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Green Hollow II – Die neue Schulmeisterin

von

Anna Staub

 

 

 

Alle Namen, Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Übersicht

 

Green Hollow: Fiktive Klein-Stadt im Colorado-Territorium um 1870

Gemstone: Örtlicher Saloon und gleichzeitig Bordell

 

 

Charles Sullivan Sr.: Familienoberhaupt der Sullivans, Besitzer der Black Creek Ranch, Vater von

 

Lukas „Luke“ Sullivan: Ältester Sullivan-Bruder und verheiratet mit:

Steffiney „Finney“ Sullivan: Frau von Luke, ehemalige Krankenschwester von Doc Dave

 

Joshua „Josh“ Sullivan: Zweitältester Sullivan-Bruder

William „Bill“ Sullivan: Dritter Sohn von Charles Sr., war verheiratet mit Josephine

Charles „Charlie“ Sullivan Jr.: Jüngster Sullivan-Bruder

 

Dr. David „Doc Dave“ McAbberty: Arzt von Green Hollow

Trudi McAbberty: Doc Daves Frau

 

Reverend John Brinkley: Pfarrer von Green Hollow

 

Bess Aldridge: Einwohnerin von Green Hollow und Kirchenvorsteherin

Jim Aldridge: Bess' Mann

 

Mr. Malbeth: Bürgermeister von Green Hollow

 

Liz und Harry Plockton: Besitzer von Plockton's Warehouse

Harriet Plockton: deren 9-jährige Tochter

 

Eugenia Straight: Ältere Witwe, Hypochonderin und Einwohnerin von Green Hollow

 

Miss Henny: Oberstes Freudenmädchen im Gemstone

 

Verstorbene Personen

Prudence Sullivan: Frau von Charles Sullivan Sr.

Josephine Sullivan: Frau von Bill Sullivan

Jim Reed: Silberminenbesitzer von Green Hollow, Lukes bester Freund

 

 

 

 

Prolog


Anzeige im Virginian Chronicle vom 18. Mai 1871


Green Hollow/Colorado-Territorium: Lehrer gesucht!

Die Stadt Green Hollow sucht zum 15. August des Jahres 1871 einen vollständig ausgebildeten Lehrer, der zugleich als Sonntagsschullehrer zu fungieren hat. Das Einkommen beläuft sich bei guten Qualifikationen auf 300 Dollar pro Jahr, eine Unterkunft wird unentgeltlich bereitgestellt. Bewerber senden ihre Interessensbekundungen an Bürgermeister Malbeth, Main Street, Green Hollow/Colorado.




Wenn Mr. Van Halen erst mal hier ist...

 

„Davy Slane! Wenn Mr. Van Halen erst mal hier ist, dann wird er dir deine Streiche schon austreiben! Mach sofort deine Schwester los!“

Bess Aldridge wusste so langsam keinen anderen Rat mehr, als dem renitenten Neunjährigen zu drohen. Davy hatte ganze Arbeit geleistet, indem er die langen, blonden Zöpfe seiner kleinen Schwester mit Stecknadeln an der Rückenlehne ihres Stuhls befestigt hatte. Mit dem Ergebnis, dass die Versuche der kleinen Elizabeth sich zu erheben ins Leere liefen. Immer wieder fiel sie auf ihren Stuhl zurück, was sie schließlich in ein mehr wut- als schmerzerfülltes Heulen ausbrechen ließ.

Normalerweise konnte Mrs. Aldridge den hoffnungsvollen Nachwuchs von Green Hollow während der Sonntagsschulstunden, die sie vertretungsweise übernahm, ganz gut zur Räson bringen. Doch nach acht Wochen als Aushilfslehrerin waren selbst ihre Nerven zum Zerreißen gespannt.

„Wer is denn Mr. Van Halen?“, fragte Davy grinsend ohne die geringsten Anstalten zu machen, seine Schwester aus ihrer misslichen Lage zu befreien.

„Mr. Van Halen ist der neue Schulmeister, der nächste Woche hier ankommt und er wird sicher Mittel und Wege haben, sogar dir Benehmen beizubringen!“ Und damit versuchte die geplagte Aushilfslehrerin sich selbst daran, die Stecknadeln aus dem Stuhl zu ziehen. Was sie einige Mühe kostete. Davy hatte die zweckentfremdeten Nähutensilien mit aller Kraft in das Holz getrieben, um seine Schwester dingfest zu machen.

Gleich darauf begann glücklicherweise die Kirchenglocke zu läuten. Das Zeichen dafür, dass der Gottesdienst und damit auch die Sonntagsschulstunde beendet waren. Mit einem überaus erleichterten Gesichtsausdruck scheuchte Bess ihre Schützlinge aus dem Schulhaus.

 

Mrs. Aldridges hoffnungsvolle Vermutungen über die Durchsetzungsfähigkeit des neuen Schulmeisters sollten natürlich im Eilverfahren die Runde durch Green Hollow gemacht haben. Nur natürlich nicht als hoffnungsvolle Vermutungen, sondern als in Stein gemeißelte Wahrheiten.

„... und er soll furchtbar streng sein! Hat Mrs. Aldridge letzten Sonntag selbst gesagt“, wurde Finney Sullivan zwei Tage später durch Harriet Plockton kundgetan. Die Neunjährige thronte weit über dem Boden auf einem Stapel Mehlsäcke im elterlichen Laden, während ihre Mutter einen karierten Stoff in ein Stück Packpapier einschlug.

Miss Finney, wie Mrs. Lukas Sullivan immer noch genannt wurde (ungeachtet der Tatsache, dass sie verheiratet und damit längst keine Miss mehr war), zwinkerte Liz Plockton zu. „Ich frage mich nur, woher Mrs. Aldridge das wissen will. Hat sie Mr. Van Halen schon kennengelernt? Vielleicht ist euer neuer Lehrer am Ende doch ganz nett. Man sollte sich nie auf Vorurteile verlassen. Vor allem nicht auf die Vorurteile von anderen Leuten. Bilde dir lieber deine eigene Meinung, wenn Mr. Van Halen da ist.“

„Pffff!“, machte die kleine Besserwisserin. „Miss Frocker war ein alter Drachen und bestimmt hat der Bürgermeister wieder so jemanden ausgesucht, der uns Ordnung beibringen soll.“

Doch ihre Mutter ließ sie gar nicht weiter reden. „Kind! So etwas sagt man nicht! Miss Frocker hat sich sehr viel Mühe gegeben, euch etwas beizubringen!“, fiel Liz ihrer kleinen Tochter scharf ins Wort, während sie Finney das verschnürte Paket über den Tresen reichte.

„Ja, sie hat sich Mühe gegeben, aber geschafft hat sie es nicht“, antwortete Harriet ungerührt vom Tadel ihrer Mutter.

Mrs. Sullivan musste sich auf die Lippen beißen, um nicht in lautes Lachen auszubrechen.

„Auf dein Zimmer, junge Dame! Sofort!“, rief Mrs. Plockton reichlich ungehalten auf diese freche Antwort hin. Die kleine Unruhestifterin kletterte auch ganz folgsam von ihrem Thron herunter und verschwand durch die Tür, die das Haus der Plocktons mit dem Laden verband. Allerdings nicht, ohne hören zu lassen: „Was denn? Hat Pa doch selbst gesagt!“

Luke Sullivan hatte Plockton's Warehouse gerade rechtzeitig betreten, um den letzten Teil des kleinen Disputs mitzubekommen und gesellte sich jetzt zu Liz und seiner Frau.

„Na, was hat Pa denn genau gesagt?“, fragte er grinsend, während er den Arm um Finneys Taille legte und sie an sich zog. Mrs. Sullivan, die ein gutes Stück kleiner war als ihr baumlanger Mann, lächelte vergnügt und legte ihm eine Hand auf die Brust. „Harry war anscheinend so unvorsichtig in Gegenwart seiner neunmalklugen Tochter Zweifel an Miss Frockers Fähigkeiten als Lehrerin aufkommen zu lassen.“

Liz Plockton rollte mit den Augen, als Luke anfing zu lachen. „Naja, dann hoffen wir mal, dass Mr. Van Halen in dieser Beziehung mehr Können beweist als seine Vorgängerin. Vielleicht ist er ja sogar in der Lage, Harriet beizubringen, wann man besser den Mund hält, um keinen Stubenarrest zu riskieren.“

 

Der neue Schulmeister von Green Hollow war schon vor seinem Eintreffen ein Objekt von derartigem Interesse, dass seine Fähigkeiten sogar in weniger ehrbaren Etablissements als Plockton's Warehouse diskutiert wurden. Noch am selben Abend war er das Gesprächsthema Nummer Eins im örtlichen Saloon und Freudenhaus.

„Alles was die Kinder brauchen, ist eine feste Hand. Und die wird der Van Halen ja hoffentlich haben. Die alte Frocker hat trotz ihres Gebrülls da nie Ruhe reingebracht. Frauenzimmer halt“, stellte Harry Plockton fest, der sich auf den Tresen stützte und seinen Whisky im Glas kreisen ließ.

„Ich frage mich wirklich, was für eine Art Mann Mr. Van Halen ist. Er weiß doch, dass es zu seinen Pflichten gehört, den Sonntagsschulunterricht zu übernehmen?“, mischte sich jetzt auch Reverend Brinkley ins Gespräch ein, der sich an einem Glas Milch festhielt und fragend zum Bürgermeister hinüber sah.

„Weischer, weischer“, nuschelte der daraufhin zustimmend und nickte die nächsten fünf Minuten inbrünstig. „Ischn jungscher Kerl, frisch vonne Schule. Oder Kolletsch, wie se dasch nenn.“

Miss Henny, die noch eine Runde nachschenkte, zog bedauernd die Augenbrauen in die Höhe, als sie die Runde betrachtete, die sich heute Abend im Gemstone versammelt hatte. Harry Plockton war ja ganz annehmbar, aber der hielt es wie Luke Sullivan, seitdem dieser verheiratet war. Im Saloon genehmigte man sich allenfalls einen Drink. Andere Bedürfnisse wurden im wahrsten Sinne des Wortes nur daheim befriedigt. Und weder der alte Malbeth noch John Brinkley waren besonders bemerkenswerte Liebhaber.

„Na das höre ich gern. Junge Männer sind uns hier immer willkommen. Gibt es denn auch eine Mrs. Van Halen?“, schaltete sich das oberste Freudenmädchen des Gemstone schließlich mit einem anzüglichen Lächeln ein und lehnte sich auf den Tresen, um den Männern so einen Einblick in ihr beachtliches Dekolleté zu gewähren.

„Gibtisch, gibtisch. Wir ham den beiden dasch kleine Häuschen nebn Friedhof zur Verfüschung geschtellt“, nickte Bürgermeister Malbeth freudig in Richtung von Miss Hennys Busen.

Diese Antwort gefiel der Dame allerdings gar nicht und zur Strafe richtete sie sich mit einem unzufriedenen Blick wieder auf.

„Aber Kinder hatter anscheind nisch“, versuchte der Bürgermeister seinen Fauxpas wieder gut zu machen, doch Miss Hennys gute Laune war ihr nachhaltig verdorben. Wenn Mr. Van Halen sein Ehegelübde genauso ernst nahm wie beispielsweise Harry Plockton oder Luke Sullivan, dann sah sie dunkle Zeiten auf das Gemstone zukommen.

 

 

 

Können Sie nicht lesen?

 

Charlotte Van Halen war das, was man im Allgemeinen eine Schönheit nannte. Sie war groß und schlank, aber mit den entsprechenden Rundungen an den richtigen Stellen. Aus ihrem Gesicht leuchteten strahlend blaue Augen über einer kleinen, geraden Nase und auch am Rest ihrer Züge, wie den perfekt geschwungenen Lippen und den hohen Wangenknochen, war nichts zu mäkeln. Eingerahmt wurde das ebenmäßige Oval ihres Gesichts von goldblonden Locken.

Die junge Dame zog normalerweise die Mehrzahl der Blicke auf sich, egal wohin sie ging. Trotz der Tatsache, dass ihr zur wahren Vollkommenheit ein vornehm-blasser Teint fehlte. Doch daran würde sich in Green Hollow sicherlich niemand stören. Schon eher an der Tatsache, dass die junge Dame nicht wie erwartet die Ehefrau des neuen Schulmeisters war.

Dass Miss Charlotte eben noch nicht verheiratet war, konnte laut ihrer Mutter nur an dem bereits erwähnten Makel des goldenen Hauttons liegen.

Charlotte hatte eine ganz andere Theorie, warum bis jetzt noch kein Mann um ihre Hand angehalten hatte. An Verehrern mangelte es ihr nicht, aber sobald diese die junge Frau näher kennengelernt hatten, ergriffen sie samt und sonders die Flucht. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Aber bisher hatte Miss Van Halen diesen Umstand immer mit einem Schulterzucken abgetan, denn sie war glücklicherweise nicht auf einen Mann angewiesen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Ihr verstorbener Vater hatte genug beiseitegelegt, um Charlotte einen Collegeabschluss zu ermöglichen. Sie war also weder dumm noch hässlich und betrachtete sich schon deswegen als gesegnet. Ein Mann, und noch dazu einen, den sie lieben würde, das wäre mehr als man verlangen konnte!

Und nun, da man ihr auch eine feste Stelle als Lehrerin angeboten und sie ein sicheres Auskommen hatte, blieb nichts mehr zu wünschen übrig. Als sie die Anzeige in der Zeitung entdeckt hatte, wusste sie zwar nicht, wo Green Hollow, Colorado lag, aber eine alte Landkarte ihres Vaters hatte dieser Bildungslücke Abhilfe geschaffen.

Ihre Mutter war ziemlich entsetzt gewesen, als Charlotte ihr eröffnete, dass sie gedachte, fast 1.500 Meilen entfernt von ihrer Heimat eine Arbeit anzunehmen. Die frischgebackene Lehrerin sah darin allerdings kein Problem, nachdem sie einige Erkundigungen eingeholt und diverse Landkarten studiert hatte. Den Verwandten und Freunden konnte man Briefe schreiben und die Reise würde auch nicht allzu schwierig werden. Man könnte ganz bequem mit dem Zug in Richtung Westen reisen. Bis zu einem Ort namens Denver käme man mit der neuen Eisenbahn und von dort aus wäre es lediglich eine Tagesreise mit der Postkutsche bis nach Green Hollow.

Mrs. Alberta Van Halen hatte ihr Bestes gegeben, um ihrer Tochter diese Schnapsidee auszureden. Eine junge Frau in den wilden West-Territorien als Lehrerin erschien ihr nicht als besonders vernünftig und es wunderte sie, dass der Bürgermeister sich auf so etwas einließ. Aber Charlotte war in ihrer gutmütigen, zuversichtlichen Art überzeugt, dass das alles nicht so schlimm werden konnte. Und da Mrs. Van Halen ihr einziges Kind unmöglich allein auf diese gefahrvolle Reise gehen lassen konnte, hatte sie deren Wunsch schließlich nachgegeben.

Charlotte war so begeistert von dem Gedanken, ein eigenes Auskommen zu haben, dass ihr die Schwierigkeiten im Vergleich zu diesem Vorzug verschwindend gering erschienen. Erst recht, nachdem mehrere Schulen in Virginia sie abgelehnt hatten. Ihre Zeugnisse hatten die Prüfungskommission sehr beeindruckt. Ihr Auftreten dann leider nicht mehr so sehr.

Einer ihrer Onkel hatte sogar nicht ganz unberechtigte Zweifel daran geäußert, dass sie in der Lage dazu wäre, ihre Mutter und sich selbst zu versorgen, aber Miss Van Halen war wild entschlossen allein zurechtzukommen.

Und sie war sich sicher, dass sie auf die Hilfe ihrer neuen Nachbarn in Green Hollow zählen konnte. Bürgermeister Malbeths Briefe waren recht nett gewesen und er hatte mehrmals beteuert, wie sehr sich die Gemeinde auf ihr Kommen freuen würde.

Mit einem fröhlichen Lächeln lehnte sich Charlotte in den Sitz der Postkutsche zurück. Sie hatte ihre Mutter heute in Denver zurückgelassen, die dort überprüfen wollte, dass ihre Habseligkeiten auch wirklich alle ihren Weg nach Green Hollow fanden. Mrs. Alberta wachte mit Adleraugen darüber, dass auch alles ordnungsgemäß auf die angemieteten Kutschen verladen wurde. Zwar musste ein Großteil des Erbes dafür aufgewendet werden, aber nachdem Mrs. Alberta sich einmal entschlossen hatte, ihre Tochter in den Westen zu begleiten, scheute sie keine Kosten oder Mühen. Einen offenen Lastenkarren und eine geschlossene Kutsche hatte man für den Transport von Mrs. Van Halen und dem Hausrat angemietet und ihre Mutter würde mit den etwas langsameren Wagen folgen.

Es würde nicht mehr lange dauern, bis Miss Van Halen Green Hollow erreichte. Mr. Malbeth hatte der jungen Lehrerin geschrieben, dass er sie vor dem Green Hotel erwarten würde, um ihr ihr neues Haus zu zeigen. Ein eigenes Haus, das man ihr zu Verfügung stellte! Charlotte war sich sicher, ihr Vater wäre stolz auf sie gewesen.

 

Nicht nur Bürgermeister Malbeth hatte sich berufen gefühlt, den neuen Schulmeister von Green Hollow persönlich zu begrüßen. Auch Trudi McAbberty, die als Frau des hiesigen Arztes als eine Autorität galt, genauso wie Reverend Brinkley und Harriet Plockton als Vertreterin der zukünftigen Schülerschaft von Mr. Van Halen, standen vor dem Green Hotel und erwarteten gespannt die Ankunft der neuen Lehrkraft.

Das Erste, was dieses eigentümliche Begrüßungskomitee zu sehen bekam, als die Mittwochs-Postkutsche um Punkt 16 Uhr vor dem Hotel zum Halten kam, war allerdings nicht der erwartete energische, junge Mann. Eine blonde Frau, die mehr aus der Kutsche fiel als stieg, lenkte vorerst alle Aufmerksamkeit auf sich. Anscheinend hatte sich ihr Kleid verhakt und entwickelte sich zu einer ernsten Gefahr für die Unversehrtheit der jungen Dame. Denn die konnte es einfach nicht aus dem Türscharnier lösen, in dem es festhing, und verhedderte sich immer mehr darin.

Es war Bürgermeister Malbeth, der sich schließlich erbarmte und diesem seltsamen Schauspiel ein Ende bereitete. Mit einem „Darf isch ma, Miss?“ machte er den teuren Stoff aus dem Scharnier los und erntete dafür ein erfreutes Lachen von der jungen Person und einen herzlichen Dank.

Mr. Malbeth war ja kein Kostverächter und die junge Dame war ein appetitlicher Happen, aber jetzt interessierte ihn in erster Linie der neue Lehrer, den er angestellt hatte. Er versuchte vergeblich um den voluminösen Rock des Frauenzimmers herum in die dunkle, enge Kutsche zu spähen, bis sich plötzlich eine schmale Hand in sein Sichtfeld schob.

„Sie müssen sicher Mr. Malbeth, der Bürgermeister, sein, nicht wahr?“, fragte die blonde Frau mit glockenheller Stimme. „Ich bin Charlotte Van Halen.“

Der Bürgermeister schien im ersten Moment nicht ganz sicher zu sein, was er aus dieser Ankündigung machen sollte, aber er schüttelte der jungen Frau trotzdem die Hand, bis ihm schließlich ein Licht aufging.

„Willkomm, herzlisch willkomm. Sie sin bestimmt das jungsche Frauschen von unsern Mr. Van Halen. Wo is denn Ihr Mann, Madam?“

Jetzt war es an Charlotte verwirrt dreinzuschauen, während Malbeth ihr unablässig die Hand schüttelte und anscheinend gar nicht mehr aufhören wollte.

„Mein Mann?“, fragte sie schließlich vorsichtig. „Aber ich bin nicht verheiratet ...“

Diese Nachricht löste nicht nur beim Bürgermeister Erstaunen aus, sondern auch beim Rest des Begrüßungskomitees, dem die Erklärung von Malbeth durchaus logisch erschienen war. Es war Harriet, die sich als Erste wieder im Griff hatte und vortrat. „Doch Miss, sind Sie ganz sicher. Oder sind Sie die Schwester von unserem neuen Schulmeister?“

Charlotte Van Halen sah verblüfft auf das kleine Mädchen hinunter, doch der Bürgermeister und der Rest dieser seltsamen Gruppe lachten plötzlich erleichtert auf.

„Malbeth, was haben Sie denn da wieder angestellt? Sie müssen den armen Mr. Van Halen ja völlig missverstanden haben. Es ist MISS und nicht MISTRESS Van Halen. Seine Schwester wird ihm den Haushalt führen. Können Sie denn nicht lesen?“ Mrs. Trudi machte ihren Ansichten mit der üblichen Eloquenz Luft, während Charlotte verzweifelt von einem zum anderen schaute.

Was ging hier eigentlich vor und von welchem Mr. Van Halen redeten diese Leute? Miss Charlotte konnte sich keinen Reim auf diese verworrenen Reden machen. Sie hatte Mr. Malbeth doch ganz deutlich geschrieben, dass sie mit Mrs. Van Halen hierher kommen würde. Damit war doch klar, dass diese Dame nur ihre Mutter sein konnte, wenn sie...

Plötzlich zeichnete sich auf dem hübschen Gesicht der jungen Frau ein Entsetzen ab, das nun auch die gutgelaunte Gruppe vor ihr in ihrem Gelächter innehalten ließ.

„Das tut mir so furchtbar leid ...“, flüsterte Miss Van Halen. „Das ist alles meine Schuld! Mein Vater hat mich immer Charly genannt. Von Charlotte. Ich werde von meiner Familie nur so angesprochen und bin es auch gewohnt, Briefe so zu unterzeichnen.“

Es dauerte einige Augenblicke bis Bürgermeister Malbeth und seinen Begleitern die ganze Tragweite dieser Eröffnung bewusst wurde und ihnen aufging, dass Charly Van Halen nicht Charles, sondern Charlotte war.

Wieder war es Harriet, die schließlich das Wort ergriff. Sie war auch die Einzige, die immer noch breit lächelte. „Dann sind Sie also unsere neue Schulmeisterin. Miss Finney hat also doch Recht gehabt mit ihren Vorurteilen.“

Charlotte hatte bis eben noch flehentlich von einem zum anderen geschaut, doch jetzt zog das kleine, blonde Mädchen ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. „Was für Vorurteile?“, fragte sie verwirrt.

„Miss Finney hat gesagt, dass ich keine Vorurteile gegenüber unserem neuen Lehrer haben sollte. Die Leute sind am Ende meist ganz anders, als man denkt. Naja, und Sie sind nun wirklich ganz anders, als wir alle gedacht haben.“ Charlottes zukünftige Schülerin schien sich herrlich über die Situation zu amüsieren. Allerdings war sie da auch die Einzige. Doch noch bevor Miss Van Halen etwas sagen konnte, hatte der Blondschopf sich verabschiedet und lief davon.

Zurück blieben der Bürgermeister, der Pfarrer und Mrs. McAbberty, die jetzt kurzerhand die Situation in die Hände nahm, da man von den Männern anscheinend nichts erwarten konnte. Sie stellte sich der jungen Dame vor und reichte ihr die Hand, um dann den Kopf zu schütteln. „Da haben Sie ja was Hübsches angestellt, Herzchen. Was sollen wir denn jetzt mit Ihnen anfangen?“

Charlotte knetete indes unruhig ihre Hände. „Es tut mir wirklich, wirklich leid, aber Sie müssen mir glauben, dass ich Sie nicht mit Absicht getäuscht habe. Mir passieren öfters solche Dinge. Ich bin einfach ... einfach zu tollpatschig. Aber ich habe meine Zeugnisse und mein Diplom in meinem Gepäck. Daran können Sie sehen, dass meine Noten genau die sind, die ich Ihnen geschrieben habe. Ich meine, ob ich nun ein Mann oder eine Frau bin, tut doch nichts zur Sache. Am Ende. Oder?“ Mit einem reichlich verzweifelten Lächeln schaute die blonde Frau in die Runde.

„Nuja, nuja...“, stotterte der Bürgermeister schließlich. „Aber Se sind ne jungsche Frau, un wir könn Se nisch allein in dem Haus wohn laschn. Un wir dachten, dass jetz ma jemand kommt, der bei den Kindern so rischtich durschgreift.“ Malbeth sah reichlich hilflos aus, doch zumindest in einem Punkt konnte seine neue Schulmeisterin ihn beruhigen.

„Oh, aber ich werde doch nicht alleine wohnen. Meine Mutter, Mrs. Van Halen, ist mit unserem Hausrat auf dem Weg hierher und wird in wenigen Tagen eintreffen. Und was die Kinder angeht: Ich bin mir sicher, dass wir bald die besten Freunde sein werden.“

Am Ende war Bürgermeister Malbeth gegen so viel guten Willen und Beredsamkeit machtlos, auch wenn seine Vorstellung von Unterricht nicht gerade die war, dass die Lehrerin gut Freund mit den Kindern war. Er zuckte mit den Schultern und schaute flehentlich zu Mrs. Trudi und dem Pfarrer. „N neuen Lehrer wern wir wohl uff die Schnelle nisch kriegen un die Schule muss ja wieder losgehen ...“

Auch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 08.06.2015
ISBN: 978-3-7368-9893-6

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