwesenheit besser als keine. Wie er wohl hieß?
Endlich wurde er etwas langsamer. Zoe war sehr erschöpft. Noch nie hatte sie es erlebt, dass sich jemand in dieser Höhe schneller bewegte und besser auskannte als sie.
Er blieb stehen. Sie sah sich um. Das war sein Versteck? Es sah so komplett unbewohnt aus. Doch er setzte sich hin, also schienen sie angekommen zu sein. „Hier wohnst du?“, fragte sie ihn schüchtern. „Ja, unter anderem. Dort drüben habe ich meine Sachen.“ Er deutete zwischen zwei Pfosten, die ihr die Sicht einschränkten. Sie ging hinüber. Und tatsächlich. Gut getarnt unter einer Plane, die er zwischen den Pfosten gespannt hatte und die dieselbe Farbe hatte, wie das Dach, konnte sie einige Lebensmittel, Kleidung und sogar einen kleinen Gasherd erkennen.
Sie staunte nicht schlecht. Wo hatte er das nur alles her? Sie bemerkte, dass er sie musterte. „Was?“ Er schwieg.
Sie begann wieder, mit ihren Fragen. „Wie heißt du?“
Er setzte sich. Sah sie an. Vermutlich überlegte er, ob er ihr trauen konnte.
Scheinbar kam er zu dem Schluss, dass sie vertrauenswürdig aussah. Jedenfalls setzte er zum Reden an. „Ich bin Aurelian.“ Als er das sagte, klang er irgendwie bitter und seine Augen verfinsterten sich. Das machte ihr Angst und deshalb fragte sie nicht weiter. Vielleicht würde er ihr von sich aus irgendwann erzählen, was ihm daran nicht passte.
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Er hatte lange mit sich gehadert, sich dann aber entschlossen, ihr seinen richtigen Namen zu nennen. Er hatte diesen Namen schon lange nicht mehr gehört, genauer gesagt schon fünf Jahre nicht mehr. Nicht einmal aus seinem eigenen Mund. Der Name war ihm schon richtig fremd geworden.
Wieso hätte er ihn auch je benutzen sollen? Er war in dieser Zeit zu einem Phantom geworden, einem Schatten. Ohne Freunde, ohne Ort zum Leben. Selbst in den Slums hatten sie mehr als er- sie hatten Freunde, Familie. Und doch beneidete er keinen von ihnen. Denn er hatte etwas, das sie nicht hatten. Keiner von ihnen. Weder in den Slums noch in den Societys. Er hatte Freiheit. Und seine eigene Meinung. Und nun Zoe.
Die fing gerade mit einer weiteren Frage an. „Du? Aurelian? Wie alt bist du?“ „Was ist schon das Alter? Was spielt es für eine Rolle? Merk dir eins Zoe! Es gibt alte Menschen, die in ihrem ganzen langen Leben nie irgendetwas richtig erlebt haben. Immer nur in ihren engen Grenzen geblieben sind und alles befolgt haben, was man ihnen gesagt hat, ohne es in Frage zu stellen. Bis zum Tag ihres Todes. Und dann gibt es wenige Menschen die leben. Also richtig leben. Eine Meinung haben, Dinge tun, die sie wollen. Auch wenn sie nicht der Masse entsprechen. Viele von ihnen sterben jung. Aber sie haben gelebt.“
„Was heißt das? Erklär‘s mir bitte! Ich versteh das nicht!“ Die Kleine schien ganz durch den Wind. „Das kann ich dir nicht erklären. Merk es dir gut! Wenn die Zeit reif ist, wirst du es verstehen.“
***
,Wenn die Zeit reif ist.‘ Sie wollte es aber jetzt verstehen. Was meinte er damit? Mit jeder Frage, die er beantwortete, kamen ihr 1000e neue. Und wann bitte wäre denn die Zeit reif?
Schmollend setzte sie sich in die Ecke. Wenn er es ihr nicht erklären wollte-bitte, dann würde sie ihn jetzt eben totschweigen. Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken, doch er sagte nichts. So verharrten sie einige Zeit, vermutlich nur ein paar Sekunden, doch ihr kam es vor wie Stunden. Sie hielt es nicht mehr aus. War wohl doch nichts mit totschweigen.
„Und wie alt bist du jetzt?“, fragte sie ihn bockig, ohne sich umzudrehen. Als er antwortete, konnte sie hören, wie er sich das Grinsen verkneifen musste. „17“
Als sie den Schalk in seiner Stimme hörte, drehte sie sich doch um. „Hör auf mich auszulachen.“, quengelte sie und verzog das Gesicht.
***
Er konnte sich nicht mehr halten. Er wusste ja, dass das nicht sehr nett von ihm war, aber als er ihren angesäuerten Blick sah, musste er einfach loslachen. Noch nie hatte er sich in diesen fünf Jahren so befreit gefühlt, wie jetzt mit diesem Mädchen.
Als er sich endlich wieder beruhigt hatte, fragte er auch Zoe nach ihrem Alter. „Neun einhalb.“, antwortete sie schnippisch, doch er merkte, dass sie ihm schon nicht mehr wirklich böse war.
Das Eis war gebrochen. Er ging zu der Kleinen hin und nahm sie kurz in den Arm. „Tut mir leid.“, zwinkerte er. „Schon gut.“, entgegnete sie betont ernsthaft. Da begann er, sie durch zu kitzeln. Er wusste selbst nicht so recht, warum. Aber irgendwie hatte er das Bedürfnis danach, nachdem sie so erwachsen getan hatte. Sie kicherte und schrie, er solle aufhören. Er lachte und fühlte sich fast ein bisschen – glücklich?
Irgendetwas in ihm schien zu brechen. Eine Mauer, die er zu seinem Schutz in all den Jahren in seinem Inneren errichtet hatte. Die Kleine, die so unbeschwert war, trotz ihrem sicher nicht einfachen Leben, schaffte es irgendwie, ihn tief in seinem inneren zu berühren.
***
Sie lag auf dem Rücken.
Sie hatte ihre Arme hinter ihrem Kopf verschränkt.
Sie blickte starr nach oben. Geradewegs an die Decke.
Sie versuchte, ihre Gefühle zu unterdrücken. Doch sie musste immerzu an das gerade Erlebte denken.
Sie war zutiefst getroffen von dem, was sie gesehen hatte. Nie hätte sie gedacht, dass es den Menschen in den Slums so erbärmlich ging. Den Kindern.
Sie dachte an das kleine Mädchen mit seiner Mutter. Es hatte so glücklich gewirkt. Noch völlig unbeeindruckt von den Problemen. Ohne Angst vor der Zukunft. Aber das Kind würde es so schwer haben.
Sie dachte an die Kämpfe. All die Menschen, die es so schwer hatten, dass sie sich und ihre Mitmenschen, Freunde, Verwandte freiwillig verletzten. Die keinen Ausweg sahen. Die auf das Unglück der anderen setzten, um zu überleben.
Sie dachte an alle, die nichts davon ahnten, die dachten, die Menschen in den Slums hätten ein gutes Leben, die sich keine Gedanken machten.
Und weinte.
***
„Ich habe einen Plan!“
Schweigen.
Er setzte wieder an: „Ich habe einen –“
„Du wiederholst dich! Wie oft hattest du nun schon einen Plan? Er läuft immer noch frei herum! Und du wollen mir erzählen, du hättest einen Plan!“ Er ließ seine Faust auf den Tisch knallen.
Sein Gegenüber zuckte zusammen. „Bitte“, wimmerte er, „einen Versuch!“
„Wie viele Versuche habe ich dir nun schon gegeben. KEINER hat funktioniert.“
„Gilou, beruhige dich doch, bitte! Gib unserem Freund doch noch eine Chance.“, wandte sich eine sanfte, doch resolute Frauenstimme an ihn.
Er war dieser Frau verfallen. Er wusste, dass er damit ein schlechtes Beispiel lebte, doch ändern konnte und wollte er daran nichts. Es durfte nur niemand erfahren.
Ihre grünen Katzenaugen strahlten ihn an. Er konnte sich ihr nicht wiedersetzen. Sie wusste es genau und setzte diese Macht gezielt ein.
Er gab nach. Er sah aus dem Augenwinkel, wie der andere einen tiefen Stoßseufzer machte.
„Aber nur-“, er machte eine Kunstpause, „wenn dein Plan dieses Mal wirkt! Du kennst deine Strafe, wenn du wieder versagst!“
Sein Gegenüber sackte ein Stückchen in sich zusammen.
„Na-natürlich, nun … ähh… mein Plan.“, begann der Angesprochene zu stottern.
Langsam bekam er es mit der Ungeduld zu tun. Konnte dieser Trottel nicht endlich auf den Punkt kommen?
„Wir kriegen ihn nicht so, wie wir es bisher versucht haben.“
Ach? Das war jetzt aber eine ganz neue Erkenntnis. Nur ca. fünf Jahre alt, aber sonst… Er schnaubte ungeduldig. Er hatte auch noch andere Probleme, zum Beispiel, was es heute zu Mittag gab. Sein Magen hatte sich nämlich soeben zu Wort gemeldet. Der andere begann wieder, na endlich.
„Wir stellen ihm eine Falle!“
Auch dieser Versuch war nichts Neues. Fast musste er sich ein Gähnen verkneifen. Wäre die Lage nicht so ernst…
„Wir locken ihn mit einer Frau!“
***
Sie wusste nicht mehr, was mit ihr los war. Zur Zeit weinte sie so oft. Dabei waren doch im Staat alle glücklich, eigentlich. Sie hatte schon oft von Leuten gehört, die als Kind immer traurig waren und dann nach den Prüfungen und in ihrer richtigen Society glücklich, wie jeder andere. Aber sie hatte noch nie von jemandem gehört, der eigentlich ein schönes Leben hatte und plötzlich so… ja was war das eigentlich?
Aber vielleicht hatten ja alle recht und ihr würde es bessergehen, wenn der ganze Stress vorbei wäre und sie ein festes, geregeltes Leben führen würde. Diese Zeit vor den Prüfungen waren vermutlich für alle sehr nervenaufreibend.
Die Prüfungen würden in einer Woche stattfinden, der Druck stieg. Aber keiner konnte sich darauf vorbereiten. Das waren die Regeln. Das war es, was ihr das Warten am Schlimmsten machte.
Ihre Gedanken kreisten noch lange um sich selbst, um ihre Erlebnisse, um die Prüfungen, bis sie endlich vom Schlaf übermannt wurde.
Doch es sollte kein erholsamer Schlaf werden.
„Mama! Nein! Geh nicht! Lass mich nicht alleine!“ Ich versuche sie festzuhalten, doch meine Beine werden unter meinem Körper weggezogen, von wem oder was sehe ich nicht. Sie lächelt mich an. „Keine Angst, mein Schatz! Alles wird gut. Du wirst ein wundervolles Leben haben. Doch ich bin zu alt um mit dir zu gehen. Du wirst den Weg schaffen! Auch ohne mich. Bitte, lebe!“
Ich sehe kleine Tränen in ihren Augen glitzern. Ich will zu ihr: „Mama!“, doch sie hört mich nicht, kann mich nicht hören. Sie ist schon zu weit weg. Ich bin alleine. Völlig allein in der Finsternis. Ich kann nicht zurück, ich spüre es. Eine unsichtbare Kraft zieht mich mit sich. Hinein in die Wälder, ins Ungewisse. Wo bin ich? Das ist doch nie im Leben der Staat! Bin ich etwa –draußen?
Hilfe! Warum hört denn niemand meine Schreie? Wie bin ich hierhergekommen?
Plötzlich ändert sich die Szenerie. Ich stehe auf einem riesigen ausgedörrten Feld. Die Sonne knallt auf mich herab. Es ist viel zu heiß. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel. Ein Gewitter. Es beginnt zu donnern. Doch nach einer Weile bemerke ich, dass das kein gewöhnliches Sommergewitter ist. Die Helikopter sind Kampfhubschrauber und lassen Bomben abfallen. Ich renne.
Und renne.
Und renne.
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2013
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