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Prolog

Stille, dann ein Geräusch, ein schweres Atmen, kaum menschlich, vielmehr wie das eines verletzten Tieres, dann wieder Stille. Eine tiefe Stille, fast so tief und vollkommen wie die dunkle, mondlose Nacht, die sich schwer und doch kalt über die Lichtung legte. Nurona blickte sich um, von ihrem Aussichtsplatz auf der alten Eiche, gleich würde etwas passieren, sie konnte es spüren. Der Nachtfrost verklebte ihre Federn, sie verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, vorsichtig bedacht, keinen Lärm zu verursachen. Es würde etwas passieren, noch heute Nacht, sie hatte es im Gefühl und eben dieses hatte sie noch selten im Stich gelassen. Sie krächzte einmal leise. Wenn sie nicht bald kommen würden, würde sie sich hier draußen bei dieser Kälte den Tod holen. Aber sie musste warten. Eine Stunde noch, vielleicht zwei.

Eine Weile verging, ohne dass sich etwas tat, dann –plötzlich- ein grüner Lichtblitz in der Nacht. Es würde beginnen. Zwei Dutzend dunkle Schatten schritten langsam und scheinbar völlig ohne Ordnung über die Lichtung. Die Echidas begannen mit ihrer Zeremonie. Die Echidas waren Wesen, ähnlich Echsen, mit Schuppiger, feuchter Haut, meist dunkelrot, wie Blut. Sie hatten starke Krallen, mit denen sie alles zerissen, das ihnen in die Finger kam. Außerdem waren sie sehr groß, an die zweieinhalb, zum Teil drei Meter und im Wasser, wie zu Land schnelle Räuber. Und, das war das Wichtigste, die schlimmsten und gefährlichsten Gegner der Avisnymphen. Ein hohes, kreischendes Geräusch ließ Nurona zusammenfahren. Fast hatte sie die Schreie der Echsen verdrängt. Sie hätte nicht alleine hierher kommen sollen, hätte den Rat ihres guten Freundes Crypho annehmen und ihn mitnehmen sollen, aber dies war ihr Auftrag, ihr erster eigener Auftrag. Und den konnte ihr niemand nehmen. Wenn sie den Auftrag erfüllen würde, wäre sie endlich ein vollwertiges Mitglied des inneren Kreises, und das mit gerade einmal sechzehn Jahren. Sie war DIE Hoffnung der Avisnymphen und würde ihrer Aufgabe gerecht werden!

Inzwischen konnte sie ihre Füße nicht mehr vom Ast heben, die Kälte und der Frost hatten eine Wirkung wie Sekundenkleber und sie wusste nicht, wie sie hier jemals wieder loskommen sollte. Aber dieses Problem konnte sie später noch genauer betrachten, denn nun begannen die Echsenmenschen mit ihrem Spektakel - Nurona konnte ihnen genau zusehen, denn die Dämmerung hatte bereits eingesetzt - sie rissen Eiszapfen von den Bäumen, die die Lichtung umgaben, stampften mit ihren riesigen Füßen auf dem vereisten Boden und brüllten. In Nurona breitete sich eine heftige, ihr bislang völlig unbekannte Unruhe aus. Wann würden sie aufhören? Sie wagte sich nicht zu rühren. Dann hielt sie es nicht mehr länger aus. Dieser Lärm, die Kälte, das alles war einfach zu viel für sie. Sie musste hier weg! Nurona hatte einen Beschluss gefasst. Leise drückte sie sich von dem Ast, auf dem sie saß. Es knackte. Hoffentlich hatte sie niemand gehört. Schnell breitete sie ihre Federn aus und flog - nichts wie weg von der Lichtung, nur noch nach Hause, sie würde warten müssen, bis ein neuer Auftrag für sie kam, wenn Zeit dazu war, noch war sie nicht reif genug für den inneren Kreis. Enttäuschung, doch wenn sie ehrlich war auch ein kleines bisschen Erleichterung breitete sich in ihr aus. Die Erleichterung wuchs und Nurona wurde unaufmerksam, übermütig. Sie bemerkte zu spät, wie sich das Wesen von hinten an sie näherte und niederschlug. Um sie herum wurde es wieder schwarz. Und still. Eine endgültige Ruhe und das einzige, was sie in den letzten Sekunden, bevor sie endgültig das Bewusstsein verlor noch spürte, war der pochende Schmerz an ihrem Hinterkopf. Danach breitete sich das dicke, schwarze Samttuch endgültig über ihr aus.

1. Nurona

„Nurona! Hörst du mich? Verdammt! Wach doch auf!“ Mein Kopf dröhnt. Wo kommt die Stimme her? Wer auch immer hier so rumschreit soll aufhören! Ich will wieder zurück, in diese wundervolle Stille. Vielleicht, wenn ich mich anstrenge und die Stimme ausschalte, vielleicht kann ich dann nochmal zurück. Ich versuche es. Konzentriere mich nur auf die Schwärze. Fast wäre es mir gelungen, aber jetzt fängt die Stimme schon wieder an! Was soll das?

Je weiter ich aus dem Traumland gerissen werde, desto mehr spüre ich die dumpfen Schmerzen, die sich auf meinem gesamten Körper ausbreiten, meine Beine sind schwer wie Blei, mein Rücken fühlt sich an, als wäre er die letzten fünf Tage ausgepeitscht worden- ohne Unterbrechung und mein Kopf dröhnt. Das ist das Schlimmste. Ich glaube ich hatte noch nie solche Kopfschmerzen. Doch mit den Schmerzen kommen auch die Erinnerungen zurück. Welche Blamage- niemand darf jemals erfahren, dass ich die Beobachtung abbrechen wollte und, als wäre das noch nicht peinlich genug, dabei niedergeschlagen wurde. Lieber wäre ich tot, als mir das Gespött der Anderen anzuhören. Und das wird  kommen, wenn sie von der letzten Nacht erfahren, ohne Zweifel. Ich kann es schon förmlich hören.

Die Stimme ruft mich wieder, irgendwie kommt sie mir bekannt vor, sehr bekannt: „Verdammt, Crypho! Mir tut alles weh und ich bin müde! Kannst du mich nicht einfach weiter schlafen lassen?!“ Ich schlage die Augen auf und funkel ihn wütend an. Er nimmt gar keine Notitz davon. „Nurona! Gott sei Dank, du lebst! Ich hatte schon Angst, dass du... Also als du da gelegen bist...“ Er bricht ab. „Schon gut. Ist nichts passiert.“ Die Tatsache, dass er sich wirklich Sorgen gemacht hat, lässt meinen Ärger verpuffen. Mir tut es schon fast wieder leid, dass ich ihn so angeschrien habe. Wie er da mit hängenden Schultern vor mir steht, in Menschengestalt, seine tiefblauen Augen so unglücklich, mein bester Freund, der für mich immer mein Bruder war. Ich kann ihn einfach nicht bedrückt sehen. „Gehen wir?“ „Wenn du dich gut genug bewegen kannst. Du siehst ziemlich scheiße aus im Moment.“ Ich schaue an mir herunter. Immer noch in der Gestalt eines Vogels, und ich muss zugeben, dass er Recht hat - mein Gefieder ist zerzaust und stellenweise fehlt es ganz, meine Krallen haben eine seltsame Farbe angenommen. Zuhause muss ich zuerst mal unter die Dusche und dann ins Bett. Aber jetzt muss ich mich zuerst einmal verwandeln.

Ich konzentriere mich auf meine Menschengestalt, langsam beginnt sich die Welt um mich zu drehen. Schneller und Schneller und Schneller. Die Farben verschwimmen. Die Welt kippt und ich werde in eine Spirale gezogen. Grelle Farben, Lärm, meine Schmerzen scheinen auf ein Vielfaches anzuschwellen und dann – plötzlich – ist es wieder vorbei: Ich bin in Menschengestalt. „Auf geht’s! Ich will nur noch heim.“ Ich versuche den Gedanken an die Reaktionen des Inneren Kreises und der Anderen zu unterdrücken.

Zu meinem Scheitern sagt Crypho auf dem ganzen Heimweg kein Wort. Stattdessen macht er seine üblichen Scherze. Ich bin ihm dankbar dafür. Die Schmerzen, die mir die Gedanken an meine Niederlage bereiten, kann ich noch nicht ertragen.

Crypho wusste einfach schon immer, was er machen musste, um mich aufzuheitern. Wir kennen uns schon seit unserer Geburt, welche am gleichen Tag war, und sind befreundet, seit ich denken kann. Er ist mir in diesen Jahren mehr und mehr ein Vertrauter, ein Bruder, geworden. In der Grundschule, als die Mädchen im Gang herumhingen und kicherten, war ich schon immer bei den Jungs und kickte mit ihnen auf dem Bolzplatz, egal bei welchem Wetter. Und auch sonst machten Crypho und ich alles gemeinsam, erzählten uns alles und hielten in den schwierigsten Situationen zueinander. Er verteidigte mich vor den Jungs, die sich über mich lustig machten, ich tröstete ihn, als sich seine Freundin, als er zwölf war, von ihm getrennt hatte. Ich selbst hatte noch nie einen Freund, den meisten bin ich zu tough, nur weil mich andere Dinge interessieren, als Schminken, Mode, Lästern und was die anderen Mädels sonst so machen. Der wahrscheinlich bedeutendere Grund ist mein Aussehen. Ich bin zwar nicht hässlich aber auch nicht wirklich hübsch und absolut nicht außergewöhnlich – braune Haare, die ich nicht gebändigt bekomme, braune Augen, eine schmale kleine Nase (zu klein), kantiges Gesicht… Naja. Ich bin lieber in der Gestalt eines Vogels, aber das irritiert Crypho, deshalb verwandle ich mich nicht, wenn wir zusammen sind.

In Cryphos Gegenwart gelingt es mir fast, meine Sorgen von mir zu schieben. Im Moment gibt es wichtigere Dinge zu tun, Sorgen machen kann ich mir früh genug. Trotzdem schaffe ich es nicht ganz. Noch 10 Minuten, dann sind wir zu Hause. Ich kann es gar nicht mehr erwarten, endlich unter die Dusche zu kommen und endlich den Dreck wegzuwaschen. Und mit ihm meine letzten Zweifel.

...Fortsetzung folgt...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.04.2013

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