Auf der Jagd nach der Schicksalsblume
Kapitel 1
Sein Finger ruhte am Abzug, während er sein Gegenüber taxierte. Der Mann schlotterte und bebte am ganzen Körper.
„Bitte!“, bettelte er, „Töte mich nicht! Ich … ich gebe dir auch alles, was du willst!“
„Zu spät! Grüß den Teufel von mir!“, erwiderte der Jüngere am Abzug.
Mit diesen Worten drückte er ab. Die Kugel löste sich mit einem Knall vom Lauf und flog zischend durch die Luft, ehe sie sich gnadenlos in das weiche Fleisch des untersetzten Mannes bohrte. Sie fand das Herz und zerriss die feinen Fasern, die es zusammen hielten.
Der Schütze sah den Geist entfleuchen und den Körper langsam zusammensacken. Er hörte den Todesschrei der Seele und wieder erfüllte es ihn mit Grauen.
Er wusste nicht, warum er das tat. Er wusste nur, dass es sein Auftrag war und er ihm nicht entkommen konnte.
Es dauerte eine kleine Ewigkeit bis der Kolben von der Wange sank. Es waren erst zwei oder drei Sekunden vergangen, denn der Lauf qualmte noch.
Dann sah er sich um. Die Sonne wurde von den Wolken verdeckt. Die Landschaft war alles andere als gastlich, denn es handelte sich hierbei um die Ausläufer einer Wüste. Hinter der Leiche stand deren Auto, ein beigefarbener Wüsten-Jeep, sodass es sich im Sand kaum vom Untergrund abhob. Bald würde das Auto vom Sand zugeweht werden und alle Spuren beseitigt.
Der Schütze drehte sich zu seinem eigenen Fahrzeug um, ein windschnittiges schwarz-silbernes Motorrad, das nicht glänzte. Er wollte verhindern, dass er zu früh von jemandem bemerkt würde. Nun schwang sich der junge, athletisch gebaute Mann hinauf und trat durch. Der Motor heulte und Sand stob auf, als er seinem Bike die Sporen gab.
Der Wind blies ihm ins Gesicht. Eine Pilotenbrille schützte seine schwarzen Augen. Er bevorzugte diese Art Brille, weil sie sich perfekt an seine Gesichtsform anpasste. Die kurzen, blondierten Haare flatterten im Wind. An seinen Helm hatte er im Moment nicht gedacht. Er war noch zu aufgewühlt. Morde, zumal Auftragsmorde, zerstörten mit jedem Mal einen kleinen Teil seiner Seele. Wann würde der Tag kommen, an dem das letzte Stück seiner Seele vernichtet war? Wann würde er nur noch eine willenlose, kalte, gnadenlose Hülle sein, die nur Befehle verstand und keine Gefühle besaß? Es war ein Fluch, der auf dem kaum 21-Jährigen lastete.
Seine Laufbahn als Auftragskiller hatte bereits begonnen, als er sechs Jahre alt gewesen war. Damals hatte Krieg geherrscht. Männer und Frauen hatten sich gegenseitig niedergemetzelt. Selbst seine Eltern waren daran beteiligt.
Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit.
Überall war Lärm und Schüsse hallten durch die Luft. Seine Eltern hatten ihm gesagt, er solle im Haus bleiben und auf seine Schwester aufpassen. Nun kauerte er in einer Ecke und hielt das weinende Mädchen fest an sich gedrückt. Er versuchte, sie zu beruhigen. Leider erfolglos. Der Boden war mit Staub bedeckt. Ein Tisch stand in der Mitte des Raums, drumherum einige Stühle. Angebissene Brotscheiben lagen auf zersprungenen Tellern. In dem einzigen Glas, das heil geblieben war, befand sich noch schales Wasser. Fahles Licht, das durch das Fenster neben der Tür hereinfiel, erhellte den Raum. Unter dem Fenstersims, auf dem eine Pflanze ihr trauriges, vertrocknetes Dasein fristete, standen niedrige Schränkchen mit Schiebetüren. Der Boden war bedeckt mit Spielzeug. Auf dem Tisch lag noch ein scharfes Messer, das seinem Vater gehört hatte. Er hatte es vergessen. Der Junge stand auf und trat an den Tisch heran. Da er grade über die Kante schauen konnte, kletterte er auf einen Stuhl. Von dort aus langte er nach dem Schneidewerkzeug. Mit dem Griff fest in der Hand kehrte er zu seiner schluchzenden Schwester zurück. Sie war gerade drei geworden. Ihr blondes Haar, das in der Sonne strahlte, wie der Stern selbst, hing verzottelt und zerzaust von ihrem runden Köpfchen. Die Mutter war seit zwei Tagen nicht zurückgekommen, um es ihr zu kämmen.
„Keine Angst, Mai! Ich beschütze dich.“, versprach der Knabe ihr.
Weil er früher ihren Namen nicht aussprechen konnte, hatte er sie einfach nach dem Monat benannt, in dem sie geboren worden war. Seitdem war es ihr Spitz- und Kosename.
Im Moment trug sie ein selbst geschneidertes Kleid von Mutter in dunkelgrün mit Spitzensaum. Der Junge hatte dagegen eine kurze Hose und einen Pullover aus blauer Wolle an, den seine Mutter ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.
Die Zeit um Weihnachten war die einzige Zeit gewesen, die ohne einen einzigen kriegerischen Akt verlaufen war. Im heiligen Advent bis Silvester hatten die Gewehre geschwiegen und die Bomben blieben ungeschärft. Doch wenn das Feuerwerk zum Jahreswechsel losging, feuerten die Waffen auf ein Neues.
Der Junge schreckte aus seinen Gedanken hoch, als plötzlich ein Krachen an der Tür zu hören war. Es wiederholte sich in immer kürzeren Abständen.
Die Kinder drückten sich aneinander. Mai weinte ängstlich. Sie verbarg ihr Gesichtchen in seinem Arm. Ein eisiger Schauer fuhr seinen Rücken hinunter, als er die Tür splittern hörte. Ein weiterer Schlag und das Loch würde groß genug sein, um einen Mann hinein zu lassen.
Da fasste der Knabe einen Entschluss. Schnell rannte er auf die Tür zu und stellte sich daneben. Seine Schwester streckte hilflos ihre Ärmchen nach ihm aus. Sie wollte nicht allein sein. Sie stand ebenfalls auf und folgte ihm. Verzweifelt bedeutete er ihr mit Gesten zurückzugehen und still zu sein. Aber sie war noch zu klein, um ihn zu verstehen. Und so lief sie der Gefahr direkt in die Arme. Denn schon hatte ein finsterer Geselle sich durch das Loch geschoben. Allerdings sah er nur Mai auf sich zukommen. Und so bemerkte er nicht den Jungen neben der Tür. Der Mann stieg nun ganz ins Zimmer. Er hob das Gewehr an die Wange und zielte auf das hilflose Mädchen, das furchterfüllt innegehalten hatte. Sofort fing sie wieder an zu weinen. Doch sie ließ den Bewaffneten nicht aus den Augen.
Der zögerte einen Augenblick. Dieser Augenblick allein genügte dem 6-Jährigen. Er stach mit dem Messer nach dem Bein des Erwachsenen. Dieser schrie auf und ging in die Knie. Überrascht starrte er auf den Jungen. Diese Überraschung war das Letzte, was er fühlte, denn im nächsten Moment entschwebte sein Geist. Der harmlos aussehende Knabe hatte ihm das Messer in die Brust gestochen. Zufälligerweise hatte er genau das Herz getroffen.
Der leblose Körper plumpste auf die Seite. Der Junge sah der Seele nach, die mit einem Schrei durch die Decke entfleuchte.
Von draußen hatten drei weitere Männer den Tod ihres Kameraden mit angesehen. Nun legten sie auf den Bruder Mais an. Der bemerkte die Gefahr und wendete den Kopf. Er sah mit seinen pechschwarzen Augen ihnen direkt ins Gesicht. In ihnen regte sich Schmerz und Hass. Hass auf die Männer, die seiner Schwester etwas antun wollten.
Auch diese Krieger zögerten, auf ein Kind zu schießen. Diesen Moment nutzte der Knabe, um die Tür zu öffnen. Dadurch waren die beiden Geschwister nicht in unmittelbarer Gefahr. Der Bruder schlüpfte durch den Spalt und tötete einen überraschten Mann nach dem anderen. Dass sie auf ihn schießen wollten, kümmerte ihn nicht. Er wich ihnen geschickt aus.
Einmal drückte einer sogar ab, doch seine Kugel verwundete einen seiner Kameraden und verfehlte das Kind. Das kostete ihn das Leben. Ebenso wie den Verletzten. Der Junge kannte in seinem Blutrausch keine Gnade. Und irgendwie gefiel es ihm. Er fühlte sich wie ein Tiger auf der Jagd.
Erst als seine Schwester seinen Namen schrie, fand er zurück in die Wirklichkeit. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Jedoch ahnte er bereits Schlimmes. Mais Stimme hatte kläglich geklungen, als hielte sie jemand gegen ihren Willen fest. Und so war es auch. Als er sich umdrehte und zurück blickte, sah er das Mädchen in den Armen eines Mannes, der in einen schwarzen, langen Mantel gehüllt war, Handschuhe, Schuhe, Hosen und einen Cowboyhut in derselben Farbe trug. Unter der Krempe blitzten eisblaue Augen hervor. Ein kurzer Bart umrahmte Mund und Gesicht.
Auf seinen Rücken war ein Gewehr geschnallt, das der Junge nicht benennen konnte, denn er hatte eine solche Waffe noch nie gesehen.
„Ich habe dich beobachtet.“, sagte der Mann.
Seine Stimme klang jung. Er mochte nicht mehr als dreißig Jahre zählen.
Der Kerl fuhr fort: „Du hast sehr gut gekämpft. Fünf Mann. Respekt! Vor allem für einen Jungen in deinem Alter. Wo hast du das gelernt?“
Aber der 6-Jährige dachte nicht daran, ihm darauf zu antworten. Stattdessen rief er: „Lass sofort meine Schwester runter!“
Er fasste das Messer fester.
„Ah, verstehe! Du willst mir nicht antworten. Nun… das ist natürlich gut. Das zeugt von deiner Loyalität zu deinen Eltern.“
Der Junge wusste nicht, was „Loyalität“ bedeutete, doch er konnte sich denken, dass es so etwas ähnliches, wie Liebe oder Gehorsam sein musste.
Er wiederholte seine Worte: „Lass sofort meine Schwester runter!“
Das entlockte dem geheimnisvollen Fremden nur ein bösartiges Kichern.
„Wenn du tust, was ich sage, lasse ich sie gehen. Es liegt bei dir.“
Der Kleine überlegte fieberhaft. Sein Vater hatte einmal erzählt, dass er erpresst worden war, und tun musste, was der Erpresser wollte. Damals ging es auch schon um die Sicherheit der Familie.
Letztendlich blieb dem Jungen keine Wahl. Er ließ das Messer fallen und ergab sich.
„Gut. Ich tue es. Aber versprechen Sie mir, dass sie wirklich gehen darf!“
„Ich verspreche es. Und nun komm!“
Der Mann drehte sich um und tat irgendetwas mit Mai. Der kleine Körper erschlaffte in seinen Armen.
„Was haben Sie getan?“, schrie der Knabe angsterfüllt.
„Keine Sorge, sie schläft nur. Ihr wird auf diese Weise nichts passieren.“
Mit diesen Worten ging der Mann ins Haus. Dort legte er das Mädchen im hinteren Zimmer in das Bett der Eltern und deckte es zu. Der Junge war ihm gefolgt, nachdem er das Messer heimlich eingesteckt hatte und beobachtete alles wachsam.
„Keine Angst!“, sagte der Mantelträger erneut.
Er lächelte kalt. Aus einer Tasche holte er ein Tuch hervor. Und ehe sich’s Mais Bruder versah, presste der Fremde ihm den Stoff ins Gesicht.
Nach kurzer Zeit war der Junge im Reich der Träume unterwegs.
Plötzlich tauchte vor ihm ein Hindernis auf. Geistesgegenwärtig griff er in die Bremsen. Das Bike schleuderte zur Seite und kam staubaufwirbelnd zum Stehen. Mit einem Fuß im Sand sah sich der Fahrer um. Eine junge Frau kam auf ihn zu, während sie mit der Hand wedelte und hustete.
Sie trug dunkle, praktische, hautenge Kleidung, die ihre Arme frei ließ, und Handschuhe. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst.
„Verdammt nochmal, spinnst du? Was hast du hier zu suchen?“, schrie der 21-Jährige sie aufgebracht an, „Ich hätte dich beinahe über den Haufen gefahren!“
„Immer mit der Ruhe! Ist doch nichts passiert.“, beschwichtigte das Mädchen.
Wieder hustete sie und spuckte Sandkörner aus, die in ihren Mund geraten waren.
„Bist du Mick?“, fragte sie.
„Wer will das wissen?“, knurrte er.
„Ich. Und meine Organisation.“
Sie versuchte cool zu bleiben, doch sein Verhalten reizte bereits ihre Nerven.
„Wer bist du?“, rief der Motorradfahrer.
Er hatte nicht vor, sich einer Unbekannten vorzustellen.
„Also gut. Wenn du so willst! Mein Name ist Alisha. Und mein Auftrag ist es, einen gewissen Mick zu finden und zu uns zu holen.“
„Wer ist ‚uns’?“
Er ließ nicht locker. Genervt verdrehte Alisha die Augen.
„Die Organisation. Wenn du nicht Mick sein solltest, brauchst du ihren Namen nicht zu wissen.“, sagte sie selbstbewusst.
Der junge Mann sah sie an und verzog das Gesicht. Er hasste Mädchen, die ihm etwas vorschreiben wollten.
„Also bist du nun Mick oder nicht?“, hakte sie nach.
Mit der schwarz behandschuhten Hand strich sie sich eine blonde Strähne aus der Stirn. Sie sah wirklich verführerisch aus und wäre genau nach seinem Geschmack, das musste der Auftragskiller sich eingestehen. Allerdings war ihm ihre Art zuwider. Er wollte seine Identität nicht preisgeben. Zumindest nicht allzu bald. Er wollte sie noch ein Weilchen zappeln lassen, so wie er jedes seiner Opfer zappeln ließ, ehe er es ins Jenseits beförderte.
„Was ist, wenn ich es nicht bin?“, nun war er ehrlich neugierig, wie sie darauf reagieren würde.
Doch sie verschränkte nur die Arme.
„Dann tut es mir leid, dass ich dich aufgehalten habe.“, sagte sie schnippisch.
„Gut. Dann kann ich ja weiterfahren.“, entschied der Schwarzäugige.
Er wendete sein Bike und ließ den Motor aufheulen. Er wartete absichtlich noch einige Augenblicke bis er durchtrat und anfuhr. Er hatte Alisha richtig eingeschätzt. Sie wirbelte herum und rief ihm hinterher.
„Mick! Komm sofort zurück! Mick!“, empört stampfte sie mit dem Fuß auf, „Du kannst mich doch nicht einfach hier stehen lassen!“
Der Angesprochene grinste schadenfroh und ignorierte ihre Rufe. Stattdessen gab er nur noch mehr Gas.
Als Alisha merkte, dass er nicht vorhatte, zurück zu kommen, ließ sie ihrer Wut freien Lauf. Zornig lief sie den Reifenspuren nach. Als sie einige Schritte getan hatte, blieb sie stehen, drehte sich wutschäumend um und begab sich hinter den nächsten Hügel. Dort wartete ein Hubschrauber auf sie.
Der Mann am Steuer sah ihr durch seine Sonnenbrille hindurch entgegen. Als sie in den Helikopter kletterte, neben ihm Platz nahm und das Head-Set überstülpte, fragte er sie: „Und? Erfolg gehabt?“
„Sehe ich so aus?“, schnappte Alisha beleidigt.
„Huiuiui!“, dachte der Pilot, „Da hat aber jemand schlechte Laune.“
Er kannte ihr Temperament zur Genüge. Er wusste nur zu genau, dass man sie nicht reizen durfte. An den Sandsäcken, die schon auf Vorrat gelagert wurden, ließ sie nur allzu gern ihre angestaute Wut aus.
Mick fuhr in Westworlds End ein. Eigentlich konnte man das Örtchen nicht einmal als Stadt bezeichnen. Denn es bestand hauptsächlich aus zwei oder drei Geschäften, einigen Bauernhäusern, einer Bar und einer Autowerkstatt. Es war schmutzig und keiner kümmerte sich um das Image. Jeder kannte hier jeden.
Der junge Mann parkte sein wertvolles Motorrad vor der Bar und betrat sie durch die Schwingtüren, die an die eines Saloons aus dem Wilden Westen erinnerten.
Mick drückte die Schwingtüren nach innen. Augenblicklich verstummte das Stimmengemurmel. Die Menschen an den Tischen starrten den Neuankömmling misstrauisch an. Sie befanden ihn schnell als einen der ihren und die Gespräche wurden wieder aufgenommen. Mick beachtete das nicht und trat an den Tresen heran. Der Wirt, ein rundlicher Mann mit wenig Haar und fettigem schwarzen Schnauzer, begrüßte ihn.
„Hallo Mick! Na? Alles glatt gegangen?“, erkundigte er sich.
Der Angesprochene nickte.
„Klar. Ist mir je ein Auftrag misslungen, Helei?“
Der Dicke kannte ihn zu gut. Er merkte sogleich, dass doch nicht alles so gelaufen war.
„Dir ist noch was dazwischen gekommen, habe ich Recht?“, grinste er.
Mick musterte ihn eingehend. Als er damit fertig war, gab er Antwort: „Den Auftrag habe ich erfüllt ohne große Probleme. Aber auf dem Weg hierher ist mir eine blonde Frau über den Weg gelaufen. Sie hat mich gefragt, ob ich Mick wäre.“
„Und?“, fragte Helei neugierig. Er wischte sich die Hände an der dreckigen Schürze ab.
„Was hast du ihr gesagt?“
„Du lässt nicht locker, oder?“
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: „Ich habe sie im Ungewissen gelassen und bin davon gefahren.“
„Du hast sie stehen lassen?“, lachte der Wirt.
Er stellte ein Glas mit einer rotbraunen Flüssigkeit vor seinen jungen Freund. Der trank einen Schluck, ehe er weiter berichtete.
„Ja, ich habe sie stehen gelassen. Sie hat mir hinterher gerufen.“, bei der Erinnerung musste er grinsen, „Allerdings wusste sie anscheinend schon, dass ich Mick bin. Ich frage mich nur, warum sie mich dann extra aufgehalten hat, um das in Erfahrung zu bringen.“
„Vielleicht wollte sie nur mit dir allein sein.“, vermutete Helei und zwinkerte schelmisch.
„Mach dir keine Hoffnungen. Die ist nicht mein Typ.“, machte Mick den Gedanken zunichte.
„Schade.“
„Ich weiß genau, was du gerade denkst. Wage es ja nicht, es auszusprechen!“, warnte er sein Gegenüber.
Dieser machte eine abwehrende Geste: „Schon gut, mein Freund. Ich tu’s ja nicht.“
Mick trank das Glas bis zur Hälfte aus.
Da ertönte ein Knattern. Die Gäste des düsteren Lokals schauten auf und einander verwundert an.
„Ein Hubschrauber.“, bemerkte Mick trocken.
Er erhob sich von dem Barhocker, auf dem er sich zu Anfang niedergelassen hatte. Aufmerksam blickte er zum Ausgang.
„Erwartest du jemanden?“, wollte der Dicke wissen.
Mick nickte: „Die Frau von vorhin. Sie wird nicht aufgeben, bis sie von mir die Bestätigung erhält, dass ich wirklich jener Mick bin, den sie sucht.“
„Trink aber vorher dein Glas leer. Du wirst es brauchen!“, ermahnte ihn Helei, „Und das ist noch nicht einmal die Ration, die du eigentlich bräuchtest.“
„Ich habe ja in meinem Schlauch auch noch etwas. Aber du könntest mal zu meinem Bike gehen und ihn wieder auffüllen.“, schlug der Jugendliche vor.
„Gut.“, sagte der Aufgeforderte und verschwand.
Mick nahm noch einen Schluck und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Er wurde nicht enttäuscht. Eine Minute später erschien eine zierliche Gestalt in der Türöffnung. Selbstsicher trat sie ein. Ebenso wie Mick beachtete sie die teils feindlichen, teils begehrlichen Blicke der übrigen Gäste nicht, als sie sich umsah. Sie hatte ihre Zielperson schnell gefunden. Ohne Umschweife schritt sie auf ihn zu.
Er spürte augenblicklich, dass sie wutgeladen war. Doch statt sich schuldig zu fühlen, schmunzelte er nur in sich hinein. Er kannte diese Art Frauen zur Genüge. Wie er erwartet hatte, brach sie, kaum dass sie vor ihm stand, in eine wortreiche Schimpftirade aus. Er ließ sie gewähren und trank noch einen Schluck. Das Glas war nun bis auf ein, zwei Zentimeter gelehrt. Plötzlich schlug sie ihm das Gefäß aus der Hand. Scheinbar gleichgültig sah er dem Flug und dem anschließenden Aufprall zu. Das Glas zersplitterte auf dem Holzboden in tausend Scherben und sein Inhalt zerstob in alle Richtungen. Dass er das Mädchen, das nur wenig jünger war als er selbst, damit zur Weißglut brachte, interessierte ihn nicht.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, schrie sie ihn an.
Mick tat, als täte er genau dies nicht. Er drehte sich wieder zur Theke um, als er Helei herein kommen hörte.
„He, Helei!“, sagte er, „Dasselbe noch mal, bitte!“
„Sehr gern.“, antwortete der untersetzte Wirt und machte sich sogleich an die Zubereitung.
Zorniger als jetzt konnte Alisha nicht mehr werden. Sie wusste keinen Ausweg mehr, als Gewalt anzuwenden, um sich Gehör zu verschaffen. Also schlug sie zu. Sie hatte allerdings nicht mit Micks blitzartiger Reaktion gerechnet. Er wich aus und fing ihre Fäuste nacheinander in der Luft. Mit eiserner Hand hielt er sie fest.
„Nana!“, mahnte er belustigt, „Wer wird denn gleich gewalttätig werden?“
Helei unterstützte ihn: „Hey Lady! Hier ist Schlägern verboten. Wenn Sie sich prügeln wollen, gehen Sie auf die Straße!“
Sprachlos starrte das blonde Mädchen abwechselnd den Dicken und den jungen Mann an.
„Du lässt wohl nicht eher locker, als bis ich mich zu erkennen gebe, habe ich Recht?“, wandte sich Mick nun seufzend an Alisha.
„Warum sagst du das nicht gleich? Warum lässt du mich allein in der Wüste zurück?“, brauste sie auf.
„Nun, das ist ganz einfach.“, erklärte der 21-Jährige, „Du warst scheinbar zu Fuß unterwegs. Allerdings habe ich nur Spuren gesehen, die über einen Hügel führen. Dahinter ist das Tal so tief, dass man dort ohne Probleme einen Hubschrauber verstecken kann. Außerdem sahen deine Kleider nicht so aus, als seist du viele Stunden lang durch die Wüste gelaufen. Und dann deine Arme. Sie hätten Anzeichen von Brand zeigen müssen. Denn obwohl die Sonne von den Wolken verdeckt wird, gelangt noch genügend Strahlung hindurch. Die feinen Wassertröpfchen, aus denen die Wolken bestehen, werfen das Licht und damit die Wärme zurück und verstärken sie sogar noch etwas. Wer länger in der Wüste unterwegs ist, muss also früher oder später einen Sonnenbrand bekommen.“
„Was bei dir offensichtlich nicht der Fall ist, wenn ich deine Arme so ansehe.“, meinte sie schnippisch.
„Ich habe sie mir ja auch vorher eingeschmiert mit einer Salbe von meinem Freund hier.“, mit dem Kopf wies er auf Helei, der in diesem Moment ein weiteres Glas vor den jungen Mann stellte.
Der Lokalführer lächelte ihm zu.
Alisha hatte jedoch noch eine Frage: „Wenn das mit der Strahlung stimmt, wieso ist das dann woanders nicht auch der Fall?“
Auch darauf wusste Mick etwas zu sagen: „Es ist so: Hier haben wir Sandboden und in den Städten, aus denen du anscheinend kommst, Beton und ab und an Bäume. Das Verhältnis zwischen Himmel und Erde ist in diesem Fall verschieden. Das macht viel aus. Zudem hängt in den Städten vermehrt Smog, was die Strahlung abschwächt. Jetzt verstanden?“
So wirklich glaubte ihm der blonde Teenager nicht. Aber sie gab sich mit dem Gehörten zufrieden.
Unvermittelt wechselte der junge Mann mit den schwarzen Augen das Thema: „Was will denn deine Organisation von mir?“
Perplex sah sie ihn mit ihren klaren blauen Augen an. Es fiel ihr schwer, ihm zu folgen. Es dauerte eine kleine Weile bis sie endlich seine Frage verarbeitet hatte.
„Die Organisation hat mir nur aufgetragen, dich zu holen. Allerdings teilte sie mir nicht mit, weshalb. Ich kann dir nicht sagen, was sie von dir will. Am besten kommst du gleich mit.“
„Nicht so schnell!“, Mick hob die Hand als Zeichen, dass er noch etwas Zeit brauchte.
„Wer sagt, dass ich mitkommen will?“
„Das gibt’s nicht!“, rief Alisha empört aus, „Wenn du nicht mitkommst, dann … dann ... Dann bekommst du eben kein Geld!“
Ihr Gegenüber ließ sie los. Dieses Angebot war etwas, was es zu überdenken galt. Er warf Helei einen kurzen Blick zu. Der stellte ihm das Glas näher hin und hob die Brauen. Mick trank von der merkwürdigen Flüssigkeit.
„Wenn du dich besäufst, wird es mir ein Leichtes sein, dich einfach so mitzunehmen, ohne dein Einverständnis. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“, rief Alisha.
Da lächelte ihre Zielperson verächtlich.
„Sehe ich so aus, als würde ich Alkohol zu mir nehmen?“, dann wurde sein Ton kalt, „Hör mir genau zu, Alisha von der Organisation! Ich trinke niemals Alkohol! Für meinen Job brauche ich einen klaren Kopf. Außerdem lasse ich mich nicht von jedem dahergelaufenen Mädchen engagieren, das mir ihren Auftrag von irgendeinem Verein vor die Nase setzt und meint, eben diesen unbedingt ausführen zu müssen, wenn sie ihr Gesicht nicht verlieren will. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“
Er hatte mit gesenkter Stimme gesprochen und war ihr unangenehm nahe gekommen. Sie konnte seinen Atem riechen. Kräuter und Honig bestimmten das Aroma. Aber auch noch etwas anderes schwang mit, das sie nicht bestimmen konnte. Unverwandt sahen ihre blauen Augen in seine schwarzen. Irgendetwas an ihnen kam ihr bekannt vor, ohne dass sie sagen konnte, was es war.
Er riss sie aus ihren Gedanken, als er sie aufforderte: „Und jetzt bitte ich dich zu gehen.“
Doch sie ließ nicht locker.
„Du kannst mich nicht einfach wegschicken! Ich habe nicht vor, mit leeren Händen zurückzukehren.“
„Geh!“, sagte Mick und packte sie grob an den Schultern. Er drehte sie um und stieß sie von sich fort.
Helei sah besorgt zu seinem jungen Freund. Er kannte dieses Verhalten.
Der 21-Jährige hatte es auf einmal sehr eilig. Er sprang leichtfüßig über den Tresen und eilte zur Hintertür.
Der Wirt fragte: „Ist es…?“
Mick stieß nur ein kurzes: „Ja!“ hervor.
Schützend schob der Dicke ihn an sich vorbei zum Ausgang. Zugleich hielt er die aufgebrachte Alisha auf. Sie schaute ihn verständnislos an und schimpfte auf ihn ein. Sie versuchte sogar, sich an ihm vorbei zu drängen, als sie ihrer Zielperson folgen wollte. Schließlich wurde es Helei zu bunt.
„Sie sehen doch, dass er nicht von Ihnen belästigt werden will! Also verlassen Sie mein Lokal auf der Stelle! Oder Sie setzen sich, wie jeder andere Gast auch, und bestellen sich etwas zu trinken! Haben Sie mich verstanden?“, wetterte er.
Das Mädchen schien unter seinem strengen Blick zusammenzuschrumpfen. Aber nicht für lange, dann blitzten ihre Augen wütend auf.
„Also schön! Ich gehe! Aber morgen komme ich wieder!“
Sie drehte auf dem Absatz herum und verließ das Lokal. Jedoch nicht ohne sich vorher noch mal zu bücken und verstohlen eine Scherbe mitgehen zu lassen, indem sie absichtlich einen Handschuh fallen ließ. Mit stolz erhobenem Kopf marschierte sie zur Tür hinaus.
Erleichtert atmete Helei auf. Er vergewisserte sich bei einem Gast am Fenster, dass sie auch wirklich zu ihrem Helikopter zurück ging und nicht etwa ums Haus herumschlich. Danach begab er sich ins Hinterzimmer.
Dort sah er einen bewusstlosen Mick zusammengekrümmt auf dem Boden liegen. Dadurch, dass er die Situation schon kannte, erschreckte es ihn nicht. So konnte er ohne zu überlegen handeln. Er hob seinen jungen Freund auf und trug ihn die Treppe hinauf in seine Wohnung. Im Wohnzimmer legte er ihn fürsorglich aufs Sofa.
Dann begab er sich in seine hauseigene Küche und kehrte mit einer Schüssel kalten Wassers zurück. Mit einem Tuch wischte er dem jungen Mann übers Gesicht. Mit einem anderen träufelte er ihm das Wasser in den Mund. Vorsichtig tätschelte er die Wangen des Jungen und rief immer wieder seinen Namen.
„Mick! Wach auf! Komm schon!“
Nach einer Weile regte sich der Liegende. Stöhnend öffnete er die Augen. Er brauchte einige Zeit bis er Helei erkannte. Dann aber fuhr er hoch, sank jedoch gleich wieder in seine ursprüngliche Position zurück.
„Wie lange diesmal?“, erkundigte er sich schwach.
„Ich schätze fünf oder sieben Minuten.“, gab ihm der Dicke zur Antwort.
„Verdammt!“, fluchte er.
„Es wird schlimmer, nicht wahr?“, wollte Helei besorgt wissen.
„Ja.“, stimmte ihm Mick zu.
Sie schwiegen. Der Barbesitzer wischte dem Jüngeren erneut übers Gesicht.
Es war der Letztere, der das Schweigen brach: „Was ist mit dem Mädchen?“
„Ich habe sie fortgeschickt. Sie sollte nicht sehen, wie du dich quälst.“
„Das ist gut.“
Stille.
Diese Stille wurde von lautem Geknatter durchbrochen. Die Rotorblätter des Hubschraubers durchschlugen die Luft wie kleine Geschosse.
Mick stützte sich auf die Ellbogen und sah zum Fenster. In einiger Entfernung stieg das Flugzeug senkrecht in die Luft. Ein Blitzen aus dem Inneren der Helis verriet ihm, dass jemand mit einem Fernglas zu ihm herüber sah. Er war nur froh, dass das Fliegengitter, das Helei vor nicht allzu langer Zeit angebracht hatte, dem Spion die Sicht größtenteils nahm. Dann wendete die Flugmaschine und flog in östlicher Richtung davon.
„Sie wird wiederkommen! Morgen.“, prophezeite Helei.
Mick nickte zustimmend.
Kapitel 2
Am anderen Tag stand Mick schon früh auf und machte sich in Heleis Küche etwas zu essen. Sein väterlicher Freund schlief noch. Doch er weckte ihn nicht. Er wollte nicht, dass sich der Dicke zu viele Sorgen um ihn machte. Schließlich hatte Helei den damals Sechzehnjährigen bei sich aufgenommen und ihm ein Zuhause gegeben. Es war kurz nachdem die Krankheit ausgebrochen war. Der Lokalbesitzer hatte sich überall schlau gemacht, um Näheres zu erfahren. Allerdings fand er nichts. Erst nach einigem Herumprobieren fand er ein Mittel, das die Krankheit einigermaßen in den Griff bekam. Es hielt sie zwar nicht auf, aber sie verzögerte den Fortschritt.
Darüber dachte Mick nach, als er seine Medizin trank und etwas Brot aß. Danach räumte er alles auf und zog seinen Mantel über. An der Tür lehnte sein Gewehr, das ihm schon viele gute Dienste geleistet hatte. Er nahm es auf, schulterte es und begab sich zu seinem Motorrad.
Das Örtchen lag noch in morgendlichem Schlummer. Aus Rücksicht auf die wenigen Bewohner schob er es einige hundert Meter, ehe er sich hinauf schwang. Dann trat er durch. Sein Weg war weit diesmal. Sein Auftraggeber wohnte erst in der übernächsten Stadt. Bis dahin war er mindestens vier Stunden unterwegs. Das gab ihm Gelegenheit nachzudenken.
Dieses Mädchen kam ihm irgendwie bekannt vor. Obwohl er hätte schwören können, dass er es noch nie zuvor gesehen hatte. Dieses blonde Haar und die himmelblauen Augen. Sie erinnerten ihn an seine kleine Schwester.
„Mai!“, murmelte er abwesend.
Sie war erst drei Jahre alt gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Was wohl aus ihr geworden war? Sie musste heute achtzehn Jahre alt sein, wenn sie noch lebte.
Dass seine Eltern tot waren, das wusste er sicher. Denn als er auf einen Auftrag geschickt worden war, hatte er ihre Leichen gefunden.
Noch andere Gedanken schossen ihm durch den Kopf auf seinem langen Weg. Glücklicherweise hatte er rechtzeitig vollgetankt.
Schließlich kam er an seinem Ziel an. Er fuhr auf die Hauptstraße und in die Stadt hinein. Es ging um viele Kurven und durch kleine Nebenstraßen. Endlich kam er bei einem Hochhaus an. Die Front war verglast, aber er wusste schon, dass es dahinter vom Krieg gezeichnet war. Er stellte sein Motorrad vor dem Gebäude ab und legte den Helm, den er diesmal getragen hatte, auf den Lenker. Er zog den Schlüssel und ging in das Haus.
Der Fahrstuhl war defekt. Wer eintreten wollte, würde den Schacht hinunter fallen. Es sei denn, man wollte im dritten Stock einsteigen. Dort war die Kabine zum Halten gekommen und steckte schon jahrelang fest.
Es blieb dem Auftragskiller also nichts anderes übrig, als die Treppe zu nehmen. Das machte ihm allerdings nichts aus. Er sah es eher als Training.
Sein Arbeitgeber wohnte im vierten Stock. Vor der Tür angekommen, klopfte er an und trat ein, ungeachtet dessen, ob jemand „Herein!“ rief oder nicht.
Der Wohnraum war reich eingerichtet. Es deutete nichts darauf hin, dass hier einmal ein Feuer gebrannt hatte. Sein Besitzer hatte es verstanden, die Spuren zu verwischen.
Mick staunte jedes Mal, wenn er den Raum betrat. Aber er ließ sich nichts anmerken. Der Inhaber begrüßte den Ankömmling mit offenen Armen.
„Hallo, mein Freund! Wie geht es dir?“, fragte er mit spanischem Akzent.
„Gut.“, war die knappe Antwort.
„Hast du alles erledigt?“
„Natürlich.“
„Oh, so natürlich ist das nicht. Ich hatte schon mal Killer, die vor lauter Mitleid jemanden haben laufen lassen.“
„Ich versichere Ihnen, Don Pedro, ich habe keinen verschont!“
„Jaja, das sagen sie alle.“
Mick war es leid, zu antworten und schwieg. Er beobachtete den Spanier, als dieser zu seinem Tresor ging, der hinter einem Wandgemälde verborgen war. Der Mann bedeutete ihm, sich umzudrehen. Widerwillig gehorchte er. Doch er lauschte auf die Geräusche hinter ihm. Ihn beschlich eine gewisse Ahnung.
Der Don redete ununterbrochen weiter, während er die Geheimzahl des Tresors eingab. Still und klammheimlich nahm er eine Pistole aus dem Safe und richtete sie auf Mick.
„ … und ich kann keine Mitwisser gebrauchen.“, schloss der Geschäftsmann.
Er drückte ab. Die Kugel zischte los. Direkt auf Micks Herz zu.
Doch da geschah das Unglaubliche. Der junge Mann duckte sich, ehe die Kugel ihn erreichen konnte. Wie von Zauberhand erschien eine Handfeuerwaffe in seiner Faust. Der Zeigefinger flog förmlich an den Abzug. Der Körper fuhr herum und die Magnum knallte. Dem Don wurde die Pistole aus der Hand geschossen. Der krümmte sich und umklammerte seine verwundeten Finger. Anschließend zeigte die Schusswaffe auf Don Pedros Stirn.
„Was wollten Sie sagen, Sir?“, schnarrte Mick verächtlich.
Völlig überrumpelt starrte sein Gegenüber ihn an. Bedächtig erhob sich der 21-Jährige und kam sicheren Schrittes auf ihn zu. Der Don fühlte das kalte Eisen auf seiner Stirn und in der Bauchgegend piekte ein Messer. Es war dasselbe, das Mick benutzt hatte, als er das erste Mal tötete.
„Eine falsche Bewegung, Don, und Sie sind tot.“, raunte er ihm zu.
Der Angstschweiß brach dem untersetzten Mann aus.
„Was willst du, Junge?“, keuchte er.
„Erstens: Nennen sie mich bei meinem Namen. Zweitens haben Sie mich zu siezen und drittens: Ich will meinen Lohn wie abgemacht. Verstanden? Denn falls nicht, muss ich mir das Geld persönlich holen. Und glauben Sie mir, das wollen Sie nicht!“
„A-also gut. Ich gebe Ihnen das Geld. Aber nehmen Sie die Waffen weg!“, stotterte der Auftraggeber.
Mick kannte solche Männer zur Genüge. Sie rissen das Maul auf und prahlten immerzu, doch wenn es drauf ankam, kniffen sie den Schwanz ein.
„Ich werde das Messer wegnehmen. Aber das gute Stück hier wird auf Sie aufpassen.“, erklärte der Blondierte.
Damit fuhr er über den Lauf der Handwaffe. Mit der Linken steckte er das Messer in sein Halfter zurück. Die Rechte verfolgte den entwaffneten Spanier. Der holte ein Bündel Banknoten aus dem Safe und übergab sie widerspruchslos Mick.
Der prüfte sie mit einem Blick und stellte mit Kennermiene fest, dass das Geld auch wirklich echt war. Dann entfernte er sich rückwärtsgehend. Kaum aus der Tür und ebendiese zugeschlagen, hechtete er die Stufen hinab zu seinem Motorrad. Jetzt hieß es schnell sein, wollte er nicht sein Leben lassen. Denn der Spitzbube von Don würde sicherlich irgendwelche Wachmänner auf ihn hetzen.
Er hatte sich nicht verrechnet. Am nächsten Treppenabsatz stellte sich ihm ein bulliger Kerl in den Weg. Er war allerdings kein Hindernis für den geübten Kämpfer. Einige Fußtritte später flog der Mann Mick voraus die Stufen hinunter. Der sprang hinterher und landete auf dem Bauch des Mannes. Dann hetzte er weiter. Er hatte noch einige andere solcher Begegnungen, die er spielend überwand. Im Erdgeschoss angekommen, hastete er auf die Straße, sprang auf sein Bike, zündete und trat durch. Die Reifen quietschten und qualmten, als er Vollgas gab. Das würde eine herrliche Verfolgungsjagd werden. Er freute sich schon tierisch, den Verfolgern eine lange Nase zu drehen.
Und wieder behielt er Recht. Ein Auto raste aus einer Seitenstraße und hängte sich an seine Fersen. Auch ein paar Motorradfahrer schlossen sich der Jagd an.
Mick grinste und beschleunigte. Er wusste von einer Baustelle ein paar Straßen weiter. Dort würde er sie abschütteln können. Auf dem Weg dorthin pfiffen ihm die Kugeln um die Ohren. Geschickt wich er ihnen aus. Er lachte über die kläglichen Versuche ihn zu fangen oder zu erschießen. So einfach bekamen sie ihn nicht.
Endlich kam die Baustelle in Sicht. Er gab noch einmal Vollgas und raste auf eine Art Rampe zu. Mit affenartiger Geschwindigkeit schoss er hinauf und schanzte über das Loch in der Straße. Auf der anderen Seite kam er zwar etwas unsanft auf, doch er jubelte innerlich. Er hatte gehört, wie die Verfolger gezwungenermaßen anhalten mussten. Fluchend waren sie aus ihren Autos gestiegen. Die Biker getrauten sich nicht, ebenfalls die Schanze zu nehmen. Und der einzige, der es versuchte, landete schreiend in der Baugrube.
Mick grinste in sich hinein und machte sich auf den Heimweg.
Zuhause angekommen erwartete ihn schon Alisha. Sie saß an der Bar und hielt ein Glas Wasser in der Hand.
„Du kommst spät.“, bemerkte sie.
„Was heißt spät?“, fragte Mick sie, „Ich bin immer noch sehr früh dran. Ich war schon mal Tage unterwegs.“
Er wunderte sich keineswegs, dass sie da war. Irgendwie hatte er schon damit gerechnet.
„Da habe ich mir Sorgen gemacht.“, kam die tiefe Bass-Stimme Heleis aus dem Hinterzimmer, „So wie heute. Wo warst du, Junge?“
Statt einer Antwort ließ Mick das Geldbündel auf die Theke fallen.
„Ich habe den Lohn abgeholt. Damit kannst du die zerbrochenen Möbel und Gläser ersetzen.“, erzählte der Schwarzäugige.
„Was für zerbrochene Möbel?“, erkundigte sich Alisha.
„Ach.“, sagte Mick, „Letzte Woche gab es hier drinnen eine Prügelei. Helei hat sie rausgeschmissen und ihnen ein Jahr lang Hausverbot erteilt.“
„Ach so.“
„Jetzt verstehst du sicher auch, warum ich hier drin keine Gewalt dulde.“, meinte der Wirt freundlich.
Er stellte Mick seine Medizin hin. Dieser leerte das Behältnis in einem Zug.
„Noch eins, bitte.“, forderte er seinen Freund auf.
„Hast du heute nichts aus deinem Schlauch genommen?“, fragte der Dicke streng.
„Keine Zeit.“
„Wurdest du etwa wieder verfolgt?“
Heleis Stimme klang ehrlich besorgt.
„Leider ja.“
„Verfolgt?“, mischte sich da Alisha ein, „Wo wurdest du verfolgt, und warum?“
Mick sah sie müde an und erzählte schließlich widerstrebend seine Geschichte. Er erzählte auch, warum er die Morde im Auftrag von Leuten annahm, die sich ihre Finger nicht schmutzig machen wollten. Abgesehen von dem einen heute. Und einigen anderen. Das Geld brachte er Helei mit, weil seine Bar nicht so gut lief, seit die Autobahn gebaut worden war. Als Dankeschön dafür, dass er bei ihm wohnen durfte.
„Mir gefällt es nicht, dass du Leute umbringst.“, gab der Wirt seine Unzufriedenheit kund.
„Mir auch nicht, aber etwas anderes kann ich mir nicht leisten. Du weißt, warum!“, pflichtete ihm sein Schützling bei.
„Ja, leider.“, seufzte der Mann mit dem lichten Haarkranz.
Wieder mischte sich Alisha ein, die natürlich noch nichts von Micks Krankheit ahnte.
„Was denn? Warum kannst du dir nichts anderes leisten?“
Erneut sah Mick sie mit einem unbestimmbaren Blick an.
„Du brauchst das nicht zu wissen. Es geht nur Helei und mich etwas an. Sonst niemand. Klar?“
Widerstrebend nickte das blonde Mädchen. Sie hatte schon verstanden. Sie wusste bereits, dass es keinen Sinn hatte, tiefer in Mick einzudringen, als er es zuließ. Irgendwann würde es von ganz allein ans Licht kommen, das hatte sie im Gespür.
Sie sprach einfach etwas anderes an, das sie interessierte: „Was trinkst du da eigentlich immer? Du hast jetzt schon das vierte Glas.“
„Das gehört zu dieser Angelegenheit, die du nicht zu wissen brauchst.“
„Ach komm schon!“, bettelte sie, „Ich habe das Zeug untersuchen lassen. Da sind verschiedene Kräuter drin, Honig, und noch etwas, was es so dünn macht. Ich habe es probiert, als du nicht hingesehen hast und es schmeckt furchtbar.“
„Man gewöhnt sich dran.“, meinte ihr Sitznachbar achselzuckend und leerte sein viertes Glas.
„Und wofür ist es gut?“, beharrte das Mädchen.
„Es ist mein Lieblingsgetränk. Und Helei ist so gut und macht es mir immer.“, wich Mick aus.
Wenn sie noch weitere Fragen wie diese stellte, sah er sein Geheimnis in ernster Gefahr. Doch glücklicherweise schwieg Alisha diesmal. Nachdenklich starrte sie in ihr eigenes Glas.
Der dicke Wirt wischte einige Gefäße mit einem sauberen Handtuch aus. Allerdings las Mick in seinen Augen „Vorsicht! Die Frau ist gefährlich!“.
Er nickte seinem väterlichen Freund zu. Er hatte verstanden, denn er nickte zurück.
Es herrschte einige Augenblicke Stille zwischen den dreien.
Dann ergriff die Jugendliche wieder das Wort: „Sag mal, Mick… Willst du nicht doch mit mir kommen … und … meine Organisation unterstützen?“
„Nein!“, war die entschiedene Antwort.
„Bitte! Überlege es dir noch einmal!“, bat sie.
Mick ließ sich jedoch nicht erweichen. Er blieb bei seinem Entschluss. Da konnte Alisha noch so sehr bitten und betteln.
„Nein!“, wiederholte er, „Ich kann Helei nicht allein lassen. Er braucht mich. Ich besorge ihm das Geld, damit er überleben kann.“
„Wenn es nur darum geht? Geld wirst du bei uns mehr als genug bekommen und es ist weniger gefährlich, als jetzt.“, hielt das Mädchen ihm entgegen.
Unerwarteterweise stimmte ihr plötzlich Helei zu: „Ja, Mick! Das ist die Chance deines Lebens! Vielleicht kommst du ja so an das, was du brauchst.“
„Helei! Nicht auch noch du! Bitte.“, klagte der Schwarzäugige.
Er nahm seinen Freund beiseite.
„Was hast du dir dabei gedacht? Spinnst du jetzt völlig?“, flüsterte er aufgebracht.
„Auf diese Weise kommst du vielleicht an das Heilmittel, das die Krankheit stoppen kann. Das ist mein Gedanke dahinter.“
„Aber was mache ich ohne deine Medizin? Ich kann sie doch nicht eimerweise mitnehmen. Du weißt doch, dass ich sie immer frisch brauche, und dass sie nicht wirkt, wenn sie auch nur 24 Stunden steht.“
„Ich komme selbstverständlich mit.“, entschied der Dicke augenzwinkernd.
„Hast du dich überreden lassen?“
Helei tat beleidigt: „Ach wo! Was denkst du von mir? Und glaubst du, ich lasse dich allein irgendwohin ziehen, wo du vielleicht umkommst?“
„Du bist verrückt! Und was ist mit der Bar?“, wollte Mick besorgt wissen.
„Die kann ich einem guten Freund übergeben, dem ich vertraue.“
„Oh, Helei! Du bist unverbesserlich!“
„Und dein bester Freund! Vergiss das nicht!“
„Also gut. Dann machen wir’s.“, entschied Mick.
Wenn auch mit schlechtem Gewissen und einem unguten Gefühl in der Magengegend.
Er wandte sich an die gespannt wartende Alisha und verkündete seine Entscheidung. Doch entgegen seinen Erwartungen lächelte sie nur triumphierend.
„Schön.“, sagte sie, „Dann fangt an zu packen! Wir sehen uns morgen früh um zehn in Jillhead City am großen Brunnen auf dem Stadtplatz. Seid pünktlich!“
Mit diesen Worten trank sie aus, bezahlte und verließ die Bar. Mick hätte schwören können, dass sie fröhlich hinausgehüpft wäre, hätte sie nicht eine gewisse Würde bewahren müssen.
„Ein beachtliches Mädchen.“, bemerkte Helei nicht ohne Bewunderung.
„Ja, toll!“
Micks Ton klang eher sarkastisch.
Kapitel 3
Am nächsten Morgen hatten sie soweit die wenige Habe des Wirts im Beiwagen von Heleis Zweirad verstaut. Der Lokalbesitzer gab seinem Freund, der die Bar übernahm, noch die letzten Instruktionen.
Von draußen rief Mick: „Helei! Nun komm doch! Sonst kommen wir zu spät.“
„Gleich, Kleiner!“ gab der Gerufene zur Antwort.
Er erklärte noch schnell einige Dinge und beeilte sich dann auf sein Moped zu kommen. Leider war es nicht gerade das Schnellste. Darum mussten die beiden sehr früh los. Jillhead City war nun mal auch nicht der nächste Weg. Und genau deshalb machte der 21-Jährige ein wenig Druck, damit Helei seinen dicken Hintern ein bisschen schneller bewegte.
Schließlich saß er endlich auf dem Sattel und trat durch. Mick war schon ein Stück vorausgefahren und wartete ungeduldig auf seinen älteren Freund. Gemächlich kam dieser angezuckelt.
„Dass die Jugend von heute es immer so eilig haben muss!“, dachte er bei sich.
Dennoch gab er seiner alten Maschine die Sporen. Und siehe da! Sie protestierte zwar lautstark, gehorchte aber dann doch und ließ ihre Räder schneller rollen.
Dem jugendlichen Bike von Mick hatte sie allerdings nichts entgegenzusetzen.
Es dauerte auf diese Weise gut drei Stunden bis Jillhead City. Nach einigem Suchen fanden sie auch den Brunnen und den dazugehörigen Stadtplatz. Aus dem Brunnen sprudelte schon lange kein Wasser mehr. Er war staubtrocken und überhaupt nicht ansehnlich. Davor stand Alisha in Begleitung von zwei Muskelprotzen. Sie wirkten allerdings völlig fehl am Platz neben der zierlichen Blondine. Die beiden Männer hatten ihre Muskelpakete in scheinbar viel zu kleine Anzüge gezwängt, die jeden Moment auseinander zu platzen drohten. Mick musste bei dieser Vorstellung grinsen.
Mit einer eleganten Kurve hielt er genau vor dem Mädchen, stellte lässig einen Fuß auf den Boden und nahm den Helm ab. Demonstrativ schüttelte er seine kurze, blond gefärbte Mähne.
Helei kam direkt neben ihm zu stehen. Er hob zum Gruß die Hand.
„Ihr seid spät dran!“, war das einzige, was Alisha zum Willkommen sagte.
„Na danke!“, brummte Mick.
Er mochte solche Begrüßungen nicht.
„Wer sind denn die beiden Helden hier?“, erkundigte er sich bei der 18-Jährigen.
„Gestatten, Herr Luken und Mr. Snider, meine Bodyguards.“
„Wow. Eigene Leibwächter hat sie.“, sagte der junge Mann zu seinem Freund.
„Lass doch endlich mal deinen Sarkasmus stecken und begrüße unsere kleine Freundin anständig!“, erwiderte der.
„Toll! Du bist mir ja eine große Hilfe!“
Mick verstand den Wirt nicht mehr. Früher war er immer auf seiner Seite gewesen. Auch, was Frauen anging. Doch seit Alisha aufgetaucht war, hatte sein Verhalten sich drastisch verändert. Er sah das Mädchen an, das zufälligerweise in eine andere Richtung sah.
„Also schön.“, dachte er.
Laut sagte er: „Hallo, Alisha. Wie geht’s?“
„Danke der Nachfrage, gut.“, ließ sie ihre helle Stimme erklingen.
Aber kein Hallo! Auch nicht zu Helei.
„Folgt uns!“, forderte das Mädchen die beiden Freunde auf.
Damit ging sie ihnen voran und führte sie durch die engsten Straßenschluchten, die Mick je gesehen hatte. Die beiden Muskelprotze bildeten den Abschluss der kleinen Gruppe.
Nach unzähligen Gassen und viele Häuser weiter gelangten sie an einen unauffälligen Schuppen. Dort hinein leitete Alisha sie. Als alle drinnen waren, schloss einer der Männer das Tor hinter ihnen.
Mick konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Hier gab es nur Stroh soweit das Auge reichte. Er wollte eine Bemerkung diesbezüglich machen, als er eine Bewegung unter seinen Füßen spürte.
„Was ist los? Wieso bebt die Erde?“, wollte Helei wissen.
„Wartet es ab!“, beschwichtigte das blonde Mädchen.
Mick glaubte im Halbdunkel zu erkennen, wie der Boden um ihn herum sich hob und die Wände immer höher wurden. Zudem gesellte sich ein flaues Gefühl im Magen, so, als stürze man in die Tiefe. Doch es verflog auch schnell wieder.
Plötzlich wurde es hell. Alle hielten sich schützend die Hände vor die Augen. Als ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannten sie einen Gang aus Stahl, der von Neonröhren erhellt wurde.
Alisha ging als Erste in diesen Korridor. Mick schob sein Motorrad langsam hinter ihr her. Helei folgte ihm.
Am Ende des Gangs öffnete sich eine riesige Halle, die von einer Balustrade umrundet wurde. Von dort aus konnte man die einzelnen Räume erkennen, in die der Saal unterteilt worden war. In jeder Nische saß ein Spezialist vor einem Computer. Was sie genau machten, ließ sich aus der Entfernung nicht feststellen.
Eine Treppe führte zu dem Labyrinth aus Holzwänden hinunter. Doch wenn die beiden Freunde erwartet hatten, dass Alisha runter gehen würde, hatten sie sich getäuscht. Im Gegenteil. Sie wandte sich zur Wand und betätigte einen Hebel.
Zuerst passierte gar nichts. Dann allerdings ertönte ein Summen vom anderen Ende der Halle. Der dicke Wirt und sein Schützling sahen eine Plattform auf sich zu schweben. Sie wurde von winzigen Düsen in der Luft gehalten. Sie sah nicht sehr stabil aus und man konnte ihr wahrlich nicht zutrauen, ein großes Gewicht wie ein vollgepacktes Moped samt Beiwagen zu tragen. Alisha bewies das Gegenteil. Selbstbewusst hüpfte sie auf den Transporter.
„Kommt schon!“, forderte sie die Zögernden auf.
Die beiden sahen sich bedeutungsvoll an. Der Erste, der den schwebenden Boden betrat, war Mick.
Als alle sicher an Bord genommen waren, betätigte die junge Frau einen Fußhebel und sie glitten über das PC-Labyrinth hinweg.
Hier und da konnte der 21-Jährige ein paar Worte aufschnappen. Aber sie ergaben keinen Sinn.
Auf der anderen Seite mündeten drei Korridore in den Raum. Ihre Führerin betrat den mittleren. Ihr Weg lenkte sie wie durch ein Labyrinth bis zu einem Hangar, wo Alisha den Männern erklärte, dass sie hier ihre Fahrzeuge abstellen konnten.
Danach brachte sie die beiden zu ihren Quartieren, wo sie ihre Sachen abladen konnten.
„Hier könnt ihr euch erst mal ausruhen. In einer Stunde hole ich euch wieder ab.“, mit diesen Worten verabschiedete sich das attraktive Mädchen und ließ Mick und Helei allein zurück.
Die sahen sich erst mal in ihrem vorläufigen Zuhause um. An den Seitenwänden war jeweils ein Bett befestigt, das nicht sehr bequem aussah. Daneben standen kleine Nachttischchen mit je einer Lampe darauf. Der Tür gegenüber war eine Platte angebracht, die wohl als Tisch gedacht war. Zwei Stühle deuteten jedenfalls darauf hin.
Das nächste, auf das Mick das Zimmer absuchte, waren Kameras. Er suchte mit den Augen die Wände und die Decke ab, die Betten und Nachttischchen, sowie Tischplatte und Stühle. Er entdeckte in einer winzigen Schraube eine Linse, die den ganzen Raum scannen konnte. Geschickt entfernte er sie. Dann suchte er nach Abhörgeräten und fand gleichfalls welche.
Nachdem er noch zweimal das gesamte Quartier kontrolliert und die Überwachungsgeräte zerstört hatte, wagte er es, zu sprechen.
„Die sind ganz schön ausgefuchst.“, bemerkte er in gleichgültigem Ton.
„Dachten die wirklich, dir entgingen solche Details?“, lachte Helei.
Er kannte seinen jungen Freund. Mick war immer misstrauisch in einer fremden Umgebung. Er hasste es, überwacht zu werden. Das verstand der Dicke nur zu gut. Genüsslich grinsend strich er sich über seinen Schnauzer.
Probehalber ließ er sich auf eines der Betten plumpsen. Gleich im Anschluss verzog er das Gesicht.
„Diese Kojen sind ja die reinsten Foltergeräte.“, beschwerte er sich, „Wie kann man nur auf so etwas schlafen?“
„Tja. Du bist besseres gewöhnt.“, war der einzige Kommentar dazu.
„Du auch.“, maulte der Lokalbesitzer.
„Nein. Du weißt nicht, wie es in dem ‚Institut’ war. Da habe ich auf dem Fußboden geschlafen.“, widersprach Mick.
Auch er ließ sich nieder.
„Das hier ist definitiv weicher als der nackte Boden.“, fuhr er fort.
Mit der Hand klopfte er auf die dünne Decke. Etwas piekte ihn in die Hand. Er registrierte es, ließ sich jedoch nichts anmerken. Gemächlich stand er auf.
Mit einer unerwarteten Bewegung fegte er die Decke von der Matratze. Heraus kullerte eine Kugel mit zwei Antennen.
Mick hob sie auf und untersuchte sie. Als er schwaches Ticken hörte, wusste er, um was es sich dabei handelte.
„Sie sind wirklich raffiniert.“, gestand er.
„Was ist das?“, Helei war neugierig heran getreten.
„Eine Bombe.“, sagte der Blondierte trocken.
„Was?“, schrie sein väterlicher Freund.
„Schon gut. Reg dich ab! Es ist nur eine Attrappe. Hätten sie uns töten wollen, hätten sie mehr als eine Gelegenheit gehabt.“, beruhigte ihn der Junge, „Das Ganze ist ein Test. Sie wollen herausfinden, ob ich in der Lage bin, Gefahren aus dem Weg zu gehen.“
„Was natürlich eine deiner leichtesten Übungen ist…“, kommentierte der Dicke ironisch.
„Ganz genau.“
Mick wusste schon, wie man eine derartige Bombe entschärfen konnte. Ohne lange zu überlegen machte er sich ans Werk. Auch wenn es keine echte war, so enthielt dieses Ding sicher etwas, das viel Qualm erzeugte, und genau das konnte er überhaupt nicht gebrauchen. Wenn er anfing zu husten, würde das einen Anfall nach sich ziehen. Das konnte er sich in dieser Situation, in der er und Helei sich befanden, nicht leisten.
Obwohl er den gesamten Raum nach Spionagegeräten abgesucht hatte, war er sich sicher, dass es noch irgendwo eine Kamera gab, die er unmöglich würde entdecken können.
Nach einer Minute machte es im Innern der künstlichen Bombe „klick“. Sie war entschärft. Zufrieden hielt er sie in der Hand.
„Das war’s.“
„Bist du dir sicher?“, fragte der Ältere unsicher.
„Ich bin sicher, mein Freund.“, beteuerte Mick.
Mit einem Mal erklang eine Stimme von irgendwoher. Es war die Alishas.
„Bravo!“, lobte sie, „Ihr habt den Test bestanden. Allerdings glaube ich, dass ich es euch zu leicht gemacht habe.“
Plötzlich fing die Kugel an zu zischen.
„Verdammt!“, fluchte Mick, warf das Ding von sich und stürzte sich mit der zerknautschten Decke darauf, die er vorher vom Bett gewischt hatte. Er hoffte, so den Qualm aufhalten zu können.
„Gib mir deine Decke, Helei!“, rief er, „Los doch!“
Er riss dem Dicken den Stoff aus den Fingern und presste das Bündel auf die Rauchbombe. Trotz dieser Bemühungen drang das Gas durch die Maschen. Eine weitere Bombe, die auf Heleis Lager versteckt gewesen war, fing ebenfalls an zu zischen und der Qualm breitete sich rasend schnell aus.
„Helei!“
Der rundliche Mann wusste, was er zu tun hatte. Er löste den Jungen ab und warf zuvor ein Kissen auf die zweite Rauchbombe.
Dieser sprang auf, griff sein Gewehr, kramte eine bestimmte Ladung aus seiner Hosentasche, lud, und zerschoss die Tür. Das alles lief so routiniert und rasend schnell ab, dass Alisha vor dem Überwachungsschirm nur staunen konnte. Die Explosion riss das Metall auseinander. Ohne nachzudenken hechtete Mick hinaus. Dort betätigte er den Öffnungsmechanismus, sodass Helei ihm folgen konnte.
„Schnell weg, Junge!“, raunte dieser ihm zu.
Gemeinsam liefen sie zum Hangar. Diese Route war die einzige, die sie kannten. Aber dort wartete die nächste Überraschung auf sie.
Eine Reihe schwarz gekleideter Gestalten stellte sich ihnen in den Weg. Sie sahen nicht gerade vertrauenerweckend aus. Und das waren sie auch nicht. Denn im nächsten Moment stürzten sie sich alle gemeinsam auf die beiden Flüchtenden.
„Helei!“, rief Mick seinem Freund zu, „Versuche, sie zu überwältigen, ohne sie zu töten!“
Er machte sich sogleich an sein Handwerk. Tritte und Schläge beförderten einen Angreifer nach dem anderen an die Wände des Korridors. Der Schwarzäugige legte bei seinem Kampf eine Kaltblütigkeit an den Tag, die jeden, der klaren Verstandes war, in die Flucht gejagt hätte. Hier aber hatte er es mit ebenso Erbarmungslosen zu tun. Ohne Rücksicht auf Verluste trat und schlug er auf Körper ein, die sich um ihn drängten. Zu guter Letzt gebrauchte er sein Gewehr als Keule und schickte damit seine Feinde ins Land der Träume.
Am Ende standen er und Helei schwer atmend als Sieger in dem Gang.
„Helei.“, keuchte Mick.
Er klang erschöpft. Der dicke Wirt merkte sofort, was los war. Er reagierte augenblicklich. Er raste blitzartig in den Hangar und holte den Schlauch, den er in der Früh gefüllt hatte. Wieder bei Mick flößte er ihm den Trank ein. Der junge Mann saß matt an der Wand. Helei zwang den halben Inhalt des Schlauches in Mick hinein. Bis dieser die Hand hob.
„Danke! Es reicht!“, wies er den Dicken an.
Mühsam kam er auf die Beine.
„Lass uns jetzt zu dieser Peinigerin gehen. Ich glaube, ich spüre ihre Anwesenheit.“
„Kannst du gehen?“
„Ja.“
Wenig später wummerte es gegen den Schott eines kleinen Zimmers, in dem die Überwachungsstation untergebracht war. Erschrocken fuhr Alisha hoch. Und drei Wachmänner mit ihr.
Sie waren gerade dabei gewesen einen Bildschirm zu reparieren. Er hatte während des Kampfes von Mick und Helei mit den besten Männern und Frauen der Organisation den Geist aufgegeben. Den Beobachtern passte das gar nicht, dass der Schrotthaufen just in dem Moment aufgehört hatte zu arbeiten, als das Ende des Handgemenges in Sicht war. Nun bastelten sie seit fünf Minuten daran herum, doch es rührte sich immer noch nichts.
Es pochte erneut an der Tür.
„Wer da?“, fragte einer der Techniker.
Keine Antwort.
„Wer mag das sein?“, wollte ein alter Mann wissen, dessen weißes Haar wie eine Löwenmähne um sein Haupt wallte. Deswegen wurde er nur „Leo“ gerufen.
Wieder klopfte es. Diesmal lauter und ungeduldiger als die beiden Male davor.
„Parole?“, rief Alisha.
„Haben wir jetzt hier etwa auch eine?“, wisperte ein kleiner, runder
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2017
ISBN: 978-3-7438-3920-5
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