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Prolog

»Anmutig liegt eine Stadt an eines Baches Rand,
Umschattet von Gebüsch, umtönt von Nachtigallen.
Es wird von Hexen oft ein Paradies genannt,
wenn sie vergnügt in ihren Fluren wallen.
Wie aber im verlorenen Paradies
Die weise Schlange List und Trug bewies,
So wollt' ein solches Biest in jenem neuen Eden
Die Mägdlein auch zu Sünden überreden.
Sie zeigte sich in längst verjährter Tracht
Als böse, dürre Frau in schon ergrautem Alter,
Und pochte stark auf ihres Amtes Macht«

(von mir geändert, Originalversion- August Friedrich Langbein)

Kapitel 1

»Autsch!«, fluchte ich und starrte die Blutstropfen an, die aus meinem linken Zeigefinger sickerten. Diese verdammte Cornflakes-Packung wollte es mir heute einfach nicht leicht machen. Ich lief auf die weiße Küchenzeile zu und kramte in einer Schublade nach einem Stück Pflaster. Meine Mutter hielt es leider nicht so gut mit der Ordnung und ich fand die zerknitterte Verpackung erst unter einer Dose mit Teebeuteln, deren intensiver Geruch sich sofort im ganzen Raum verbreitete.

»Was machst du denn da?«, fragte mich mein Bruder Yorick und deutete auf meinen verletzten Finger. Ich schnitt ihm eine Grimasse und versuchte so den stechenden Schmerz zu unterdrücken, der sich mittlerweile in meiner gesamten Hand ausgebreitet hatte.

»Ich hab' mir nur in den Finger geschnitten.«

»Oh! Soll ich einen Notarzt holen?«, erwiderte er und ich schlug mit aller Kraft die Schublade zu. Schnell verarztete ich mir die Wunde selbst und kam doch noch zu dem Genuss eines morgendlichen Frühstücks. Mein Bruder hatte inzwischen das Interesse an mir verloren und sich ganz seiner Comic-Zeichnerei zugewandt. Ein Hobby, was er schon sein ganzes Leben verfolgte. Selbst während des Unterrichts an der South Wyalong-Highschool legte er den Stift nicht beiseite und hatte sich das ein oder andere Mal eine Stunde Nachsitzen aufgebrummt. Er war mit seinen fünfzehn Jahren drei Jahre jünger als ich. Äußerlich ähnelten wir uns kaum. Yorick hatte braune Haare und braune Augen. Ich hingegen hatte lange, rote Haare und graue Augen. Wir wohnten zusammen mit unserer Mutter in einem kleinen Haus in South Wyalong. Dieser kleine, von der Außenwelt fast abgeschnittene Ort, lag inmitten des australischen Bundesstaates New South Wales. Wenigstens das Wetter spielte die meiste Zeit des Jahres mit. Kaum Regen, milde Winter und viel Sonnenschein. Mit meinen roten Haaren brachten mir die zahlreichen Sonnenstunden jedoch nichts. Aber was soll's, ein Besuch im Solarium konnte mir auch nicht helfen.

»Morgen ihr beiden!« Meine Mutter hatte die Küche betreten und schob gerade zwei Hälften Weißbrot in den Toaster. Ihre graublonden Haare hatte sie zu einem einfachen Knoten gedreht, aus dem sich die Hälfte schon wieder gelöst hatte. Auch in Punkto Styling ähnelte sie mehr meinem Bruder, als einer erwachsenen Frau. Er trug karierte Hemden oder einfache T-Shirts und sie karierte Blusen. Ich war das einzige Familienmitglied, das einen Sinn für Mode hatte. Daher betrachtete ich mich auch kritisch im Spiegel, der direkt neben der Eingangstür unseres Flures an der Wand hing. Mir blickten eine dünne spitze Nase, gerade weiße Zähne und hervorstehende Wangenknochen entgegen. Mit meinem Aussehen hatte ich es eigentlich ganz gut getroffen.

***

Zufrieden verließ ich das kleine Holzhaus, schnappte mir mein Fahrrad und machte mich immer den langen Sandwegen folgend, auf zur High-School. Dort besuchte ich die zwölfte Klasse und wollte später in die Hotelbranche einsteigen. Mein Traum war es an der Ostküste zu arbeiten. Sydney klang ganz verlockend und versprach wesentlich mehr Abwechslung als sie hier vorzufinden war. Kurz bevor der schlichte Flachbau in Sicht kam, trat ich noch einmal ordentlich in die Pedale, um den steilen Anstieg gekonnt zu bewältigen. Etwas aus der Puste, verwahrte ich meinen Drahtesel sicher an einem Zaun. Ein Blick auf die vielen anderen Zweiräder sagte mir, dass ich mal wieder ziemlich spät dran war. Ich eilte an den Schülerscharen vorbei, die sich auf dem kleinen Platz vor dem Eingang tummelten. An den Spinds wartete bereits meine beste Freundin Gillian McDude auf mich.

»Da bist du ja endlich, Candice.«

»Ich hab versucht heute etwas früher aufzubrechen«, brachte ich immer noch sichtlich außer Atem zu Stande. Doch Gillian ließ mir keine Zeit für eine lange Verschnaufpause:

»Hast du die Flyer vom Wettbewerb zur Miss-Wyalong-Wahl gesehen? Die Bewerbungsfrist ist erst am Donnerstag zu Ende.«

»Ja und? Was willst du mir damit sagen? Das ich noch Zeit habe, mich in die Liste einzutragen?« Gillian konnte es einfach nicht lassen. Da sie mit ihren kurzen braunen Haaren, ihren großen Ohren und der kleinen Statur nicht den gesuchten Idealen entsprach, versuchte sie mich jedes Jahr zu überreden an dem Wettbewerb teilzunehmen.

»Candice Ferii. Du bist die Schönheit der ganzen Schule, alle Typen drehen sich nach dir um, wenn du die Gänge entlang stolzierst. Wer nicht wenn du, hätte die Chance auf den Titel?«

»Das ist mir alles zu viel Stress und jetzt komm'! Die Stunde fängt gleich an.« Genervt packte ich meine Freundin am Arm und holte mit der anderen Hand die Bücher aus meinem Schließfach. Mein Finger signalisierte mir, dass es ihm noch nicht wesentlich besser ging. Also biss ich die Zähne zusammen und betrat unseren Klassenraum. Rechnungswesen stand gleich als erstes auf dem Plan. Eines der Fächer, das nicht zu meinen Stärken zählte. Doch bevor der Unterricht überhaupt begann, wurde uns eine neue Mitschülerin vorgestellt.

»Fine Martin wird ab heute Teil unserer Klasse sein. Ich hoffe, ihr werdet sie mit offenen Armen empfangen, sodass sie sich schnell hier einleben kann.« Das Mädchen lächelte schüchtern und begab sich auf einen Platz in der hintersten Reihe. Als sie jedoch an mir vorbeiging, hatte ich den Eindruck, dass sie mich einige Sekunden länger anstarrte als den restlichen Teil der Klasse.

»Die sieht irgendwie unheimlich aus«, raunte Gillian mir zu. »Und hast du bemerkt, wie sie dich angeglotzt hat?« Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken und ich beschloss, mich für den Rest der Stunde nicht mehr nach hinten umzudrehen.

»Sie rennt uns die ganze Zeit hinter her, selbst als wir auf dem Klo waren, ist sie uns gefolgt. Wie eine Psychopatin«, flüsterte Gillian mir zu und machte große Augen. Auch ich spürte die ganze Zeit einen Schatten im Rücken, wagte es aber nicht, mich umzudrehen. Was war das für eine Neue? Und wieso verursachte sie solch ein Unbehagen bei uns? Draußen auf der riesigen Rasenfläche, die sich hinter dem Gebäude erstreckte, hatten wir endlich einen größeren Vorsprung auf unsere Verfolgerin aufgebaut und bogen unbemerkt Richtung Sporthalle ab.

»Candice. Gillian. Freut mich, dass ihr auch endlich eingetroffen seid«, begrüßte uns Mrs. Bellingham. Sie war die Leiterin des Cheerleader-Vereins und für ihre Strenge bekannt. »Zieht euch schnell um und dann geht es ab, draußen eine Runde entlang der Footballfelder laufen!« Ich stöhnte und schlenderte in eine der vielen Umkleidekabinen. Ich quetschte mich in die engen Hotpants und stülpte mir ein Top, in den Farben pink-weiß, die unser Schullogo zierten, über. Wieder auf dem offenen Gelände hießen uns die warmen Sonnenstrahlen willkommen. Es war Frühlingsanfang und so waren die Temperaturen noch ganz erträglich. Gillian und ich starteten unter kritischer Beobachtung von Mrs. Bellingham unsere Runden. Ich lief schnell und zu eifrig los. Als Strafe bekam ich in der dritten Runde heftige Seitenstiche und musste mein Tempo verlangsamen. Bevor sich Gillian auf und davon machte, drehte sie sich noch einmal zu mir um.

»Guck mal, wer da schon wieder steht?« Ich erstarrte und entdeckte rechts im Gebüsch vor uns die Gestalt von Fine Martin. Sie fixierte mich mit ihren schlitzartigen Augen und schob dabei ihr spitzes Kinn vor. Ihre helle bleiche Haut glitzerte im Sonnenschein und blendete meine Sicht. Verärgert wollte ich noch einmal an Tempo zu legen, um an ihr vorbei zu spurten.

»Bist du Candice Ferii?« Eine glockenhohe Stimme hatte mich angesprochen und ich brauchte mich nicht mal zur Seite drehen, es war die Stimme von Fine.

»Ja, das bin ich. Was willst du von mir und warum verfolgst du uns schon den ganzen Tag lang?«, wollte ich wissen und blieb stehen.

»Dacht ich's mir doch. Die Beschreibung trifft ganz auf dich zu.« Sie verzerrte ihre Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. Welche Beschreibung verdammt noch mal, sie sollte mich endlich in Ruhe lassen. Leider folgte sie meinen Gedanken nicht. »Sie erwarten dich.« Mit diesen drei Worten drehte sich Fine um und verschwand zwischen den dichten Zweigen.

»Soll das hier ein Witz sein!?«, rief ich ihr verärgert hinterher, doch Fine war bereits verschwunden. Völlig erschöpft von den vielen neuen Übungen, die uns heute aufgezwungen wurden, machte ich mich am späten Nachmittag endlich auf den Weg nach Hause. »Wenigstens geht es jetzt bergab«, murmelte ich und ließ meine Beine von den Pedalen. Der kühle Fahrtwind streifte angenehm meine Haut und ich genoss das Gefühl der Freiheit. Plötzlich huschte etwas aus dem Straßengraben und bewegte sich auf die Straßenmitte zu. Ich versuchte den Lenker zur Seite zu reißen, kam dabei etwas ins Schlingern und erkannte den Übeltäter. Eine kleine Schlange. So schnell sie gekommen war, so schnell war sie wieder verschwunden. Nicht mal ihre Farbe konnte ich mir merken.

***

Zu Hause erledigte ich in Windeseile meine Hausaufgaben und summte dabei zu meiner Lieblingssängerin Pink. »I'm trouble .Yeah trouble now
I'm trouble, ya'll, I disturb my
town .« Diese Zeilen beschrieben genau die Gedanken, die ich mir über das seltsame Verhalten von Fine machte. Sie hatte etwas Geheimnisvolles an sich, etwas Fremdes, was nicht hier her gehörte.

»Candice!!!«, rief Yorick von nebenan. Genervt stand ich von meinem Bett auf, welches in der Mitte meines kleinen Raumes stand. Die Retro-Tapeten im 60's Style bildeten die Basis für das Farbkonzept meines Zimmers. Kräftiges Pink und Orange sorgten für eine fröhliche Stimmung, von der ich sofort gute Laune bekam.

»Was gibt's' denn so Wichtiges?«

»Mama will, dass du ihre Kräuter gießt.« Ich verdrehte die Augen. Enna Ferii, begnadete drei-Sterne-Köchin und Gewürzspezialistin, hatte unseren Garten in ein wahres Kräuterreich verwandelt. Ich schnappte mir eine einfache Blechgießkanne und steuerte das Basilikumbeet an. In Australien schossen schon zu Beginn des Frühlings die Keimlinge in die Höhe, um sich von der Sonne wärmen zu lassen. Leider vergaßen sie dabei aber, dass sie dadurch austrockneten. Und so kam ich ins Spiel und rettete ihnen mit ein paar Tropfen Wasser das Leben. Ich zupfte gerade einen Stängel Unkraut aus dem ausgedörrten Erdboden, als ich eine Bewegung vernahm. Wollte Yorick mir wieder einen seiner Streiche spielen? Doch anstatt meines Bruders, hatte ich zum zweiten Mal an diesem Tag die Begegnung mit einer Schlange. In unserem Land keine Seltenheit. Diese war ein besonders schönes Exemplar und thronte auf einem der Zaunpfosten, die unser Grundstück vor ungebetenen Gästen schützten. Langsam glitt der schlanke Körper das Holzstück nach unten herab und schlängelte sich an den ersten Basilikumstängeln vorbei. Sie starrte mich ebenfalls mit einem intensiven Blick aus türkisfarbenen Augen an, ganz so als wollte sie mir etwas sagen.

***

Durch das harte Training war ich sehr müde und schlüpfte bereits kurz nach zehn unter meine Kuschelbettdecke. Ich brauchte sehr lange zum Einschlafen und starrte an die Decke. Eine Methode, die mich meistens noch müder machte und mich endlich schlafen ließ. Doch mir gingen Fine und ihr Verhalten einfach nicht aus dem Kopf.

Kapitel 2

Gewitterwolken zogen über den schwarzen Himmel, getrieben von starken Windböen. Bei jedem Blitz zuckte ich zusammen. Meine Augen waren nur halb geöffnet und ich konnte unweit von mir mehrere Gestalten ausmachen. Sie hatten mich umstellt, in einem Kreis eingeschlossen, aus dem es kein Entrinnen gab.

»Kann der Kreis geöffnet sein, noch ungebrochen. Möge die Liebe der Göttin jemals in deinem Herzen sein. Fröhlich zu erfüllen, fröhlich zu teilen und fröhlich wiederzutreffen.« Diese Worte ließen mich schweißgebadet hochschrecken.

***

Ich war wieder in meinem Zimmer, mein Wecker tickte leise vor sich hin und die Zeiger sagten mir, dass es schon früher Morgen war. Was wollten diese Leute von mir? Der Traum schien so real gewesen zu sein, fast konnte ich den Chor aus den unheimlichen Stimmen noch hören. An Einschlafen war jetzt nicht mehr zu denken und so machte ich mich früher als gewohnt auf ins Badezimmer. Es herrschte Stille im Haus. Im Spiegelbild schauten mich dunkle Augenringe an. Ich musste meinen mangelnden Schlaf unbedingt mit einem Concealer abdecken. Gillian würde mich damit aufziehen, wie ein Zombie rumzulaufen. Schnell tupfte ich mir die Abdeckcreme unter die Augen und wollte mich gerade nach meinen Klamotten bücken, als ich im Augenwinkel sah, wie etwas auf meinem Rücken aufblitzte. Verwirrt drehte ich mich noch einmal zurück. Der Körper einer türkisfarbenen Schlange hatte sich von meinem Nacken bis zum untersten Wirbel auf meinem Rücken ausgebreitet und lag wie ein Tattoo auf meiner Haut. Erschrocken unterdrückte ich einen Aufschrei, als ich Schritte auf der Treppe wahrnahm. Was hatte das alles zu bedeuten? Gestern erst diese komischen Begegnungen und heute hatte ich das Viech auf meinem Rücken. »Candice! Du bildest dir das doch bestimmt nur ein«, schalt ich mich. Doch bevor ich mir noch weiter den Kopf zerbrechen konnte, klopfte es an der Tür.

»Candice! Bist du das?« Es war die Stimme meiner Mutter. Ich griff nach einem Pullover und stülpte ihn über den Kopf. Die Tür öffnete sich und meine Mutter guckte verschlafen um die Ecke. »Was machst du denn schon so früh auf den Beinen?«

»Äh«, begann ich stotternd. »Ich äh, muss noch etwas für die Schule machen.« Ärgerlich biss ich mir auf die Lippe. Diese Lüge würde meine Mutter doch nie glauben. Bevor sie etwas erwidern konnte, schlüpfte ich aus dem Bad. In meinem Zimmer griff ich nach meiner Schultasche und stürmte aus der Haustür.

***

Da Gillian noch nicht anwesend war, steuerte ich auf das menschenleere Mädchenklo zu. Ich tastete mit der Hand den gesamten Rücken ab und versuchte meinen Körper so zu verdrehen, dass ich das Tattoo deutlich im Spiegel sehen konnte. Meine Finger streiften eine kühle schuppige Haut. Es war wirklich da! Doch wie kam es dahin? Gelächter war zu hören und die Türklinke senkte sich nach unten. Schnell zog ich die Hand wieder unter dem Pullover hervor und begab mich zu unserem Klassenraum.

Dort setzte ich mich auf meinen Platz und las noch einmal den englischen Text durch, den wir als Hausaugabe aufhatten. Auf einmal spürte ich ein unangenehmes Kitzeln im Rücken und zog die Schultern nach oben. Es schien als würde das Reptil auf meinem Rücken hin und her kriechen. Meine Finger wurden feucht und ich wusste nicht was ich tun sollte. Was ging mit mir vor und wie wurde ich die Schlange wieder los? Keiner würde mir auch nur eine Silbe glauben, wenn ich sagen würde, dass das Bild eines Reptils aus dem Nichts auf meinem Rücken aufgetaucht war und sich zusätzlich noch hin und her bewegte.

»Du bist vor mir da?« Gillian hatte sich neben mir niedergelassen.

»Mhm«, brachte ich zu Stande und bemerkte, dass sich die Schlange weiterhin fortbewegte.

»Stress zu Hause? Du siehst irgendwie unglücklich aus.« Besorgt schaute Gillian mir in die Augen. Ich konnte gerade so verhindern alles auszuplaudern.

»Mein Bruder macht Stress.« Inständig entschuldigte ich mich bei Yorick, der schon so manches Mal für meine Ausreden herhalten musste.

»Um den Streit zu vergessen, wäre doch die Miss-Wahl die perfekte Gelegenheit.«

»Nein! Auf keinen Fall!«, platzte ich heraus. »Nur weil du keine Chance hast, muss ich nicht für dich hinhalten!« Ich wusste zwar, dass diese Worte meine Freundin verletzten würden, aber so hatte ich Ruhe vor ihr. Nach einem Streit redete sie üblicherweise einen ganzen Tag lang nicht mit mir, nur um am nächsten Morgen reumütig bei mir angekrochen zu kommen. Dieses Mal musste ich diesen Part übernehmen. Fine war heute nicht erschienen und ich konnte ungehindert auf dem ganzen Schulgelände ein und aus gehen. In der Mittagspause schloss ich mich der Truppe um den Quarterback Tyrone an. Die ganzen Mädchen hatten nur Augen für ihn und ich konnte unbemerkt dabei sitzen ohne etwas zu sagen. Das dachte ich jedenfalls.

»Wieso trägst du heute einen Pulli?«, fragte mich Isalie, die größte Zicke unserer Schule und auffälligste Anbeterin von Tyrone.

»Mir ist kalt, ich glaub' ich werde krank«, gab ich ebenso bissig zurück.

»Yo Leute, lass ma den Rest des Tages draußen chillen«, forderte Tyrone seine Gruppe auf und ohne jeglichen Widerstand ließen mich seine Anhänger am Tisch zurück. Ohne Gillian fühlte ich mich einsam, aber ich konnte einfach nicht über diese merkwürdigen Dinge mit ihr reden. Etwas hielt mich davon ab und glauben würde mir sowieso keiner.

***

So entschuldigte ich mich für den restlichen Unterricht und kam frühzeitig zu Hause an. In der Küche kochte ich eine kleine Dosensuppe in der Mikrowelle. Auch wenn meine Mutter von Beruf Köchin war, so hielt sie es daheim jedoch einfach. Die Wiederholung von der gestrigen Folge Gossip Girl lief auf FOX8.

»Was machst du denn schon hier?«, unterbrach Yorick das Streitgespräch von Blair und Serena.

»Mir ging's nicht gut.«

»Aha, meine Schwester macht blau.« Yorick lachte und beschmiss mich mit einem braun-weiß gestreiften Sofakissen.

»Lass das!«, bluffte ich ihn an und verfolgte wieder das Leben auf der Upper East Side.

Mit seinen muskulösen Armen, die er sich beim Rugby angelegt hatte, stützte er sich von der Sofalehne und ging in sein Zimmer. Ich seufzte. Musste ich es mir heute denn mit allen verscherzen? Laute Metal Musik dröhnte aus der oberen Etage. Mein Bruder war schon immer ein Einzelgänger gewesen, weshalb er fast nie Besuch bekam. Mühselig machte ich mich auch auf den Weg nach oben. Das Tier auf meiner Haut hatte sich beruhigt und bewegte sich kaum noch. Trotzdem wollte ich wissen, was mit mir los war. Auf meinem MacBook suchte ich nach »Sich fortbewegende Schlange auf Menschenrücken«, erzielte aber kaum Treffer. Es gab nur Bilder von gewöhnlichen Tattoos, was meines sicher nicht war.

»Verflucht!«, schrie ich und drückte meine Fingerspitzen ein bisschen fester in die Tastatur. Es gab anscheinend niemanden mit dem gleichen Problem. Nicht in Australien. Nicht in der restlichen Welt. Und im Weltall sicherlich auch nicht. War es vielleicht eine Krankheit? Kritisch begutachtete ich mich noch einmal im Spiegel. Doch eine Hautkrankheit, die ein bewegliches Schlangentattoo hinterließ, hielt ich für ausgeschlossen.

***

Während meiner weiteren Recherche bemerkte ich nicht, wie schnell die Stunden vergingen, bis mich meine Mutter mit Hühncheneintopf in Pilzsoße nach unten lockte. Yorick war immer noch ein bisschen angefressen und dementsprechend wortkarg. Zu dritt hatten wir am großen weißen Holztisch Platz genommen und meine Mutter holte einfache Porzellanteller aus der Glasvitrine.

»Wie war die Schule?«, wollte sie wissen.

»War Scheiße«, antworteten Yorick und ich gleichzeitig. Wir fingen an zu lachen und der Streit von vorhin war vergessen.

»Ein Problem weniger«, dachte ich, als ich mich später zu Bett legte.

Auch dieses Mal fiel es mir schwer, einzuschlafen. Das Bellen eines Hundes riss mich gegen Mitternacht aus dem Schlaf. Um aus dem Fenster zu gucken, ob der Nachbarshund mal wieder ausgerissen war, stand ich auf. Ehe ich das Fenster erreichen konnte, hielt ich wie versteinert vor dem Spiegel inne. Aus meinen Augen leuchtete ein intensives türkises Licht, das das gesamte Zimmer in eine mystische Atmosphäre tauchte. Ich schrie auf und rannte die Treppen runter nach draußen. Hatte ich jetzt auch noch eine Augenkrankheit? Langsam begann ich zu zweifeln, ob das alles noch Teil der Realität sein konnte. An etwas wie Magie oder Übernatürliches hatte ich bisher nicht wirklich geglaubt, aber im Moment schien es die einzig mögliche Lösung zu sein.

***

Die angenehme Luft ließ meinen Kopf wieder etwas kühler werden. Die vielen Kieselsteine piekten unter meinen Füßen, während ich nach hinten in den Garten ging. Ich setzte mich an den kleinen Teich, dessen leichtes Plätschern meine Nerven beruhigte. Auf dem Weg zurück ins Haus, erkannte ich einen dunklen Schatten am gusseisernen Eingangstor. Ich trat näher und ein violettes Leuchten blitzte in der Ferne auf.

»Hallo Candice.« Fine trat direkt an das Tor heran. Sie war wohl der Übeltäter für den Aufruhr des Hundes gewesen. Fine hatte den Kopf gesenkt, hob ihn jetzt aber wieder an und ich starrte erschrocken in ihre Pupillen. Eine lilafarbene Iris hatte sich darum gebildet.

»Was willst du hier?«, fuhr ich sie an und wollte umdrehen.

»Du bist eine Schattenschwinge, Candice. Tarmania wartet auf dich.«

»Du bist doch völlig...«, wollte ich erwidern, doch sie unterbrach mich mit einem zischenden »Pst.«

»Wir müssen uns beeilen, wenn wir vor Ausbruch des Krieges da sein wollen. Du bist die Einzige, die ihn verhindern oder die gute Seite siegen lassen kann.«

»Ich? Krieg? Wovon redest du da? Du gehörst eindeutig in die Klapse!«

Ohne auf meine Vorwürfe einzugehen, machte Fine einen Schritt auf mich zu. Das grelle, violette Licht, welches von ihr ausging, brannte in meinen Augen.

»Du wolltest dich ja nicht kooperativ zeigen, also machen wir das Ganze jetzt auf meine Weise.« Sie legte mir ihre eiskalte Hand unters Kinn, die Farbe ihrer Pupillen schien sich aufzulösen. Das letzte was ich spürte, waren meine nachgebenden Beine, die auf dem Kies zusammensackten, ehe ich in tiefer, schwarzer Dunkelheit versank.

***

»Krkkkrrk.« Das Krächzen irgendwelcher Vögel riss mich aus meiner Bewusstlosigkeit. Suchend blickte ich mich um und stellte fest, dass ich mich auf einem Boot inmitten des weiten Meeres befand. Die krächzenden Vögel hatten sich als Seemöwen entpuppt. In weiter Ferne konnte ich die Lichter einer Stadt am Rande des Ufers ausmachen.

»Wo war ich und was war verdammt noch mal mit mir passiert?!«

Langsam kamen meine Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück und ich wusste jetzt auch, wer die zweite Person in dem kleinen Boot war.

»Fine, wieso sind wir auf dem Wasser? Wo willst du mit mir hin?«, fragte ich sie. Ich bekam Schweigen als Antwort. So leicht ließ ich mich nicht unterkriegen und versuchte auf dem glitschigen Boden vorwärts zu kommen. Irgendwie bewegt ich mich keinen Zentimeter, egal wie viel Kraft ich aufwendete. Ein Blick nach unten zeigte mir meinen rechten Fuß, um den eine Fessel geschlungen war. Das abgenutzte Seil ließ schreckliche Bilder in mir hochkommen. »Hatte Fine mich etwa entführt? Aber warum, meine Mutter war doch keine Millionärin.« Erst da fiel mir ein, dass Fine irgendetwas von einem Krieg gefaselt hatte, was die Sache umso verwirrender machte.

Das Boot wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Mitten auf dem Wasser, was sollte hier schon sein? Das zweite Atlantis vielleicht? Das wäre sogar ein ideales Versteck, denn niemand würde auf die Idee kommen, mich hier zu suchen.

Ehe ich meine Gedanken zu Ende denken konnte, erschien ein riesiger Regenbogen vor uns. Das Leuchten war so stark, dass sich die Wellen des Meeres in dessen Farben widerspiegelten. Nach links hin bestand er nur aus zwei Farben, violett und schwarz. Auf der rechten Seite hingegen versprühte der Bogen alle nur erdenklichen Farbtöne. Fine setzte das Boot wieder in Bewegung und wir glitten, wie durch ein riesiges Tor unter der Mitte hindurch. Das Licht verschwand abrupt und dunkle, violette Wolken verhingen den Himmel. Ich schaute zurück, doch der Regenbogen war ebenso verschwunden, wie die Stadtlichter, die ich vom Boot aus gesehen hatte.

Kapitel 3

Fine hatte ihre Stimme immer noch nicht wiedergefunden und wir näherten uns mit jedem Ruderschlag der Küste. Mit jedem Schlag vergrößerte sich auch meine Panik.

»Hoffentlich hatten Yorick und meine Mum mein Verschwinden schon bemerkt und alles in die Wege geleitet, um mich ausfindig zu machen.«

Von weitem waren gewaltige Baumkronen zu erkennen, die hoch in den Himmel hinauf ragten. In der fortschreitenden Dämmerung kam ein riesiger, roter Feuerball zum Vorschein. Er schien noch viel intensiver, als die australische Sonne vom Himmel zu stechen. So etwas Derartiges hatte ich noch nie gesehen.

»Wir werden gleich anlegen. Also mach dich schon mal bereit.«

»Vorher könntest du mich mal bitte aufklären, warum du zu meiner Kidnapperin geworden bist. Und die Zusatzinfo, wo wir uns denn gerade befinden, hätte ich auch ganz gerne.«

»Früher oder später wirst du es ohnehin erfahren. Also gedulde dich gefälligst !« Nach dieser kurzen Konversation herrschte wieder Stillschweigen.

»Aaab...«, wollte ich ansetzten, verstummte aber, nachdem Fine und ihre gefährlichen Augen mir wieder näher gekommen waren.

Ich wandte mich ab, indem ich mich über die Bootskante beugte und beobachtete, wie sich die Sonne im Wasser spiegelte. Irgendetwas bewegte sich am Meeresgrund hin und her. Ich bückte mich noch tiefer hinunter, als mich eine Hand zurückriss. Es war Fine.

»Spinnst du!?In Tarmania darfst du dich niemals so weit übers Wasser lehnen!«

»Sorry, konnte ich doch nicht wissen. Und zur Übersetzung nochmal, was soll Tarmania sein? «,konterte ich und lehnte mich in die Bootsmitte zurück.

»Tarmania ist das Land, das dich braucht. Quasi der Grund warum ich dich hierher gebracht habe«, antwortete Fine.

»Danke, dass du endlich zugibst, dass du mich entführt hast. Gibt es denn irgendeine Möglichkeit für mich, wieder nach Hause zu kommen?«

»Natürlich gibt es die und die wirst du auch bekommen, wenn wir dich hier nicht mehr brauchen«, wurde ich angefaucht und gab es vorerst auf, weitere Informationen aus Fine zu quetschen.

Das Ufer kam näher und der Wind frischte auf. Mir fiel ein, dass ich immer noch mein Nachthemd trug und hoffte, dass Fine etwas Wärmeres hatte, das ich mir anziehen konnte. Ich seufzte und erschrak.

Eine bleiche Hand hatte sich an die Bootskante gekrallt.

»Fffiine, was ist das?« Doch ehe meine Entführerin antworten konnte, erschien eine zweite Hand. Nach und nach kamen noch zwei Arme hinzu und schließlich blickte ich in das Gesicht einer jungen Frau. Ihre Haare waren mit tausenden Perlen bestickt, die um die Wette glitzerten. Sie hatte die gleiche Augenfarbe wie Fine, was mich noch unruhiger machte.

»Hallo, Candice«, zischte sie und offenbarte eine Reihe spitzer Zähne. Das Wasser platschte und hinter ihrem Kopf kam eine riesige Schwanzflosse zum Vorschein. Doch keine gewöhnliche, wie ich feststellte. Von der Gabelung zweigten jeweils krebsartige Scheren ab. Sie ließ ihre Flosse ins Wasser fallen und die vielen Wassertropfen durchnässten mein Haar und mein dünnes Kleid.

»Königin Parry heißt dich herzlich willkommen.« Ein helles Lachen drang aus ihrer Kehle und mit einer kunstvollen Umdrehung schwamm sie in den Tiefen des Meeres davon. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und begann heftig zu zittern. Was wollte dieses fremdartige Wesen von mir und wie hatte es von meiner Ankunft erfahren? Alles kam mir wie ein böser Alptraum vor.

»Die da.« Fine zeigte an die Stelle, wo vor wenigen Minuten noch die Nixe oder Elfe, ich konnte nicht genau sagen, was es war, gesprochen hatte. »Sind harmlos, solange du tust, was sie dir sagen.«

»Das beruhigt mich jetzt ungemein«, entgegnete ich und erntete einen vernichtenden Blick. Womöglich gab es hier noch viel gefährlichere Kreaturen, doch das wollte ich mir im Moment nicht ausmalen. Der dunkle Sand tauchte vor unserer Nase auf und Fine brachte das Boot gekonnt zum Stehen. Sie löste meine Fesseln und watete mit mir aus dem kalten Wasser. Ich schlang mir die Arme um den Oberkörper, denn trotz des riesigen Feuerballs war es hier nicht annähernd so warm, wie in meiner Heimat.

***

Aus dem dichten Gestrüpp tauchten zwei Pferdeköpfe auf. Auf ihren gesamten Körpern befanden sich Schuppen, die mich wieder an die unangenehme Begegnung von vorhin erinnerten. Im Sattel eines der Tiere saß ein Mann. Er kam direkt auf uns zugeritten und zeigte ein übertriebenes Grinsen.

»Gespielter geht es nicht«, ging mir durch den Kopf und ich fragte mich, ob es auch nette Wesen in Tarmania gab.

»Guten Morgen ihr zwei. Angenehme Reise gehabt?«, fragte der Reiter und rückte seine schwarze Nerd Brille zurecht. Ein Sonnenstrahl traf auf sein Gesicht und ich konnte seine unreine Haut und eine große Knollennase erkennen. Was wollte der von uns?

»Du brauchst erst gar nicht versuchen nett zu sein, Delian. Meinen Auftrag habe ich erfüllt. Sie ist hier.« Fine guckte zu mir und dann wieder zu Delian.

»Dann lass' uns keine Zeit verlieren. Spätestens in vier Tagen müssen wir den Stadtrand von Deloraine erreichen. Je schneller wir den Wald von Beaumaris durchqueren, desto besser.«

»O.K. Ich habe jetzt lange genug meinen Mund gehalten. Was immer ihr vorhabt, lasst mich aus dem Spiel!«

»Oh, da scheint ja jemand äußerst schlechte Laune zu haben.« Die Brillenschlange grinste mich hämisch an.

»Ich will jetzt hier weg und zwar sofort! Ich werde die Sache auch ganz diskret behandeln und kein Sterbenswörtchen sagen. Vergessen wir den Vorfall. Ihr braucht nicht zu streiten und ich habe meine Ruhe«, versuchte ich zu verhandeln.

Ohne Erfolg, denn neben beiden Fußfesseln, wurden jetzt auch meine Handgelenke verknotet.

»Hier!« Dieser Delian warf einen Lederrucksack in unsere Richtung, der sein Ziel etwas verfehlte und im feuchten Gras landete.

»Hilf ihr beim Umziehen und dann reiten wir los!« Der Mann war mir irgendwie unsympathisch.

Fine zerrte mich mit sich und wir verkrochen uns im Gebüsch. Umständlich stülpte sie mir eine weiße Bluse mit riesigen Trompetenärmeln über, die dank meiner Handfesseln schlaff an mir herunterhingen.

»Eine kurze Zwischenfrage hätte ich noch«, setzte ich an und war erstaunt, nicht unterbrochen zu werden. »Ich weiß nicht, ob das nur ein Traum war, aber ich habe gestern eine Art Schlangentattoo auf meinem Rücken entdeckt. Gehört das zu dieser verrückten Sache dazu und hast du auch so ein Ding?«

»Ja, habe ich. Aber jetzt ist Schluss! Du stellst zu viele Fragen.«

»Immer dieselben Ausreden.«

Ehe ich fortfahren konnte, packte mich Fine am Arm und hielt mich so lange fest, bis mir vor Schmerz Tränen in die Augen stiegen. Ich biss die Zähne zusammen und musste mir eingestehen, dass ich nicht mehr aus ihr heraus bekommen würde. Der Griff lockerte sich.

Die Fußfesseln löste sie kurz und ich bekam zusätzlich eine dunkelblaue Reiterhose und schwarze Stiefel angezogen. Ich fühlte mich wie auf einem kitschigen Kostümball.

»Das hätten wir auch leichter haben können«, sagte ich und nickte in Richtung meiner zusammengebundenen Gelenke. Natürlich bekam ich keine Antwort und wurde wieder aus dem Gestrüpp geschleift.

»Du wirst zusammen mit Candice auf Philine reiten, die ist nicht so anspruchsvoll.« Delian reichte Fine die Zügel und schwang sich selbst in den Sattel.

***

Er legte ein strenges Tempo vor, mit dem wir alle Mühe hatten mitzukommen. Die Pfade des dunklen Waldes waren sehr uneben und immer wieder mussten Fine und Delian an steilen Erhebungen und felsigen Abhängen absteigen. Eine Möglichkeit zur Flucht ergab sich für mich jedoch nicht. Mittlerweile suchte bestimmt eine ganze Polizeihorde vergeblich nach mir. Denn sie würden garantiert keinen Regenbogen finden, durch den sie nach Tarmania gelangen konnten. Diese Tatsache trieb mir die Tränen in die Augen.

In der Satteltasche, die am Pferd befestigt war, befanden sich eine Wasserflasche und ein paar Äpfel. Wie mit einer Babyflasche wurde ich mit Wasser versorgt, das ich gierig meinen vertrockneten Rachen herunterlaufen ließ.

Wir ritten den ganzen Tag durch, denn der Himmel wurde allmählich dunkler. Einige Male hatte Fine fast den Anschluss verloren, doch Philine schien zu spüren, auf welchem Weg ihr Gefährte voranritt. Keuchend und völlig außer Atem kamen wir in der Abenddämmerung auf einer kleinen Lichtung zum Stehen. Ich konnte meine Beine kaum spüren, die von den Seilen stundenlang abgeschnürt worden waren.

»Für die Nacht schlagen wir hier unser Lager auf«, sagte Delian. Mit einem spitzen Messer schnitt er einige Zweige der umliegenden Bäume ab. Währenddessen wurde ich an einen dicken Baumstamm gekettet und wieder einmal hatte ich keine Chance davonzukommen. Eine Flucht wäre sowieso aussichtslos, da ich keinen Plan hatte, aus Tarmania hinauszugelangen.

Fine entzündete zwischen ihren Händen ein kleines Feuer und ich bemerkte panisch, dass ihre Augen wieder leuchteten. Ein würziger Geruch wehte vom Feuer her und erinnerte meinen Magen daran, dass er dringend eine Stärkung brauchte. Sie köchelte eine Wildkräutersuppe mit Gänseblümchen, die besser schmeckte, als sie im Kochtopf ausgesehen hatte. Delian band zwei Strohmatten von seinem schwarzen Hengst los und verteilte sie um die Kochstelle.

»Ihr beiden.« Er deutete auf Fine und mich. »Werdet jetzt eine Schlafpause einlegen, während ich hier Wache halte. Achja Candice, du bleibst natürlich an deinem Platz.«

»Toll, wie sollte ich in dieser unbequemen Lage auch nur eine Minute schlafen können?«

Nach einer gefühlten Ewigkeit, überkam mich endlich ein Hauch von Müdigkeit. Die viele frische Luft hatte daran einen nicht ganz unbedeutenden Anteil gehabt.

***

Ich musste wirklich weggenickt sein, denn plötzlich drangen energische Stimmen zu mir.

»Ich hoffe, du hast ihr nicht zu viel erzählt und dich an Parry's Anweisungen gehalten. Das Ganze hat sowieso schon viel zu lange gedauert!« Delians eisige Stimme durchschnitt die Abendluft wie die silberne Klinge seines Messers.

»In der Menschenwelt muss man vorsichtig sein. Das habe ich gelernt und mich daran gehalten. Sie ist schließlich hier!«, zischte Fine und wedelte heftig mit ihren bleichen Armen.

»Delian und Fine hatten also einen Auftraggeber. Meine Situation wurde ja immer besser.«

Mein Arm begann unpassender Weise wie verrückt zu kribbeln. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Körper so verrenkt, war, sodass ich mit den Fingerspitzen fast den Boden erreichen konnte. Im Schein des immer noch lodernden Feuers erkannte ich einen spitzen Stein in der Nähe des Baumes.

»Jetzt oder nie!«, dachte ich euphorisch und streckte meine Glieder soweit aus, bis meine Fingerkuppen etwas raues und hartes spürten. Mit einer leichten Krümmung konnte ich den Stein zu mir heranziehen und ihn in meine Hand balancieren. Ungeschickt, wie ich war glitt mir mein Rettungsring gleich wieder aus den Händen und krachte scheppernd gegen den Kochtopf, der unweit von mir entfernt stand.

»Was wird das hier?« Delian hatte meinen Fluchtversuch bemerkt und bückte sich über mich. Dabei kam er mir so nahe, dass ich den holzigen Duft seiner Kleidung und das tiefe Schwarz seiner Augen sehen konnte. Ein Schaudern überlief mich und ich senkte den Blick. Mit einem kräftigen Ruck zog er an meiner Fessel.

Ich lehnte meinen Kopf erschöpft zurück und versuchte erneut einzuschlafen.

***

»Aufstehen, du Schlafmütze!« Fine rüttelte an meiner Schulter und riss mich unsanft aus dem Schlaf.

»Wir wollen aufbrechen!«, rief Delian und fuhr sich durch das zerzauste Haar.

Wenige Minuten später waren wir wieder unterwegs. Überall erstreckte sich der erbarmungslose Wald, ein Ende kam nicht in Sicht. Wir waren schon einige Kilometer geritten, als sich Philine plötzlich aufbäumte. Ich guckte mich um, konnte zuerst jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Delian und ich folgte seinem Blick nach oben. Mehrere Fußpaare schwangen sich aus den Höhen der Bäume und landeten direkt vor uns. Die Haut der Gestalten hatte eine baumrindenartige Struktur, auf denen sich Blättermuster in alle erdenklichen Richtungen ausbreiteten. Das Unheimlichste waren ihre Augen. Ein Nichts aus Weiß. Mein erster Impuls war zu fliehen, aber das konnte ich in meiner Lage vergessen.

Eine knisternde Anspannung lag in der Luft, die im nächsten Augenblick zu platzten drohte. Eines der Waldwesen offenbarte einen spitzen Dolch hinter seinem Rücken und stürzte sich auf Delian.

»Wir müssen hier weg! Los, beeilt euch!«, schrie letzterer uns an, wich dem Angreifer aus und stach ihm seine blanke Messerspitze ins Herz. Der Anblick des dickflüssigen Blutes, welches mich an Baumharz erinnerte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

In was waren wir da bloß hineingeraten? Eine weitere, noch beängstigendere Frage, kam in mir auf: »Würde ich das hier überstehen?«

Kapitel 4

Aus den Augenwinkeln sah ich immer mehr dieser Wesen auf uns zukommen. Als ein Pfeil dicht an meinem Kopf vorbeischoss, versuchte ich auszuweichen, verlor dabei das Gleichgewicht und krachte auf den Waldboden. Aus der Froschperspektive guckte ich mich um. Delian war mittlerweile in einen grausamen Kampf verwickelt und Fine hatte nur einen Gedanken gehabt, sich selbst zu retten. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass ich nicht mehr mit ihr auf dem Pferd saß. Hinter einer großen Staubwolke war sie verschwunden. Nur noch einzelne Blätter, die auf den Sandboden gefallen waren, zeugten von ihrer Flucht.

Ich spürte, wie sich die etlichen Augenpaare auf mich richteten. Delian schrie auf und rammte einer weiteren Person das Messer ins Herz. Anschließend versuchte er, einer anderen Gestalt, dessen Haupt ein großer Hut zierte, zu entkommen. Ich spürte einen Ruck hinter mir, als sich etwas in meinen Kragen krallte. Ein spitzer Schrei entfuhr meiner Kehle. Ehe dieser sich ausbreiten konnte, hatte sich eine warme Hand auf meinen Mund gelegt.

Verzweifelt versuchte ich mich aus dem Griff zu befreien und zappelte wie ein Fisch, der sich unverdrossen bemühte, vom Land wieder in das Wasser zurückzugelangen. Ich wurde weggeschleift und die vielen Äste der Bäume verhedderten sich unsanft in meinen roten Haaren.

»Ich seh' bestimmt aus wie ein Strauchdieb«, dachte ich bitter und mit einem letzten Anblick auf Delian, konnte ich dessen erneuten Angriff auf die Meute nur noch als Geräusch wahrnehmen.

»Wir müssen leise sein«, ertönte eine weiche Stimme neben mir. Meine Kidnapperin war also eine Frau, genauer genommen ein junges Mädchen, was ich auf höchstens 17 Jahre schätzte.

»Wer oder was bist du?«, fragte ich entsetzt.

»Ein Baumwesen«, wurde mir geantwortet. Jaja, ein Baumwesen. Es konnte gar nicht mehr schlimmer kommen.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, biss mir auf die Lippen, denn mein Instinkt sagte mir, dass von ihr keine Gefahr ausging.

In einer schwungvollen Bewegung wollte ich mich den nächst gelegenen Abhang hinunterrollen. Das Mädchen durschaute mein Vorhaben und hielt mich zurück. Dabei flüsterte sie mir ins Ohr: »Du brauchst keine Angst haben, ich will dir nur helfen.« Gleichzeitig schnitt sie meine Fesseln mit einem scharfen Messer durch.

Da die Aussicht weiterhin mit Delian und Fine durch den Wald zu jagen keineswegs besser war, gab ich mich vorerst geschlagen.

Widerstandslos ließ ich mich abführen und war mit jedem Schritt mehr erleichtert, mit dem wir die kämpfende Menge hinter uns gelassen hatten. So viel Brutalität und Kaltblütigkeit war mir bisher nur in Filmen begegnet.

***

Das dunkle Dickicht der Bäume lichtete sich und einige Holzhütten kamen in Sicht. Das Ganze erinnerte mich irgendwie an eines der Dörfer aus der Kolonialzeit. Damals hatten sich die Ureinwohner dem britischen Königreich unterzuordnen und lebten ebenfalls in solchen Unterkünften.

Wir steuerten auf ein Haus, das sich hinter meterhohen Wiesenmargeriten versteckte, zu. Als wir das Blütenmeer passierten, kam ein Bauerngarten zum Vorschein. Meine Mutter hätte sich hier sicher wohlgefühlt. Überall grünte und blühte es. Die Luft war vollgesogen von unterschiedlichsten Kräuterdüften wie Katzenminze, Petersilie und Salbei. Die blaue Haustür des Reetdachhauses öffnete sich und ein kleines Mädchen lächelte uns freundlich entgegen. Sie hielt ein braunes Häschen im Arm, das gierig an einer Karotte knabberte. Mir wurde warm ums Herz und ich hoffte, dass ich diesmal bei netteren Menschen gelandet war.

Die Kleine ähnelte mit ihrem schwarzen, langen Haar, den dunkelbraunen Augen und den Schmetterlingswimpern meiner Begleiterin. Vielleicht handelte es sich um Schwestern.

»Shanti, da bist du ja endlich, wir haben uns schon Sorgen gemacht«, kam es aus dem Haus und eine mittelalte Frau erschien im Türrahmen.

Meine Schritte gerieten ein bisschen ins Stocken, als ich die weißen Augen der Frau erkannte.

»Schnell, kommt bitte in das Haus!«, rief die Frau und guckte unsicher nach links und nach rechts.

Wir betraten einen dunklen Flur, in dem nur eine einzige Gaslampe für Beleuchtung sorgte. Wie die Haut dieser Leute, schien auch hier drinnen alles aus Holz zu bestehen. Am Ende des Ganges war ein heller Lichtstrahl zu erkennen, auf den wir uns zu bewegten. In dem kleinen Wohnzimmer prasselte das Feuer eines Kamins. An der hinteren Wand hingen unzählige Bilder, die alle möglichen Landschaften zierten. In der Mitte stand ein großer Wandschrank, der reich verzierte Teller beherbergte. Davor hatte es sich ein Huhn auf dem Fliesenboden gemütlich gemacht und pickte nach Brotkrümeln, die seine Besitzer während des Essen fallen gelassen hatten.

Shanti geleitete mich auf einen schmalen Holzstuhl.

»Entschuldigung für mein ruppiges Verhalten, aber irgendwie mussten wir dich aus den Fängen dieser Bleichgesichter befreien. Ich bin übrigens Shanti.« Sie reichte mir ihre zierliche Hand und ich war erstaunt, dass ich keine Rinde, sondern ganz normale Haut fühlte.

»Auch wenn wir aussehen, wie Bäume, so sind wir jedoch keine«, sagte sie und ich fing an zu lachen.

Die ganzen Ereignisse und merkwürdigen Dinge schienen alle auf einmal auf mich einzuprasseln. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, stellte auch ich mich vor. Unnötigerweise, denn auch hier wusste jeder meinen Namen.

»Candice, du gehörst den Schattenschwingen an. Ein mächtiger Stamm, der den Urvölkern unseres Landes angehört«, versuchte sie mir zu erklären.

Aus dem Flur waren Schritte auf dem Holzboden zu hören und einer der Krieger aus dem Wald erschien. Meine Muskeln spannten sich an, als ich den schwarzen Hut mit der großen Krempe wiedererkannte.

»Ich bin Aramis, Anführer der Beaumaris. Shanti ist meine Schwester.«

Der Name schien zu passen, denn er erinnerte mich an eines der drei Musketiere mit demselben Namen. Aramis nahm den Hut ab und offenbarte spitze Elfenohren. Langsam überraschte mich hier gar nichts mehr.

Er fuhr sich mit der Zunge über seinen Oberlippenbart und begann zu erzählen.

»Candice Ferii. Tarmania wartet seit Jahren auf dich. Leider war Königin Parry uns allen einen Schritt voraus und hat ihre Tochter Fine geschickt, um dich zu holen.«

»Stopp, Stopp! Bitte nicht so schnell. Da ich bisher nie eine Antwort auf meine Fragen bekommen habe, möchte ich jetzt etwas Licht ins Dunkel bringen.«

Aramis seufzte. »Okay, was möchtest du wissen?«

In meinem Kopf bereitete ich einen Fragenkatalog vor, dem sich dieser Aramis wohl oder übel stellen musste.

»Warum bin ich hier und aus welchem Grund hat Fine mich entführt?«

»Fine arbeitet im Auftrag von Königin Parry, sie versucht seit Jahren die Herrschaft über Tarmania an sich zu reißen. Du musst wissen, in Tarmania wird bald ein Krieg ausbrechen. Bisher konnte man das Schlimmste verhindern. Jedoch wird es nicht mehr lange dauern, bis sich Königin Parry und ihr Gegner König Kamran gegenseitig den Kopf einschlagen werden.«

»Was habe ich mit der ganzen Sache zu tun?«, fuhr ich fort.

»Als Schattenschwinge bist du eine der wenigen, die dem ein Ende setzten kann. Beide wollen dich auf ihrer Seite und Parry war mal wieder die Schnellere.«

»Moment, Sie reden die ganze Zeit von einer Schattenschwinge. Was soll das genau sein?«

»Eine Schattenschwinge ist eine Schlangenart. Natürlich bist du keine, aber du gehörst dem Stamm an, der von einer Schattenschwinge repräsentiert wird. Legenden zu Folge eine der mächtigsten Schlangenarten in unserem Reich.«

Langsam begann ich einige Zusammenhänge zu sehen. »Und als Kennzeichen, dass ich so eine bin, trage ich ein Schlangentattoo, welches einfach so aus dem Nichts auf meinem Rücken auftauchte und wäre das nicht genug, so leuchten meine Augen auch noch türkis?«

Die Spur eines Lächelns erschien auf dem Gesicht meines Gegenübers, dem sich ein zustimmendes Nicken anschloss.

»Es muss schwer für dich sein, all diese fremdartigen Dinge zu verstehen. In der Tat, dass Tattoo steht dafür, dass du als Schattenschwinge gezeichnet wurdest und deine Augenfarbe steht für die Schuppenfarbe dieser Schlange.«

»Wo liegt Tarmania überhaupt und wann kann ich wieder nach Hause?« Diese Frage hatte ich mir bis zum Schluss aufbewahrt, da ich die Antwort am meisten fürchtete.

»Was ich sagen kann ist, dass Tarmania nicht in der Menschenwelt liegt. Durch ein Portal, das als Regenbogen über dem Ozean erscheint, gelangt man in unser Reich. Wie man wieder hinauskommt, wissen nur Königin Parry und die weisen Hexen, zu denen wir dich bringen wollen. Sie werden einen Weg für dich finden.«

Ich hoffte inständig, dass sie sich dafür nicht zu lange Zeit ließen. Natürlich konnten mir diese Wesen genauso gut eine Lügengeschichte vorspinnen, aber ich glaubte ihnen vorerst, um mich nicht noch verrückter zu machen. Ich nickte und zupfte an der mit Blättern bestickten Tischdecke.

»Die Erzählstunde ist nun zu Ende. Ihr habt sicherlich einen Bärenhunger.«

Die Frau war zurückgekommen und trug einen kupferfarbenen Kessel auf dem Arm. Ihr gefolgt war ein Junge, der Shanti ebenfalls sehr ähnlich sah. Nur die lange Nase und die buschigen Augenbrauen unterschieden ihn von ihr. Ich genoss das leckere Essen aus Rotbarbe mit gebratenem Spargel und fühlte mich in der familiären Atmosphäre fast wie zu Hause.

Am Abend wurde mir mein Zimmer gezeigt, das ich mit Shanti und ihrer kleinen Schwester, deren Name Femke war, teilte. Vor dem Zubettgehen trat ich vor einen großen Standspiegel und begutachtete noch einmal die Schattenschwinge auf meinem Rücken, die sich bisher nicht mehr bewegt hatte. Im schwachen Licht untersuchte ich fasziniert das grelle Leuchten meiner Augen, welches direkt aus der Iris zu kommen schien. In einem bequemen Messingbett fand ich einen erholsamen Schlaf und erwachte mit neuen Kräften am darauf folgenden Morgen.

***

Zusammen mit Shantis vielen Geschwistern gönnte ich mir einen süßen Reiskuchen.

»Endlich mal wieder etwas Ordentliches zu essen«, stellte ich fest.

Ich erfuhr, dass der ganze Stamm der Waldwesen vor vielen hundert Jahren verflucht wurde. Ja verflucht, Hexerei war hier also auch noch im Spiel.

Jedes Volk hatte verschiedene Eigenschaften und Fähigkeiten. Die Beaumaris (der Name der Waldwesen), konnten sich auf Grund ihrer Haut besonders gut tarnen und waren Meister im Bogenschießen. Eine verfeindete Hexe nahm jedem, der die zwanzig Jahre überschritt, seine Augenfarbe. Ich bekam Mitleid mit diesen Leuten und gleichzeitig Angst, was in dieser Welt noch alles passieren konnte.

»Shanti wird dich heute in die Kunst des Pfeil-und Bogenschießens einweisen«, erklärte Aramis mir und fasste sich an seinen goldenen Kreuzanhänger, der an einer langen Kette um seinen Hals hing.

»Bogenschießen?«, wiederholte ich verwirrt. »Wozu soll das gut sein?«

»Zu deiner Verteidigung. Glaub mir, es ist das Beste für deine Sicherheit, wenn du dich selbst zur Wehr setzten kannst«, versicherte Aramis mir.

***

Mit vollem Magen überquerten Shanti und ich anschließend eine Veranda, mit der Aussicht auf die wunderschöne Landschaft, die das kleine Dorf einschloss. Die engstehenden Bäume waren grünen Feldern gewichen und ich konnte die Bauern auf ihren Feldern arbeiten sehen. Ich kletterte hinter meiner Lehrerin über einen Eisenzaun, der von einem Blauregen umwachsen war. Der Duft der Blüten verbreitete sich in der aufgehenden Sonne wie ein Parfüm. Die Kälte von gestern war nicht mehr zu spüren. Aus einem Baumloch holte Shanti zwei Bogen, Pfeile und einen Köcher hervor.

»Dann wollen wir mal. Schließlich sollst du dich hier auch verteidigen können.« Sie warf mir einen hellbraunen Holzbogen zu und ich sah, wie ihr Blättermuster auf der dunklen Haut golden schimmerte.

Zusammen machten wir uns wieder auf den Weg Richtung Wald. An den dicksten Bäumen waren Zielscheiben angebracht. Shanti zeigte mir, wie ich den Pfeil, den unzählige Federn schmückten, richtig auf die Auflage legte. Für meine rechte Hand bekam ich einen Leinenhandschuh. Probehalber musste ich den Bogen einige Male anspannen, ehe die Sehne stramm genug war. Bei meinen ersten Versuchen verfehlte ich das Ziel deutlich. Leicht gedemütigt trottete ich zu den Scheiben zurück und sammelte die verschossenen Pfeile wieder ein.

»Nichts klappt beim ersten Mal«, ermunterte mich Shanti und nickte mir zu.

Ich schoss Pfeil um Pfeil, bis ich ein Gefühl für die neue Waffe hatte. Ein paar wenige schafften es, die Zielscheibe zu durchbohren. Zum Abend hin begann mein Arm heftig zu brennen. Morgen würde ich wohl mit Muskelkater aufwachen, aber dafür war ich jetzt im Anfangsstadium zur Kriegerin.

***

In der untergehenden Sonne traten wir den Heimweg an. Ich spürte den Blick der vielen Dorfbewohner auf mir, die mich mit ihren weißen Augen stumm anstarrten. Manchmal wehte sogar ein Flüstern zu uns herüber und ich hörte wie mein Name gesprochen wurde.

»Hoffe, ihr wart erfolgreich«, zwinkerte mir Aramis zu. Unter seinen Augen waren, trotz seines jungen Alters tiefe Falten zu sehen.

Ich hatte im Wohnzimmer Platz genommen und kämpfte in einer Partie Mühle gegen die unschlagbare Femke. Shanti und Aramis waren noch einmal ins Dorf aufgebrochen, den Grund wusste ich nicht. Shantis Zwillingsbruder Jaron half seiner Mutter in der Küche. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er der Einzige war, der meine Anwesenheit als unangenehm empfand.

Ich setze gerade einen meiner Mühlensteine auf das Brett, als die Schlange, die die ganze Zeit über so gut wie ruhig geblieben war, kräftig in meine Haut stach. Vor Schmerz krümmte sich mein Körper zusammen und Femke ließ erschrocken einen der Spielsteine auf die Fliesen fallen. Vor unserem Fenster waren aufgewühlte Stimmen zu hören und von der Ferne hallte Hufgeklapper zu uns herüber. Die Tür wurde aufgerissen und Aramis stolperte hinein.

»Sie sind hier. Wir müssen sofort verschwinden!«

»Wie konnten mich Fine und Delian so schnell wiederfinden?«, sagte ich laut in die Stube hinein.

»Nicht die beiden. Die Gefolgsleute von König Kamran sind auf dem Weg hierher.«

Er griff mir an den Arm und zog mich nach draußen.

Kapitel 5

Aramis brachte mich durch die Hintertür des Holzhauses. Wir huschten über einen Sandplatz. Die Umgebung um den Wald veränderte sich, wechselte von Wiesen und Bäumen zu einer Art Tundra. Das Gelände fiel leicht ab und erste Felsvorsprünge ragten aus dem Boden empor. Shanti hatte sich hinter einem großen Exemplar versteckt und winkte uns zu sich heran. Der Lärm im Dorf hatte zugenommen und die Menschen eilten hin und her, um rechtzeitig in den Schutz ihrer Häuser zu gelangen.

Aramis ließ meinen Arm los und ich spürte, wie sich die zusammengezogenen Adern wieder weiteten. Ein Blick aus der kleinen Höhle zeigte mir eine Reitertruppe von zehn Mann, denn die Bäume standen nicht dicht genug und wir hatten freie Sicht.

»Willst du, dass sie dich sehen?«, fuhr mich Aramis an und die Falten um seine Augen verengten sich.

Shanti hatte sich auf dem Boden zusammengekauert und rupfte ein paar Blüten einer mir unbekannten Pflanze, die anscheinend so wenig Licht benötigte, dass sie hier in vollen Zügen gedieh. Die Dunkelheit hinter mir erstreckte sich in weiter Tiefe und schien endlos zu sein.

Am Dorfrande, das uns zugewandt war, stieg eine mächtige Gestalt von seinem Ross.

»Das ist Marold«, flüsterte Aramis ehrfurchtsvoll neben mir. »Begleiter von Prinz Chauhan.«

»Doch neugierig geworden?« Ich versuchte die angespannte Stimmung vergeblich aufzuheitern.

Dieser Marold ging auf eine der Hütten zu. Er hob seinen Säbel und das Reflektieren eines goldenen Edelsteins strahlte herüber.

»Aufmachen! Befehl des Königs!«, schrie er voller Inbrunst.

Ich hielt den Atem an. Ein kleines Mädchen hatte die Tür geöffnet und wurde nun unsanft zur Seite gestoßen. Marold verschwand für wenige Sekunden im Haus und kam mit wütenden Schritten wieder auf den Dorfplatz marschiert.

»Verlogenes Volk! Ihr wisst genau weshalb wir gekommen sind und nach welchem Mädchen wir suchen!« Fast außer sich, griff Marold nach einem einfachen Bauernjungen.

Dabei blitzte sein Säbel gefährlich nahe am Kinn des völlig Verängstigten auf. Panik stieg in mir auf und ich musste schwer schlucken. Der Grund für ihren Besuch war ich, sie wollten mich haben!

Ehe die Szene noch dramatischer wurde, schritt ein Reiter einige Meter von Marold entfernt ein.»Lass' gut sein, wir verschwenden nur unsere Zeit.«

Leider konnte ich nicht viel erkennen, nur das Spiegeln von Glas, das vor seiner Brust baumelte. Die Gestalt trat näher heran. Der Mann hob seinen Kopf und schaute direkt zu uns herüber. In mir spannten sich sämtliche Nerven an und ich rutschte Stück für Stück an der Felswand entlang, bis ich nicht mehr zu sehen war. Er hatte mich direkt angeguckt. Was sollten wir jetzt bloß machen? Ich biss mir auf die Lippe und schaute in das ebenso verschreckte und ratlose Gesicht von Aramis.

»Aber Eure Hoheit Prinz Chauhan...«, wollte Marold erwidern.

»Du hast dich mir nicht zu widersetzten! Kommt Leute wir gehen!«

Noch einmal waren die Geräusche der Reiter zu hören, ehe komplette Stille zu uns drang. Das Adrenalin war meinem Körper entwichen und ich saß zusammengesackt neben Shanti am Boden.

Auf leisen Füßen schlichen wir wenig später wieder zum Rest der Familie zurück. Die kleine Femke schloss mich in einer engen Umarmung ein.

»Sie haben dich nicht gekriegt. Ich hatte solche Angst um dich, Candice!« Ich wuschelte ihr durch die dunklen Haare. Langsam begannen die Zweifel, die ich bisher gegenüber den Baumwesen gehegt hatte, zu schrumpfen. Diese unbekannte Welt schien gefährlich zu sein und ich war für den Moment froh, ein klein wenig Sicherheit bei diesen Leuten gefunden zu haben.

Gegen Mitternacht versuchte ich dennoch verzweifelt Schlaf zu finden. Ich war hellwach und hörte die ruhigen Atemzüge meiner Zimmernachbarinnen. »Wieso hatte uns dieser Prinz nicht verraten? Er hatte uns doch genau gesehen.«

***

Am nächsten Morgen tappte ich verschlafen die Treppe hinunter. Aus dem Wohnzimmer waren Stimmen zu hören. Ich folgte ihnen und sah eine Frau an dem Holztisch sitzen. Weiße Augen bohrten sich in meinen Blick. Ich wechselte von einem Fuß auf den anderen und konnte mir die aufkommende Nervosität nicht erklären.

»Guten Morgen, Candice«, sprach sie mich mit einer rauen Stimme an, die von hohem Alter zeugte. Ein weiteres Indiz dafür war das verwelkte Blattmuster auf ihrer Haut. Shanti hatte mir erklärt, je älter ein Baumwesen wurde, desto mehr trocknete die rindenartige Haut aus.

»Setz dich zu mir!«, forderte die Alte mich auf und ich tat wie geheißen. Sie strich sich ihr seidenes Tuchgewand, das von einer prunkvollen Brosche zusammengehalten wurde, zurecht.

»Hallo«, brachte ich hervor.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten, meine Liebe.« Sie fing an zu lachen und stellte sich als Amelia vor. Wir unterhielten uns lange über die Situation in Tarmania. Amelia erzählte von einem weisen Hexenzirkel, der in den Schwarzen Bergen lebte.

»Vor vielen hundert Jahren herrschte ein Hexenzirkel gemeinsam über unser Land. Dieser bestand aus zwölf Mitgliedern der Urfamilie Lutriwita, der mächtigste Verband dieser Zeit. Zwischen den Bewohnern bestand ein Gefühl von Einheit und Frieden. Die Macht der Zwölf reichte zwei der Geschwister, mit Namen Parry und Kamran, nicht. Sie begannen nach alleiniger Herrschaft zu streben. Beide gelangten in den Besitz der Unsterblichkeit, wie genau haben sie nie verraten. Doch auch zwischen den beiden entstand eine tiefe Feindschaft und Parry sorgte mit einem dunklen Zauber für die Spaltung der Geschwister, des Reiches und des Volkes. Inzwischen gibt es in Tarmania zwölf verschiedene Gruppierungen, dem jeweils eine weise Hexe oder ein Hexer vorsteht. Gleichzeitig wurde jeder Gemeinschaft zur Unterscheidung eine Schlange und verschiedene Gaben zugeordnet. Parrys Intrigen haben dazu geführt, dass Tarmania kurz vor dem Ausbruch eines Krieges steht.«

Gebannt war ich ihrer Erzählung gefolgt, die mir immer noch so unwirklich erschien, als wäre sie einem Märchenbuch entsprungen. Den Zusammenhang zu mir konnte ich mir aber immer noch nicht erklären.

»Warum bin ausgerechnet ich als Schattenschwinge gezeichnet worden und wieso kann nur diese Art den Krieg verhindern?«

Die alte Frau faltete ihre schmalen Hände übereinander, ehe sie antwortete. »Ich vermute, dass irgendwo in deinem Stammbaum eine Verbindung zu dem Hexenzirkel besteht. Diese muss sich über Generationen weitervererbt haben und ist durch die äußerste Not unseres Landes in Kraft getreten.«

»Hätte also vor zwanzig Jahren ein Kriegsausbruch bevor gestanden, so wäre ein Elternteil von mir an meiner Stelle hier gelandet. Habe ich das richtig verstanden?«, hakte ich nach.

Amelia nickte müde. »Die Schattenschwingen verfügen über eine ungemeine Kraft und nur sie sind in der Lage, den Zauberspruch für die Unsterblichkeit von Königin Parry und König Kamran aufzuheben. Der Hexenzirkel muss seine Vollständigkeit erlangen und einen Part davon wirst du einnehmen.«

»Aber wie lange wird das dauern? Irgendwann möchte ich wieder nach Hause und woher wissen diese Hexen überhaupt, dass ich in der Lage bin, ihnen zu helfen?«

»Natürlich werden sie einrichten, dich wieder Heim zu schicken. Und um auf den zweiten Punkt deiner Frage zu kommen, kann ich nur sagen, dass es die Bestimmung einer Schattenschwinge ist, den Fluch zu brechen.«

***

Bevor Amelia ging, gab sie mir noch Folgendes mit auf den Weg: »Die Urhexen werden all deine weiteren Fragen beantworten. Ich wünsche dir viel Erfolg.«

Ich war mit zur Tür gekommen und starrte noch einmal auf die glänzende Brosche. »Was ist das für ein Stein?« Ich deutete auf den großen Diamanten, der in der Mitte befestigt war. Amelia gab ein tiefes Seufzen von sich.

»Das ist ein Amazonit, der Edelstein unserer Schlange. Siehst du den weißen Strich in der Mitte?« Sie fuhr mit ihrem Fingernagel über eine kleine Einkerbung. »Ursprünglich war er von reinem Grün. Doch Königin Parrys Fluch hat sowohl in unseren Augen, als auch auf unserem Stein seine Handschrift hinterlassen.«

Ich nickte und rief mir das weiße Porzellan ins Gedächtnis, mit dem mich die meisten Waldwesen anstarrten.

***

»Ihr werdet in die Schwarzen Berge aufbrechen.« Aramis hatte eine Versammlung im Wohnzimmer einberufen. Die gesamte Familie hatte sich auf dem handgeknüpften Teppich, den edle Ornamente zierten, niedergelassen. Mich eingeschlossen. »Candice, ich hoffe dir ist der Ernst der Lage bewusst. Du musst die alten Hexen schnellstmöglich aufsuchen.«

»Ich weiß.« Mir graute es davor, wieder den dunklen Wald zu betreten, aber Shantis zuverlässiges Gesicht nahm mir einen Teil der Angst.

»Natürlich werde ich dich begleiten«, wisperte sie mir zu und grinste. Ich lächelte zurück und Erleichterung überkam mich. Wenigstens musste ich das Abenteuer nicht alleine antreten.

»Als drittes wird Jaron mitkommen.« Der Junge neben mir erstarrte und schaute mich eindringlich an. Dabei stützte er sein Kinn mit der linken Hand ab.

»Vergisst es!«, brüllte er, sprang auf und knallte die Tür hinter sich zu.

»Was hatte ich ihm nur getan?«

***

Aber am nächsten Morgen warteten beide zusammen auf mich. Drei bepackte Pferde standen bereit.

»Es tut mir nochmals aufrichtig leid, dass ich euch nicht begleiten kann. Aber die Pflicht als Stammesanführer lässt dies nicht zu«, verabschiedete sich Aramis von uns.

»Das kann ich verstehen.« Schwermütig schaute ich ein letztes Mal in die Gesichter der Familie, die mich hier in dieser fremden Welt so freundlich aufgenommen hatte. Ich zog die Zügel stramm und zu dritt galoppierten wir in Richtung der Schwarzen Berge davon.

Kapitel 6

Nach und nach verklang der letzte Sonnenstrahl und wir verschwanden hinter der grünen Wand. Meine Augen gewöhnten sich schnell an das gedämpfte Licht. Im Gegensatz zu den offenen Feldern herrschte im Wald eine tropische Hitze. Meine Bluse klebte am Oberkörper fest und ich versuchte mit einer Hand die Trompetenärmel hochzukrempeln.

»Wieso ändert sich das Wetter hier so schnell? Am Tag als ich ankam, war es noch sehr kalt und jetzt herrscht unerträgliche Hitze«, fragte ich Shanti, die neben mir her ritt. Jaron hatte sich einige Meter vor uns abgesetzt und mied es in meine Nähe zu kommen.

»Königin Parry hat Einfluss auf das Wetter in ganz Tarmania. Je nachdem wie ihre Launen sind.«

»Da hat sie heute offenbar ganz gute Laune«, dachte ich. Das konnte sich jedoch ändern, sobald Fine und Delian mit leeren Händen bei ihr auftauchen würden.

Jarons Vorsprung hatte sich vergrößert, so verstärkte ich den Schenkeldruck und mit jedem weiteren Hufschlag wurde Samira schneller. Aramis hatte sie für mich ausgesucht. Sie sei eines der schnellsten und gehorsamsten Tiere. Bis jetzt hatte ich daran auch nichts auszusetzen. Wir ritten Kilometer für Kilometer. Allmählich wurde das Gelände steiler. Während wir so vor uns hin trabten, schweiften meine Gedanken zu meiner Mutter, Yorick und Gillian. Mittlerweile mussten sie krank vor Sorge um mich sein. Sie hatten keine Ahnung, wo ich mich gerade befand. Doch ich versuchte stark zu sein und mich an die Hoffnung zu klammern, sobald wie möglich einen Weg nach Hause zu finden. Vorerst blieb mir nichts anderes übrig, als mit Shanti und ihrem Bruder weiterzuziehen. Ich kannte mich hier nicht aus und die dunklen Pfade, die sich durch den Wald wanden, glichen einem Labyrinth. Handys, Telefone oder Autos gab es nicht. Und ich glaubte auch nicht daran, schließlich ritt man auf Pferden und sonstige Anzeichen moderner Technik waren mir bis jetzt noch nicht begegnet.

***

»Wir haben die Gebirgsregion erreicht«, rief Shanti mir zu.

Tatsächlich hatten sich auch die Bäume gelichtet. Über den Tannen ragten erste Bergspitzen hervor. Wir schienen uns zwischen zwei Bergkämmen zu befinden. Je näher wir auf die Schwarzen Berge zutrabten, desto feuchter wurde es. Oberhalb der Talsenke trieften die violetten Wolken, die im Gebirge gefangen waren. Der Geruch feuchten Mooses stieg mir in die Nase und unweit von uns war die Wasseroberfläche eines Flusses zu sehen.

Jaron verlangsamte sein Tempo und ich war froh, die erste Rast unserer Reise anzutreten. Wir waren seit unserem Aufbruch am frühen Morgen zwölf Stunden ununterbrochen unterwegs gewesen. Meine Gelenke schmerzten, als ich mich vom Pferd hievte. Samira trottete gierig ans Wasser und gönnte sich eine kühle Erfrischung. Behutsam strich ich ihr über das nasse Fell.

»Wie weit ist es noch?«, wollte ich von Shanti wissen. Diese wischte sich gerade die schweißnassen Haare aus dem Gesicht und lächelte mich an.

»Du unterschätzt unsere Welt, Candice. Wir haben noch nicht einmal das erste Drittel hinter uns.«

Jaron stöhnte auf und lief den matschigen Weg hinunter ans Flussufer, um seine Flasche zu füllen. Shanti schaute ihrem Bruder mit verengten Augen hinterher, sagte aber nichts. Stattdessen zupfte sie ein paar Himbeeren von den Büschen, die sich am gesamten Fluss erstreckten. Sie warf mir eine der Beeren in hohem Bogen zu und ich fing sie mit meinem Mund auf. Sofort zerplatzte die Frucht an meinen Zähnen und ein süßsaurer Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus.

»Wer zuerst am Wasser ist, bekommt die letzte Beere«, rief ich und eilte davon.

Doch ich hatte nicht mit Shantis Schnelligkeit gerechnet und hatte das Nachsehen.

***

Ein Algenteppich auf der smaragdgrünen Oberfläche des Wassers begrüßte uns. Jaron war inzwischen in die Mitte des Flusses gewatet. Er hatte sein Hemd ausgezogen und auf seinem Rücken konnte ich eine Schlange mit baumrindenähnlicher Haut, genau wie sie die Waldwesen hatten, erkennen. Die dunkelgrünen Schuppen leuchteten hervor. Er bespritzte seinen Körper mit Wasser und ich beobachtete fasziniert, wie sich die Schlange hin und her schob. Sie schien immer dem Verlauf der kleinen Tropfen zu folgen.

Shanti blickte in den Himmel, wo allmählich die Wolken vom Horizont dichter heraufzogen und sich zeitweise vor den grellen Mond schoben. Die Augen meiner Begleiter hatten pünktlich zum Einbruch der Dunkelheit ihre grüne Farbe angenommen. Shanti schaute zu ihrem Bruder herüber und ich blickte auf den Schlangenkopf, der über ihrem schwarzen Top hervor lugte. Es war das Abbild von Jarons Schlange. Ich sprach sie darauf an.

»Es gibt immer zwei Wesen in dieser Welt, dessen Schlangen sich exakt ähneln. Legenden zufolge, besitzt man eine unheimliche Kraft und Verbundenheit, wenn man seinen jeweiligen Partner findet. Ich brauchte nicht lange suchen, da Jaron mein so genannter Angues ist.« Den ganzen Tag über war meine Schlange ruhig geblieben und hatte kein Lebenszeichen von sich gegeben.

»Woran liegt es, dass das Tattoo überwiegend reglos ist und sich dann von einem Moment auf den anderen bewegt?« Ich schaute Shanti erwartungsvoll an.

»Du musst dir das ungefähr so vorstellen: Am Beginn ist es ganz natürlich, dass du die Schlange hin und wieder spürst. Sie muss sich erst an deinen Rücken anpassen. Später wird sie dann nur noch reagieren, wenn sie die Nähe des Angues verspürt.«

Ich nickte und war immer wieder erstaunt darüber, neues aus dieser fremden Welt zu erfahren. Ob ich meinen Angues, an die Aussprache einiger Worte hatte ich mich immer noch nicht so recht gewöhnt, jemals finden würde?

***

Ich hüpfte von Stein zu Stein und die frischen Wellen spielten mir um die Beine. Dabei musste ich aufpassen, nicht auf die spitzen spiralförmigen Muscheln zu treten, die sich am dunklen Boden angesammelt hatten. Ich sprang gerade auf einen besonders großen Felsbrocken, als sich eine Hand um meinen Fußknöchel legte. Mit wachsender Furcht sah ich, wie erst eine zweite Hand erschien, dann perlenbesticktes Haar und schließlich das Gesicht einer dieser Nixen. Wie versteinert verharrten meine Füße auf dem glitschigen Stein, jeden Moment den Halt zu verlieren und abzurutschen.

»Guten Abend.« Ein Zischen drang an mein Ohr. Mit aller Kraft trat ich auf das bleiche Handgelenk. Doch ohne Erfolg und ich spürte, wie sich die krallenartigen Fingernägel tiefer um meinen Knöchel legten. Eine lilafarbene Iris funkelte mich an. Ich wollte um Hilfe schreien, doch die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Ängstlich drehte ich meinen Kopf in alle Richtungen, doch von Jaron und Shanti war nichts zu sehen.

»Wurden sie bereits in die Tiefe gezogen oder hatten sie mich alleine zurückgelassen?«

Ein Pfeil sauste an meinem Gesicht vorbei und bohrte sich in den Nacken meiner Angreiferin. Ein greller Aufschrei durchschnitt die Luft und das Gesicht der Nixe verzerrte sich zu einer Maske aus Schmerz, ehe sie wieder im Fluss verschwand. Shanti packte mich und zusammen eilten wir zum Ufer zurück. Anscheinend hatte Shantis Pfeil das Ungeheuer verjagt.

***

Jaron hatte es sich vor einem knisternden Lagerfeuer gemütlich gemacht und knabberte genüsslich an einem Stück Fisch, das auf einem Ast befestigt war und so in die Flammen gehalten wurde. Er hatte wohl keinen Finger gerührt um mich zu retten. Wütend stapfte ich an ihm vorbei und holte mir eine Trinkflasche aus der Satteltasche meines Pferdes. Samira bekam eine Portion Rüben zum Abendbrot und neigte zufrieden den Kopf zur Seite. Kurz darauf war sie eingeschlafen.

Shanti bereitete einen Fenchel-Salat zu, dem sie Walnüsse beifügte. Ich ließ mir das leckere Essen schmecken und leichte Müdigkeit überkam mich.

»Wenn wir morgen losreiten, müssen wir unsere Vorräte auffüllen«, warf Shanti ein.

»Stimmt«, antwortete ich und schielte zu Jaron rüber. Dieser schenkte uns keine Beachtung und war in seine Kohlezeichnungen vertieft. Er hatte seinen Ärmel hochgekrempelt, so konnte ich die angespannten Sehnen auf seinem Unterarm erkennen. Das Bild erinnerte mich ein bisschen an meinen Bruder Yorick. Aber wie gesagt nur ein bisschen, denn als sich unsere Blicke trafen, war in seinen Augen nichts als Abscheu zu lesen.

»Möchtest du noch ein bisschen Salat?« Shanti war die angespannte Stimmung nicht entgangen und sie schaute mich flehend an. Ich sprang über meinen Schatten, nahm einen weiteren Teller und behandelte Jaron den ganzen Abend mit Missachtung. Die Temperaturen waren etwas zurückgegangen, doch die Luftfeuchtigkeit schien weiter zugenommen zu haben. Mir klebten die Haare im Nacken und ich sehnte mich nach einer Dusche.

»Ich guck mal, ob wir hier ungestört übernachten können«, sagte Shanti und erhob sich.

Das goldenen Muster auf ihrer Haut schien in der Dunkelheit noch stärker hervorzustechen als im Tageslicht. Sie blieb mit ihren nackten Füßen unweit von unserem Lager stehen. Rund um sie herum schossen kleine Blütenköpfe aus dem Boden. Einige kamen mir aus dem Blumenbuch meiner Mutter bekannt vor, andere hatte ich noch nie gesehen. Gebannt musterte ich, wie sich die Pflanzen mit ihren unzähligen Blättern um Shantis Füße rankten. Einen Augenblick später war alles wieder verschwunden.

»Was hast du da gerade gemacht?«

»Ich habe unsere besten Freunde, die Pflanzen gerufen«, begann Shanti und kam wieder zum Feuer zurück.»Wir Waldwesen haben einen starken Draht zur Natur. Sie haben mir Bilder geschickt, ob hier in der Nähe Gefahr zu erwarten ist.«

Ich schluckte und breitete mich auf meiner Strohmatte aus. »Das klingt alles so unwirklich«, setzte ich an, wurde aber von Shanti unterbrochen: »Du wirst dich hier einleben, da bin ich mir ganz sicher.«

»Das hoffe ich.« Murmelnd hatte ich mir eine dünne Decke übergezogen. Das Feuer war fast niedergebrannt und nur noch wenige Funken sprangen aus der Glut hervor. Aus weiter Ferne konnte ich Geräusche hören, die mich an Vogelgezwitscher erinnerten. Das grelle Licht des Mondes wurde von den dunklen Wolken verdeckt und wir konnten uns in Ruhe schlafen legen.

Kurz bevor ich meine Augen schloss, schien das grüne Augenlicht Jarons zu mir herüber. Er hatte seinen Kohlestift immer noch nicht beiseitegelegt.

»Was malte er da bloß die ganze Zeit?«

***

Neugierig schlug ich die Decke fort und schlich mich an. Ich versuchte keinen Laut von mir zu geben und äugte ihm über die Schulter. Auf dem Pergamentpapier war ein lächelnder Mann zu sehen, der mich gutmütig anguckte. Ich erkannte eine große Ähnlichkeit mit Shanti und ihren Geschwistern in dem Mann wieder. Leider registrierte ich zu spät, dass sich mein Schatten auf dem Papier wiederspiegelte. Jaron musste mich erkannt haben, denn er hielt inne und fuhr wutentbrannt zu mir herum.

»Was soll das! Musst du mir auch noch nachspionieren?« Ungehalten brüllte er mich an.

»Ähm....« Doch während ich rumstammelte, stürmte er an mir vorbei und verschwand im Wald.

Kapitel 7

Jaron blieb die ganze Nacht über weg und tat am nächsten Morgen so, als ob nichts gewesen wäre. Da mir das Ganze irgendwie unangenehm war, freute ich mich über unseren Aufbruch. Wir folgten dem Verlauf des Flusses, der in Tarmania Swan River genannt wurde. Die Reise schien kein Ende zu nehmen und meine Augen wollten endlich etwas anderes sehen, als kahle Flächen und Waldstücke. Doch die Schwarzen Berge wollten nicht näher kommen. Wir holten uns eine Ladung Quellwasser. In der ganzen Umgebung war nur das sachte Rascheln der Bäume und die unaufhörliche Strömung des Flusses zu hören. Königin Parry hatte von der schlechten Nachricht, dass ich ihr durch die Lappen gegangen war, anscheinend immer noch nichts gehört. Der Himmel zeigte sich wieder in strahlendem Blau und die Temperaturen wurden mit jedem Meter, den wir uns fortbewegten, stickiger.

»Wir müssen den nächsten Sandweg runter reiten«, rief Jaron und beschleunigte sein Tempo, damit ich keine Möglichkeit hatte etwas von mir zu geben.

»Wo soll es hier überhaupt hingehen?«, versuchte ich es dennoch. Eine Antwort bekam ich aber nur von Shanti.

»Die nächstgelegene Stadt ist St. Helens. Wir werden hier einen Zwischenstopp einlegen und uns etwas zum Essen besorgen.«

***

Tatsächlich tauchte ein Landstrich auf, auf dem sich imposante Berge mit sanften Tälern vereint hatten. Inmitten einer Talsenke reckte sich ein Kirchturm in die Höhe, der die restlichen Häuser deutlich überragte. Die Stadt kam näher und ich hörte seit langem die typischen Geräusche, die von Menschen verursacht wurden. Kindergeschrei und Straßenlärm. Wir erreichten die ersten Gebäude. Sie waren einheitlich mit olivgrünen Holzläden ausgestattet und wurden mit von der Sonne ausgeblichenen, roten Dachziegeln bedeckt. Die Hufen unserer Pferde klapperten auf den moosbewachsenen Pflastersteinen. Vor uns begann sich ein Marktplatz auszubreiten und Jaron zog seine Zügel stramm.

»Ich werde mich nach einer Unterkunft für heute Nacht umgucken. Bis später.« Er war so schnell zwischen den Häuserlücken verschwunden, sodass Shanti und ich wieder keine Chance hatten, zu antworten.

Wir führten unsere Tiere an den großen, steinernen Marktbrunnen, wo sie genüsslich ihre Köpfe ins Wasser steckten. Shanti entzerrte den Gurt, mit dem ihre Tasche am Pferderücken verknotet war.

»Ich werde ein paar Besorgungen machen. Am besten bleibst du hier und kümmerst dich um die Pferde.« Ich nickte und stand schließlich ganz alleine auf dem Platz. Ich spürte die neugierigen Blicke der Stadtbewohner, die an mir haften blieben. Sah ich wirklich so fremd aus? Meine Aufmerksamkeit wurde von lautem Sägegeräusch geweckt. Ich studierte die umliegenden Geschäfte. Auf der rechten Seite befand sich ein Straßencafé, in dem die Gäste irgendwelche Heißgetränke zu sich nahmen. Die Quelle meines Augenmerks war eine kleine Werkstatt. Abgenutzte Holzbuchstaben verrieten mir, dass es sich um den Arbeitsplatz eines Radmachers handelte. Ich ließ meine Augen hin und her schweifen und entdeckte noch mehr Berufe, die es in Australien gar nicht mehr gab. Darunter waren Harzer, Köhler und Fassbinder. St. Helens versprühte den Charme einer alten Industriestadt aus dem 18. Jahrhundert. Die Rauchschwaden der umliegenden Fabriken verfärbten das Himmelblau und ließen den Horizont dreckig und gräulich wirken. Behutsam streichelte ich Samira über den Mähnenkamm und wich den Spitzen der Borstenhaare aus. Von irgendwoher wurden Musikklänge herüber getragen.

***

Ich setzte mich in Bewegung und bog in die nächste Gasse ein, immer den Tönen der Musik folgend.

»Obwohl es schon eine Weile her ist,

fühl ich immer noch so viel Schmerz.

Wie bei einem Messer, das einen schneidet,

heilt die Wunde,

aber die Narbe, diese Narbe bleibt.«

Der traurige Text, den eine rauchige Männerstimme von sich gab, ließ mich stehenbleiben. Auf einer roten Holztreppe saß ein Kerl und spielte ein gitarrenähnliches Instrument. Seine dünnen Finger zupften gekonnt über die Saiten. Im leichten Windzug, wehten seine langen, blonden Haare, die an den Spitzen verfilzt waren. Besonders auffällig war das rote Tuch, das sich um seinen Kopf schlug und die dicke Oberlippe, welche vor sich hin bebte.

»Du solltest doch bei den Pferden bleiben, meine Liebe!« Erschrocken fuhr ich herum und starrte in das grinsende Gesicht von Shanti. Aus ihrer Tasche lugten zarte Kohlblätter hervor.

»Jaron wartet schon auf uns.« Ich seufzte und wanderte in ihrer Begleitung zurück zur Marktplatzmitte.

***

Jaron hatte eine verlassene Hütte gefunden, die abgeschirmt von den anderen Häusern am westlichen Stadtrand lag. Innen stützten kernige Dachbalken die Grundmauern und verursachten eine urgemütliche Atmosphäre in mir. Während Jaron das Abendessen zubereitete, machte ich es mir mit Shanti im Wohnraum gemütlich.

»Er redet immer noch nicht mit dir oder?«, wollte sie wissen und ich schüttelte den Kopf. Shanti wollte etwas erwidern, ließ dann aber von dem Gedanken ab. Stattdessen klärte sie mich über den richtigen Umgang im Königreich Parry auf.

»Die Leute hier dulden keine Fremden wie uns. Nachts ist es daher immer ein Risiko die Straße zu betreten. Es sei denn man hat das hier.« Sie kramte eine Handvoll lilafarbener Blumen hervor. Die markanten Kelche der Pflanzen leuchteten wie kleine Glocken in der einsetzenden Dämmerung.

»Man nennt sie Hexenblumen. Jedenfalls ist es in unserer Welt so.« Shanti schaute mich erwartungsvoll an, aber von den Pflanzenkenntnissen meiner Mutter war bei mir nicht viel übrig geblieben.

»Sie veranlassen unser Augenlicht dazu, sich für wenige Stunden violett zu färben.« Sie zupfte einen Blütenkopf ab und schob ihn zwischen die Zähne. Nach wenigen Sekunden verschwand ihre grüne Iris und sie hätte glatt als treue Anhängerin von Königin Parry durchgehen können.

»Und jetzt versuchen wir es bei dir.« Shanti hielt mir eine der Hexenblumen hin. Ich zögerte erst. Was, wenn sie mich mit dem Kraut vergiften wollte?

»Du kannst dich gerne überzeugen, dass ich alles von Pflanze herunter geschluckt habe.« Shanti riss ihren Mund auf und mir kam unwillkürlich das Bild einer Zahnarztpatientin in den Sinn. Ich schob mein Kinn vor, musste aber feststellen, dass sie nicht gelogen hatte. Die Veränderung ihrer Augen sprach auch dafür, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Letztendlich nahm ich eine dieser Hexenblumen.

Geschmacklich erinnerten sie mich an Gänseblümchen, von denen Gillian und ich früher immer welche genascht hatten, während wir uns lange Ketten flochten. Mit großen Augen schaute ich Shanti an.

»Bei dir wirken sie nicht. Mhm. Vielleicht liegt es daran, dass du eine Schattenschwinge bist.«

»Na toll, der Sonderstatus als Schattenschwinge hatte mir bisher noch nicht viel gebracht.«

»Essen ist fertig!«, rief Jaron aus der Küche und wir setzten uns auf eine schmale Eckbank. Genau wie seine Schwester, schien er ein Meister in der Küche zu sein. Dieser Gedanke rief mir schmerzlich meine Mutter ins Gedächtnis, die bestimmt außer sich vor Sorge um mich war. Überwiegend in Schweigen gehüllt, schaufelten wir uns die Wirsingrouladen in den Mund. Shanti versuchte hin und wieder die eisige Kälte, die den kleinen Raum fest im Griff hatte, zu erwärmen. Jedoch ohne Erfolg, weder ich noch Jaron brachen das inzwischen steinharte Eis.

»Ihr seid zwei richtige Sturköpfe«, raunte Shanti mir später zu. Daraufhin konnte ich nur selbstgefällig mit den Schultern zucken. Ich tat bestimmt keinen Schritt auf Jaron zu, nicht nachdem, was sich gestern Nacht abgespielt hatte. In gewisser Weise machte mir sein abweisendes Verhalten Angst.

***

Da ich auf Grund meiner immer noch grellen türkisen Augen, nicht mit in die Stadt konnte, machten sich meine Begleiter ohne mich auf den Weg. Sie wollten einen Nachschub des Wunderkrautes und wärmere Kleidung besorgen, damit wir für die Temperaturen der Schwarzen Berge bestens ausgerüstet waren.

»Du bleibst in der Hütte und wagst dich keinen Schritt vor die Tür!«, ermahnte mich Shanti, ehe sie sich zusammen mit ihrem Bruder auf den Weg zur Stadtmitte machte. Ich war erstaunt, dass sie wirklich vorhatten mich hier alleine zu lassen. Von den Bewohnern von St. Helens konnte ich aber keine Hilfe erwarten, denn ihre Augen waren Ausdruck genug, für ihre Loyalität gegenüber Königin Parry. Wieder einmal konnte ich nichts anderes tun, als den Dingen ihren Lauf gehen zu lassen. Die Pferde waren versorgt und so hatte ich nichts zu tun, als die gedehnten Minuten abzuwarten bis die zwei wieder zurückkehrten. Die anstrengenden Reisetage machten mir zu schaffen und ich nickte auf dem Sofa ein.

»Vielleicht haben sie sich hierher verzogen?« Schlagartig war meine Müdigkeit verflogen, als ich die Stimmen von draußen vernahm. Mehrere Leute schienen direkt vor der Tür zu stehen. Wie gelähmt blieb ich einen Augenblick lang sitzen, bevor ich auf die Hintertür zu rannte. Mit einem leisen Klicken öffnete sich das Schloss. Ich drehte mich noch einmal um. Anscheinend waren die Menschen noch nicht eingedrungen. Den Kopf wieder geradeaus gerichtet, lief ich direkt in die Arme einer dunklen Gestalt.





Kapitel 8

Ich biss die Zähne zusammen und versuchte mit aller Kraft auf den Fuß meines Angreifers zu treten.

»Ganz ruhig, meine Süße«, säuselte mir eine Stimme ins Ohr, die mir irgendwie bekannt vorkam, ich hatte sie erst vor kurzem gehört. Leider gelang es mir nicht sie zuzuordnen.

Ein lauter Knall war zu hören, auf den wildes Fußgetrampel folgte. Meine Augen erhaschten einen kurzen Blick auf eine lange Haarmähne und ein leuchtend rotes Kopftuch. Ich befand mich also in den Fängen des Instrumente-Bauers, den ich vor wenigen Stunden bei seinem Gitarrenspiel belauscht hatte. Er riss mich mit sich und wir eilten unter den Ästen zahlreicher Nadelbäume hindurch. Mein Entführer nahm mich bei der Hand und ich fühlte mich wie ein Kleinkind, dass ohne fremde Hilfe orientierungslos durch die Gegend irrt. Mal wieder hatte man mich gegen meinen Willen entführt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Leute vor der Tür freundlichere Absichten gehabt hätten, als dieser Musiker. Innständig hoffte ich, dass wir auf unserem Weg Shanti und Jaron begegnen würden, doch diese Hoffnung verflog, als ein großes Eisentor in Sicht kam. Ein Anflug von Panik überkam mich. »Was wenn, die beiden mich nicht mehr finden würden?«

***

Hinter dem Tor erstreckte sich eine eindrucksvolle Gartenanlage mit hunderten von verschiedenen Rosengewächsen. Vögel zwitscherten um die Wette und ein zarter Blütenduft lag in der Luft. Der Sand knirschte unter den Füßen, als ich zum Eingang des Backsteinhauses gebracht wurde. Erst als wir uns durch den Flur quetschten und in der Stube zum Stehen kamen, fand ich meine Stimme wieder.

»Was wollen Sie von mir?«, schrie ich und bekam gleich darauf eine Hand auf den Mund gelegt.

»Bist du wahnsinnig? Ich rette dich hier vor diesen Idioten und du verrätst dich gleich wieder.« Verblüfft schaute ich in das Gesicht meines Gegenübers.

»Wieso haben Sie mich denn gerettet?«, wollte ich trotzig wissen.

»Jeder hier ist anscheinend an Candice Ferii interessiert«, bei meinem Namen horchte ich auf. »Und da dachte ich mir, dass ist deine Chance, Bret. Tja, jetzt bist du hier.« Er grinste mich an und strich sich die verfilzten Haare aus dem Gesicht. Er erinnerte mich an einen Rockstar, wie er da in seiner zerrissenen Jeans und der Lederjacke vor mir stand.

»Was haben Sie jetzt mit mir vor?« Ohne zu fragen, setzte ich mich in einen geblümten Sessel, hinter dem ein Spinnrad stand.

»Lass doch das förmliche Sie. Ich bin Bret.« Seine direkte Art gefiel mir und ein Teil meiner Angst, die mich bis eben noch überkommen hatte, legte sich. »Weißt du, wo deine beiden Freunde sind? Ich meine die hübsche Braunhaarige und ihren mürrischen Begleiter?«

Ich lachte auf. Tatsächlich gab es noch jemanden hier, der Jaron auch nicht mochte. Gleichzeitig fragte ich mich, woher er die beiden kannte. Bret fixierte mich mit seinen violetten Augen.

»Woher kennst du sie?«, fragte ich argwöhnisch.

»Die zwei kenne ich nicht direkt, aber ihren Bruder Aramis. Ich bin sozusagen euer Versteck in St. Helens. Und falls ihr hier in Schwierigkeiten kommen solltet-was ja bereits geschehen ist, sollte ich euch dreien meine großzügige Hilfe anbieten.«

Verwirrt begann ich die Blumen auf dem Sesselpolster unter mir zu zählen. Ich brauchte einen Augenblick, um mich zu fangen und die letzten Minuten zu realisieren.

»Und was nun?«, brachte ich auf den Punkt.

»Ich denke, ich werde mal nach den beiden schauen. Wir wollen doch nicht, dass sie der aufgebrachten Meute direkt in die Arme laufen.«

»Auf keinen Fall«, antwortete ich und Sorge um Shanti breitete sich in mir aus.

»Du bleibst so lange bei mir. Außer Bier kann ich dir leider nicht viel zu Trinken anbieten.«

»Ich komm' schon klar.«

Mit einem letzten übertriebenen Zwinkern war Bret aus dem Wohnzimmer verschwunden und ich spürte die gähnende Leere, die sich in dem kleinen Haus ausbreitete. Er schien Vertrauen in mich zu haben, mich ohne weiteres alleine sitzen zu lassen. Die Tatsache, dass er Aramis zu kennen schien, ließ mich nicht sofort verschwinden. Wo sollte ich auch anders hin? Mehr und mehr bekam ich das Gefühl, dass wir niemals die Hexen in den Schwarzen Bergen erreichen würden. Ständig gelang es irgendwelchen Verfolgern uns aufzuspüren. Im Gegensatz zu meinem eher unspektakulären Leben in South Wyalong war das hier das reinste Abenteuer. Hätte ich zwischen den beiden Alternativen wählen können, hätte ich mich ohne Umschweife für die erste Variante entschieden. Aber wie das Wort »hätte« es so gut ausdrückt, hatte ich keine Wahl. Ich fuhr mir mit der Zunge über meine spröden Lippen und verspürte ein großes Bedürfnis nach einem kühlen Glas Wasser. Suchend blickte ich mich um.

Überall im Raum standen die unterschiedlichsten Holzinstrumente und an den Wänden rankten sich unzählige Rosenarten zur Decke empor. »Die Düfte treten das Pedal in der Blumenmusik«, stand auf einem Messingschild an der Wand geschrieben. Dieses fremde Haus hatte meine Neugier geweckt und ich erhob mich schwerfällig aus dem Sessel, um nicht tiefer ins Grübeln zu geraten. Mein Körper brauchte unbedingt etwas Schlaf, aber er musste sich noch etwas gedulden.

Ein goldeingerahmtes Foto auf einem edlen Konsoltisch erregte mein Interesse. Mühsam schleppte ich mich auf die andere Seite des Raumes. Auf dem Bild erkannte ich Bret und einen weiteren Mann. Beide hatten kurzes, blondes Haar und hielten stolz ihre Schwerter in die Luft. Ich nahm den Bilderrahmen in die Hand und fuhr an dem kühlen Metall entlang. Auf der Rückseite war ein Notizzettel angebracht.

»Candice, wieso wühlst du in den Sachen fremder Leute?« Trotz dieser Ermahnung meiner eigenen Worte, begann ich zu lesen.

»In Erinnerung an meinen besten Freund und meinen Angues. Ich werde dich auf ewig vermissen. Bret.« Diese persönlichen Worte berührten mich und ich stellte das Foto schnell wieder auf den Tisch zurück. Den Worten nach zu urteilen, war der Mann neben ihm tot.

Wer mein Schlangenpartner war, glich einem weiteren ungelösten Rätsel, das ich kaum verstand. Wie auch, vor wenigen Wochen war ich nichts anderes als ein normaler Teenager gewesen. Es wurde langsam Zeit, dass wir an unser Ziel kamen, ich endlich Antworten auf meine Fragen erhalten würde und die Heimreise antreten konnte. Als hätte das Reptil auf meinem Rücken diese Gedankengänge über die Sache mit den Angues gelesen, bewegte es sich einmal auf und ab. Ich schauderte und wanderte durch eine Tür. Der nächste Raum war auf Grund der vielen Fenster vom Licht des Mondes durchflutet. Ich schaute durch die Sprossenfenster nach draußen. In der Dunkelheit erkannte ich einen kleinen Innenhof, in dem sich ein riesiges Beet aus Hexenblumen befand. Bret gehörte also auch nicht dem Königreich Parry an. Vielleicht hatte er sich wirklich im Auftrag von Aramis eingeschlichen, was untermauern würde, wieso es so wichtig war, dass ich unbedingt mit den weisen Hexen in Kontakt treten sollte.

***

»Wo führen Sie uns hin?« Jarons Stimme drang bis in die Mauern des Gebäudes ein. Ruckartig flüchtete ich zurück in das Wohnzimmer. Keine Sekunde später erschienen Shanti, Bret und Jaron vor mir. Die beiden Männer musterten mich misstrauisch und ich hoffte, dass ich nicht allzu rot angelaufen war. Bret löste die angespannte Stimmung.

»Noch mal Glück gehabt. Die Zwei.« Er deutete mit seinen beiden Zeigefingern auf das Geschwisterpaar. »Waren schon fast wieder bei der alten Hütte.«

»Aber eben nur fast«, entgegnete Shanti und lächelte. Sie schien sich gut mit Bret zu verstehen. Ganz im Gegensatz zu Jaron, der wie eine steinerne Statue im Türrahmen stand und auf den Boden starrte. Ich musterte ihn. Sein schwarz gelocktes Haar glänzte im Mondschein. Sein Gesicht war blass, schmal und wirkte angestrengt.

»Wir müssen vorsichtiger sein.« Als hätte er die ganze Zeit über gespürt, dass ich ihn beobachtet hatte, schaute er mich direkt an, seine Augen zu dünnen Schlitzen zusammengezogen. Ich errötete, zum einem Teil auf Grunde dessen, dass er mich ertappt hatte und zum anderen, weil ich wütend wurde. Es war schließlich nicht meine Schuld, dass die Leute unsere Hütte, unser Versteck entdeckt hatten. Wenn es nach mir ginge, wäre ich längst wieder zu Hause und er hätte seine Ruhe vor mir und den unangenehmen Dingen, die ich mit mir brachte.

»Das werdet ihr schon schaffen, ich weiß, dass ihr in der Lage seid, Parry auszutricksen.« Bret war in die Mitte des Raumes getreten. »Und ich denke, dass ihr ein bisschen Ruhe braucht, um morgen wieder voll durchstarten zu können.« Shanti begann zu kichern. Brets Humor entsprach scheinbar genau dem ihren. Unterdessen verdrehte Jaron die Augen, schnappte sich den Rucksack, der zu seinen Füßen lag und verließ den Raum.

»Junge, wo willst du hin?«, rief Bret und rannte dem Flüchtigen nach.

»Langsam nervt's. Jaron benimmt sich wie ein vierjähriges Kind. Aramis hätte ihn nicht mitschicken sollen«, seufzte Shanti und richtete sich an mich.

Innerlich konnte ich ihr mehr als zustimmen, aber ich hielt es für unangebracht meine Abneigung gegenüber ihres Bruder so offenkundig preiszugeben.

»Er ist bestimmt nur deinetwegen mitgekommen«, sicherte ich ihr zu.

Ein Poltern unterbrach unser Gespräch und die beiden Männer tauchten wieder auf. Bret hatte Jaron am Kragen gepackt und bugsierte ihn in unsere Richtung.

»Passt, auf, dass euch der Dickschädel nicht wieder entwischt! So jetzt hole ich euch erst mal etwas, worauf ihr schlafen könnt."

Ich war froh, dass wir mal eine Nacht nicht im Freien verbringen mussten-ohne die Angst Delian und Fine könnten aus dem Nichts auftauchen oder irgendwelche Tiere, die auf der Jagd nach frischer Beute waren.

Kapitel 9

Am nächsten Morgen standen wir aufbruchsbereit in dem großen Garten.

»Euren Pferden haben sie nichts getan«, erklärte uns Bret, der im Morgengrauen unsere Tiere sicher in seinen Stall gebracht hatte. Samira wieherte erfreut, als sie mich erblickte. »Wegen dem anstehenden Krieg werden viele Truppen unterwegs sein. Daher solltet ihr vielleicht den ungenutzten Schleichwegen folgen. Ich habe euch die richtigen Stellen auf der Karte markiert.«

»Danke«, murmelte Shanti, ergriff das Papier und verschwand mit Jaron hinter dem Stall.

»Da muss ich mich den beiden anschließen. Danke. Ohne dich, würden wir jetzt auf dem direkten Weg zu Königin Parry sein«, verkündete ich und schenkte meinem Gegenüber ein strahlendes Lächeln.

»Das würde ich jederzeit wieder tun«, entgegnete Bret und klopfte mir auf den Rücken. »Ich bin mir sicher, dass ihr es schaffen werdet.« Zuversichtlich trottete ich auch auf den Stall zu.

»Gute Reise und passt auf euch auf.« Bret war uns bis zum Grundstückende gefolgt und am Eisentor winkten wir noch ein letztes Mal unserem Gastgeber zu. Sein zuvor noch zuversichtliches Gesicht hatte kurzzeitig einen wehmütigen Ausdruck angenommen und ich ahnte für wen er seinen Song von gestern geschrieben hatte. Für seinen verstorbenen Freund.

***

Unweit von St. Helens gelangten wir in eine kleine Seenlandschaft. Auf den weiten Flächen versuchten wir uns mit schnellstmöglichem Tempo zu bewegen, damit uns keiner sehen konnte. Wir galoppierten durch ein kleines Waldstück. Hinter den Bäumen offenbarte sich ein weites Tal, das von riesigen Bergen gesäumt wurde. Die schneeweißen Bergspitzen ergossen sich bis in einen tiefdunkelblauen Bergsee. Die äußerlichen Temperaturen wurden kälter und rauer. Ich war froh, dass Shanti mir eine dicke Felljacke aus der Stadt mitgebracht hatte. Während der Nacht suchten wir uns abgeschiedene Höhlen, die uns Platz zum Schlafen und zur Erholung boten. Das intensive Türkis meiner Augen strahlte an die kargen Steinwände und ich verfluchte mich erneut dafür, dass die Hexenblume bei mir keine Wirkung zeigte. So war unsere Reise deutlich länger und umständlicher als geplant, da wir uns nachts nicht nach draußen wagen konnten.

***

Die Berge rückten endlich in greifbare Nähe, als wir die ersten Gletscher erreichten, die sich an den langen Bergrücken entlang streckten. Die Vegetation war hier kahlen Fichten gewichen und bei jedem Schritt mussten wir aufpassen, dass unsere Pferde nicht abrutschten.

Wir machten an einer kleinen Wasserquelle Rast, um unsere Flaschen mit der kristallklaren Flüssigkeit zu füllen. Ich wusch mir die Hände in dem eiskalten Wasser, begutachtete mein Spiegelbild und streckte sie anschließend der wärmenden Sonne entgegen.

Auf der Wasseroberfläche sah ich plötzlich einen Schatten über mir. Ein grelles Kreischen drang in meine Ohren. Doch ehe ich meinen Kopf in die Höhe heben konnte, wurde ich in den sicheren Schutz einer Fichtengruppe gezogen. Jaron hatte mich an den Schultern gepackt und hielt sich den Finger auf die Lippen, um mir zu zeigen, dass ich leise sein sollte. Das Rascheln von Federn durchdrang die Stille und riesige Flügel verdeckten für einen Moment den Himmel. Ich konnte einen langgebogenen Schnabel ausmachen und vier goldene Augen erkennen, die ich einem vogelähnlichen Wesen zuordnete. Mit blitzschnellen Bewegungen suchten sie das Gelände ab. Ich wagte mich keinen Zentimeter zu bewegen und spürte Jarons Hände wie Blei auf meinen Schultern. Nur unsere gleichmäßigen Atemgeräusche wurden von der Luft getragen. Ein weiteres Krächzen war zu vernehmen, was aber deutlich leiser war als zuvor. Diese riesigen Greifvögel hatten sich anscheinend von uns entfernt. Erleichterung überkam mich und ich vernahm eine Bewegung neben mir. Shanti war aus dem Gebüsch hervorgetreten.

»Die Luft ist wieder rein. Sie sind weg.«

»Was waren das für Tiere?«, wollte ich wissen und war überrascht, dass ich eine Antwort von Jaron bekam.

»Barans, die Spione von König Kamran. Seine Truppen können nicht mehr weit sein.«

***

Fortan versuchten wir noch vorsichtiger zu sein. Wir mieden die breiten Wanderwege der Bergsteiger und Steinböcke. Stattdessen krochen wir über dünne Schluchten. Tief unter ihnen rauschte der Swan River und toste schäumend über die Ufer.

»Hinter dem nächsten Bergkamm müsste die Stadt Chalcedon liegen«, rief Shanti mir laut zu, damit sie die brausenden Wassergewalten übertönte. Die Luft war frisch, aber deutlich kälter als noch vor wenigen Tagen. Shanti hatte mir erklärt, dass hier in den Schwarzen Bergen der Einfluss Königin Parrys' auf das Wetter verschwindend gering war. Die Macht der weisen Hexen war einfach zu groß. Eis bedeckte einige Stellen des Flussbettes und es würde nicht mehr lange dauern, bis der gesamte Fluss vollständig zugefroren war. Meine Zähne klapperten und ich schlang die Felljacke noch enger um meinen Körper. Wir waren am Fuße eines riesigen Bergkammes angekommen, dessen gewaltige Statur hoch in den Himmel empor schoss. Ein dumpfes Trampeln erfüllte die Umgebung. Ich schaute mich erschrocken um. Von den Tälern, die sich einige hundert Meter unter uns befanden, hallte das einheitliche Geräusch einer sich im Takt bewegenden Fußarmee zu uns nach oben. Ich drehte mich langsam um. Die Soldaten bewegten sich wie kleine Ameisen über den Boden und strömten in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Der Ausbruch des Krieges schien nicht mehr weit zu sein. Unter meinem rechten Fuß löste sich ein Steinbrocken und ich stieß einen lauten Schrei aus. Sein Echo breitete sich im gesamten Gebirgsgebiet aus. Ich krallte mich an einer Felswand fest, die spitzen Steine schnitten mir in die Fingerkuppen.

»Candice, alles in Ordnung?« Shanti war stehen geblieben und kam auf mich zu.

»Ja, geht schon«, brachte ich mühsam heraus. Wieso musste ich uns immer in Gefahr bringen? Die Krieger unter uns hatten ein Glück nichts mitbekommen, jedenfalls war niemand aus der großen Schar stehengeblieben und hatte in die Höhe geguckt.

»Wir wollen heute Abend noch ankommen!« Jarons Laune hatte sich wieder deutlich verschlechtert und er behandelte mich wieder auf seine übliche Weise-kalt und verachtend.

Wir ließen noch einige Kilometer hinter uns, ehe die ersten Häuser in Sicht kamen. Die Lichter, die aus den vielen Fenstern drangen, schimmerten in der zunehmenden Dunkelheit. Die gesamte Stadt hatte sich um eine Bergspitze gewunden und wirkte wie eine Festungsanlage aus dem Mittelalter. Wir bewegten uns auf eine Steinmauer zu. Links und rechts am Eingangstor waren Wachen postiert, deren dunkle Silhouetten lange Schatten warfen. Mit einem ernsten Blick schauten sie uns an und ich hatte die Befürchtung, sie würden uns nicht herein lassen. In unseren Pelzmänteln und den verfilzten Haaren sahen wir nicht gerade vertrauensweckend aus.

»Wir lassen keine Fremden in unsere Stadt«, sprach der Linke mit einer ausdrucksstarken Stimme. Doch ehe er mit seiner Predigt fortfahren konnte, tickte ihm sein Partner an die Schulter und deutete auf meine Augen. Ein ehrfürchtiges »Oh« wurde ausgestoßen und wir durften das Tor durchschreiten.

»Wartet doch!« Einer der beiden war uns hinterhergelaufen und hielt prustend vor unseren Füßen an. »Ich werde gleich Bescheid geben, dass ihr eingetroffen seid. Wartet hier einen Moment.« Seine kurzen Beine trugen ihn wieder davon. Die Pferde wurden langsam unruhig und mussten bald abgesattelt werden. Hierfür kam ein Stalljunge herbeigeeilt, der die Tiere nacheinander abführte.

»Wie lange müssen wir hier denn noch stehen?«, jammerte Jaron und drehte mit dem Zeigefinger in seinen schwarzen Locken. Aus der Ferne näherte sich eine flackernde Laterne und wir wurden in ein kleines Haus geführt. Die meisten Möbel bestanden aus einfachem Kiefernholz, versprühten aber dennoch ein Gefühl von Häuslichkeit. Der Fußboden war mit Dielen ausgelegt, die wegen jahrelanger Last, die sie tragen mussten, unter unseren Füßen knarrten. An den Wänden hingen getrocknete Kräuter.

»Hier ist euer Platz zum Schlafen und Wohnen«, erklärte uns eine alte Frau, die uns herein geführt hatte. Ihr leicht gräuliches Haar fiel in einem Knoten in den dünnen Nacken. Oberhalb der Ohren waren blaue Bauernrosen befestigt. Sie ging in das nächste Zimmer und mir fiel die Pferdebürste auf, die an ihrer Taille baumelte.

***

Inzwischen waren einige Augenblicke vergangen, doch die Frau schien nicht wieder zu kommen. Ein klein wenig ermutigt, dass wir wieder unter uns waren, ergriff ich das Wort.

»Das sollen die Weisen sein?« Dieses Bergdorf entsprach überhaupt nicht den Vorstellungen, dich ich mir vorher ausgemalt hatte. Ich war davon ausgegangen von den Türmen eines pompösen Palastes empfangen zu werden.

»Ja, hier befindet sich der Hauptsitz des Zirkels. Ich weiß auch nur so viel, wie Aramis mir erzählt hat und laut Karte sind wir hier richtig angekommen.« Shanti zuckte mit den Schultern und blickte mich aufmunternd an.

Unser Gespräch wurde von einem Knarren unterbrochen und die Frau von vorhin erschien im Türrahmen.

»Willkommen in Chalcedon, Candice, Shanti und Jaron. Mein Name ist Epona und ich hoffe, dass ihr euch in der nächsten Zeit gut bei uns einleben werdet.«

Ich stockte und spulte ihren letzten Satz ein zweites Mal in meinem Kopf ab. »Moment. Sagten Sie gerade einleben?«

»Ja, meine Liebe.«

Das konnte doch nicht wahr sein. Jetzt waren wir endlich bei diesen Hexen und meine Abreise nach Hause sollte sich noch weiter verzögern. Aufgebracht schaute ich in die Gesichter von Jaron und seiner Schwester, doch ihre Ratlosigkeit zeigte mir, dass sie von unserer Aufenthaltslänge auch nicht die geringste Ahnung gehabt hatten. Enttäuscht wand ich meinen Blick von den beiden ab und starrte wütend zu Boden. Meine Hände verkrampften sich und ich wollte losschreien. Im letzten Moment hielt mich die alte Frau mit einer Frage von meinem Ausbruch ab.

»Candice, würdest du bitte mit mir mitkommen? Alleine.« Das letzte Wort sprach sie in einem Ton aus, an dem es nichts zu rütteln gab. Dennoch wollte ich mich nicht geschlagen geben.

»Warum muss ich ohne die beiden gehen?«

»Weil sie kein Teil des Zirkels sind. Du wirst doch so vernünftig sein und dich eine Weile von deinen Freunden trennen können oder nicht?« Eponas Blick duldete keinen Widerspruch.

Ich gab nach, nickte und wurde wieder nach draußen geleitet. Wir liefen mehrere Straßen entlang und im Schein des Mondlichtes konnte ich einige Gesichter der Stadtbewohner erhaschen. Aus ihren Augen strahlten alle nur erdenklichen Farben, egal ob Grün, Violett oder Gold. Alle zusammen erinnerten mich an ein prachtvolles Feuerwerk aus den schillerndsten Farbtönen. Neugierig warf ich auch einen Blick in die Augen meiner Begleiterin. Bei ihr überwog Blau über den restlichen Farben des Regenbogens.

Wir durchschritten einen engen Tunnel, der mit kräftigem Efeu überrankt war. Der Turm einer Festung ragte über unseren Köpfen himmelwärts. Ich war überrascht, dass sich hinter den sonst eher ärmlicheren Bauten eine so imposante Burg verbarg. An den Seiten zweigten etliche Erker ab, die dem Gebäude eine romantische Stimmung verliehen. Die Fernsicht über die angrenzenden Landschaften war einerseits überwältigend und auf der anderen Seite beängstigend.

Mir wurden die Türflügel geöffnet und ich stand in einer großen Empfangshalle, die von Marmorsäulen gestützt wurde. Aus den Nischen starrten mich reich verzierte Skulpturen an.

»Candice, wir haben so lange auf dich gewartet.« Die Stimme kam, begleitet von Geschirrgeklapper, aus dem Nebenraum. Epona blieb vor einem breiten Holzbogen stehen und eine alte Frau trat in mein Sichtfeld.

»Danke Epona, du kannst jetzt wieder in Richtung der Scheunen gehen.« Hinter mir waren Schritte zu hören, die nach und nach verklangen.

»Komm' setz' dich zu uns.«

Ich folgte der Einladung und setzte mich verunsichert an eine langgestreckte Festtafel. Meine Augen wanderten über die etlichen Silbertabletts, die mit dampfenden Speisen bestückt waren. In der steinernen Decke war ein Kronleuchter eingelassen, der den Saal in ein goldenes Licht tauchte. Alles wirkte überdimensional groß und ich fühlte mich verloren. Aber was mir am meisten Unbehagen bereitete, waren die unterschiedlichen Augenpaare, die mich aus schier allen Richtungen eindringlich musterten. Neben der Frau, die mich in Empfang genommen hatte, waren mindestens zehn weitere Personen anwesend. Mir gegenüber saß eine junge Frau, deren weit aufgerissene Augen blau schimmerten und keine meiner Bewegungen außer Acht ließen. Ihre Haut war schneeweiß, nur der schwarze Lidstrich und ein sanft rosafarbener Lip-gloss wichen von dem restlichen Farbschema ab. Selbst in ihre blauen Haare hatten sich zahlreiche, weiße Strähnen geschlichen. Bevor sie bemerkte, dass mir ihre Beobachtung nicht entgangen war, griff ich nach einer Gabel und stocherte verstohlen in meinem Essen, welches aus Kartoffeln und einem grünen Gemüse bestand, das ich nicht zuordnen konnte.

»Greif nur zu, Candice!« Die alte Frau am anderen Tischende nickte mir entgegen und ich bekam den Eindruck, als hätte sie hier das Sagen. Mir fiel auf, dass sie höher saß, als die anderen. Sie strahlte ein Gefühl von Stärke und Macht aus, das sich noch zu vergrößern schien, als sie mit beiden Armen weit ausgebreitet und einem schmalen Lächeln im Gesicht in die Runde blickte. Unbeholfen ergriffen meine klammen Finger ein Glas, welches aus tausenden Kristallen zusammengesetzt war und dessen kühle Oberfläche mir eine leichte Gänsehaut verlieh.

»Heute ist ein besonderer Tag«, fuhr sie fort und strich sich dabei eine graue Strähne aus der Stirn, die sich aus einem Schleier gelöst hatte, der ihren schmalen Kopf bedeckte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Um nicht unhöflich zu wirken, suchten meine Augen die ihren. Ein leichtes Nicken ihrerseits gab mir zu verstehen, dass sie meine Nervosität nicht als abweisend aufnahm.

»Seit vielen Jahren wartet Tarmania auf das Eintreffen einer zweiten Schattenschwinge.« Unwillkürlich musste ich schlucken, als sich erneut alle Augenpaare auf mich richteten. Mir war außerdem nicht entgangen, dass es im gesamten Saal totenstill war. Alle hatten ihr Besteck und ihre Gläser beiseite gestellt und mir kam das Bild eines Popstars ins Gedächtnis, der wenige Augenblicke vor seinem Auftritt auf die Bühne trat. Nur hatte mich keiner gefragt, ob ich einer sein wollte.

»Candice, darf ich dir unsere Familie vorstellen? Ich denke es wird Zeit, dass du deine Brüder und Schwestern kennenlernst. Mein Name ist Magdalena und ich gehöre wie du, dem Stamm der Schattenschwingen an.«

Ich wollte etwas erwidern, bekam aber keine Möglichkeit dazu, da Magdalena unbeirrt mit ihrer Vorstellungsrunde weiter machte.

»Zu meiner Linken siehst du Tiana aus Beaumaris.« Bei ihrem letzten Wort musste ich aufhorchen, da ich es im Kreise von Shantis Familie bereits gehört hatte. Die baumrindenartige Haut sprach ebenfalls dafür, dass sie von demselben Stamm war.

»Und zu meiner Rechten sitzt Artinian, unser Heiler und Mediziner.« Unter Artinians buschigen Brauen blickten intelligente Augen hervor, die jetzt mir zugewandt waren. Mir wurden weitere Personen vorgestellt. Darunter Elouise, eine mürrisch dreinblickende Frau, deren eine Gesichtshälfte komplett von ihrem braunen Haar verdeckt wurde. Neben ihr saß ein Mädchen, welches ich ungefähr auf mein Alter schätzte. Besonders auffallend war ihre Haarfarbe, die vom Scheitel ausgehend einmal pink und auf der anderen Seite schwarz gefärbt war. Ihr Name war Vanity. Darauf folgten zwei Männer namens Beat und Léan, die mich interessiert musterten, aber von einer Bemerkung abließen. Einer von ihnen hatte etwas kriegerisches an sich und ich meinte, dass sich seine Lippen kurzzeitig zu einem spöttischen Grinsen zusammenzogen, während er seine zu Fäusten geballten Hände auf die Tischplatte legte. Das Wort Familie, das Magdalena zu Beginn erwähnt hatte, erschien mir in diesem Moment völlig unpassend. Wie ein Igel kugelte ich mich auf dem Stuhl zusammen und eine Flut der Angst überkam mich, Angst um meine Familie zu Hause und Angst, dass ich sie nie wieder sehen würde.

»Zum Schluss kommen wir noch zu Charis und zu unserem jüngsten Mitglied.«

»Es ist schön, dich hier zu haben. Ich bin Lorna.« Ein kindliches Gesicht blickte mir freundlich von der Seite entgegen und ich war mir sicher, dass ich Lorna von meinen neuen Geschwistern, von Anhieb am liebsten mochte. Die Frau gegenüber konnte also nur Charis sein. Ihr forscher Blick bohrte sich in mein Gesicht und ließ mich unbehaglich auf meinem Platz hin und her rutschen. Ich spürte, wie meine Wangen erröteten, als das Blut durch sie hindurch schoss. Charis Augen glichen einem Wasserstrudel, dem man nicht entrinnen konnte.

Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, ergriff Magdalena wieder das Wort.

»Unser Hexenzirkel besteht aus zwölf Mitgliedern, von denen zehn hier und heute anwesend sind. Wie du vielleicht schon weißt, haben sich zwei unserer Geschwister gegen unsere Familie gestellt.« Erinnerungsfetzen, von dem was Amelia mir damals im Wohnzimmer der Baumwesen erzählt hatte, drangen in mein Gedächtnis zurück. Folglich konnte es sich bei den beiden Fehlenden nur um Königin Parry und König Kamran handeln. Ich nickte, um Magdalena zu bedeuten, dass ich über diese Angelegenheit bereits Bescheid wusste.

»Wie dir vielleicht aufgefallen ist, setzt sich unsere Familie aus mehreren Generationen zusammen. In früheren Zeiten standen wir alle gemeinsam auf einer Seite und sorgten für Gerechtigkeit in Tarmania. Doch der bevorstehende Krieg zeugt davon, dass unsere Familie schon lange keine Einheit mehr ist.« Magdalena machte eine Pause, damit ihre Worte Wirkung entfalten konnten.

»Nun ja, wir Hexen leben nicht ewig und müssen, wenn die Zeit gekommen ist, einen Nachfolger für uns bestimmen. Und eben einer dieser Nachfolger bist du Candice.«

»Achja? Niemand hat mich gefragt, ob ich dieses Leben hier überhaupt will! Ich soll irgendeinen Krieg zu Ende bringen, weil das anscheinend kein anderer hinbekommt.«Plötzliche Wut überkam mich und überdeckte die Angst, die mich bis zu diesem Augenblick noch fest im Griff gehabt hatte.

»Candice, ich weiß, dass alles...«Weiter ließ ich Magdalena nicht gewähren und schnitt ihr das Wort ab.

»Nichts wisst ihr!« Meine Worte klangen schärfer als beabsichtigt. Tränen der Verzweiflung traten mir in die Augen, eine Welle der Frustration übergoss meinen Körper und ließ mich vom Tisch aufstehen.

»Entschuldigt, aber das alles ist ein ziemlicher Schock für mich. Ich brauche Zeit für mich allein, um nachdenken zu können.«

Ich hörte meine eigenen Worte an den steinernen Wänden widerhallen, sie waren das Einzige, was in dem Raum wahrzunehmen war. Meine Geschwister wiesen eine Reihe verschiedenster Gesichter auf. Einige schauten entsetzt oder verwirrt, anderen konnte man die Belustigung über meinen Wutausbruch deutlich ansehen.

Ich konnte die Blicke nicht länger ertragen, wandte mich ab, stürmte durch den Saal aus der Burg und eilte die moosbewachsenen Stufen ins Dorf hinunter. Lautes Gemurmel mischte sich in meine Schritte, die sich in meinem Kopf zu einem lauten Dröhnen zusammenfügten, während ich zu Shanti und ihrem Bruder zurück hastete.

 

 

 

 

Impressum

Texte: Kapitel 7: Every Rose Has It's Thorn-Poison
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Aber es gibt Momente im Leben,in denen es nur einen einzigen Weg gibt, wenn man sein Ziel erreichen will. Dieser Weg ist möglicherweise steinig,steht in Flammen,oder ist von giftigen Schlangen bevölkert. Aber es ist nun mal der Weg, den man gehen muss. Danke an alle meine Leser und vor allem an Juliette K. , mit der ich zusammen an diesem Buch arbeiten durfte ♥Jojo ♥ Die Vorgeschichte für dieses Werk wurde von Juliette K. geschrieben und unter dem Titel 'Schattenschwinge' veröffentlicht. Wenn ihr Lust habt, schaut doch mal hinein.

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