Cover

Der Fremde in der Sonne

Der Rabe auf seinen rubinroten Schwingen,
Zwischen den Welten hört Tote er singen,
Kaum kennt er die Kraft, kaum kennt er den Preis,

Die Macht erhebt sich, es schließt sich der Kreis.

Kerstin Gier, Saphirblau

 

Die Sonne schien an jenem Tag, streckte ihre Strahlen aus wie gierige Kinderfinger und entnahm dem ohnehin schon völlig ausgedörrtem Boden die letzten Reserven aus den tief unter der Erde liegenden Wasserspeichern. Die Wiesenblumen verzehrten sich so sehr nach einem Tropfen des kühlen Nass, dass sie es nicht aufgegeben hatten, ihre bunten Köpfe in kämpferischer Art und Weise der erbarmungslosen Hitze entgegen zu strecken. Joraj und ich lagen im schattenspendenden Schutz einer kleinen Baumgruppe und träumten vor uns hin, viel anderes ließ das Wetter nicht zu. Durch die Äste der Baumkronen, die sich wie dünne Fäden auf den azurblauen Himmel legten, beobachteten wir die winzigen weißen Wolken dabei, wie sie ihre Formen veränderten. Das taten sie mit einer so langsamen Geschwindigkeit, dass man fast zu glauben vermochte, die Hitze würde auch ihnen zu schaffen machen. Die Luft schien still zu stehen und außer den gleichmäßigen Atemzügen, die wir von uns gaben, war kein weiteres Geräusch zu vernehmen. Es hatte den Eindruck, als würde sich die gesamte Welt für den Bruchteil eines Augenblickes einen kurzen Mittagsschlaf gönnen. Doch dann näherten sich Schritte. Die Statur meines Bruders Mrev schirmte das beißend helle Sonnenlicht von meinem Gesicht ab und ich öffnete mühselig die Augen.

»Wie lange wollt ihr hier noch faulenzen?«

Meiner Kehle entfuhr ein Gähnen, ehe ich antwortete.

»So lange, bis wir nicht mehr bei jedem zurückgelegten Schritt Angst haben müssen, augenblicklich zu einer Pfütze aus triefendem Schweiß und Wasser zu verschwimmen.«

»Aha.« Mrev stand reglos da, die braun gebrannten Arme um die Brust geschlungen, als müsste er sich noch zusätzlich wärmen.

»Leg, dich doch zu uns.« Joraj klopfte mit der Hand auf den Boden neben sich, doch Mrev verharrte weiterhin in seiner Position. Er gehörte zu der Sorte von Mensch, die unermüdlich waren. Während andere vor lauter Erschöpfung nicht mehr in der Lage waren, auch nur einen Finger zu krümmen, schuftete er widerstandslos weiter. Das Wort Pause kannte er nicht. Er wollte es irgendwann hieraus schaffen, dem eintönigen Leben eines Bauernjungen entfliehen und in die Stadt ziehen. Joraj und ich sollten mitkommen. Wir waren zusammen aufgewachsen und es war undenkbar, dass einer die anderen im Stich ließ. Das wäre einem Verrat unserer Freundschaft gleich gekommen.

»Ich muss die Tiere füttern gehen.«

»Lass denen doch auch mal eine Minute Pause.« Da war es wieder, das Wort, das meinem Bruder so fremd war wie einem wilden Piraten das ruhige Leben eines Lehrlings, der die Schulbank drücken musste. So war es nicht verwunderlich, dass er sich wieder umdrehte und barfuß davon stapfte. Die kraftlosen Grashalme gaben sich seinem Körpergewicht geschlagen und hinterließen eine Schneise in den Weiten der Zauberwiese.

Ihr Name kam nicht von ungefähr. Legenden zufolge sollte hier einmal ein sehr mächtiger Hexenzirkel seine Magie praktiziert und der damals völlig brachliegenden Landschaft neues Leben eingehaucht haben. Wie der Name es sagte, fand ich diesen Ort nach wie vor magisch. In der Luft hing täglich ein Duftcocktail aus den unterschiedlichsten Blumensorten. Zarter Rosenduft mischte sich mit dem lieblichen Duft von Lavendel und würzigem Liebstöckel. Ich inhalierte einmal tief und drehte dabei meinen Kopf zur Seite. Joraj hatte die Augen wieder geschlossen. Sein blasser Teint glitzerte im Sonnenschein, der eine silbrige Spur auf seinen markanten Wangenknochen hinterließ. Ich konnte es immer noch nicht fassen, wie schnell er und Mrev sich in den letzten Monaten zu jungen Männern entwickelt hatten. Die kindlichen Züge waren beinahe alle aus ihren Gesichtern gewichen.

»Warum beobachtest du mich?« In einer ruckartigen Sekunde hatte Joraj ebenfalls seinen Kopf zur Seite gewendet und musterte mich, in den Augen ein Fünkchen Neugierde aufblitzend.

»Ist das verboten?«

»Nein. Noch nicht.« Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, welches kleine Grübchen in seine Wangen zauberte. In diesem Moment wirkte er wieder kindlich und erinnerte mich an den Lausbuben von früher, den er zum Teil immer noch in sich trug. Ich lächelte zurück und musste mir daraufhin eine Kopfnuss von ihm gefallen lassen.

»Soleil, du bist und bleibst eine Stalkerin.«

»Na und.« Ich musste weiterhin lachen. »Das ist kein Grund gleich gewalttätig zu werden.«

»Ach nein?«

»Nein.«

Joraj stützte sich auf seinen rechten Arm, riss einen Grashalm aus dem Boden und steckte ihn in den Mundwinkel, als würde er eine Zigarette rauchen wollen. Sein Blick wanderte über meinen Kopf hinweg und ich versuchte das Minenspiel auf seinem Gesicht abzulesen, zu faul selbst nachzuschauen, was sich hinter mir ereignete. Zwischen seinen Augenbrauen erschien eine kleine Zornesfalte, als er die Augen zu kleinen Schlitzen verengte.

»Was will der hier?« Mich meiner Neugierde geschlagen gebend, wand ich den Kopf zurück. Keine zwanzig Meter vor uns war ein Fremder aufgetaucht. Gegen einen mächtigen Baumstamm gelehnt, stand er da und blickte zu uns herüber. Auf seinem Kopf thronte ein riesiger Hut, an dessen Krempe sich ein schwarzer Rabe Halt suchend festgekrallt hatte. Es kam so gut wie nie vor, dass sich fremde Leute in die Gebirgsregionen von Helianthus verirrten und schon gar nicht an so heißen Tagen wie diesem. Man hatte uns gelehrt, fremden Leuten nicht zu trauen und sich von ihnen fern zu halten. Sie hatten meist keine freundlichen Absichten, wenn sie sich denn mal den steilen Anstieg hinauf wagten. Grund dafür war das Verschwinden eines jungen Mädchens vor ungefähr fünf Jahren. Mit dem Kommen und dem Gehen eines fremden Mannes, war auch sie von einem Tag auf den anderen für immer verschwunden gewesen. Es wäre daher umso verwunderlicher, dass es jemanden rein zufällig hierher verschlug.

***

Ein plötzlich aufkommender Windhauch fuhr mir unter die Kleidung und ich strich mir fröstelnd die Unterarme. Es war als würde der Fremde alleine mit seiner Anwesenheit die wärmenden Sonnenstrahlen in sich absorbieren und wie Gefangene festhalten. Der Vogel stieß einen krächzenden Laut aus und ich fuhr erschrocken zusammen.

»Was sollen wir machen?« Meine geflüsterten Worte wurden vom Wind zu Joraj getragen, der mich ebenfalls fragend anschaute. Ich hielt nach Mrev Ausschau, ohne dabei den Fremden aus den Augen zu lassen. Er war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich nahmen die Schafe wieder all seine Aufmerksamkeit in Beschlag.

Joraj stieß einen leisen Fluch aus und blickte zum Himmel hinauf. Anschließend sprang er in einem Schwung auf die Beine und setzte sich in Bewegung. Ich wollte ihn zurückhalten, doch meine Hände griffen ins Leere. Was wenn dieser Fremde ihm etwas antun würde? Oder ihn der rabenschwarze Vogel an den Schultern packte und mit sich nahm?

Mit aller Schnelligkeit, die ich aufbringen konnte, hievte ich mich ebenfalls vom Boden hoch und eilte meinem Freund hinterher. Der Mann stieß sich vom Baum ab und kam uns entgegen. Sämtliche Muskeln meines Körpers spannten sich an, während ich versuchte Joraj einzuholen. Mein Mund war ausgetrocknet, die Kehle zugeschnürt. Doch ich war nicht schnell genug, die beiden Männer waren bereits aufeinander getroffen. Aus meiner Entfernung hörte ich, dass einer von beiden anfing zu sprechen. Der tiefen Stimme nach zu urteilen, war es der Fremde. Er hatte beide Hände in den Hosentaschen vergraben und ich versuchte abzuschätzen, ob er darin eine Waffe versteckte. Es sah nicht danach aus. Mein pochender Herzschlag beruhigte sich ein wenig und ich verlangsamte mein Tempo, als ich auf ihrer Höhe ankam.

»Und wer ist die reizende Dame?« Ich blieb abrupt stehen, als sich vier Augenpaare gleichzeitig auf mich richteten. Niemals zuvor hatte mich jemand als reizende Dame bezeichnet.

»Das ist Soleil. Soleil, das ist Lemalian.« Joraj stellte uns kurz vor, aber ich brachte keinen Ton heraus. Stattdessen war ich bemüht meinen Freund mit einem warnenden Blick daran zu erinnern, was man uns in Bezug auf den Umgang mit Fremden beigebracht hatte. Ein lockeres Gespräch gehörte definitiv nicht dazu. Allem Anschein nach hatte Joraj alles davon komplett vergessen. Ich hoffte inständig, dass sich der Mann mit einem »Ich muss weiter, war nett euch kennenzulernen« wieder verabschiedete und uns mitsamt seines komischen Vogels alleine zurück ließ. Aber er tat mir den Gefallen nicht.

»Wisst ihr vielleicht, wo man hier eine Möglichkeit zum Schlafen bekommt? Die Reise war sehr anstrengend und eine erholsame Nacht würde uns sicher gut tun.«Während er das sagte, fuhr er seinem gefiederten Kameraden zärtlich über den Kopf und mir fiel auf, dass seine Hand mit sämtlichen Brandnarben überseht war.

Er sah ohnehin jünger aus, als es von Weitem den Anschein gehabt hatte. Sein Gesicht glänzte leicht in der sengenden Mittagshitze und auf seiner Oberlippe standen kleine Schweißperlen. Er hatte die Augen strickt auf Joraj gerichtet, weil er von mir anscheinend keine Antwort erwartete.

»Es gibt eine kleine Scheune, die unweit der Wiese steht. Den Sommer über hält sich niemand darin auf, weil alle Tiere auf der Weide sind. Ein Hotel oder ähnliches haben wir leider nicht.« Ich konnte es nicht fassen. Joraj bat ihm allen Ernstes einen Schlafplatz an. War er denn völlig verrückt geworden?

»Ach, das reicht uns fürs Erste vollkommen aus.«

Ich konnte weiterhin nicht nachvollziehen, warum Joraj diesem Fremden so gastfreundlich gegenüber trat. Der einzige Grund, warum mein Puls nicht mehr wie wild in meinem Hals hämmerte, war die Tatsache, dass wir zwei nach den letzten zehn Minuten immer noch am Leben waren. Während Joraj Lemalian erklärte, wie er zu der naheliegenden Scheune gelangen konnte, versuchte ich aus diesem Kerl schlau zu werden. Im Gegensatz zu seinen vernarbten Händen war das Gesicht fast makellos. Wirre schwarze Haare fielen ihm auf die schmalen Schultern und an seinem Gesicht konnte man die anstrengende Reise der letzte Wochen ablesen. Die Wangen waren leicht eingefallen und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Zum wiederholten Mal fragte ich mich, was jemanden wie ihn in den entlegensten Winkel von Marisol gebracht hatte. Helianthus lag im äußersten Nordosten und wurde nicht zuletzt durch die schwer zugängliche Berglandschaft von den meisten Menschen gemieden. Unter dem Leben außerhalb des Gebirges konnte ich mir so gut wie gar nichts vorstellen. Ich hatte mir darüber auch nie wirklich Gedanken gemacht, da ich nicht den Drang verspürt hatte, je mein Zuhause zu verlassen.

Der Rabe stieß erneut einen furchtbaren Schrei aus, der mir unwillkürlich eine Gänsehaut einjagte.

»Ihr müsst wissen, Drago und ich haben in den letzten vierundzwanzig Stunden keine einzige Rast eingelegt und nur das gegessen, was wir in dieser kargen Landschaft in die Finger kriegen konnten«, versuchte Lemalian das aufgebrachte Verhalten seines Vogels zu entschuldigen. Ich stellte mir vor, wie er seinen gefiederten Freund mit einem kleinen Regenwurm fütterte und sich dabei genüsslich ein paar Waldbeeren in den Mund steckte.

»Wenn du willst, kann ich euch später etwas zu Essen vorbeibringen.« Das reichte, Joraj ging eindeutig zu weit. Fieberhaft überlegte ich, wie ich die zwei Fremden mit den richtigen Worten geschickt loswurde. Lemalian tat mir diesmal überraschend selber den Gefallen.

»Das wird nicht nötig sein. Danke trotzdem, aber wir kommen gut alleine klar.« Ein unergründliches Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er sich zum gehen wand.

»Auf Wiedersehen, Joraj und Soleil.« Ich blickte auf, als er meinen Namen nannte . Es war mir unangenehm ihn aus dem Mund eines Fremden zu hören.

»Auf Wiedersehen«, rief Joraj den beiden hinterher. Ich wartete keine zehn Sekunden, ehe ich ihn zur Rede stellte.

»Bist du verrückt geworden, dich so unbeschwert mit einem Fremden zu unterhalten? Weißt du nicht mehr, was unsere Eltern gesagt haben?«

»Natürlich weiß ich das.«

»Na, umso besser. Wieso hältst du dich dann nicht an ihre Warnungen?«

»Soleil, hast du auch nur einen Moment auf seine linke Schulter geguckt?« Verblüfft hielt ich inne. Warum hätte ich bitte auf die Schulter des Fremden gucken sollen?

»Hast du also nicht«, fuhr Joraj fort und machte mich damit umso verwirrter.

»Sag endlich was los ist, Joraj.«

»Der Orden des Königs.«

»Der Orden des Königs?« Ich konnte ihm nicht folgen.

»Auf seiner Schulter prangte das Wappen unseres Königreiches.«

»Aber wir haben keinen König mehr.«

»Eben, das macht das Ganze umso merkwürdiger.«

Ich biss mir auf die Unterlippe, wie um mich selbst dafür zu schalten, dass ich tatsächlich davon ausgegangen war, Joraj hätte sich aus reiner Nächstenliebe so freundlich mit dem Mann unterhalten. Noch mehr ärgerte es mich, das Wappen mit den zwei überkreuzten Schwertern übersehen zu haben. Ich hatte mich schlichtweg nur auf das Gesicht des Fremden und auf seinen Rabenvogel konzentriert.

»Was machen wir jetzt mit ihm? Sollen wir unseren Eltern Bescheid sagen?«

»Bloß nicht. Wenn wir das tun, wäre er in weniger als zwanzig Stunden ein toter Mann.«

»Aber was ist, wenn wieder ein Mädchen verschwindet?« Ich wischte mir eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht-ein Versuch, die erneut aufkommende Angst zu unterdrücken. Ich hatte das Mädchen nicht gekannt, was damals verschwunden war. Doch der Aufruhr im Dorf war überall spürbar gewesen und hatte alle Bewohner fest im Griff gehalten. Die Wochen danach waren schrecklich. Keiner hatte sein Zimmer verlassen dürfen und konnte nur in Begleitung eines Erwachsenen das Dorf passieren. Man hatte schließlich so lange gewartet, bis man sich sicher gewesen war, dass der Fremde nicht wiederkommen würde, bis man uns wieder ohne Aufsicht auf die Felder ließ. Es war die längste Zeit gewesen, die Joraj, Mrev und ich voneinander getrennt gewesen waren.

»Ich glaube nicht, dass er gekommen ist, um irgendjemanden von hier wegzuholen. Dann hätte er sich nicht so offen gezeigt und um Hilfe gefragt. Nein, ich denke, er sucht etwas.«

»Hier?« Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es hier oben etwas gab, wofür man den mühseligen Anstieg und die tagelange Reise in Kauf nahm.

»Ja, hier.«

***

Wir warteten bis Mrev wieder zurückgekehrt war und unterrichten ihn über alles, was sich in seiner Abwesenheit auf der Zauberwiese ereignet hatte.

»Und ihr seid euch sicher, dass es das Wappen von König Aldrin war?« Mein Bruder legte die Stirn in Falten und tippte gedankenverloren mit einem seiner Daumen auf das rechte Hosenbein.

»Totensicher.«

»Das kann nichts Gutes bedeuten. Aldrin sitzt seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr auf dem Thron.« In der Tat war das Auftauchen dieses Lemalian mit dem Wappen auf der Kleidung in höchster Weise sonderbar. Die Rebellen hatten damals den tyrannischen König gestürzt und sämtliche seiner Anhänger in Gefängnisse gesteckt. Allerorts wurden die königlichen Fahnen von den Masten abgezogen und sämtliche Uniformen öffentlich verbrannt. Seitdem gab es keinen offiziellen Herrscher über Marisol mehr. Den Menschen in den Bergen war das nur Recht. Auch zuvor hatte man sich um sie kein bisschen geschert. Niemand hier war Mitglied in der königlichen Armee gewesen. Lediglich das Königswappen auf der wehenden Fahne über dem Gemeindehaus hatte davon gezeugt, dass das Dorf Teil eines Königreiches war. Wir selbst hatten diese Zeiten nicht miterlebt und kannten sie nur aus Erzählungen unserer Eltern und Großeltern.

»Wir sollten den Kerl im Auge behalten«, warf Joraj ein.

»Das ist viel zu gefährlich. Wir können das nicht für uns behalten.«

»Mrev, was sagst du dazu?« Ich durchschaute sofort, dass er versuchte meinen Bruder auf seine Seite zu ziehen, um mich zu überstimmen.

»Ich denke, Joraj hat Recht. Nach der Geschichte um das entführte Mädchen und der Tatsache, dass dieser Fremde das Wappen von König Aldrin trägt, werden wir nie herausfinden, was seine Absichten sind, wenn wir es unseren Eltern oder sonst irgendwem sagen.« Ich fühlte mich nicht gut dabei. Aber was konnte ich tun? Es stand zwei zu eins gegen mich. Auch wenn dieser Lemalian längst verschwunden war, spürte ich noch immer einen Kälteschauer, der sich wärmesuchend auf meine Haut gelegt hatte.

***

Nachdem wir unsere Sachen gepackt und ein paar Beeren und Kräuter für das Abendessen zusammen gesucht hatten, machten wir uns zurück auf den Weg nach Hause. Die Sonne brannte weiterhin wie ein riesiger Feuerball am Himmel und tauchte die Getreidefelder um uns in ein goldenes Licht. Der Anblick war atemberaubend, doch ich konnte mich nicht wirklich daran erfreuen. Joraj und Mrev hatten vereinbart unserem neuen Gast einen nächtlichen Besuch abzustatten. Wir sollten uns gegen Mitternacht aus dem Haus schleichen und an der Weggabelung treffen, die zur Zauberwiese führte. Für die beiden Jungs war die gesamte Sache ein wahres Abenteuer und eine aufregende Abwechslung zu unserem Leben auf den Feldern. Mich konnten sie mir ihrer Abenteuerlust nicht anstecken. Dennoch hatte ich ihnen versprechen müssen, als Begleitung mitzukommen. Zu dritt war das Observieren schließlich deutlich einfacher, als zu zweit. Es gab jemanden der zurück blieb und darauf aufpasste, dass sich kein Dritter in die Nähe wagte, während sich die anderen beiden dem Objekt der Begierde in aller Ruhe nähern konnten.

»Denkt daran, ein paar Fackeln mitzubringen«, erinnerte uns Joraj zum Abschied an das nächtliche Vorhaben.

Flammende Gefahr

Du kannst nicht vorbei. Ich bin ein Diener des Geheimen Feuers und Gebieter über die Flamme von Anor. Du kannst nicht vorbei. Das dunkle Feuer wird dir nichts nützen. Flamme von Udûn. Geh zurück zu den Schatten. Du kannst nicht vorbei.

J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe


Ich machte die Fensterläden zu, als ich mich schlafen legte. Ich ließ sie nicht wie sonst offen stehen, um der kühlen Nachtluft Eintritt zu gewähren, aus Angst der Fremde würde plötzlich davor stehen. Im Zimmer war es stickig, die Hitze hatte sich tagsüber in jedem Winkel eingenistet und ließ meine langen Haare im Nacken kleben. Ich wälzte mich hin und her und tat kein Auge zu, immer darauf vorbereitet, dass es jeden Moment an der Tür klopfte und Mrev mich mit auf unser nächtliches Abenteuer nahm. Wie abgemacht, hatten wir gegenüber unseren Eltern kein Wort erwähnt, als wir beim Abendbrot beisammen gesessen hatten. Ich hatte mich schlecht gefühlt und nur wenige Bissen herunter bekommen. Unsere Eltern waren ein Glück zu sehr damit beschäftig gewesen, Pläne für die sommerliche Erntezeit aufzustellen, als dass sie mein nervöses Verhalten bemerkt hätten.

Wie immer in der Nacht rüttelte der Wind an den Fensterläden, glücklich darüber, dass er sich draußen austoben konnte. Tagsüber verwehrten ihm die langen Bergrücken meist den Eintritt. Ich zählte die Sekunden und die drückende Stille legte sich wie Watte auf meine Ohren. An Schlaf war nicht zu denken. Gegen Mitternacht klopft es zaghaft an der Tür. Ein kleiner Lichtstrahl stahl sich durch den dünnen Spalt, den Mrev geöffnet hatte. Um sein linkes Handgelenk hing eine kleine Gaslampe, die mit dunklen Schatten um sich warf, als wir auf Zehenspitzen das Haus verließen. Die Nacht empfing uns mit einer kühlen Umarmung. Es war kaum vorstellbar, dass es tagsüber so heiß gewesen war.

»Ich hoffe, niemand hat uns gesehen.« Meine Hände zeigten zweifelnd auf die lodernde Flamme der Laterne.

»Wer soll sich nachts bitte draußen herumtreiben? Außerdem brauchen wir das Licht oder willst du, dass wir über einen Stein stolpern und uns die Nase brechen?«, zischte Mrev und es war nicht zu übersehen, dass er Angst hatte. Ein klein wenig Genugtuung keimte in mir auf. Vielleicht konnte ich die beiden doch noch überzeugen, dass wir den Fremden fremd lassen sollten und darauf hoffen, er würde so schnell wieder verschwinden, wie er gekommen war.

***

Joraj wartete bereits auf uns. Unter dem Dach einer großen Weide hatte er es sich im feuchten Gras gemütlich gemacht. Im Gegensatz zu Mrev und mir strahlte er eine unheimliche Ruhe aus.

»Fackeln habe ich leider nicht gefunden, aber dafür habe ich die hier mitgenommen.« Mrev hielt ihm schon fast aufdringlich die Laterne unter die Nase, als müsste er beweisen, dass er dem Plan mit bestem Willen nachgekommen war.

»Kein Problem, das sollte auch gehen.«

»Und jetzt?« Ich war neben Joraj in die Knie gegangen.

»Jetzt teilen wir uns auf. Soleil du bleibst am Ende des Weges, der zur Scheune führt und kommst sofort zu uns, wenn du was sehen solltest. Mrev und ich werden in der Zwischenzeit unserem neuen Freund einen Besuch abstatten.«

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, bedeutete er Mrev mit einer winkenden Handbewegung, ihm zu folgen. Die beiden entfernten sich von mir und ich blieb solange reglos auf der Stelle stehen, bis ihre dunklen Silhouetten komplett mit der Dunkelheit verschmolzen waren. Der Wind strich mir mit seinen kalten Fingern um die Beine und ich trat näher an den großen Baum heran, in der Hoffnung, er würde mir in dieser dunklen Nacht ein klein wenig Wärme spenden. Die flaumigen Kätzchen an den zahlreichen Ästen streiften mir behutsam über den Kopf. Müdigkeit überkam mich und ich musste ein lautes Gähnen unterdrücken, da ich Angst hatte, dass es jemand hören könnte. Die Scheune lag wie eine steinerne Mauer in der schwarzen Nacht. Einmal meinte ich, die kleine Flamme der Laterne vor dem Hintereingang ausgemacht zu haben, ehe alles wieder einheitlich dunkel gefärbt war.

Meinen Beinen fiel es zunehmend schwerer, meinen Körper aufrecht zu halten und ich setzte mich schließlich in die kleine Kuhle, in der Joraj zuvor auf uns gewartet hatte. Ich lehnte den Kopf an die harte Rinde und schloss für einen Moment die Augen. Was wenn dieser Lemalian doch eine Waffe bei sich trug und Mrev und Joraj für Einbrecher halten würde und...

Weiter wollte ich nicht denken. Die Nervosität hatte mich wieder voll im Griff. Ich wusste nicht was ich tun sollte, hin und her gerissen zwischen dem was Joraj mir befohlen hatte und der unbändigen Angst, die mich magnetisch zu den beiden zu ziehen versuchte. Ein Rascheln rechts neben mir alarmierte meinen Fluchtinstinkt und ließ mich in die Höhe schnellen. Ich verengte meine Augen zu schlitzen, konnte aber nichts erkennen. Wahrscheinlich war es ein Marder gewesen, der auf seiner Jagd nach Beute durch die Getreidefelder rannte. Ganz daran glauben wollte ich jedoch nicht und starrte weiterhin unverwandt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dabei bemerkte ich erst zu spät, wie sich Schritte hinter mir näherten. Meine Haut spürte die Wärme eines zweiten anwesenden Menschen und in meinen Ohren erklang das Geräusch regelmäßiger Atemzüge. Ich wagte mich nicht umzudrehen und kniff die Augen zusammen. Ich stellte mir vor, wie es war zu sterben und fragte mich ob es weh tat, wenn man hinterrücks mit einer Axt erschlagen wurde.

»Was treibt dich zu so später Stunde draußen in der Dunkelheit herum?« Es war die tiefe Stimme des Fremden.

»Ich, ich ähm. Also ich brauchte einfach frische Luft.« Der Versuch auf die Schnelle eine glaubwürdige Ausrede zu finden schien schon mit meinem ersten Wort gescheitert zu sein, aber erstaunlicherweise hinterfragte Lemalian meine gestammelten Sätze nicht.

»Drinnen in den Häusern ist es sicher unheimlich heiß.«

»Mhm. Das ist es.«

»Willst du dich gar nicht umdrehen?« Die Art und Weise wie wir zueinander standen, hatte für ihn anscheinend einen amüsanten Eindruck, der ihn zum Lachen brachte. Mir dagegen war ganz und gar nicht zum Lachen zumute.

»Entschuldigung«, brachte ich mühsam hervor und machte eine Hundertachtziggraddrehung. Ich zwang meine Augen sich an seinen schwarzen Hut zu heften, den er immer noch auf dem Kopf trug. Auf keinen Fall wollte ich, dass ich Mrev und Joraj verriet, in dem ich verstohlen in Richtung der alten Scheune schielte.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich habe dich sicher erschreckt.«

»Ein wenig.« Das war tausendfach untertrieben, aber ich wollte ihm keine weitere Angriffsfläche bieten. Mein Blick fand den seinen und mein gesamter Körper verharrte in einer stocksteifen Starre. Unter meiner linken Brust pochte das Herz so laut, dass ich das Gefühl hatte, es könnte jeden Moment herausspringen. Wie konnte ich Mrev und Joraj davor warnen, dass Lemalian in diesem Moment direkt vor mir stand und keine hundert Meter entfernt war von der Scheune, bei der sie sich befanden?

»Na, hat es dir die Sprache verschlagen?« Lemalian riss mich aus meinen Plänen, die ich gerade in meinem Kopf zusammenschmiedete.

Was wollte er hören? Dass mir die Kehle zugeschnürt war, von der Angst, die mich felsenfest im Griff hatte und ich hier nur als Wachposten herumlungerte, damit meine Freunde in aller Ruhe seinen Schlafplatz auskundschaften konnten.

Eine plötzliche Erkenntnis kam mir in den Sinn. Wo war der Vogel? Es war schön und gut, dass Lemalian seinen Hut auf dem Kopf hatte, aber wo war verdammt nochmal sein gefiederter Freund? Was wenn er sich in der Scheune befand und jeden Moment Alarm schlagen würde? Ohne zu überlegen, holperten mir die nächsten Wörter über die Lippen: »Ich hatte eigentlich vor nach Hause zu gehen. Wollen Sie mich vielleicht begleiten?« Ich war definitiv verrückt, ihm das vorzuschlagen, mit dem Ergebnis, dass er genau wusste, wo ich wohnte. Mir fiel jedoch nichts Besseres ein, mit dem ich meinen Freunden einen zeitlichen Vorsprung verschaffen konnte. Mein Gegenüber war ebenfalls überrascht von meinem plötzlichen Sinneswandel und eine Spur der Verwunderung durchzog sein Gesicht.

»Sicher. Wir wollen doch nicht, dass dir hier draußen etwas zustößt.«

Wir setzten uns in Bewegung. Bevor wir die Weggabelung verließen, schaute ich noch einmal den Weg nach unten zurück. Es war nichts zu erkennen. Wahrscheinlich befanden sich Joraj und mein Bruder gerade im Inneren der Hütte. Doch weiter wollte ich nicht darüber nachdenken und richtete meine Konzentration auf das Dorf vor uns. Schweigend legten wir die Strecke zurück. Nur das Knirschen der Kieselsteine unter unseren Füßen war in der Stille der Nacht zu vernehmen und stand in einem ungleichen Rhythmus zu meinem pulsierenden Körper, durch den das Blut schoss wie die Bleikugeln aus einer Schrotflinte. Ich konnte erst wieder vernünftig atmen, als wir das Gartentor zu unserem Haus erreichten. Von der Weggabelung bis hierher hatten wir ungefähr zehn Minuten gebraucht, die hoffentlich ausreichten, sodass Mrev und Joraj das Interesse an den Räumlichkeiten der Scheune verloren und sich auf den Rückweg gemacht hatten.

»Vielen Dank«, flüsterte ich in die Stille hinein.

»Dafür nicht.« Wieder stahl sich ein unergründliches Lächeln auf das Gesicht des fremden Mannes vor mir, aus dem ich genauso wenig herauslesen konnte, wie heute Mittag.

»Wissen Sie schon, wie lange Sie hier ins Helianthus bleiben wollen?« Ich versuchte noch ein paar Minuten Zeit herauszuschlagen und stellte ihm die erstbeste Frage, die mir in den Sinn kam.

»Bis ich zufrieden meine Heimreise antreten kann.« Diese Antwort brachte mich etwas aus dem Ruder und musste meine ohnehin weiße Gesichtsfarbe noch einige Nuancen bleicher gefärbt haben. Wollte er ein Mädchen entführen? Vielleicht mich? Eine bessere Gelegenheit, wie diese, ergab sich für einen Entführer sicher keine zwei Male im Leben. Ich trat einige Schritte zurück, ehe sich die Spitzen der Pforte unsanft in meinen Rücken bohrten.

»Ich denke ich muss dann. Gute Nacht.«Meine Hände ergriffen die Klinke und ich eilte den gepflasterten Pfad entlang zur Haustür.

»Gute Nacht Soleil,« rief er mir hinterher, regte sich dabei aber keinen Millimeter.

Ich riss die Tür auf und ließ sie mit einem lauten Krachen ins Schloss fallen. Mir war egal, ob meine Eltern davon wach werden würden. Hauptsache ich war für den Moment in Sicherheit. Mrev und Joraj waren es nicht und das war das nächste Problem. Ich zählte bis zwanzig, ehe ich die Tür wieder einen Spalt breit öffnete. Lemalian war verschwunden. Meine zitterten Hände wurden ruhiger, während ich darüber nachdachte, was als nächstes zu tun war. Ich musste mich wohl oder übel noch einmal hinauswagen.

***

Mrev kam mir entgegen gehetzt, als wir an der Gabelung aufeinander trafen.

»Wo hast du gesteckt, Soleil?!,« fuhr er mich wütend an.

»Ich habe euch gerettet.«

»Wie das denn, wenn du nicht mal da warst?«

»Der Fremde ist plötzlich vor meiner Nase aufgetaucht. Ich habe versucht ihn von der Hütte wegzulocken und ihn gebeten mich nach Hause zu begleiten.«

»Er weiß, wo wir wohnen?« Mrev war keineswegs zufriedengestellt. Ich fühlte mich ungerecht behandelt. Schließlich war die ganze Aktion nicht meine Idee gewesen.

»Ihr solltet lieber dankbar sein, dass er euch nicht auf frischer Tat ertappt hat.« Ich verschränkte gekränkt die Arme vor der Brust und wartete darauf, dass mein Bruder einsichtig wurde.

»Gib lieber gleich zu, dass du dich vor lauter Schiss davon gemacht hast.« Ich konnte es nicht fassen, was er mir an den Kopf warf.

»Das habe ich nicht.«

»Ach, nein? Und wie kommt es dann, dass Lemalian seelenruhig auf seinem Heubett geschlummert hat, während wir um ihn herumgeschlichen sind?« Ich hielt verblüfft inne und spulte Mrevs Worte noch einmal in meinem Kopf ab. Sie ergaben keinen Sinn.

»Das kann nicht sein. Er war hier, vor mir. Und er hat mit mir gesprochen.« Mrev blickte mich zweifelnd an. Er wollte mir nicht glauben.

»Ich schwöre, dass er bei mir war.«

»Und ich schwöre, dass er da unten gepennt hat.« Wir traten auf der Stelle und ich versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, da wir so nicht weiter kamen, indem ich mich nach Joraj erkundigte, auch wenn ich mir denken konnte, was er gerade trieb.

»Er sucht nach dir. Wir dachten immerhin, dir sei etwas zugestoßen.«

»Dann sollten wir ihm Bescheid geben, dass es mir gut geht.«In meinem Kopf herrschte pures Durcheinander. Ich hatte die ganze Begegnung doch nicht etwa geträumt oder? Alles, die Stille, das Rascheln im Feld, unser Gespräch waren so real gewesen. Aber konnte ich mir da wirklich sicher sein? Was, wenn ich schlafgewandelt und hinter unserer Haustür aus meinem Albtraum hochgeschreckt war.

»Joraj?,« schrie Mrev und seine Worte hallten über die Felder. Ihm war es mittlerweile genauso egal, ob uns jemand bemerkte oder nicht.

»Joraj. Wo bist du?«, brüllte ich hinterher und meine Worte schlossen sich seinem Echo an. Es kam keine Antwort. Wir setzten uns in Bewegung und riefen immer wieder seinen Namen.

Die nassen Grashalme durchfeuchteten meine Kleidung, als wir uns durch das Feld zu unser Linken schlugen. Das Morgengrauen kämpfte sich den Horizont empor und brachte ein wenig Licht in die Schwärze, die uns umgab. Es war unverkennbar, dass wir Sommer hatten. Im Winter versteckte sich der rote Feuerball zumeist bis gegen Nachmittag hinter den Wolkendecken, als hätte er keine Lust zu so früher Stunde schon aufstehen zu müssen.

»Joraj?!« Leicht verzweifelt schrie ich mir nochmal seinen Namen von der Seele. Wo war er nur abgeblieben?

»Das ist ganz allein deine Schuld, Soleil. Nächstes Mal ziehen wir ohne dich los.« Mrev trat wütend einen kleinen Stein zur Seite, der in einem hohen Bogen davon flog. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und war stehen geblieben.

»Und was nun?,« fuhr er mich an. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Wenn Lemalin tatsächlich da unten in der Scheune gelegen hatte, war meine Erzählung in seinen Ohren eine reine Märchengeschichte. Ich schaute ihn an und verspürte den dringlichen Wunsch, ihm zu beweisen, dass ich keine Lügnerin war. Doch ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.

»Lass uns weitersuchen,« war das Einzige, was ich hervorbrachte. Wir gingen weiter. Das Feld schien endlos zu sein und hielt uns beinahe orientierungslos gefangen, wie in einem Labyrinth. Jede Pflanze sah gleich aus und uns würde am Ende wohl nur der platt getrampelte Weg bleiben, der uns wieder hieraus brachte.

Plötzlich lichtete sich das dichte Gestrüpp und einige Meter vor uns konnte ich einen dunklen Schatten auf dem Boden ausmachen. Daneben flackerte ein kleines Licht zu den Bewegungen des Windes, die sich darüber hin wegschoben. Das musste die Laterne sein! Ich sprintete los und ließ mich neben der Gestalt zu Boden fallen. Es war tatsächlich Joraj und er hatte die Augen geschlossen. Allerdings waren es nicht seine geschlossenen Lieder, die meiner Kehle einen hilflosen Schrei entlockten. Von seinem Haaransatz bis hinunter ans Kinn zog sich eine rote, geschwollene Wunde. Über dem darunter liegenden Knochen hatte sich ein Wulst gebildet, bei dessen Anblick mein Magen zu rebellieren drohte. Es sah aus wie eine der Brandnarben, die die Arme vieler Schmiede aus unserer Nachbarschaft zierten. Jorajs Kleidung war mit Blut bespritzt und verströmte einen metallischen Geruch, der mich die Nase rümpfen ließ. Meine Finger ertasteten panisch seinen Hals und spürten darunter einen langsam schlagenden Puls.

»Er lebt!« Meine Worte verteilten sich in der gesamten Gebirgsregion, als wollten sie auf schnellstmöglichem Wege diese Nachricht verkünden. Ich hatte mich zu meinem Bruder gewendet, der mit einem entsetzten Gesichtsausdruck auf unseren bewusstlosen Freund starrte.

»Du musst Hilfe holen!«, wies ich ihn an. Er nickte mir kurz zu, ehe er sich rennend davon machte. Ich drehte mich wieder zu Joraj um.

»Halte durch!«, redete ich ihm unter Tränen zu. Er hatte noch zu viel vor sich, als das er uns zum jetzigen Zeitpunkt im Stich lassen konnte. Meine Aufmerksamkeit widmete sich wieder seinem entstellten Gesicht zu. Es war aschfahl und mit kleinen Schweißperlen überseht, die im Kampf um das Überleben aus den Poren getreten waren. Meine linke Hand fand die seine und ich schloss meine Finger eng darum. Es war ein Versuch, ihm auf irgendeine Weise zu verstehen zu geben, dass ich für ihn da sein würde.

»Wenn einer es schaffen kann, dass bist du es.« Ich dachte an hunderte Momente, die ich mit ihm erlebt hatte- wie wir zusammen durch das Dorf tollten, wie ich ihm einen Apfel auf den Kopf fallen lassen habe, während ich mich in einer Baumkrone versteckte, wie er mich nach Hause brachte, als ich mir den Ellenbogen aufgeschrammt hatte. Wir hatten uns immer aufeinander verlassen können und uns gegenseitig an unsere Grenzen gebracht, die uns zu den Menschen machten, die wir nun waren. Das durfte einfach nicht zu Ende sein.

Ich musste schlucken und spürte gleichzeitig, wie mir immer mehr der salzigen Tränen über die Wangen liefen. Wann kam Mrev endlich wieder? Und wie lange würde Joraj durchhalten? Ich drückte meine Hände fester um seine und ließ die Geschehnisse der vergangenen Nacht noch einmal Revue passieren. Unser Treffen an der Weide, bevor wir uns teilten. Dann die Begegnung mit Lemalian und schließlich Mrev und ich, wie wir uns stritten und schließlich bei Joraj ankamen. Konnte es sein, dass der Fremde dahinter steckte? Wenn er es fertigbrachte an zwei Orten gleichzeitig aufzutauchen, dann war diese Verletzung sicher ein Kinderspiel für ihn.

Ertappt blickte ich mich um, doch weiter als die Ähren des Weizens reichte mein Sichtfeld nicht und ich wollte Joraj nicht alleine am Boden zurücklassen. Die Minuten zogen sich in die Länge und ich begann kleine Gebete aufzusagen, um nicht verrückt zu werden.

Zeitgleich erfüllte der Knall einer Explosion die Umgebung. Für einen Moment wurde es beißend hell und mein Kopf richtete sich gen Westen, in die Richtung, in der sich die Hütte des Fremden befand. Rauch stieg auf und machte mir klar, was soeben geschehen war. Es brannte. Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen beobachtete ich, wie sich die feuerroten Flammen in der Ferne genüsslich in den Himmel fraßen.

Ein Mal für die Ewigkeit

Unter einem Büschel rabenschwarzen Haares auf der Stirn konnten sie einen merkwürdigen Schnitt erkennen, der aussah wie ein Blitz.

»Ist es das, wo-?«, flüsterte Professor McGonagall.

»Ja«, sagte Dumbledore. »Diese Narbe wird ihm für immer bleiben.«

J.K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen

 

Mrev kam in Begleitung von Jorajs Familie, unseren Eltern und Dr. Preston zurück, der eine schwarze Ledertasche eng unter einen seiner Oberarme geklemmt hatte. Mrev und mein Vater machten sofort wieder kehrt, als sie das Feuer in der Ferne erblickt hatten. Meine Mutter, Jorajs Eltern Edonita und Miljan, seine Schwester Elva und der Arzt blieben bei mir und Joraj.

 

»Mein Gott, Soleil.« Meine Mutter kam auf mich zugerannt und zog mich beschützend in ihre Arme. Mein feuchtes Gesicht durchnässte ihre Schulter, während mein Körper unter den Schluchzern, die ich von mir gab, auf und ab bebte.

»Es wird alles gut.« Sie streichelte mir sanft über den Rücken und ich wollte ihren Worten unbedingt Glauben schenken, sodass ich mich noch fester an ihr fest krallte. Mein Gehirn kämpfte verzweifelt gegen die vielen Fragen an, die mir durch den Kopf schossen. Was, wenn Dr. Preston ihm nicht helfen konnte? Wenn er hier, unter unseren Augen sterben würde? Wie würde unser Leben ohne ihn weitergehen? Würden Mrev und ich es alleine wagen und uns in das Abenteuer stürzen, das uns außerhalb von Helianthus erwartete?

»Wer macht so etwas?« Die erstickte Stimme von Jorajs Mutter ertönte neben meinem Ohr und unterbrach meinen Gedankenstrom. Sie blickte mich aus ihren geröteten Augen an und senkte entmutigt ihr Haupt, als sie erkannte, dass ich ihr die Frage ebenso wenig beantworten konnte.

Alle warteten gebannt auf das Urteil des Doktors, der neben Joraj am Boden hockte und mit irgendwelchen Instrumenten an ihm herum werkelte. Wir anderen konnten untätig herumstehen und zuschauen. Meine Ungeduld wuchs mit jeder weiteren Sekunde. In meinen Augen dauerte es zu lange, bis der Doktor die Blutung gestoppt, die Wunden desinfiziert hatte und anschließend eine gelbliche Salbe auftrug, um einen leichten Verband um Jorajs Kopf zu wickeln. Ich wollte ihn zu Hause haben, gebettet auf einer weichen Schicht aus frischem Heu, ihn mit heilenden Kräutertees versorgen, damit er ganz schnell wieder gesund wurde.

»Was ist jetzt mit ihm?« Die Frage verließ gereizter als beabsichtigt meinen Mund und der Arzt schaute mich streng aus seinen kleinen Augen an, die unter zwei runden Brillengläsern hervor lugten.

»Er wird durchkommen«, sprach er die erlösenden Worte aus. »Die Narbe wird ihm jedoch für immer bleiben.«

»Wer um alles in der Welt hat ihm das angetan?«, wollte jetzt Jorajs Vater wissen und boxte mit der Faust in die Luft, um dem Täter, der für die Verletzung seines Sohnes verantwortlich war, klar zu machen, das mit ihm nicht zu spaßen sein würde, wenn er ihn in die Finger kriegte. Ich löste mich von meiner Mutter und stellte mich neben ihn. Neben die Erleichterung mischte sich allmählich auch Wut, die sich in meinem Bauch verbreitete wie ein Parasit. Der Zorn verstärkte sich, je länger ich Joraj ins Gesicht schaute, aber ich konnte meinen Blick nicht davon abwenden.

***

Mit der Kraft von fünf Leuten legten wir Jorajs schlaffen Körper auf ein schmales Holzbrett, das wir unweit von uns zwischen den Arbeitsgeräten der Bauern gefunden hatten. Der Doktor, Miljan und ich hoben ihn hoch. Kleine Holzsplitter bohrten sich mit ihren kleinen Spitzen in meine Handflächen, doch ich unterdrückte den Schmerz. Während wir gingen, hörte ich, wie sich die zwei Männer über die narbenartige Verletzung unterhielten.

»Jemand muss ihm eine offene Flamme direkt ins Gesicht gehalten haben. Das lässt die enorme Röte und die vernarbten Stränge an den Wundrändern erklären. Ich frage mich jedoch, was seine Haut so zerfetzt hat. Das Feuer war es jedenfalls nicht.« Der Arzt fuhr sich mit der freien Hand über die faltige Stirn und mir fiel auf, wie hell es schon war. Die Sonne thronte wie eine Königin am Horizont, was bedeutete, dass es heute wieder so unheimlich heiß werden würde.

»Können die Verletzungen von einem Tier stammen?«, warf Miljan ein.

»Sie meinen eine Verletzung, wie sie ein wildes Tier hinterlassen würde?«

»Genau. «

»Mhm, das ist schwer zu sagen. Einerseits muss etwas Spitzes in die Haut Ihres Sohnes gefahren sein, aber auf der anderen Seite ist das Ergebnis längst nicht so grob, als wenn es durch ein Raubtier zugeführt worden wäre.« Ich hätte die beiden am liebsten unterbrochen. Es war schlimm genug, dass das Ganze überhaupt passiert war. Die wilden Spekulationen um den genauen Tathergang ließen Joraj nicht schneller heilen.

***

Wir verließen das Feld und passierten den Treffpunkt an der Weide. Mir kam der Fremde wieder in den Sinn und ich wurde das ungute Gefühl nicht los, dass sein Auftauchen irgendwie mit den beiden Vorfällen in Zusammenhang stand. Bei geeigneter Zeit wollte ich mich mit Mrev darüber unterhalten und beschließen, unseren Eltern doch davon erzählen. Mit der Attacke auf Joraj und dem Brand der Scheune waren sie ebenso involviert wie wir. Lediglich der Mangel an Beweisen und unsere Verschwiegenheit bezüglich Lemalians Ankunft gestern Mittag hielten mich davon ab alles auf der Stelle auszuplaudern.

Der leichte Anstieg zurück ins Dorf machte uns allen zu schaffen. Die Sonne trocknete mein feuchtes Gesicht und hinterließ darauf einen salzigen Schleier, der mir unangenehm auf der Haut klebte. Der Doktor und Miljan hatten ihr Gespräch beendet und schleppten sich keuchend über den steinernen Boden, der die Hauptstraße zur Dorfplatzmitte bildete. Immer wieder schaute ich zu Joraj, der seelenruhig neben mir auf der Trage schlief. Er wirkte längst nicht mehr so angespannt, wie er es unter den Schmerzen von vorhin gewesen war. Preston verstand anscheinend etwas von seinem Handwerk. Bisher hatten meine Eltern ihn nur sehr selten aufsuchen müssen. Für die meisten Krankheiten hatten sie ihre eigene Heilmethode und vertrauten nicht auf die Ratschläge eines Akademikers. Im Gegensatz zu ihnen, war der Arzt vor fünfzehn Jahren aus einer der Städte im Tal nach Helianthus gezogen und hatte sich erst nach und nach die Anerkennung der Bewohner erarbeiten müssen. Er war damit einer der wenigen, der nicht ursprünglich von hier stammte und als fremder Mann hergezogen war.

***

Jorajs Elternhaus rückte in unser Blickfeld und auf den letzten Metern wurden alle noch einmal schneller. Mit aller Kraft hievten wir ihn durch den engen Türspalt und legten ihn behutsam auf dem großen Tisch in der Küche ab. Ich stütze meine Hände an der Tischkante ab und streckte meinen Körper durch, der ganz verspannt war, von der getragenen Last. Im Haus war es angenehm kühl, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis die Hitze wieder ihre Vorherrschaft in den Mauern einnehmen würde.

»Schlaf und Ruhe sind jetzt das Allerwichtigste, was er braucht«, verkündete der Arzt und kramte eine kleine Flasche aus dunkelgrünem Glas aus seiner Tasche. Kurz hielt er sie in das spärliche Licht, das durch die kleinen Fenster fiel und begutachtete den Inhalt.

»Alle zwei Stunden, drei Tropfen davon. Dann sollte es ihm in den nächsten Tagen besser gehen. Und immer gut die Wunde reinigen.« Er streckte mir das Gefäß entgegen und nickte ermunternd mit dem Kopf. Meine Finger erfassten das kalte Glas und umschlossen es fest, als würden sie einen wertvollen Diamanten ergreifen und das kostbare Stück nie wieder loslassen wollen.

»Ich danke Ihnen vielmals.« Dieser eine Satz konnte nicht annähernd die Dankbarkeit ausdrücken, die ich empfand, aber ich konnte dem alten Mann auch schlecht um den Hals fallen.

»Ich tue nur, was meine Berufung ist.« Neben seinen Augen erschienen kleine Krähenfüße, als er mich müde anlächelte.

»Und dafür sind wir Ihnen so unendlich dankbar. Sie haben unseren Jungen gerettet«, meldete sich Jorajs Mutter zu Wort, in deren Augen die Tränen wieder gefährlich aufblitzen. Dem Arzt wurde der Trubel um seine Person zu viel, denn er packte bereits seine Sachen und wand sich mit einem kurzen »Auf Wiedersehen« zum Gehen.

»Ich werde jetzt nach Mrev und deinem Vater sehen«, setzte meine Mutter an und schaute mir abwartend ins Gesicht.

»Ich denke, ich werde noch etwas bei Joraj bleiben.«

»Gut, dann sehen wir uns später.« In Begleitung von Jorajs Eltern verließ auch sie die Küche und Elva und ich waren alleine.

Sie hatte den Blick strickt auf ihren schlafenden Bruder gerichtet und dachte anscheinend über etwas nach. Ich wollte sie in ihren Grübeleien nicht unterbrechen, zog mir einen der Hocker heran, die unter dem Tisch standen und setzte mich. In meiner rechten Hand befand sich noch das Heilmittel, dass ich auf die hintere Tischkante stellte. Die Rufe einiger Bewohner außerhalb des Hauses erweckten meine Neugierde und ich konnte ein paar Männer und Frauen am Fenster vorbeilaufen sehen, in den Armen große Wassereimer wiegend. Der Brand bei der Scheune wütete wohl unbeeindruckt weiter.

»Was wolltet ihr da draußen, mitten in der Nacht?« Elvas kalter Blick traf mich völlig unvorbereitet und ließ mich unruhig auf dem Hocker hin und her rutschen. Ich dachte an mein Vorhaben zurück, erst mit Mrev die Sache mit dem Fremden zu besprechen. Andersherum fiel mir nichts weiter ein, wie ich Elvas Frage gezielt ausweichen konnte.

»Wir wollten jemanden besuchen.«

»Und wen? Soleil, jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.« Elva war ebenso temperamentvoll wie ihr Bruder, was sie gerade mehr als deutlich zeigte.

»Kennen wir nicht. Er ist gestern auf der Zauberwiese aufgetaucht.« Ich erzählte ihr die gesamte Geschichte. Lediglich Lemalias Namen und seinen möglichen Doppelgänger ließ ich außen vor.

»Warum in Gottes Willen habt ihr niemandem Bescheid gesagt? War euch ein kleines Abenteuer wichtiger, als die Gefahr vor fremden Menschen?«

»Natürlich nicht. Aber...« Ich bekam keine Möglichkeit ihr zu antworteten, da sie sich so in Rage geredet hatte, dass sie meine Antwort kommentarlos überging.

»Wenigstens von dir hätte ich mehr Vernunft erwartet. Sieh dir an, was aus eurer Aktion geworden ist.« Mit ausgestreckten Händen deutete sie auf ihren kleinen Bruder. Ich wusste nicht, wie ich mich gegenüber einer aufgebrachten Elva verhalten sollte und schaute schuldbewusst zu Boden. Klar, hatte sie Recht. Wir waren naiv gewesen, aber konnte man denn so etwas auch nur erahnen? Bestimmt nicht. Ohne ein weiteres Wort ging sie aus dem Raum und ich fuhr kurz zusammen, als die Haustür mit einem lauten Krachen ins Schloss fiel. Die ganze verfahrene Situation machte mir immer mehr zu schaffen und ich hatte keinen Plan, was wir als nächstes tun sollten. Wahrscheinlich würde Elva direkt zu ihrem Vater gehen und gegen Abend würde das gesamte Dorf Jagd auf Lemalian machen.

Unerwartet gab Joraj einen Schmerzenslaut von sich, der mich beinahe vom Hocker gerissen hätte. Meiner Meinung nach viel zu früh, kam er wieder zu Bewusstsein. Seine klammen Hände tasteten panisch zu beiden Seiten, ehe sie sich auf den Verband an seinem Kopf stürzten. In letzter Sekunde konnte ich sie ergreifen und zurückhalten.

»Joraj, es ist alles gut. Keine Angst. Da ist nur ein Verband um deinen Kopf«, redete ich beruhigend auf ihn ein. Durch seine hektischen Bewegungen war frisches Blut aus den Wunden getreten und hatte den Verband an vielen Stellen rot getränkt. Ich entschied, dass es Zeit war einen neuen zurecht zu machen. Vorsichtig erfassten meine Fingerspitzen den oberen Rand und zogen das Stück Stoff langsam über seine Stirn hinweg. Beim Anblick der Narbe musste ich mich erneut zwingen, den Blick nicht abzuwenden, um mich in der nächsten Ecke zu übergeben. Wie aus einer heißen Quelle brodelten kleine Bläschen an der Oberfläche, die ich mit ein paar Tropfen eines Desinfektionsmittels zu bändigen versuchte. Ihm entfuhr erneut ein Schrei, als der Alkohol auf die Wunde traf. Seine Hände schlossen sich um meine Handgelenke und seine Finger drückten wie Fesseln auf meine Haut.

»Shhhh. Shhh.« Ich fuhr ihm beruhigend durch das nass geschwitzte Haar, während ich mit der anderen Hand nach einem neuen Verband griff. Seine Augen waren fest zusammengekniffen, von dem brutalen Schmerz, der ihn überkam. Er biss die Zähne zusammen und sein Gesicht glänzte vor Schweiß. So schnell ich konnte, verband ich ihm den Kopf und legte ihn vorsichtig zurück auf die Tischplatte. Fast augenblicklich fiel die Spannung von seinem Körper ab. Wie Dr. Preston befohlen hatte, verabreichte ich ihm ein paar Tropfen der Medizin. Ich wusch mir die blutigen Hände im angrenzenden Waschbecken und kehrte anschließend zu meinem Platz zurück.

Etwas ließ mich stutzig werden und hielt mich davon ab, mich auf den Hocker zu setzen. Jorajs aufgesprungene Lippen hatten sich verformt, als würden sie ein Lied pfeifen wollen. Er musste sich so in Trance befinden, dass kein Laut seinen Mund verließ. Keuchend stieß er einen rasselnden Atemzug aus und fing lauthals an zu husten, als wären er kurz vorm Ertrinken. Es trat jedoch kein Wasser aus seinem Mund. Nein, es waren zwei lodernde Flammen, die mich einige Schritte nach hinten weichen ließen. Wie die Ranken einer Efeupflanze verschlang sich das Feuer zu einer Einheit, ehe es unter einem lauten Zischen wieder entzweit wurde und sich zu zwei überkreuzten Schwertern zusammenfügte. Ich schlug mir erschrocken die Hand vor den Mund, als ich das Königswappen erblickte.

Unter einem leisen Knistern wurden die Flammen kleiner und brannten bedächtig auf seinen immer noch leicht geöffneten Lippen nieder. Ich rief mir unser Gespräch von gestern ins Gedächtnis.

»Auf seiner Schulter prangte das Wappen unseres Königreiches.«

»Aber wir haben keinen König mehr.«

»Eben, das macht das Ganze umso merkwürdiger.«

Es war nicht mehr abzustreiten, dass Lemalian und unser ehemaliger gestürzter König etwas mit der Sache zu tun hatten. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie sich davon versprachen, einen unschuldigen Jungen wie Joraj anzugreifen. Hinzu kamen all die merkwürdigen Ereignisse wie Lemalians Fähigkeit an zwei Orten gleichzeitig aufzutauchen oder die Flammen, die ebengerade aus Jorajs Mund gelodert hatten. Ich begann an meinem Verstand zu zweifeln und setzte mich wieder auf den Hocker, da ich Angst hatte, meine Beine würden unter den erschreckenden Erkenntnissen nachgeben. Meine Hände ergriffen haltsuchend Jorajs feuchte Fingerspitzen, während ich versuche irgendeinen vertretbaren Zusammenhang aus dem Geschehenen zu erschließen. Es gelang mir nicht. Das verquirlte Denken machte mich noch müder, als ich ohnehin schon war und mir fiel es zunehmend schwerer, meine Augen offen zu halten.

***

Lautes Fußgetrampel riss mich aus meinem Halbschlaf und ich reckte benommen meinen Kopf in die Höhe.

»Soleil!« Völlig aus der Puste blieb Mrev hinter mir im Türrahmen stehen. Ich drehte mich erschrocken zu ihm um.

»Was ist passiert?«

»Ich-habe-ihn-gesehen«, stammelte mein Bruder und seine Augen weiteten sich, als sie Joraj neben mir auf dem Tisch erblickten.

»Wen hast du gesehen?«

»Joraj. Er war unten an der Scheune am Rande eines nahegelegenen Waldstückes und hat uns beobachtet, wie wir versucht haben den Brand unter Kontrolle zu bekommen.«

»Mrev, Joraj war die ganze Zeit bei mir. Es wäre ihm in seinem Zustand unmöglich sich auch nur hundert Meter fortzubewegen.«

Mein Satz war der Übergang zu dem einen Gedanken, der uns gleichzeitig durch den Kopf schoss. Lemalian war nicht der Einzige, der einen Doppelgänger hatte.

»Wie ist so etwas möglich?« Mrev schritt weiter in die Küche hinein und blieb vor dem Tisch stehen. Er fasste unseren Freund an der Schulter, wie um sich zu vergewissern, dass er tatsächlich dort vor ihm lag. Danach überkam sein Gesicht einen alarmierenden Ausdruck.

»Wir müssen nochmal mit diesem Lemalian sprechen. Er ist der Einzige, der uns Antworten liefern kann.«

»Dann sollten wir uns beeilen.« Kurz klärte ich ihn darüber auf, dass wir nicht mehr alleine davon Kenntnis hatten, dass sich ein Fremder in Helianthus herumtrieb. Mit einem letzten Blick auf den schlafenden Joraj eilten wir aus dem Haus.

Tanz der tausend Lügen

Ser Denys schüttelte stur den Kopf. »Ihr kennt die Lannisters nicht so gut wie wir, Mylord. König Stannis hat auch geglaubt, Lord Tywin sei tausende Meilen entfernt, und das war sein Untergang.«

George R.R. Martin, Das Lied von Eis und Feuer

 

Mrev und ich drosselten unser Tempo, als wir den breiten Sandweg erreichten, der sich hinaus aus dem Dorf in Richtung der Felder schlängelte. Wir wollten nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen, welche uns von unserem Vorhaben abbringen konnte. Mir war nicht wohl bei der Sache, aber auf der anderen Seite wollte ich Erklärungen, warum jemand Joraj so etwas Grausames angetan hatte und die konnten wir nur von einer Person bekommen.

An der Kreuzung zur Zauberwiese begegneten wir einigen Männern, die damit beschäftig waren schwere Krüge den Abhang hinunter zu schleppen. Unter ihnen war auch unser Vater.

»Mrev, warum bist du so plötzlich abgehauen und wieso hast du deine Schwester mitgebracht?« Er nahm den schweren Tontopf von den Schultern und stellte ihn vor seinen Füßen ab, sodass unzählige Wassertropfen in alle Richtungen davon sprangen.

»Ich dachte, wir könnten alle Hilfe gebrauchen«, versuchte es mein Bruder mit der erstbesten Ausrede.

»Aha.« Mein Vater zuckte zweifelnd mit der linken Augenbraue und auf seiner Stirn bildeten sich kleine Furchen. Für ihn gab es nur einen Ort, an den eine Frau gehörte. Das war die Kochstelle, an der sie für ihren Mann und die Kinder zu sorgen hatte. Diese Rolle sah er auch für mich vor. Ihm missfiel es, dass ich immer öfter die Nachmittage mit den beiden Jungs auf der Zauberwiese verbrachte und mich um die Schafe kümmerte. Doch bis jetzt hatte er mich jeden Tag gehen lassen, was im großen Maße Mrevs Betteln zu verdanken war. Er war sein Lieblingskind, der Junge, in dem er das sah, was er selbst nicht erreicht hatte. Für ihn war Mrev ein Spiegel seiner eigenen Jugend. Das lag nicht nur am äußeren Erscheinungsbild. Abgesehen vom unterschiedlichen Alter waren beide wie aus dem Gesicht geschnitten. Ihre Haare waren kohlrabenschwarz und hingen in kleinen Fransen auf die weite Stirn. Sie hatten dieselben Gesichtszüge, denselben steilen Nasenrücken und die breiten Wangenknochen, die zu einem spitzen Kinn mündeten, welches von hunderten Bartstoppeln überseht war. Das Markanteste, was die beiden verband, waren jedoch die spitz zulaufenden Ohren. Sie hatten etwas Elfenhaftes an sich und schienen einer Märchenwelt entsprungen.

»Dann mal los.« Mein Vater klatschte in die Hände und wir rannten die steile Böschung hinunter. Aus der Ferne konnte man die niedergebrannte Scheune erkennen, die unter den mittlerweile schwach brennenden Flammen dunklen Ruß in den Himmel aufstiegen ließen und sein strahlendes Blau in einen grauen Schleier warfen. Bereits nach den wenigen Metern, die wir hinter uns gelegt hatten, klebte mir die Kleidung im Schein der aufgehenden Sonne wie eine zweite Haut auf dem Rücken.

»Kurz vor der Hütte müssen wir uns rechts halten und uns unauffällig in das Feld schlagen«, wies Mrev mich an und machte eine entsprechende Handbewegung.

***

Wir erreichten die beschriebene Stelle und kämpften uns möglichst leise in ein schmales Maisfeld. Im Schutz der hohen Pflanzen hofften wir nicht gesehen zu werden. Da man uns auf den flachen Weizenfeldern sofort entdeckt hätte, mussten wir diesen kleinen Umweg auf uns nehmen, bis wir letztendlich zur Zauberwiese gelangten.

In der gesamten Umgebung empfing uns eine schlafende Atmosphäre. Die Tiere hatten den schattenspenden Schutz der Bäume gesucht und saßen ihre Zeit ab, darauf hoffend, dass der kühle Abend möglichst bald kommen würde. An vielen Bodenstellen flimmerte Wasserdampf, der sich der Macht der Sonne geschlagen geben musste und als trüber Schleier den Himmel empor stieg. Ich band mir die langen schwarzen Haare mit einem kurzen Faden zu einem hohen Zopf, um mehr frische Luft auf meine Haut zu bekommen und einen klaren Kopf zu bewahren.

Wir suchten sämtliche Gebüsche, Baumgruppen und unsere Raststellen von gestern ab- ohne Erfolg. Von Lemalian und seinem Raben fehlte jede Spur.

»Wo steckt der Kerl nur? Das kann doch nicht wahr sein. Erst taucht er auf, dann treibt er sein Unwesen und dann verschwindet er wieder«, sagte Mrev missmutig. Ich stimmte ihm mit einem müden Schulterzucken über unser ernüchterndes Resultat zu. Es wäre auch zu einfach gewesen, wenn sich Lemalian in der Nähe der Scheune herumgetrieben hätte. Die Gefahr, gesehen zu werden, wäre viel zu groß gewesen. Aber auf diesen logischen Gedankengang waren wir erst jetzt, eine ganze Stunde später, nachdem wir aus Jorajs Haus aufgebrochen waren, gekommen. Es war zum Verrücktwerden. Enttäuscht schlug ich mit meiner rechten Hand auf die Äste einer ausgedörrten Fichte ein, die ringsherum die Felder säumten, wobei sich meine Finger in einem klebrigen Spinnennetz verfingen.

»Ihhhgitt!«, schrie ich auf und erblickte die Bewohnerin des Hauses, das ich gerade zerstört hatte. Das große, schwarze Insekt begann stockend zu tanzen und ich beeilte mich, von ihren Fängen loszukommen. Meine Laune war auf dem Nullpunkt angelangt. Mrev ging es keineswegs besser. Sein leicht rötliches Gesicht war von einer feuchten Wasserschicht durchzogen und in seinen Haaren hatten sich unzählige Tannennadeln verfangen.

»Ich denke wir sollten unseren Rücktritt antreten«, setzte er gerade an, als einige Meter vor uns ein lautes Rascheln durch die dichten Bäume wanderte. Mrev zog mich ein Stück nach unten, wobei sich diesmal anstelle meiner Hände, meine Haare in dem Spinnennetz verfingen. Ich konnte nur hoffen, dass das Viech so lange da oben in ihrer Ecke sitzen blieb, wie wir unter ihr am Boden kauern würden. Das Rascheln wurde lauter und dazwischen mischte sich das leise Trampeln von Füßen, das vom Waldboden abgedämpft wurde. Ein Gestalt trat mit einem großen Ausfallschritt aus der dichten Wand heraus und mir stockte augenblicklich der Atem. Der junge Mann war Joraj aus dem Gesicht geschnitten. Selbst aus der Ferne konnte man das langgezogene Profil mit der tief nach unten laufenden Nase erkennen und die eng zusammengekniffenen Augen, die alarmiert die Gegend absuchten. Wir drückten uns weiter in den Wald hinein, während sich Jorajs Doppelgänger allmählich aus dem Schatten der Bäume bewegte und auf die Wiese trat. Er ließ seinen Blick in alle Richtungen schweifen. Nur im letzten Moment konnten wir uns hinter einem dicken Stamm verstecken.

»Was sollen wir machen?«, flüsterte ich.

»Abwarten.«

»Aber wir müssen doch etwas tun. Was, wenn er etwas Schlimmes vorhat. Wir müssen ihn aufhalten!« Meine Stimme war lauter geworden, sodass sich Mrevs Hand auf meinen Mund gelegt hatte und die letzten Worte in sich absorbierte. Er schaute mich mit dem Blick an, den unser Vater immer an den Tag legte, wenn wir etwas verbrochen hatten. Der Mann vor uns hatte den Vorfall nicht bemerkt und streifte unbeeindruckt ein paar Meter weiter.

»Das Wasser ist zwar eigentlich für die Tiere gedacht, aber dann müssen wir nicht mehr so weit laufen.«

»Gute Idee, Kester.« Der Name unseres Vater ließ nicht nur uns aufhorchen. Joraj-2 sprang in zwei Sätzen zurück ins Gebüsch und war verschwunden. Ich biss mir verärgert auf die Lippen. Heute lief wirklich nichts nach Plan.

Wir befreiten uns aus den Fichten und stießen zu unserem Vater und seinen Männern. Die Spinne hatte sich die ganze Zeit über glücklicherweise keinen Zentimeter bewegt und meine Haare in Ruhe gelassen.

»Ich dachte schon, ihr wollt euch vor der Arbeit drücken«, wurden wir begrüßt und mit dem Blick gestreift, den mir Mrev eben in den Tannen zugeworfen hatte.

***

Wir schleppten Krüge um Krüge die Wiese hinunter und kippten den Inhalt auf die gierigen Flammen. Gegen Nachmittag hatten wir genügend Leute zusammen, sodass wir uns zu einer Kette formierten und so im Kampf gegen das Feuer einen entscheidenden Schachzug spielten.

»Wenn wir den Verantwortlichen in die Finger kriegen! Na warte, der kann was erleben! « Ein älterer Mann neben mir begann mit einer Schimpftirade, wobei er sich immer wieder auf den dicken Bauch klopfte, um seine Worte zu untermauern.

»Ins Gefängnis gehört der. Für immer weggesperrt.« Anscheinend hatten die Neuigkeiten über den Fremden, die mittlerweile im Dorf kursieren mussten, die Leute auf den Feldern noch nicht erreicht.

»Das Feuer ist aus. Das Feuer ist aus. Das Feuer ist aus.« Freudig wurde diese Botschaft einem Echo gleich in der Löschkette weitergetragen und ich musste mir nicht länger die Verwünschungen des Alten anhören.

***

Zurück im Dorf erfuhr auch der Rest von dem vermeintlichen Täter. Da uns niemand zur Rede stellte, war davon auszugehen, dass Elva wohl nicht erzählt hatte, von wem die Informationen waren. Unsere Mutter empfing uns in Jorajs Haus und berichtete uns über das abendliche Vorhaben im Dorfe. Die Bewohner wollten gemeinsam ein Fest veranstalten, mit dem sie den »Dämon«, der Joraj angegriffen hatte, wieder von hier vertreiben und ihm aufzeigen wollten, dass er in Helianthius nichts zu suchen hatte.

Ich half ihr und Edonita in der Küche beim Zubereiten von Salaten und Broten, die wir den Gästen als Dank zur Verfügung stellten wollten. Mrev hatte zusammen mit Jorajs Vater ebendiesen die Treppe hoch in sein Zimmer geschleppt, damit er sich dort weiter ausruhen konnte. Bevor wir zum Fest aufbrachen, stattete ich ihm noch eine kurzen Besuch ab. Ich beobachtete ihn vom Türrahmen aus, seinen Körper, der sich unter den gleichmäßigen Atemzügen auf und ab senkte. Ich trat nicht näher in den Raum herein, um mir das friedliche Bild nicht durch den verbundenen Kopf zerstören zu lassen.

***

Die Straßen zum Dorfplatz waren mit unzähligen Menschen gefüllt. Jung reihte sich neben Alt und alle hatten sie gemeinsam ein Ziel-das große Lagerfeuer in der Dorfplatzmitte. Ein Gemisch aus Ruß und Harz durchflutete die Umgebung. An den Frontseiten einiger Häuser hatte man Tische aufgebaut, auf denen wir die Schüsseln mit dem Essen abstellen konnten. Auf der anderen Seite des Feuers spielte eine Zehnmanntruppe verschiedene Instrumente und vereinzelt begannen ein paar Paare zu tanzen. Ich wollte mich von der heiteren Stimmung anstecken lassen, aber es gelang mir nur wenig. Immer auf der Hut wanderte mein Blick in alle Himmelsrichtungen und suchte selbst die Dächer ab. Lemalian und die Doppelgänger konnten immer noch unter uns sein und nur auf so eine Gelegenheit wie diese warten, um erneut zuzuschlagen.

»Soleil, was stehst du hier noch so lange herum?« Mrev kam auf mich zugestolpert, einen Becher in der Hand, aus dem eine Flüssigkeit auf mein Kleid spritzte, als er vor mir zum Stehen kam. Der süßliche Geruch von Bier stieg mir in die Nase und ich schaute meinen Bruder an, der alle Mühe hatte seine Augen offen zu halten.

»Bist du etwa betrunken?« Die Frage erübrigte sich, als er mit einem lauten Rülpser eine starke Alkoholfahne auf mich zukommen ließ. Ich rümpfte die Nase, musste aber gleichzeitig auch grinsen. Ich hatte Mrev noch nie betrunken erlebt. Er war ein Kontrollfreak, der sich normalerweise niemals so gehen ließ. Aber unter den heutigen Umständen, die alles andere als normal waren, konnte ihm das keiner verdenken.

»Wo ist das Bier?« Ich harkte mich bei ihm unter und zusammen steuerten wir die vielen Fässer an, die der Fassbinder vor seiner Werkstatt aufgestellt und mit Alkohol füllen lassen hatte. Ich bestellte mir einen großen Krug und warf den Kopf in den Nacken, als mir das Getränk mit seinem bitteren Geschmack die Speiseröhre runter lief. Ich hatte es satt, mir weiter Gedanken um die Fremden zu machen. Darüber musste sich mein Kopf schließlich schon den ganzen Tag über Gedanken machen und war dem so überdrüssig, dass ich mir noch ein Bier bestellte. Die Anspannung in meinen Armen und Beiden fiel von mir ab und ich bekam das Gefühl zurück, mich wieder frei bewegen zu können. Mrev war in ein Gespräch mit einem gleichaltrigen Jungen verwickelt. Da, ich keine Lust hatte daneben zu stehen und bloß zuzuhören, wanderte ich ein wenig umher.

Ich erkannte Vater, der zusammen mit einem weiteren Mann einen dicken Scheit auf das Feuer warf und anschließend einigen Männern Anweisungen gab, Nachschub zu besorgen. Meine Mutter und Edonita standen weiterhin an der Essensausgabe und unterhielten sich ausgelassen mit den Dorfbewohnerinnen. Unter ihnen erkannte ich auch Elva. Ich war ihr einerseits dankbar, dass sie ihre Geschichte nur mit halber Wahrheit weitererzählt hatte, andererseits war ich noch sauer auf sie, weil sie in der Küche so ruppig gewesen war.

»Nnnna, hasst dddu Huuungger?« Mrev war mir anscheinend gefolgt und torkelte zu meiner rechten Seite neben mir her. Etwas zu Essen war gar keine schlechte Idee. Vielleicht wurde er dadurch wieder ein wenig nüchtern und konnte damit die Kopfschmerzen lindern, die ihn am Morgen erwarten würden.

Wir nahmen uns jeweils eine Portion Feldsalat und dazu ein Stück Roggenbrot. Erst beim ersten Bissen bemerkte ich, wie hungrig ich eigentlich war und verschlang den frischen Salat in Windeseile. Wir holten uns Nachschlag und stellten uns etwas abseits an den Rand. Überraschenderweise kam Elva auf uns zu. Sie hatte ihr langes hellbraunes Haar in einen Zopf geflochten, der ihr über die nackte Schulter fiel. Außerdem trug sie ein dunkelblaues Kleid, auf das vereinzelt Federn gestickt waren. Sie sah wunderschön aus und ich kam mir in meinen zerschlissenen Kleidern, die ich schon den ganzen Tag trug, vor, wie ein Bauerntrampel.

»Soleil, ich möchte mich bei dir entschuldigen.« Wenn sie nicht aufgebracht war, klang ihre Stimme unheimlich sanft und man hatte keinen Zweifel daran, dass sie ernst meinte, was sie von sich gab.

»Schon vergessen«, winkte ich ab und ein kleines Lächeln erschien neben ihren Mundwinkeln. Wir standen eine Weile da, da keiner von uns wusste, was er weiter sagen sollte. Mrev brach das Schweigen, in dem er Elva zum Tanz aufforderte und sich dabei verlegen über den Nacken strich. Dieser Abend brachte Seiten an ihm hervor, denen ich mir vorher nie bewusst war und mir einmal mehr deutlich machten, dass auch er das Leben des kleinen Jungen allmählich gegen das eines jungen Mannes eintauschen würde. Elvas Wangen erröteten leicht, aber sie nickte zustimmend. Die beiden fragten mich, ob ich mitkommen wollte. Da ich mich nicht anders zu beschäftigen wusste, folgte ich ihnen aufs Erste und ließ mich dann an einem dicken Baumstamm ins Gras sinken. Vielleicht forderte mich auch jemand auf. Mrev und Elva schwebten fast schwerelos über den Boden und ich freute mich, dass sie für den Moment alles um sich herum vergessen konnten. Ganz im Gegensatz zu mir. Die Wirkung des Alkohols ließ zunehmend nach und damit kamen auch all die dunklen Gedanken zurück. Würde Joraj wieder der Alte werden, wenn er aufwachte? Wird es weitere Verletzte geben? Würden wir mit dem Fest wirklich all die Dämonen verbannen, die dieser Lemalian mit sich gebracht hatte? Ich wollte die vielen Fragen stoppen, die sich in meinem Kopf stauten und legte ihn schwerfällig auf meine verschränkten Arme, die ich auf beiden Knien gebettet hatte. Sie machten mich müde und erschöpft. Die Melodie der Musik verschwamm zu einem gedämpften Rauschen, in das sich nach einiger Zeit Fußgetrampel mischte. Ich wollte nicht gestört werden und verharrte stur in meiner Position.

»Gar keine Lust zu tanzen, Soleil?« Die Müdigkeit war augenblicklich verflogen, als ich Lemalians Stimme vernahm. Ich blickte auf und sah in sein grinsendes Gesicht und auf seine Hand, die sich mir einladend entgegengestreckt hatte. Er war wieder ohne seinen Vogel unterwegs und mir kam in den Sinn, dass vielleicht gar nicht er, sondern sein Doppelgänger vor mir stand. Aber der Unterschied war mir ziemlich egal, denn ich war wütend.

Wie brachte dieser Mann es fertig, nach allem, was passiert war, hier aufzutauchen und mich zum Tanzen aufzufordern? Ich wollte schreien, aber etwas schnürte mir die Kehle zu. Es fühlte sich an wie eine heiße Schlinge, die sich in meine Haut gefressen hatte. Lemalians Grinsen wurde breiter und seine Handbewegung fordernder. Ich gab mich schließlich geschlagen, da ich Angst hatte, er könnte mir-mit was auch immer, die Luft abschnüren. Die Angst hatte mich gepackt und ich hatte alle Mühe auf den Beinen einen festen Stand zu bewahren. Ich verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten, jeden Moment darauf vorbereitet, gegen den harten Baumstamm zu prallen. Doch Lemalian war schneller und fing mich mit seiner rechten Hand auf. Ich spürte jede seiner Fingerspitzen. Es fühlte sich an, als würden sie sich wie glühend heiße Eisenstäbe in meinen Rücken brennen.

»Nana, nicht so stürmisch mein Fräulein.« Er hatte immer noch nicht aufgehört mit dem dämlichen Grinsen und zog mich mit einem kurzen Ruck an sich. Meine Arme prallten unsanft gegen seine harte Brust, die sich ebenso heiß anfühlte, wie seine Hände. Er versprühte einen stark hölzernen Duft, in denen sich ein Geruch von feuchtem Sommerregen mischte. Meiner Kehle entwich immer noch kein Ton. Die Menschen um mich herum waren so in ihre Tanzpartner vernarrt, dass sie nichts mitbekamen. Ich war wohl oder übel auf mich allein gestellt.

Mit geschickten Handgriffen legte Lemalian meine linke Hand auf seine linke Schulter. Ein Hitzeschauer durchfuhr mich, als sich unsere Hände berührten und ich kniff die Augen zusammen, um den stechenden Schmerz abzuschwächen. Anschließend nahm er meine andere Hand in die seine und verschränkte unsere Finger miteinander. Ich kam mir vor wie ein Klebstoff, der sich nicht lösen konnte.

Im Takt der Musik begannen wir uns mit langsamen Schritten hin und her zu bewegen. Ich wich stur seinem Blick aus und starrte stattdessen in die Flammen des Lagerfeuers, was meinen glühenden Körper keineswegs abkühlte. Nie zuvor hatte ich mich so gefühlt. Die Wärme schien aus sämtlichen Ecken meines Körpers zu kommen und mündete an den Stellen zu einem großen Hitzeschwall, an denen mein Körper Lemalian berührte.

Die nächsten Lieder tanzten wir einfach so dahin und ich dachte wild darüber nach, wie ich mich aus den Fängen meines Tanzpartners befreien konnte. Gleichzeitig wich die brennende Hitze auf meiner Haut einer warmen Brise, die wie ein leichter Sommerwind darüber hinweg zog. Beängstigend musste ich feststellen, dass mir dieses Gefühl mit jeder weiteren Sekunde mehr zu gefallen schien. Doch das durfte es nicht und ich versuchte meine Hände loszureißen. Ohne Erfolg. Stattdessen ließ Lemalian meine rechte Hand los und hob mit seiner freien Hand mein Kinn an, damit ich ihn anschauen musste. Sein Gesichtsausdruck war ernst, was mich teils überraschte, wo er mich doch vorhin so blöd angegrinst hatte. Er führte mein Gesicht näher an seines und sein ebenfalls heißer Atem streifte über meine Haut. In seinen Augen lag eine unergründliche Dunkelheit, die mich schaudern ließ, aus Angst, man könnte sich in ihr verlieren.

»König Aldrin erwartet dich. Heute Nacht um zwölf bei den Seesternhöhlen. Alleine.« Mit dem nächsten Ton hatte er sich von mir gelöst und war verschwunden. Die Kälte umfing mich mit einer solchen Plötzlichkeit, dass ich mir fröstelnd die Arme strich und verdattert in die Schwärze der Nacht starrte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.04.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die Sonne, die mich zum Lachen bringt, wenn sie mir mit ihren wärmenden Strahlen über das Gesicht kitzelt.

Nächste Seite
Seite 1 /