»Aloha!!! Wenn ich mich in wenigen Worten vorstellen darf: Ich bin die achtzehnjährige Maybee Clark. Mein größter Traum ist es immer noch, Surfweltmeisterin zu werden und jede noch so große Welle zu bewältigen. In dem perfekten Ort dafür, lebe ich-Venice Beach .Lange Sandstrände und das perfekte Surfwetter begrüßen die Menschen dort fast täglich. Beim Klang der ineinander fallenden Wellen, wie sie tosend auf den Meeresgrund stürzen, schlägt mein Herz etwas schneller. Das hat sich auch nach dem Unfall, den ich vor zwei Jahren erlitt, nicht geändert. Eine Zeit, in die ich nicht gerne zurückblicke. Aber wie alle weisen Leute sagen: »Du kannst nur wirklich abschließen, wenn du dich mit deiner Vergangenheit konfrontierst. Und akzeptierst, was passiert ist.« Genau das habe ich versucht zu tun, mit dem Niederschreiben meiner Leidensgeschichte, die morgen exakt vor zwei Jahren begann. Durchgestanden habe ich sie nur durch wahre Freundschaft, den Glauben an mich selbst und Fergies wundervollen Song Big Girls Don't Cry. Ihr könnt es zwar nicht sehen, aber ich habe den Daumen und meinen kleinen Finger ausgestreckt. »Hang Loose« und viel Spaß bei meiner Geschichte.
Gruß Maybee «
Der warme weiche Strandsand rieselte durch meine Zehen. Ich blickte auf meine rotlackierten Fußnägel und quickte vergnügt. Ich steckte in einem engen Neoprenanzug, dessen feuchte Fasern sich an meiner Haut festgesaugt hatten. Vom salzigen Wasser waren meine Finger ganz schrumpelig. Die Sonne strahlte gnadenlos vom Himmel herab und tauchte die gesamte Strandgegend von Venice Beach in ein goldenes Licht. Rund um mich herum tummelten sich hunderte von Touristen, einige hatten sich in ihre Strandkörbe zurückgezogen. Die anderen genossen die kühle Erfrischung des Pazifiks.
»Bee, beeilst du dich mal!!! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Außerdem meint es der Wind heute nicht so gut mit uns.« Innerlich verdrehte ich die Augen, aber ich nickte gehorsam. Josh, mein Surflehrer sah aus wie ein typischer Surfer: braun gebrannte Haut und lange, blonde Haare, die ich noch nie trocken gesehen hatte. Wenn ich nicht vergeben gewesen wäre, hätte ich mich an ihn rangemacht. Mit einem breiten Grinsen tapste ich vor sein blau-weißes Brett.
»Du hast schon noch in Erinnerung, dass Samstag die Meisterschaften stattfinden, meine Liebe?!«
»Natürlich weiß ich das«, gab ich bissig zurück, bückte mich nach meinem Board und wollte in Richtung Wasser davon stapfen.
Meine Eltern hatten mir zu meinem sechzehnten Geburtstag ein Unikat aus Bali geschenkt. Riesige Palmen rankten sich auf einem türkis-pinken Untergrund, gestört wurden sie allerdings durch ein paar Delfine, die akrobatisch aus den Wellen sprangen. Ich liebte mein Brett.
»Stopp!«, wurde ich zurückgehalten.
»Wir müssen noch den ChopHop üben. Im flachen Wasser fällst du mir zu oft vom Brett.«
»Was soll ich deiner Meinung nach besser machen?« Wütend versuchte ich von meiner leichtgeröteten Gesichtsfarbe abzulenken.
»Erin! Kommst du mal rüber!« Meine beste Freundin wurde herbeigerufen. Lange braune Haare, die an den spitzen leicht gewellt waren, schmiegten sich an ihren kräftigen Rücken. Sie starrte mich aus ihren grauen Augen amüsiert an.
»Na, dann wollen wir mal.« Zusammen übten wir zwei Stunden, bis ich mich total erschöpft auf meinem Board an den Strand spülen ließ.
»Was haben wir hier für ein heißes Strandgut?« Josh war uns zum Zuschauen an den Uferstreifen gefolgt, auf dem sich Geröll türmte.
»Von wegen heiß. Meine Haut ist doch schon ganz blau.« Angriffslustig jagte ich meinen Lehrer mit ausgestrecktem Brett wieder zu unserem Camp zurück.
Ja, unsere Schule hatte ein eigenes Surf-Team. Erin war die Namensgeberin für Dark Wave, mit dem ich mich nicht ganz identifizieren konnte, da er nach Metal Musik klang. Ich packte meine Sporttasche, setzte mir die schwarze Ray Ban auf die Nase und machte mich unter einem lauten »Ciao« auf den Weg zur Halfpipe. Während meines Trainings hatte mein Bruder Alec hier seine Zeit verbracht und ein Auge auf mein Skateboard geworfen.
***
»Ey, Bro!!! Na wie oft bist du auf die Nase gefallen?«, begrüßte ich ihn.
»Gar nicht«, gab er zurück. Alec war zwei Jahre jünger als ich, aber ein ebenso großes Surf-und Skatetalent. »Ich bleib noch ein bisschen hier.«
So schnappte ich mir mein Board, schnürte das Surfbrett auf dem Rücken fest und rollte unter grölendem Pfeifen von Alecs Freunden davon. Wie schwerelos düsten die Räder den Cycle Path, der sich über die ganze Küste erstreckte, entlang.
Zusammen mit meiner Familie lebte ich im Norden von Santa Monica. Ich bog in unsere Straße ein und kam vor dem riesigen Eingangstor zum Stehen. Die ganze Wohngegend strotzte vor Reichtum und da waren wir keine Ausnahme. Mein Vater war Anwalt und meine Mutter Immobilienmaklerin, die sämtliche Villen rund um Los Angeles verscherbelte. Für den Bau des Hauses, hatte mein Vater einen total angesagten Architekten beauftragt. Im Garten befand sich eine riesige Poolanlage, auf die man aus der großen Glasfront eine tolle Sicht hatte.
***
Ich eilte die Wendeltreppe nach oben und stürmte an meinen Kleiderschrank. Heute Abend wollte mich mein Freund Ted mit seiner Harley abholen. Ziel war eine gigantische Party in L.A..
Da ich keine einzige Minute für ein Sonnenbad hatte, musste Bronzespray herhalten. Mein Gesicht bekam eine dicke Schicht Rouge und meine vollen Lippen ein helles Gloss. Mit einem Glätteisen, verwandelte ich meine langen, dunkelblonden Haare in Engelslöckchen. Kritisch warf ich einen Blick in den Spiegel. Ein Besuch beim Frisör war dringend fällig. Durch das viele Salzwasser, waren die Spitzen schon ganz brüchig. In meinem Zimmer pflanzte ich mich auf das Bett, das unter einem riesigen Himmeldach thronte. Darin fühlte man sich jede Nacht wie eine Prinzessin. Ich griff nach dem Laptop, der auf dem Nachttisch stand. Zuerst rief ich Facebook auf. Wahnsinn, es gab schon über tausend Zusagen für die spätere Party. Bei Twitter und Instagram tauschte ich mich mit meinen vielen Freunden über das richtige Outfit aus. Ich selbst trug ein schmales, schwarzes Minikleid und gepunktete Strumpfhosen. Es klingelte an der Tür und ich verließ zufrieden mein Zimmer.
Schwungvoll öffnete ich die schwere Eingangstür und blickte in die Augen von Ted Wahlberg. Sein Anblick ließ mein Herz kurz höher schlagen. Wie er da so stand, die Hände in die tiefsitzende Jeanshose gestülpt und die schwarze Kap tief ins Gesicht gezogen.
»Hey, Babe«, säuselte er und umarmte mich kurz. »Meine Harley wartet.« Bevor ich etwas erwidern konnte, ergriff er meine Hand und zog mich an den Straßenrand. Ich hatte meinen Eltern nichts von der Party gesagt. Als Notlüge musste eine Pyjamaparty bei Erin herhalten.
»Der ist aber hässlich«, jammerte ich, nachdem Ted mir einen schlicht weißen Motorradhelm in die Hand gedrückt hatte.
»Tja, einen anderen hab' ich leider nicht und wir wollen doch nicht, dass deinem Köpfchen etwas passiert.« Wie süß er doch war, ging es mir durch den Kopf, als ich mich auf das Zweirad setzte. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen war zu hören und ich schielte noch einmal zu unserem Grundstück zurück. Die Nachbarsgardinen bewegten sich keinen Millimeter und unbemerkt ging es auf die Interstate 10. Überglücklich streckte ich die Arme von mir und ein Gefühl, als ob ich fliegen würde, überkam mich.
»Frei wie ein Vogel«, schrie ich und grinste. Der kühle Abendwind strich sanft über meine Arme und meine Haare flatterten im Wind. Wir kamen in eine enge Kurve und ich krallte mich erschrocken an Teds Hip-Hopper-Jacke fest.
Je näher wir L.A. kamen, desto dunkler wurde der Abendhimmel und erste Sterne funkelten zwischen den Wolken hervor. Ich schaute Ted über die Schulter und betrachtete mich noch einmal im Rückspiegel. Plötzlich blitzte etwas hinter uns auf und Motorenlärm durchbrach die Stille. Umständlich drehte ich meinen Kopf nach hinten. Eine schmale Hand schoss in die Höhe. Es waren Erin und Teds bester Kumpel Phil. Die beiden trugen im Gegensatz zu uns keinen Helm. Manchmal war ich über Erins Sorglosigkeit fassungslos.
***
»Wir waren Erster!«, begrüßte Ted die beiden und mit voller Vorfreude machte ich mich in Begleitung meiner Freunde auf den Weg zur wohl größten Party der Stadt. Gastgeber war Floyd Young, ebenfalls ein Kumpel von Ted. Ich kannte Floyd durch die gute Beziehung unserer Eltern, genau wie ich, gehörte er der höheren Gesellschaft an.
Die ersten Besucher waren wir nicht, überall hatten sich schon große Menschentrauben verteilt und wippten im Takt der Musik. Ted schleppte mich zum pompösen Buffettisch, dessen Anblick meinem Magen ein lautes Knurren entlockte. Ich schnappte mir einen der vielen Plastikteller und füllte diesen mit Shrimpshäppchen und Nudelsalat. Erin hüpfte aufgedreht neben mir her und suchte die Gegend nach potenziellen Opfern ab. An Phil hatte sie inzwischen das Interesse verloren. Mit dem rundlichen Gesicht, dem kleinen Mund und der viel zu großen grünen Käppi sah er aus wie ein Kleinkind mit Froschgesicht. Ted war irgendwo in der Menge verschwunden. Da ich keine Lust hatte, ihn zu suchen, setzte ich mich auf einen weichen Ledersessel.
Das Blackberry in meiner Clutch gab ein Summen von sich. Neugierig schaute ich auf das Display, es gab Neuigkeiten von Facebook. Immer lauter dröhnte die Musik durch die große Villa und die Stimmung wurde ausgelassener. Nach kurzen Minuten des Ladens las ich die Nachricht bei Facebook. Erin hatte mit ihrem Fakeaccount ein Foto von Maya gepostet. Sie ging ebenfalls auf unsere Highschool und war das Mobbingopfer von Erin und ein paar Anderen. Ich hatte nicht so viel Spaß daran, Leute auf solche Weise fertig zu machen. Dementsprechend konnte ich auch nur mit dem Kopf schütteln, als ich den Text unter dem Bild las:
»Du bist so überflüssig wie ein Sandkasten in der Sahara!« Bisher hatten schon hundertzwanzig Leute diesen dämlichen Spruch geliked.
»Waasss sitzt du denn hier alleine rum«, lallte Ted mir ins Ohr und ehe ich mich wehren konnte, befand sich mein Körper auf dem Weg nach draußen. Hinter dem Haus war, wie bei uns auch, ein riesiger Swimmingpool angelegt worden. Ein paar Jungs schwammen gerade um die Wette. »Komm, das Bier ist echt der Hammer!!!« Vor uns tauchte eine Menschenschlange auf. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und erhaschte einen Blick auf einen breiten Bierkrug. Wenig später konnte ich mit Teds Hilfe einen akzeptablen Krugstand vollführen. Ich spürte, wie der Alkohol durch meinen Körper schoss und schmeckte den süßlich-bitteren Geschmack von Bier.
Die extragroßen Plastikbecher warfen wir einfach auf eine angrenzende Rasenfläche, die jetzt schon an eine Müllhalde erinnerte.
»Ted!!! Lange nicht gesehen!« Erschrocken über die grölende Stimme, fuhr ich zusammen. Ein volltätowierter Kerl hatte sich zu uns gesellt. Er grinste mich an, wobei seine Augen gefährlich aufblitzten. Solche Typen waren einfach widerlich. Was hatte Ted schon wieder mit diesen zu tun? Der Fremde zückte etwas kleines aus seiner Hosentasche. Es war ein Stück Papier, was er jetzt ausrollte. »Lust auf ne Kippe?«, fragte er uns.
»Klar, Grass geht immer!«, schockiert und fassungslos musste ich mit ansehen, wie sich Ted einen Joint drehte, sich diesen in den Mund steckte und von dem Tattoomonster anzünden ließ.
Hatte er schon wieder damit angefangen? Er hatte doch hoch und heilig versprochen, dass er das Zeug nicht mehr anfassen würde. Aber das war anscheinend ein Makel, das ich an ihm akzeptieren musste.
»Auch mal probieren, Süße?«, fragte er mich. Leichte Panik kam in mir auf.
»Ich, ich...« Stotternd suchte ich nach den richtigen Worten.
»Ey, du da! Kannst du mal das Geschirr mit abräumen!« Eine Brünette zeigte auf mich.
»Du willst doch nicht gehen?« Ted fasste mich am Arm, so fest, dass es schon fast weh tat.
»Ich nehm' keine Drogen! Und du solltest das auch nicht!« Ich riss mich los und war froh, als die Frau mir immer näher kam.
»Ich bin Haylee«, stellte sie sich freundlich vor und ich konnte im schwachen Licht der Laternen zahlreiche Sommersprossen erkennen, die sich um ihre Nase tummelten.
»Ärger mit deinem Typen?« Sie schaute mich mitfühlend an, als ich nickte. Ihre ruppige Aufforderung an mich war nur ein kleines Schauspiel gewesen, um mich wegzulocken. Wir unterhielten uns den restlichen Abend. Ich erfuhr, dass sie auch Surferin war. Jedoch bewältigte sie als Kiterin die Wellen. Ted blieb die ganze Zeit verschwunden und ich machte mir Sorgen, wie ich wieder nach Hause kommen sollte.
»Wenn du willst, kann ich dich mitnehmen«, schlug Haylee vor. »Santa Monica liegt auf dem Weg.« Da meine Partylaune sowieso im Keller war, nahm ich ihr Angebot an.
***
Während der Fahrt in ihrem dunklen Ford, vibrierte mein Handy zweimal.
»Myabiiiiii, wo bits dui???« Ärgerlich löschte ich Teds Nachricht und verbannte ihn aus meinen Gedanken. Sollte er doch selbst sehen, wie er unbeschadet von der Party kam. Eine weitere Nachricht war von Erin:
»Bee, wo steckst du denn?? Du glaubst nicht, wen ich grad kennengelernt habe. :))« Auch das interessierte mich nicht und die SMS landete im Papierkorb. Haylee setzte mich direkt vor unserem Tor ab und ich schlich mich leise in mein Zimmer. Ich schminkte mich ab und wartete vergeblich, endlich Ruhe in einem Prinzessinenschlaf zu finden.
»Everybody's gone surfin. Surfin U.S.A. Everybody's gone surfin. Surfin U.S.A.«
Mit dem Gesang der Beach Boys öffnete ich am nächsten Morgen meine Augen. Zuerst schaute ich auf mein Blackberry, weder Erin noch Ted hatten eine Nachricht hinterlassen. Anscheinend brauchten sie mich nicht. Ein Blick in den Spiegel zeigte mir, dass mein Gesicht dringend eine Schicht Makeup nötig hatte. Erste zaghafte Sonnenstrahlen quälten sich durch die Jalousien und warfen dunkle Schatten von sich. Ich schnappte mir meine braune Ledertasche, ein Modell aus der vorjährigen Taschenkollektion von Louis Vuitton. Besonders stolz war ich auf die Reisverschlüsse, die die Form eines Schlüssels hatten.
»Bee!!! Wir müssen los! Ich habe heute noch einen Termin mit einem wichtigen Mandanten«, rief mein Vater. Ich rannte die Wendeltreppe nach unten und wurde von meinem Bruder empfangen. Alec hatte sich seinen Rucksack bereits über die Schulter gehängt und hielt kauend einen Apfel in der Hand. Ich griff auch nach dem saftigen Obst und wenig später saß ich neben meinem Vater im Auto. Das Rauschen der Klimaanlage war das einzige Geräusch, was uns während der Fahrt begleitete. Meine Gedanken kreisten um Ted. Bestimmt erschien er nicht in der Schule. Alecs Handy gab einen schrillen Ton von sich und ich drehte mich nach hinten. Mit der einen Hand an der Lehne meines Sitzes abstützend, schaute ich ihn genervt an.
»Kannst du das mal leiser machen? Du Spielkind, wirst wohl nie erwachsen?« Doch ich bekam keinerlei Beachtung und wurde von der kräftigen Hand meines Dads wieder nach vorne gezogen.
»Bee, lass deine schlechte Laune nicht an deinem Bruder aus!«, ermahnte er mich. Beleidigt schaute ich nach draußen und als die Animo-Venice-Charter-High-School vor uns aufragte, stieg ich ohne eine Verabschiedung aus und knallte die Tür zu.
***
Meine Laune war im Keller und es warteten noch unerträgliche siebeneinhalb Stunden auf mich, ehe endlich Wochenende war. Ein tiefes Durchatmen und ich wandte mich dem modernen Gebäude zu. Die Wände waren weiß verputzt, nur an einigen Stellen hatte man Farbe gezeigt und die Flächen grün gestrichen. Das Ganze gehörte zu einer Image-Aktion, um zu zeigen, wie umweltfreundlich unsere High-School war.
»Von wegen Öko«, dachte ich. Die Außenbereiche waren von naturfarbenen Segeln überspannt und wurden von einer Klimaanlage kühl gehalten. In der Eingangshalle rannten schon hunderte Schüler kreuz und quer durch die Gegend. Ein pummeliges Mädchen aus der Unterstufe rempelte mich unsanft an.
»Kannst du nicht aufpassen!?Du Fettkloß!«, schrie ich, bereute meine Worte aber sofort. Was konnten schließlich die anderen Leute für meine miese Stimmung.
»Was war das für ein geiler Wutausbruch?«, begrüßte mich Erin. Sie trug eine große Sonnenbrille. Anscheinend wollte sie die Nachdrücke von der gestrigen Party kaschieren.
Ich ging nicht auf ihre Äußerung ein und fragte stattdessen: »Weißt du wo wir jetzt Mathe haben?«
»Uh, was ist denn mit dir los? Stress mit Ted?« Ich drehte mich wortlos um und folgte einer Klassenkameradin, die ich in der Masse ausgemacht hatte. Mr. Galbraith erwartete uns bereits im Raum hundertsechsundzwanzig. Kaugummikauend vertrieb ich mir den öden Unterricht mit einigen Kritzeleien auf dem Holztisch.
»Maybee! Was haben Sie denn zu dieser Lösung zu sagen?« Ich riss meinen Kopf nach oben und starrte irgendwelche merkwürdigen Formelzeichen, die von sämtlichen Zahlen umgeben waren, auf der Tafel an. »Maybee, noch da?«, bohrte mein Lehrer weiter.
»Sie wissen doch, dass ich eine Null in Mathe bin. Können Sie mich nicht einfach in Ruhe lassen!?«, fauchte ich ihn an und erntete ein spöttisches Augenbrauenzucken. Mayas Arm schoss in die Höhe und ich war dankbar, dass jetzt alle Aufmerksamkeit auf ihr lag. Das nächste Fach war Geschichte und keineswegs besser. Wir behandelten gerade die Kolonialzeit. Was interessierte mich das, was vor hunderten von Jahren war. Die einzige Stunde, auf die ich mich wirklich freute, war Physik. Das lag nicht am Kurs selbst, sondern an Mr. Topham.
»Was waren die großen Physiker eigentlich für Menschen? Also Albert Einstein war z.B. relativ und Anders Celsius war hitzig«, gab er von sich, woraufhin die ganze Klasse in lautes Gelächter ausbrach. Mich eingeschlossen, die Witze von Mr. Topham waren einfach göttlich. Gegen vierzehn Uhr suchte ich einige Kumpels von Ted in der Kantine auf. Er war heute natürlich nicht erschienen und ich ärgerte mich, mir die Mühe gemacht zu haben, überhaupt nach ihm zu fragen. Den restlichen Schultag ließ ich mit den Sportkursen Zumba und Cheerleading ausklingen. Nach Unterrichtsschluss waren Erin und ich auf dem Parkplatz verabredet. Treffpunkt, war eine schiefe Palme, der mal ein Auto zu nahe gekommen war.
»Bee, wie war das Training bei Kenya?«, fragte sie.
»Super anstrengend, wie immer.« Kenya war selbst noch Schülerin und leitete seit zwei Jahren den Kurs für die Nachwuchs-Cheerleaderinnen. Ich kam gut mit ihr klar und hatte immer Spaß beim Training.
»Na ihr beiden!« Erins Schwester Madison fuhr mit ihrem schneeweißem VW Beetle Cabrio vor. Sie hatte die gleichen langen braunen Haare wie ihre Schwester. Nur vom Gesicht unterschieden sie sich. Madison hatte eine markantere Nase und längere Wimpern.
***
Der frische Fahrtwind strich uns durch die Haare und wir sangen zu den Radioklängen mit. Uns stand eine lange Shoppingtour auf der Third Street Promenade von Santa Monica bevor. Zur Stärkung suchten wir als erstes Yummi Cupcakes auf. Ich konnte mich bei dem gigantischen Angebot an Süßigkeiten gar nicht richtig entscheiden. Mit vollen Mägen klapperten wir Abercrombie & Fitch, Forever 21 und Guess ab. Die Schaufenster lockten mit luftigen Sommerkleidern und stylischen Accessoires. Bei Burberry hatte es mir ein Tulpenkleid mit Lochstickerei angetan. Neben dem Surfen, war der Besuch in etlichen Boutiquen mein zweites leidenschaftliches Hobby. Die Zeit verging wie im Flug und ich fühlte mich deutlich besser als heute Morgen. Sollte Ted doch zur Hölle fahren. Wir stöberten in den Neuheiten von H&M und zum Abendbrot gab es eine knusprige Margherita von Johnnie's NY Pizzeria.
»Da seid ihr ja für morgen bestens gerüstet«, sagte Madison und legte uns jeweils einen Arm um die Schultern. Manchmal konnte ich mich sogar besser mit ihr, als mit Erin verstehen. Sie hatte immer gute Laune, mit der sie jeden sofort ansteckte.
»Klar sind wir das«, sprachen wir aus einem Mund. Ein leichtes Kribbeln von Aufregung durchfuhr meinen Körper. Bei den anstehenden Surfmeisterschaften von Malibu war ich bereit, alles zu geben.
Alec und ich wurden am nächsten Morgen von Erin und Madison abgeholt. Die pompösen Häuserfronten Santa Monicas zogen an uns vorbei. Als die Animo Venice Charter High School in Sicht kam, drosselte Madison das Tempo.
»Na, gut ausgeschlafen für den heutigen Tag?« Josh war uns mit einem breiten Grinsen entgegengetreten und öffnete mir die Autotür.
»Wir sind bestens vorbereitet«, antwortete Erin und ging auf die Lagerhalle zu, wo unsere Bretter und die restliche Ausrüstung untergebracht waren.
»Ich fahr' dann schon mal voraus. Schließlich brauche ich einen der besten Plätze.« Madison holte ein großes Pappplakat mit pinken Verzierungen aus dem Kofferraum.
»Wie peinlich«, dachte ich. Erins Schwester war immer die lauteste im gesamten Publikum, um andere zu übertönen, schrie sie irgendwelche Anfeuerungsrufe, dessen Inhalt wir meistens nicht verstanden. Mit einem lauten Hupen fuhr sie davon.
»Na dann wollen wir mal!« Mit einer Handbewegung scheuchte uns Josh auf den großen Van zu. Neben Alec, Erin und mir, bestand unser Surfteam noch aus Sean, dem besten Kumpel meines Bruders und Kelly, die unser Ersatz war und zum ersten Mal an Meisterschaften teilnahm. Die Jungs befestigten die Surfbretter auf dem Dachträger und wir Mädchen verfrachteten den Rest im Kofferraum. Zum Schluss kontrollierte ich, ob sie mein Brett nicht vergessen hatten. Ständiges Überprüfen war eine lästige Angewohnheit von mir. Die auch in diesem Fall unbegründet blieb, da ich mein türkises Board sofort zwischen den Anderen herausstechen sah. Im Auto war Platz für sieben Personen und ich quetschte mich zwischen Kelly und Erin. Kelly kaute nervös auf ihren Fingernägeln herum, was ihre große Anspannung noch mehr verdeutlichte.
»Alle angeschnallt?«, kam es von vorne.
»Klar!!!«, gaben wir zurück.
Neben Josh hatte sich unsere Physiotherapeutin Christina gesetzt. Aus irgendeinem Grund konnte sie mich nicht besonders leiden und mied jeglichen Kontakt mit meiner Person. Mir war das nur recht, denn ich brauchte niemanden, der an mir herum hätschelte. In diesem Jahr fanden die Meisterschaften im vierunddreißig Kilometer entfernten Malibu statt. Auf uns wartete eine vierzigminütige Fahrt. Ich warf einen Blick aus dem linken Seitenfenster, doch bis auf die unendlichen Flächen des Meeres, war nichts zu sehen. Der Pazific Coast Highway schlängelte sich wenige Meter am Wasser entlang.
»Glaubst du, wir können das Surf-Chic-Team dieses Mal schlagen?«, Erin schaute mich neugierig an. Die untalentierten Möchtegernsurfer aus unserem stärksten Konkurrenzteam hatten uns letztes Jahr um den Hauch weniger Punkte geschlagen.
»Wir haben so hart trainiert, ein zweites Mal lassen wir uns den Sieg nicht nehmen«. Guter Dinge lehnte ich mich in meinem Sitz zurück und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die auf mein Gesicht schienen.
***
»Endstation!«, rief Josh und öffnete mit einem Ruck die Schiebetür. Wir stiegen aus und ich spürte eine starke Briese aus dem Westen. Die leichtesten Bedingungen würden wir heute nicht haben. Christina schickte uns in die passenden Umkleidekabinen. Für den Wettkampf hatte ich mir extra einen nagelneuen Wet-Suit angeschafft. Da mich lange Ärmel und Beinlängen immer störten, hatte ich mich für einen Shorty entschieden. Das Wasser in der Bucht von Malibu war zwar nie besonders warm, aber das störte mich nicht. Beim Wellenreiten blendete ich sowieso immer alles aus. Als ich nach draußen trat, konnte ich in der lauten Reggea-Musik Teds Stimme ausmachen. Freudig legte ich an Geschwindigkeit zu. Er war bestimmt gekommen, um sich bei mir zu entschuldigen.
Ich bog um die Ecke des Gebäudes und hielt inne. Dort hatte sich eine große Gruppe versammelt und neben Ted erkannte ich ein zweites bekanntes Gesicht. Den tätowierten Drogendealer. Der Surfrider Beach hatte leider nicht den allerbesten Ruf, brauchte aber dringend Geld, sodass wir den Zuschlag für die Meisterschaften bekommen hatten. Bei der Gruppe handelte es sich um sogenannte Mitglieder der Beach Bums. Diese lebten in ihren verrotteten Autos und hatten den ganzen Tag nichts anderes zu tun als zu Kiffen und zu Surfen. Ich wollte mich gerade vorsichtig wieder nach hinten bewegen, als sie mich entdeckten.
»Bee!!! Komm' zu uns!«, schrie Ted und ich war mir nicht sicher, was ich machen sollte. Einen kurzen Augenblick verharrte ich auf der Stelle und beschloss doch auf die Menge zuzugehen.
»Was gibt's' denn?« Wütend und mit verschränkten Armen baute ich mich vor ihm auf.
»Ach, Süße!!! Du musst doch nicht mehr sauer sein. Wegen so einer Kleinigkeit.« Mir schauten zwei glasige Augen entgegen.
Er war also schon wieder stoked (ein Wort aus der Sufersprache, was so viel bedeutete wie komplett auf Droge zu sein).
»Wir können reden, wenn du wieder von deinem Trip runter bist!«, fuhr ich ihn an und erntete Gelächter.
»Was ist denn mit deiner Kleinen los? Wie schräg ist die denn drauf?« Ein Dunkelhäutiger zeigte mit einem qualmenden Joint auf mich. So schnell ich konnte, stapfte ich in dem heißen Sand in Richtung unseres Lagers. Die Bretter mussten noch gewachst werden. Mit aller Kraft, die ich aufbrachte, um auch Ted wieder zu vergessen, verteilte ich den weißen Surfwachs auf der Oberfläche meines Boards. Es diente der Rutschfestigkeit. Josh rannte mit einem weißen Zettel in der Hand auf unser Team zu.
»Also wir starten heute mit dem Mannschaftswettbewerb und morgen seid ihr dann im Einzel dran«. Im Team durften jeweils zwei Jungs und zwei Mädchen ins Wasser. Ich ließ mich neben Alec in den Sand fallen, um auf die Durchsage der Startreihenfolge zu warten.
»Alec, wenn du heute wie Laird Hamilton über die Wellen reitest, ist uns der Sieg nicht zu nehmen.« Hamilton war das große Vorbild meines Bruders.
***
»Als nächstes bitten wir das Team Dark Wave um Erin Walter, Sean Lanter, sowie Mabee und Alec Clark an den Start«, hallte es aus den Lautsprechern. Die aufkommende Nervosität spannte jede Faser meines Körpers an und ein Kribbeln überzog meine Haut.
»Bee!« Josh hatte nach mir gerufen und ich drehte mich noch ein letztes Mal um. »Denk' dran! Immer down the line surfen und nie in den Bereich der brechenden Welle kommen. Perfekt ist die Linie zwischen Wellenkamm und Wellental.« Ich nickte eifrig, klemmte mir das Brett seitlich unter den rechten Arm und sprintete voller Zuversicht auf den Pazifik zu.
Die aufgeschäumten Wellen versickerten im Strandsand und hinterließen eine weiße Linie, die die Grenze zwischen Land und Wasser bildete. Bevor meine Füße den Ozean erreichten, setzte ich mein Brett noch einmal auf dem Boden ab. Zur Sicherung musste jeder Surfer, der an einem Wettkampf teilnahm, einen Klettverschluss am Knöchel tragen. Diese Befestigung wird als Leash bezeichnet und gibt dem Wellenreiter zusätzlichen Halt . Mit zittrigen Fingern schloss ich den Verschluss und atmete tief durch.
»Bee!!! Wir schaffen das!« Alec war neben mir zum Stehen gekommen und klopfte mir auf die Schulter.
Unser Team hatte sich in einer Startreihe aufgestellt und wartete auf Erins Kommando. Mein Brett klemmte wieder unter dem Arm, damit der Wind nur eine kleine Angriffsfläche zur Verfügung hatte.
»Life is too short to waste«, begann Erin und wir komplettierten mit einem »Go Surfing« unseren Anfeuerungsruf.
Automatisch trugen mich meine Beine ins Wasser. Die kalten Temperaturen ließen mich kurz frösteln und hinterließen eine Gänsehaut, doch wie immer schüttelte ich den Kälteschock nach kurzer Zeit ab. Mit großen Armschlägen bewegten wir uns auf die perfekte Wassertiefe zu. Der Wind hatte aufgefrischt und jetzt hieß es nur noch die perfekte Welle abzuwarten. Diese Sekunden konnte man mit dem Ausharren vor einer roten Ampel vergleichen, die jeden Moment auf Grün umspringen konnte. Einige Meter rechts von mir wurde das Wasser zu einer riesigen Wand aufgetürmt. Ich legte meinen Bauch flach auf das Brett und begann mit beiden Armen wild zu Paddeln, um auf Geschwindigkeit zu kommen. Das frostige Wasser schlug mir ins Gesicht und ich musste kräftig husten, als sich einige Tropfen ihren Weg in meine Nase suchten. Das Rauschen der Wassermassen wurde immer lauter und dröhnte in meinen Ohren. Jetzt waren es nur noch ca. sieben Meter.
Langsam drehte ich das Brett, sodass es in einem rechten Winkel zur Welle lag. Mit aller Kraft vollführte ich den Take-off, sozusagen das Aufstehen vom Brett. Meine Arme standen unter höchster Spannung, als erst der Oberkörper und schließlich meine Beine in die Höhe wanderten. Aus den Augenwinkeln konnte ich meine Mitstreiter erkennen, die ebenfalls auf ihren Boards standen. Der wichtigste Schritt war jetzt die Einteilung von Balance und Kraft. Auf der Hinterseite meines Bretts spürte ich einen kleinen Schlag, als sich die Welle langsam darunter hinweg schob.
Der Ablauf unser eingeübten Choreographie funktionierte wie auf Knopfdruck. Harmonisch bewegten wir uns wie in einer Einheit über den Pazifik. Laute Jubelrufe drangen vom Ufer zu uns herüber und ich meinte die Stimme von Madison besonders herausstechen zu hören. Das blaue Gold des Ozeans flachte genau wie mein Adrenalinspiegel allmählich ab. Die erste Hürde hatten wir gemeistert und klatschten uns, wieder im Sand angekommen, erleichtert ab.
***
»Das habt ihr super gemacht!« Josh kam auf uns zugeeilt.
»Hoffentlich reicht es gegen die Surf-Chics.« Pessimistisch schmiss Erin ihr Board auf den Boden. Sie war schon immer eine Skeptikerin gewesen und konnte sich erst freuen, wenn das Ergebnis schwarz auf weiß feststand.
»Du musst nicht alles so düster sehen.« Aufmunternd begleitete unser Lehrer uns zum Camp zurück.
Christina verteilte geschnittene Bananen und Reiswaffeln, die unsere Mägen stärken sollten. Ich blickte mich um, doch Ted schien unseren Auftritt nicht verfolgt zu haben. Wahrscheinlich sonnte er sich völlig zugedröhnt zwischen seinen Kumpels.
Ungeduldig beobachtete ich die Konkurrenz auf dem Wasser, die aber bei weitem nicht an unsere Punktzahl herankam. Den Abschluss machten die Sportler vom Surf-Chic-Team. Kelly kaute weiterhin auf ihren Nägeln und mein Blick verharrte auf der Ergebnisanzeige.
»Scheiße!!!«, fluchte Alec und vergrub seine Faust zwischen den Sandkörnern, die in allen Richtungen davon sprangen.
»Komm, es sind nur zehn Punkte«, beruhigte Sean ihn. Genauso sah ich das auch, es war noch nichts verloren.
Vorm Start der zweiten Runde, richtete ich die Spurhalter, Fins genannt, meines Brettes noch einmal neu aus. Nervös trommelte ich mit meinen Fingerkuppen über die gewachste Oberfläche, was einen angenehmen Kokosduft verströmte. Kokoswachs war meine absolute Lieblingssorte und hatte eine beruhigende Wirkung auf meine Nerven.
Die Windböen hatten zugenommen und es hatte angefangen leicht zu regnen. Meine Lippen begannen zu zittern und ich betete, dass wir jeden Moment ausgerufen wurden. Die Nachmittagssonne versank schrittweise hinter dem Horizont und das Pazifikblau färbte sich schwarz.
»Maybee Clark.« Die Erwähnung meines Namens ließ mich hochschrecken. Schritte hinter mir veranlassten mich zum Umdrehen.
»Diesmal müsst ihr mehr als hundert Prozent geben«, versicherte Josh mir und ich nickte stürmisch mit dem Kopf.
Der zusätzliche Druck schien meine Muskeln schwerer werden zu lassen. Eine zähe Anspannung breitete sich in mir aus. Meine Hände krallten sich am Board fest und mit aller Kraft schrie ich zu unserem Anfeuerungsruf mit. Diesmal kam es ganz besonders auf unsere Technik an.
***
Synchron steuerten wir auf das unruhige Gewässer vor uns zu. Bei dem auffrischenden Wind waren die Bedingungen keineswegs leichter geworden. Mit all meiner Energie paddelte ich auf die Wellen zu. Sie schienen im Laufe des Wettkampftages noch größer geworden zu sein. Adrenalin durchfuhr meinen Körper und ich gab einen lauten Schrei von mir, als ich mich vom Brett hochstemmte. Ich wurde in die Höhe gerissen und ritt voller Entschlossenheit auf dem Wellenkamm entlang.
So schnell, wie ich nach oben gehoben wurde, so schnell brach die Welle wieder und stürzte in sich zusammen. Mein Brett streifte den Boden und ich bereitete mich darauf vor, wieder an die Wasseroberfläche zu kommen. Doch mein rechter Fuß bewegte sich keinen Zentimeter. Panisch griff ich mit der Hand an den Knöchel. Der Leash hatte sich irgendwo verfangen. Der Druck in der Tiefe wurde stärker und mein Brett immer mehr nach hinten getrieben, was einen stechenden Schmerz in meinem Bein auslöste. Die Luft in meinen Lungen verringerte sich mit jeder weiteren Sekunde. Verzweifelt ruderte ich mit den Armen wieder nach vorne, doch gegen die Wassermassen war ich machtlos. Die aufkommende Stille wurde von einem tosenden Rauschen unterbrochen und ich kniff die Augen zusammen. Mein Blick wurde immer unklarer und ich strampelte mit meinem Fuß, der wie angegossen im Klettverschluss hängen blieb. Oberhalb meines Kopfes wurde es schlagartig dunkel und die Macht des Ozeans wurde intensiver. Um mich herum herrschte plötzlich absolute Stille, nur das Flüstern der Wellen war zu hören.
»Die Ruhe vor dem Sturm«, dachte ich bitter.
Und es sollte sich bewahrheiten. Ein kräftiger Ruck am Rücken riss mich auf den Grund, auf den ich mit einer solchen Heftigkeit aufschlug, dass die letzte Luft aus mir wich. Ich war unfähig mich zu bewegen und schleichend kroch die schwarze Finsternis heran und umschloss mich in einer Umarmung, aus der es kein Entrinnen gab.
»Piep! Piep! Piep!« Die schrillen Geräusche lösten einen stechenden Schmerz in meinem Kopf aus.
Der salzige Meeresgeruch hatte sich in einen Mantel aus chemischen Desinfektionsmitteln geworfen. Verwirrt wollte ich die Augen aufreißen. Allein diese kleine Tätigkeit raubte mir unendlich viel Energie und bis auf ein beißendes, weißes Licht, konnte ich nicht viel erkennen. Warum hatten sich die Sonnenstrahlen in so einen kalten Schein verwandelt und wo war das Meeresblau geblieben?
»Bella, sie ist wach. Du musst Doktor Fishbone Bescheid sagen!« Diese Wortfetzen setzen sich wie die Krallen einer Zecke in meinen Nervenbahnen fest und brachten meinen Kopf fast zum Platzen.
Wieso redeten sie über mich und sprachen, davon, dass ich endlich aufgewacht wäre? Hatte Ted mich doch dazu überredet, seine Drogen zu probieren? Und das Resultat war ein grausiges Aufwachen mit einem Dröhnschädel im Krankenhaus?
Ja, das musste es sein. Die weißen Farben, der Geruch, die Schläuche und Doktor Fishbone waren Indizien für diesen schrecklichen Ort.
»Hallo, kannst du mich hören?« Irgendetwas Dunkles wischte vor meinen Augen hin und her.
Die Stimme konnte ich einem Mann zuordnen, vielleicht war es dieser Doktor. Ich nahm alle Kraft auf mich, um mein Blickfeld weiter zu umfassen. Erste Konturen stachen hervor und ich sah in die dunklen Pupillen meines Gegenübers.
»Maybee, ganz ruhig. Du darfst dich jetzt nicht zu viel bewegen.« Eine Hand legte sich auf meine Schulter und blieb dort liegen, schwer wie eine Bleikugel.
»Wass«, setzte ich an, doch irgendwie funktionierte meine Zunge nicht richtig. Mein ganzer Mund schien ausgetrocknet und die Worte blieben mir im Hals stecken. Verzweifelt drückte ich mich in etwas Weiches hinter meinem Rücken, ganz unbequem waren die Krankenhauskissen anscheinend doch nicht. Wie konnte ich hier nur zur Verständigung geben, dass ich dringend etwas zum Trinken brauchte?
Möglicherweise verfügte Doktor Fishbone über die Fähigkeit der Telepathie, denn wenig später spürte ich, wie eine kalte Flüssigkeit meinen Rachenraum durchspülte. Ich schluckte gierig und bekam einen Hustenanfall, als sich versehentlich ein paar Wassertropfen in meine Luftröhre schlichen.
Schwer atmend startete ich einen zweiten Versuch: »Was ist passiert?« Es war merkwürdig meine eigene Stimme zu hören, die so unwirklich und fremd erschien. Denn mehr als ein klägliches Kratzen war nicht von ihr übrig geblieben.
»Du hattest einen Surfunfall, Maybee.« Die männliche Stimme begann zu sprechen und zum ersten Mal konnte ich wirklich in das Gesicht meines Gesprächspartners gucken. Seine Gesichtszüge hatten einen asiatischen Touch, die so gar nicht zum Namen passen wollten und wurden von pechschwarzen Haaren eingerahmt.
»Unfall!?«, krächzte ich und erntete ein mitfühlendes Nicken.
Angestrengt dachte ich nach, doch die Bilder, die die Aussagen des Arztes bestätigen könnten, blieben mir verwehrt. Tränen kullerten über meine Wimpern. Ich ballte die Faust und stieß sie kraftvoll in die Matratze. Diese wehrte sich mit einem federnden Quietschen.
»Ah!!!«, entfuhr es meiner Kehle und ich biss die Zähne zusammen.
Mein Rücken fühlte sich an, als würde eine Feuerspur darauf entlang laufen und lichterloh in Flammen stehen.
»Du musst dich schonen«, besänftigte mich Doktor Fishbone, auf eine skurrile Weise schien sein Name irgendwie zu einem Surfunfall zu passen.
»Ich will hier nicht länger bleiben!!!« Jammernd wollte ich mit den Beinen strampeln, doch ich empfand absolut nichts. Panisch tastete ich mit der Hand nach meinem Unterkörper und spürte dort etwas Hartes. Sie waren also noch da.
Der Asiate schien meine Entdeckung bemerkt zu haben. »Maybee, du leidest unter einer Parese, eine inkomplette Lähmung beider Beine. Der Grund ist eine Quetschung im Rückenmark, die du dir bei dem Unglück zugezogen hast.«
»Ich hatte keinen Unfall, verdammt noch mal!!! Und meine Beine bewegen kann ich auch!!!« Mit dem Schwall dieses Wutausbruches wollte ich die grausame Wahrheit widerlegen.
»Ted hat mir doch Drogen angeboten!«, warf ich ein.
»Wovon redest du? Du hast keine Drogen genommen.« Der letze Ankerhaken war aus dem Boden gerissen und ich befand mich auf direktem Weg in die erbarmungslose Realität.
Ein Film spielte sich vor meinem Kopf ab, das Gehirn hatte anscheinend die verloren gegangene Filmrolle gefunden: Erin und ich im Auto auf dem Weg zu den Meisterschaften nach Malibu, Ted bei den Beach Bums, der knappe Rückstand nach dem ersten Durchgang und schließlich ich, die verzweifelt versuchte ihren Knöchel zu befreien, um der herannahenden Welle zu entkommen. Letzteres hatte ich offenbar nicht geschafft.
Ich wollte diese entsetzlichen Erinnerungen verdrängen und schaute mich in dem Zimmer um. Das ständige Aufblinken der Geräte beruhigte mich aber keineswegs.
Jemand räusperte sich. Doktor Fishbone hatte ein Klemmbrett in der Hand und begann mir die grauenvolle Diagnose weiter vorzulesen.
»Neben der Lähmung hast du etliche Prellungen und ein paar Rippenbrüche. Auf Grund einer Hypoxämie, also Sauerstoffmangel mussten wir dich ins künstliche Koma versetzen, um weitere Schäden des Großhirns zu verhindern.«
»Warum erzählen Sie mir das alles?! Ich will das nicht wissen!!! Sie müssen im falschen Raum sein. Tragen Sie den Scheiß jemand anderem vor!«
Zaghaft verzogen sich die Mundwinkel des Arztes. »Ich weiß, anfangs ist es immer schwer mit dem Gesagten klarzukommen. Aber deine Lähmung ist reversibel, mit der Zeit wirst du wieder laufen können!«
Jetzt waren alle Bände gebrochen: »Ich muss in den Rollstuhl?!« Meine Arme fingen an, wild um sich zu schlagen und entzogen sich dem Griff des Asiaten, jedoch nur so lange, bis ich ein kleines Pieken in der Armbeuge spürte. Meine Muskeln wurden schlapp und ich döste weg.
***
Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde ich von einem unangenehmen Geräusch geweckt. Diesmal glich es dem metallischen Schieben einer Fahrstuhltür. Im Augenwinkel sah ich weiße Gestalten und unendlich viele Türen an mir vorbeiziehen. Plötzlich blieb mein Krankenbett stehen, auf dem ich immer noch wie eine Gefangene lag. Inzwischen hatte ich wieder klare Sicht und sah eine hellbraune Holztür vor meiner Nase aufgehen.
»Was schieben Sie denn für einen Krüppel herein? Ich hatte mit etwas Besserem gerechnet.«
»Ein bisschen mehr Respekt, Rachel!« Die vertraute Stimme von vorhin drang an mein Ohr.
Ich wurde über die Türschwelle geschoben und neben einem anderen Bett platziert. Meine Augen scannten blonde Haare, eine dunkle Iris, dünne Augenbrauen und einen eingegipsten rechten Oberarm. Der Anblick war mir unsympathisch.
»Willkommen zurück aus dem Dornröschenschlaf.« Das helle Lachen bereitete mir sofort Kopfschmerzen. Jetzt musste ich die Zeit hier auch noch mit so einer Oberzicke totschlagen.
»Maybee, du ruhst dich ein paar Tage aus, ich werde mit deinen Eltern ein Gespräch in Bezug auf eine Reha führen.«
Wie aus dem Nichts kam in mir eine Frage auf, die mir eigentlich schon früher in den Sinn gekommen sein müsste. »Wie lange war ich eigentlich im, im Koma.« Es war unangenehm diese vier Buchstaben über die Lippen zu bringen.
»Zwei Wochen«, antwortete Doktor Fishbone mir.
»Wie bitte ganze zwei Wochen?«, fragte ich entsetzt und bekam ein Nicken als Antwort. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Vierzehn Tage lang war das Leben einfach an mir vorbeigezogen, ohne dass ich auch nur eine einzige Sekunde davon mitbekommen hatte. Und zu allem Überfluss hatten die Sommerferien begonnen und ich musste hier ganz alleine in diesem Kasten ausharren, ohne mich auch nur einen Schritt auf meinen Beinen fortbewegen zu können.
Dr. Fishbone verabschiedete sich und ließ mich mit dem eingegipsten Ungeheuer alleine zurück. Mit den Worten »Ruhe dich bitte den Nachmittag lang aus«, war die Tür ins Schloss gefallen. Was sollte man auch anderes hier tun, wenn man nicht mal in der Lage war sein Bett zu verlassen. Aus meinem linken Augenwinkel vernahm ich eine Bewegung und musste mit ansehen, wie Rachel ihre Füße ausstreckte und schwungvoll auf den Boden hüpfte.
»Meine Beine brauchen dringend eine Abkühlung bei der stickigen Luft hier drinnen und das Wasserbad ist einfach der Hammer. Vielleicht willst du ja mitkommen?« Sie machte eine nachdenkliche Miene und ich musste mich zwingen, nicht mein Kopfkissen nach ihr zu werfen.
»Oh, hab' ich ja fast vergessen. Du kannst mich ja gar nicht begleiten.« Mit einem breiten Grinsen stolzierte sie aus dem Zimmer.
Ich atmete tief aus und wollte mich gerade den Schubladen meines Nachttisches zuwenden, als die Tür erneut aufging.
»Na, hast du was vergessen?«, rief ich entnervt.
»Nicht das ich wüsste.« Eine Krankenschwester baute sich vor mir auf.
Ich schluckte verlegen und murmelte ein leises »Tschuldigung«.
»Schon vergessen, Rachel ist inzwischen im ganzen Krankenhaus bekannt. Eigentlich bin ich gekommen, um dir die restlichen Sachen mitzubringen.«
Die blondhaarige Frau stellte eine Vase Blumen auf die Tischplatte neben mir und platzierte davor eine kitschige Plastikkarte. Die Blüten der Pflanze sahen so farblos aus, dass ich die Schwester fast darum gebeten hätte, sie wegzuwerfen. Mit den Fingern angelte ich mir die Karte, auf der ein fettes Gute Besserung abgebildet war. Ich klappte das Papier auf und entdeckte die Handschrift meiner Mutter, die sich in der untersten Ecke versteckt hatte. Fast so, als sollte ich sie gar nicht lesen. War ja klar, dass die beiden außer eines krakeligen Mum & Dad's und des kümmerlichen Blumenstraußes, den sie bestimmt auf dem Hinweg bei einer Tankstelle erworben hatten, nichts für mich übrig hatten. Mit einem großen Bogen warf ich die Karte in den Papierkorb.
***
Mittlerweile war ich wieder alleine, da die Pflegerin in die Kantine aufgebrochen war, um mir ein leckeres Mittagessen zu holen. Mit einem lauten Vibrieren machte mein Handy auf sich aufmerksam. Ich schnappte mir das Blackberry und musste einige Sekunden überlegen, welchen Code meine Bildschirmsperre hatte. Ein klein bisschen Stolz überkam mich, als ich endlich im Hauptmenü angekommen war. Die zwei Wochen Koma hatten ein Glück nicht alles aus meinem Gedächtnis gelöscht. Die SMS war von Ted. Meine Hände kribbelten, als ich die Textnachricht öffnete und verwandelten sich beim Lesen der kargen Worte in trostlose Steine.
»Hey, Bee. Ich komm' Morgen vorbei, wenn ich Zeit habe.«
Meine Augen suchten vergeblich nach einem »Wie geht es dir?« oder »Hab' dich vermisst«.
Meine Laune besserte sich keineswegs, als mir die völlig überkochte Erbsensuppe serviert wurde. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so ein helles und geschmackloses Zeug hinuntergewürgt. Mit einer entschuldigenden Geste tischte man mir dann den Nachtisch auf: grüner Wackelpudding, in dem sich irgendwelche dunklen Flecken verkrochen hatten. Ich musste mich zusammenreißen, dass mir das Essen nicht wieder hochkam. Als sich mein Magen einigermaßen beruhigt hatte, musste er schon die nächsten Strapazen über sich ergehen lassen.
Denn gerade als ich versuchte ein entspanntes Nickerchen zu machen, ließ sich Rachel wieder blicken. Diesmal nicht alleine sondern mit drei Mädchen, die ihr von der Art, wie sie vor mir auftraten, ziemlich ähnlich waren.
»Nicht wundern, ich habe meine Freunde eingeladen. Wir werden hier ein bisschen essen, denn das eklige Zeug, was wir hier sonst bekommen, kriegt doch keiner runter nicht wahr?«
Spöttisch beäugte sie meinen zur Hälfte leergelöffelten Puddingbecher. Ihre Freunde ignorierten mich, rissen sich die Besucherstühle unter die Arme und nahmen neben Rachels Bett Platz. Neidisch musste ich zusehen, wie sie knusprige Pommes und Chicken Nuggets von McDonalds verspeisten. Hin und wieder warfen sie mir abfällige Blicke zu und tuschelten geheimnisvoll. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich deren Gesprächsthema war. Als sie dann auch noch in lautes Gelächter ausbrachen, verbarrikadierte ich mich hinter einer öden Zeitschrift, die nichts besseres zu tun hatte, als sich über irgendwelche Promis, die wohl nur alte Menschen kannten, das Maul zu zerreißen.
»Sarah, 'Gossip Girl' läuft gleich.« Rachel bedeutete ihrer Freundin, sich die Fernbedienung zu schnappen, die am Rande meines Nachttisches lag.
Ich nahm alle Kraft zusammen, um mit den Fingerspitzen die Erste zu sein, doch leider war Sarah schneller und schnappte sich das Teil. Wie schon den ganzen Tag, war ich mal wieder die Looserin. In der Zwischenzeit hatten die anderen den Fernseher zur Seite gedreht, sodass ich nur noch die Hinterseite sehen konnte. Wieso hatten die Leute im Krankenhaus nicht vor jedes Bett einen Bildschirm gehängt? Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass man sich untereinander einigte. Das war bei mir Rachel absolut nicht der Fall.
Die Zeitschrift hatte doch noch etwas Gutes an sich gehabt, denn auf der vorletzten Seite fand ich ein Kreuzworträtsel, mit dessen Lösung ich den ganzen Nachmittag beschäftig war. Gegen Abend hörte ich die Erlösung vor meiner Tür.
***
»Maybee braucht Ruhe, aber ein paar Minuten können Sie sich mit ihr unterhalten.«
»Na, dann lass uns mal die Zeit sinnvoll nutzen, Alec.« Josh's Stimme kroch unter dem Türspalt hindurch an mein Ohr.
Die Mädchenclique neben mir war verstummt und sie packten bereits ihre Sachen.
»Bee!!!« Mein Surflehrer kam auf mich zugeeilt und zerquetschte mich fast in seiner überschwänglichen Umarmung. Mein Bruder war ein Glück etwas sanfter. Der Tag schien doch noch ein gutes Ende zu nehmen. Vergnügt schaute ich in Rachel's zugleich erstauntes und neidisches Gesicht. Tja, so coole Freunde wie ich hatte sie anscheinend doch nicht. Meine Besucher hatten mir zum Abendbrot gebratene Nudeln mitgebracht. Josh erzählte mir allerhand neues aus der Surferwelt.
»Wie ist denn der Wettkampf ausgegangen?« Eigentlich hatte mir der Arzt geraten, das Surfen für einige Zeit zu vergessen, aber meine Neugierde war schon immer unbesiegbar gewesen. Alec räusperte sich und fummelte an seinem blauen T-Shirt, auf dem sich aufgemotzte Autos ein Rennen durch die Straßen von Beverly Hills lieferten.
»Unser Teamwettkampf wurde abgebrochen.« Dabei klang das »abgebrochen« etwas seltsam und seine Augen bekamen einen ernsten Ausdruck. »Das Einzel fand wie geplant am nächsten Tag statt.«
»Und Erin ging als Siegerin hervor«, warf Josh ein.
»Schön«, brachte ich über die Lippen.
Richtig freuen konnte mich nicht und ich verspürte einen schweren Knoten in der Magengegend. Anscheinend war ihr der Wettkampf wichtiger gewesen als ich. Mein Bruder schien meine Verstimmung bemerkt zu haben.
»Sie hat zur Zeit sehr viele Pressetermine und konnte dich daher sicher noch nicht besuchen.« So sehr ich seinen Worten auch glauben wollte, der Knoten in meinem Bauch löste sich nicht.
»Die Besuchszeit ist um!« Doktor Fishbone war eingetreten.
»Schade«, jammerte Josh und zog einen Schmollmund, der mich zum Lachen brachte.
»Ich habe eben mit deinen Eltern telefoniert und wir haben beschlossen, dass sie dich morgen Früh abholen. Unsere Entscheidung ist auf das Kern Medical Center in Bakersfield gefallen. Ich bin mir sicher, dass du dort schnell wieder gesund wirst.«
»Das sind doch mal gute Nachrichten«, schrie Josh und klopfte mir auf die Schulter.
Mir fiel auf, dass er heute einen Zopf trug und seine Haare trocken waren, was ihm auch ganz gut stand.
»Ich werde dich auf jeden Fall ganz oft besuchen«, versprach Alec, ehe sich meine beiden Gäste von mir verabschiedeten.
Erleichtert lehnte ich mich nach hinten. Kurz flogen meine Gedanken noch einmal zu der SMS von Ted zurück. Aber ich verspürte keinen Drang, ihm zu berichten, dass ich Morgen nicht mehr hier sein würde. Sollte er doch seine Zeit in Gesellschaft der reizenden Rachel verbringen. Ich war erfreut, dass ich vor ihr das Krankenhaus verlassen konnte. So störte es mich auch nicht, dass ich den letzten Abend mit einem weiteren Kreuzworträtsel verbringen musste.
»Maybee, wir haben jetzt deinen Koffer im Auto verstaut«, verklangen die Worte meiner Mutter im spärlich beleuchteten Gang, der vor meinem Zimmer entlang lief.
Die Zimmertür stand sperrangelweit offen, sodass ich von meinem Bett aus einen guten Blick auf das emsige Geschehen da draußen hatte. Rachel hatte den ganzen Morgen noch kein Wort rausgebracht und kauerte mit Kopfhörern bewaffnet auf ihrer Seite. Mit ein paar netten Worten zum Abschied brauchte ich also nicht zu rechnen.
»Haben wir noch irgendetwas vergessen?« Mit einem fragenden Gesichtsausdruck erschien meine Mutter wieder im Türrahmen.
»Bis auf die Tatsache, eure Tochter zu fragen, ob sie überhaupt in diese Reha-Klinik will, habt ihr rein gar nichts vergessen.« Ich biss wütend die Zähne zusammen, sodass dieser Satz keine Möglichkeit hatte meinen Mund zu verlassen. Einem Streit mit meinen Eltern wollte ich lieber aus dem Weg gehen. So beließ ich es lieber dabei, ihn in meinem Kopf stattfinden zu lassen.
»Hast du irgendwo unsere Karte gesehen?«, wandte sich Adriana Clark wieder an mich. Neben den weißen Wesen, die hier im Krankenhaus durch die Flure streiften, wirkte sie in ihrem glattgebügelten, schwarzen Hosenanzug fehl am Platz.
»Nein, Mum. Bestimmt hast du sie bereits in meinem Gepäck verstaut.« Verstohlen blickte ich zum Papierkorb, aus dem noch die Wortfetzen Gute Be... herausragten.
»Der Doktor wollte noch etwas mit dir besprechen. Ich warte in der Zwischenzeit mit deinem Vater am Wagen«, riss mich meine Mutter wieder vom Mülleimer los und stöckelte auf ihren hohen Absätzen davon.
Keine Sekunde später setzte sich Doktor Fishbone auf meine Bettkante. »Maybee, ich bin sehr zuversichtlich. Selbst hier hast du einige Fortschritte gezeigt und in Bakersfield angekommen wirst du das ganz sicher noch ausweiten.«
»Von welchen Fortschritten redete er bloß? Meine Beine waren immer noch so unbeweglich wie Betonklötze.«
Ein verräterisches Räuspern ging von dem Arzt aus, als eine Krankenschwester einen Rollstuhl in den Raum schob.
»Mit dem wirst du dich vorerst anfreunden müssen.«
»Wie sollen das Ding da?« Ich zeigte mit meinem Finger auf das Gefährt. »Und ich jemals Freunde werden?«
»Du musst akzeptieren, dass es keine andere Möglichkeit gibt und es noch einige Zeit dauern kann, bis dich deine eigenen Beine wieder tragen können.«
»Und woher wollen Sie wissen, dass ich überhaupt jemals wieder selbständig gehen kann. Die Leute aus dem Medical Center können mir bestimmt genauso wenig helfen wie Sie. Dann kann ich meine Zeit lieber zu Hause verbringen.« Ich hatte mich so in Rage geredet und gar nicht bemerkt, dass ich dabei die Befestigung einer Kanüle auf meiner linken Hand losgerissen hatte.
»Die brauchst du sowieso nicht mehr. Und jetzt schauen wir mal, wie du dich auf dem Zweirad so schlägst.« Doktor Fishbone musste über seinen Aufmunterungsversuch selber lachen und auch ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
Er half mir auf die weiche Sitzfläche und stellte meine Füße jeweils auf eine schwarze Plastikstütze. Bisher hatte ich den Rollstuhl immer nur für den Weg zum Klo gebraucht. Von nun an musste ich längere Strecken damit bewältigen. Anstatt mich nach unten zu meinen Eltern schieben zu lassen, sollte ich gleich selbst Hand anlegen. Das Eisen-Rund am Reifen war eisigkalt, als ich meine Finger darum legte. Resigniert wollte ich sie wieder wegnehmen, ich fühlte mich wie eine Fremde, die da überhaupt nicht reingehörte. Doch Doktor Fishbones zuversichtlicher Gesichtsausdruck veranlasste mich zu den ersten Bewegungen und ich war erstaunt, wie viele Meter ich mit einem Stoß hinter mich gelegt hatte.
***
Vor dem protzigen BMW meiner Eltern angekommen, spürte ich ein Stechen in meinen Armmuskeln.
»Das klappt doch schon ganz gut«, begrüßte mich mein Vater.
Zusammen mit meinem Arzt verfrachtete er mich auf den Beifahrersitz, vor dem ausreichend Platz zur Verfügung stand.
»Ich wünsche dir alles Gute auf deinem weiteren Weg.« Der Doktor hatte sich in die Hocke begeben und einmal mehr konnte man die asiatischen Züge an seinen Augen ablesen. Ich brachte nur ein leises »Danke« zu Stande, ehe sich die Autotür schloss und sich der Wagen immer weiter vom Krankenhaus entfernte.
Mit jedem Meter ließen wir aber auch das blaue Funkeln des Meeres hinter uns, was meine Laune wieder in den Keller brachte. Die Klinik in Bakersfield lag weit im Landesinneren.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte meine Mum von hinten. Ich schüttelte nur mit dem Kopf und schweigend ging die Fahrt weiter. Meine Freunde konnten sich jetzt entspannt an den Strand legen und jede Sekunde der langen Sommerferien genießen.
Bevor ich noch weiter Trübsal blasen konnte, blinkte mein Blackberry auf. Eine SMS von Ted war gerade eingegangen: »Bee, wo bist du denn? Ich bin gerade im Krankenhaus angekommen und dann sagten sie mir, dass du heute Morgen abgereist bist. Kannst du dich vielleicht mal melden!?«
Wieder war in der Textnachricht kein »Ich vermisse dich« oder dergleichen enthalten. Passend zu meiner Stimmung fielen erste Regentropfen aus der dicken Wolkendecke und hallten auf dem Autodach wieder. Ich verfolgte mit meinen Augen ein besonders dickes Exemplar, das sich auf der Windschutzscheibe breit gemacht hatte. Ein leises Surren war zu hören, ehe der Scheibenwischer den Tropfen für immer von der Scheibe verbannte. Zusammen mit meinem Selbstmitleid versank ich noch tiefer im Autositz und war schon so weit, dass ich begann genauso zu fühlen wie der Regentropfen. Ich wurde einfach davon geschleudert. Weg von meinen Freunden, meinem Zuhause und dem Meer.
»Nanana«, erklang es aus dem Autoradio. Die Frauenstimme ließ mich aufhorchen. Besonders die Liedzeilen aus dem Refrain blieben in meinem Gedächtnis haften. »It's personal, myself and I. We got some straightening out to do...But I've gotta get a move on with my life. It's time to be a big girl now. And big girls don't cry.« Auf irgendeine Weise passten die Zeilen zu meiner momentanen Situation. Ich atmete einmal tief durch und beschloss in meinem Inneren, auf die Worte der Sängerin zu hören. Große Mädchen weinen nicht, sie müssen mit ihrem Leben weiter machen und lernen ihren eigenen Weg zu gehen, den Weg zurück ins Leben. »Oh Mann.« Ich klang fast wie eine richtige Philosophin. Aber ich fühlte mich besser, der Knoten in meinem Magen war ein bisschen lockerer geworden.
Die restliche Zeit der Autofahrt versuchte ich zu schlafen, was mir bei dem ruppigen Fahrstil meines Dads nicht so ganz gelingen wollte. Ich stieß gerade mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe, als mein Vater ein enthusiastisches »Wir sind da!« durch den Innenraum schrie. Ich war ein wenig benommen und spürte mehrere Arme, die an mir herumfuchtelten.
***
Wenig später saß ich wieder im Rollstuhl und vor mir türmte sich das Kern Medical Center auf. Eine weiße Gestalt kam vom grauen Gefängnis her zu uns herüber gerannt. Bei genauerem Hinsehen konnte ich eine Frau erkennen, deren große Hängeohrringe das spitze Gesicht betonten. Darum rahmten sich schulterlange, schwarz gelockte Haare.
»Sie müssen Familie Clark sein. Mein Name ist Dr. Sarah Harsen und ich heiße Sie im Kern Medical Center herzlich Willkommen.«
Diese überschwängliche Begrüßung kam sehr gespielt rüber und ich schenkte meine Aufmerksamkeit lieber dem trostlosen Gebäude vor mir. An der Anzahl der Fenster konnte man ablesen, dass hier ziemlich viele Patienten untergebracht waren. Ich war jetzt eine von ihnen.
Mit einem kleinen Ruck bewegte sich mein Rollstuhl und ich wurde auf den Eingang zugeschoben. Im ersten Moment wollte ich noch protestieren, dass ich mich auch ganz gut alleine fortbewegen konnte, doch durch die lange Anreise war ich einfach zu müde dafür.
Doktor Harsen führte meine Eltern und mich in den Anmeldebereich. Ich wurde hinter einer knallgrünen Plastikblume abgestellt und war froh darüber, dass mir die riesigen Blätter für einen kurzen Moment ein Versteck boten. Ich war in den Anblick eines abstrakten Gemäldes vertieft, als ich etwas hinter mir rascheln hörte.
»Maybee, zusammen mit Frau Harsen haben wir beschlossen, dass ein Einzelzimmer das Beste für dich sein wird.« Ich nickte abwesend. Meine Eltern wussten ja immer was das Beste für mich war. Der einzige Vorteil, den ich aus einem Einzelzimmer schloss, war, dass ich mit niemandem wie Rachel rechnen musste.
»Dann begleite ich Sie mal nach oben.« Doktor Harsen deutete auf eine große, weiße Holztür. Wir setzten uns in Bewegung und ich fühlte mich augenblicklich wie ein Goldfisch im Glas. Sämtliche Augenpaare richteten sich auf mich.
»Verflucht!«, schrie meine Mutter hinter mir, nachdem mein Schminkkoffer krachend auf die Fliesen gefallen war. Der Rollstuhl kam zum Stehen und ich fühlte mich der gaffenden Menge gänzlich ausgesetzt.
»Kommt nur her ihr Piranhas und fresst den kleinen Goldfisch«, dachte ich grimmig. Unter den eindringlichen Blicken hatte sich mein Gesicht sicherlich goldrot verfärbt. Der kleine Goldfisch hätte die Möglichkeit einfach unter zu tauchen, doch die hatte ich leider nicht. Auf der linken Seite entdeckte ich eine Gruppe von vier Mädchen, dessen Getuschel deutlich zu mir herüberdrang.
»So, der Koffer liegt wieder auf den anderen.«
Wie in Zeitluppe wurde ich weitergeschoben und vor uns tauchten zwei große Fahrstuhltüren auf. Wie unpassend, dass in einer Rehaklinik, wo der größte Anteil der Bewohner sich nicht alleine auf den Beinen halten konnte, die Zimmer im ersten Stock untergebracht waren. Mein Vater drückte auf einen runden Metallknopf und auf der Anzeige begannen die Zahlen langsam nach unten zu zählen. Eigentlich froh darüber, die glotzende Meute hinter mir gelassen zu haben, drehte ich mich noch einmal nach hinten. Die meisten hatten sich wieder ihren eigenen Beschäftigungen zugewendet und das Interesse an mir verloren. In der halben Umdrehung nach vorne, fingen meine Augen den kalten Blick eines schwarzhaarigen Jungen auf, der alleine in seinem Rollstuhl an einem klapprigen Holztisch kauerte. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Verachtendes an sich, das mir sofort Unbehagen verbreitete. Ich war noch keine zehn Minuten in diesem Gefängnis und hatte mir anscheinend schon eine Menge Feinde gemacht.
Trotzig starrte ich die aufgehende Metalltür an und konnte mit Mühe die Tränen zurückhalten, die sich in meinen Augen angesammelt hatten. Nach einem lauten Pling erreichten wir einen schmalen Gang, der von unzähligen Türen gesäumt war. Unsere Haltestelle war Nummer zweiundvierzig.
Kahle, gelbgestrichene Wände, an denen die Abnutzungserscheinungen mehr als deutlich zu sehen waren und ein roter Gummiboden empfingen mich. Ein Uralt-Fernseher und billige Holzmöbel machten mein neues Zuhause keineswegs wohnlicher. Das Zimmer besaß kein bisschen Persönlichkeit.
»Was für ein grandioser Ausblick auf die Berge.« Euphorisch stöckelte meine Mum auf das große Fenster zu. Ich folgte ihr, aber verstand ihre Begeisterung nicht. Vor mir breitete sich ein trostloses braun in grau- Bild ab. Selbst der Himmel wollte mir an diesem Tag kein Stück Blau schenken.
»Gegen Abend wird eine Mitarbeiterin vorbeischauen und dir beim Kofferauspacken behilflich sein.« Doktor Harsen hatte bereits drei Schritte auf die Tür zugemacht.
»Für uns wird es auch langsam Zeit. Wir müssen leider los, Maybee.« Mein Vater drückte mich in einer flüchtigen Umarmung und meine Mutter drückte mir einen feuchten Kuss auf die Stirn. Kurz darauf war ich alleine. Die Arbeit der beiden war mal wieder wichtiger gewesen, als ihre Tochter. Und auf Erin und Tedd war auch kein Verlass. Ich hatte wirklich tolle Freunde, die nicht mal wussten, wo ich mich gerade befand.
Deprimiert starrte ich weiterhin aus dem Fenster und wünschte mir, dass die dunklen Wolken der Sonne Platz machten. Ich fühlte mich einsam in dem kahlen Raum. Es würde einige Zeit dauern, überhaupt Kontakt zu den Leuten hier aufzubauen. Bevor ich einen endlosen Heulkrampf bekam, suchte ich die Flucht nach draußen, um den Park zu erkunden.
***
Die frische Luft tat mir gut. Ich folgte einem gepflasterten Weg, ringsherum hatte man lieblos irgendwelches Grünzeug in die Erde gestopft und dann verwahrlosen lassen. Einige Meter vor mir kam ein Teich in Sicht. Ich wollte meine Armbewegungen beschleunigen, bewegte mich aber keinen Zentimeter.
»Du hast dich zwischen zwei Kantsteinen verhakt.« Noch bevor die Stimme weitersprechen konnte, bekam ich einen Wutanfall.
»Die wissen doch, dass wir hier mit unseren Rollstühlen langfahren müssen! So dämlich kann man doch nicht sein!« Neben mir tauchte ein blondhaariges Mädchen auf, das sich mit den Armen auf zwei Krücken abstützte.
»Oh doch, das kann man. Ich bin hier sogar schon mal ganz umgekippt.« Freundlich streckte mir die Blondhaarige ihre Hand entgegen: »Ich bin Hanna. Du scheinst neu hier zu sein oder?«
»Ja, das stimmt und mein Name ist Maybee.« Hanna war mir auf Anhieb sympathisch, auch wenn sie überhaupt nicht der Kategorie meiner sonstigen Freunde entsprach. Sie war ungeschminkt, ein wenig fülliger und hatte ihre Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengesteckt, aus dem einige Strähnen wirr hervorstanden. Ganz sicher ging sie auch nicht in den Läden einkaufen, mit deren Sachen ich meinen Kleiderschrank füllte. Das alles war mir in diesem Moment egal, da ich endlich jemanden getroffen hatte, der mich nicht böse anguckte.
»Aus welchem Grund bist du hier gelandet, wenn ich fragen darf?« Ihre Direktheit überraschte mich und ich überlegte kurz, ob ich ihr antworten sollte, entschied mich schließlich dafür.
»Vor einigen Wochen hatte ich einen Surfunfall.« Ganz sachlich schilderte ich ihr die wichtigsten Dinge.
»Mhm, verstehe. Bei mir war es auch ein Sportunfall. Ich wollte meinen Klassenkameraden beweisen, dass ich auch eine gute Turnerin am Reck bin. Tja, das ging leider nach hinten los. Statt auf dem Reck, bin ich jetzt hier.« Hanna grinste mich schief an und ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen, wie gelassen sie ihr Schicksal nahm.
»Du hast doch bestimmt auch Hunger oder?« Sie beugte sich zu mir herunter, wobei ihre Haare sanft auf meiner Schulter landeten.
»Wenn du schon so fragst, muss ich ja mitkommen«, gab ich mich geschlagen und erwiderte ihr dickes Grinsen.
***
Ich wusste zwar nicht wie, aber es gelang ihr mich trotz ihrer zwei Krücken in den geräumigen Speisesaal zu schieben. Wir suchten einen freien Tisch und begaben uns anschließend in die Warteschlange. Es roch nach gebratenem Fleisch und frischem Gemüse. Mein Kopf wanderte nach oben. Eine riesige Glasfront ersteckte sich über den gesamten Saal und gab die Sicht auf den mittlerweile nicht mehr ganz so dunklen Himmel frei. Wir nahmen das dampfende Essen entgegen und machten uns auf den Rückweg zu unseren Tischen, was gar nicht so einfach war. Mit einer Hand balancierte ich mein Tablett, während ich mit der anderen versuchte, vorwärts zu kommen.
»Das ganze Theater tun sie, damit wir unsere Selbstständigkeit nicht verlieren.« Hanna hatte meine Überforderung bemerkt und war stehen geblieben. Ich machte leider den Fehler und konzentrierte mich ganz auf sie. Zu spät registrierte ich, dass mein Tablette gegen etwas stieß.
»Kannst du nicht aufpassen!?«, fauchte mich jemand von der Seite an. Es war kein geringerer, als der schwarzhaarige Junge von vorhin. Abfällig zog er seine Augenbrauen nach oben und seine Augen funkelten genauso wie sein Labret-Piercing (Piercing unterhalb der Lippe). Ehe ich etwas sagen konnte, kehrte er mir den Rücken zu, so als wäre nichts gewesen.
»Komischer Zeitgenosse«, ging mir durch den Kopf, während mir Hanna an den Tisch half.
»Wer ist der Typ?«, wollte ich wissen.
»Sein Name ist Tristan. Er redet so gut wie mit keinem. Zu mir ist er aber eigentlich ganz nett.«
»Ahja, zu mir offensichtlich nicht«, brachte ich auf den Punkt und schenkte meine Aufmerksamkeit dem Essen vor mir. Vor einigen Stunden hatte ich noch damit gerechnet, ganz alleine am Tisch sitzen zu müssen. Jetzt war ich glücklich, so einen offenen Menschen wie Hanna kennengelernt zu haben. Sie schien beinahe eine Art Freundin für mich zu sein.
Inzwischen waren einige Tage im Kern Medical Center vergangen. Dazu zählten endlose Stunden, in denen ich mich immer noch wie eine Fremde fühlte. Ein Großteil sprach kein Wort mit mir, wenn sie mich denn überhaupt wahrnahmen. Der einzige Trost waren die Gespräche mit Hanna, die mittlerweile zu einer guten Freundin geworden war. Eines Abends während des Essens im Speisesaal sprach ich sie auf das merkwürdige Verhalten unserer Mitbewohner an. Ich konnte mir einfach nicht erklären, warum hier jeder eine Art Abneigung gegen mich zeigte. Hanna seufzte und schaute mich ernst an.
»Das Einzige, was ich vermuten kann, ist deine Herkunft. Maybee, du bist anders als der Rest von uns. Wohlhabende Eltern, ein bisher unbeschwertes Leben.«
Bevor sie noch mehr aufzählen konnte, ging ich dazwischen. »Was kann ich denn dafür, wo die Leute aufgewachsen sind?!«
»Du musst ihnen wahrscheinlich noch ein bisschen Zeit geben. Die meisten schließen ihre Urteile immer zuerst aus dem äußeren Erscheinungsbild.«
»Soll ich mir etwa drei Tage lang nicht die Haare waschen, weite Jogginghosen tragen und mich in ein dreckiges Sweatshirt zwängen, nur damit die Menschen ein Wort mit mir reden!?«, fuhr ich Hanna an. Im gleichen Moment, tat mir mein Ausbruch leid. Hanna konnte am wenigsten etwas für meine Lage.
Auf ihrem Gesicht erschien ein verletzter Ausdruck und mit den Worten: »Denk' doch einfach mal drüber nach, Maybee«, ließ sie mich im Speisesaal alleine zurück.
***
Am nächsten Morgen bekam ich keine Chance mit ihr zu reden. Wir wurden je nach Krankheitsfortschritt in verschiedene Therapiegruppen eingeteilt. Und da konnte ich als Rollstuhlfahrerin leider nicht in Hannas Gruppe. Stattdessen musste ich fortan die Gesellschaft von diesem unfreundlichen Tristan und einer Clique von vier Oberzicken ertragen. Die Gesichter kamen mir nur allzu bekannt vor. Denn ihr Getuschel erinnerte mich an meine Ankunft hier in Bakersfield. Auch jetzt hatte es den Anschein, als würde ich ihnen immer noch genügend Gesprächsstoff liefern. Leiterin unserer Trainingseinheit war Lucy Hastings, eine junge Physiotherapeutin und die Einzige, die nett zu mir war.
»Ihr dürft mich ruhig Lucy nennen«, stellte sie sich uns vor und sammelte gleich ein paar Sympathiepunkte bei mir.
Unsere ersten Übungen absolvierten wir an Geräten, die die Rücken- und die Armmuskulatur stärken sollten. Auf Grund des Bewegungsmangels neigten diese dazu, sich selbst abzubauen.
***
Am zweiten Trainingstag versammelten wir uns in einem engen Fitnessraum, der einen beißenden Geruch verströmte und mit seinen abgedunkelten Fenstern genauso wenig einladend wirkte, wie mein Zimmer. Zusammen mit Lucy steuerte ich eine Ecke von Geräten an.
»Das sind die sogenannten Doppelzugtrainer. Sie sind dazu da, eure gesamte Muskulatur vom Unterbauch bis zu den Schultern zu festigen«, erklärte sie mir und zeigte anschließend, wie man den Zugtrainer richtig bediente.
»Sehr gut machst du das.« Das Lob verbreitete ein positives Gefühl in mir, das ich Ewigkeiten nicht mehr gespürt hatte.
»Uuuh, da haben wir ja ne richtige Streberin«, kommentierte Sandy, nachdem Lucy sich dem nächsten Patienten zugewandt hatte. Sie war eines der Mitglieder des Zickenquartettes. Ich hatte keine Lust mich mit ihr anzulegen und floh in Richtung der Elektrotherapie.
»Da kannst du nicht einfach alleine reingehen«, rief Lucy mir hinterher. Meine Mimik ließ sie aber sofort begreifen, dass ich mich hier unwohl fühlte. »Na gut, wir können ja schon mal vorgehen«, ergänzte sie und ich war froh, als meine Augen einen leeren, hellen Raum erfassten.
***
Mit Hilfe einer Assistentin klebte sie Elektroden an meine Beine. Die Stromimpulse stimulierten die Nerven und waren dazu da, meine unbeweglichen Beinmuskeln zu bewegen.
»Maybee, ich möchte dich etwas fragen.« Der Unterton in Lucys Stimme klang besorgt.
»Was denn?« Ich versuchte gelassen zu klingen.
»Ich habe den Eindruck, dass es dir schwer fällt, sich bei uns einzuleben und du Schwierigkeiten hast auf die anderen zuzugehen.«
Nach dieser Feststellung musste ich schwer schlucken und hatte keine Ahnung, was ich auf die Wahrheit, die sie soeben ausgesprochen hatte, antworten sollte. Lucy hatte mein Unbehagen bemerkt und man sah ihr an, wie sie verzweifelt versuchte, sich wieder aus der Schlinge zu ziehen. Ich war nicht in der Stimmung ihr dabei zu helfen. Zu sehr traf mich ihre Erkenntnis, dass genauso, wie Hanna es gesagt hatte, das Problem bei mir lag. In Santa Monica hatte niemand ein Problem mit meiner Person gehabt. Hier sah das ganz anders aus. Alle sahen in mir eine oberflächliche Tusse, die an nichts anderes dachte, als an sich selbst. Aber so wollte ich nicht angesehen werden. Das Fünkchen Wahrheit, was in der Meinung der anderen Leute mitschwang, konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingestehen.
»Ich wollte dir nicht zu nahe treten.« Mit einem müden Nicken gab ich Lucy zu verstehen, dass ich den Ansatz ihrer Entschuldigung angenommen hatte. Wir fuhren mit der Elektrotherapie fort. Die Tatsache, dass ich nicht ein einziges Ziepen in meinen Beinen spürte, brachte mich noch näher an den Rand eines Tränenausbruches. Ehe es dazu kommen konnte, schob mich Lucy in Richtung Schwimmhalle.
***
Ich freute mich darauf, wieder ein Teil des Wassers zu sein, welches ich schon mein ganzes Leben lang gewesen war. Die ruhige, spiegelnde Oberfläche des Schwimmbeckens übertrug sich auf mich und ich konnte ein wenig entspannen.
Wie Babys half man uns anschließend in spießige Badebekleidung. Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, nicht mehr selbstständig meine Kleidung anziehen zu können.
»Auf geht's! Ich habe einige Paddelbote herausgesucht und zusammen mit den Helfern könnt ihr zum Einstieg ein paar Runden drehen. Danach werden wir noch ein Wasserballspiel durchführen.« Während Lucy diese Ansprache hielt, brach unsere Gruppe in großen Jubel aus. Auch ich stieß ein Freudenschrei aus, endlich mal etwas Abwechslung in das langweilige Trainingsprogramm zu bekommen. Sandy und Carla waren die ersten, die ins Becken gelassen wurden. Fasziniert beobachtete ich, wie das Wasser nach dem ersten Paddelschlag geteilt wurde und in eine flache Welle überging, die immer näher auf den Rand zukam, an dem ich wartete. Doch es blieb nicht bei dieser flachen Welle. Die Wassermassen begannen sich vor mir aufzutürmen und ich wollte der wachsenden Strömungsgewalt mit einem lauten Schrei entkommen. Doch es war zwecklos, das Wasser holte mich ein.
»Nein, nein, nein!!!« Mein Hilferuf durchdrang eine drückende Stille. So schnell ich konnte, fassten meine Hände den Rollstuhlreifen und mit aller Muskelkraft versuchte ich der Flut meiner Erinnerungen zu entkommen.
»Die hat wohl ihr Trauma noch nicht überwunden.«
»Ein Besuch beim Psychiater wäre bestimmt ganz hilfreich.« Diesen Satz konnte ich Sandys Stimme zuordnen.
Ich hatte nur noch einen Gedanken: »Weg hier«.
***
In der Umkleide schnappte ich meine Tasche und fuhr zum Speisesaal. Mit zittrigen Händen kramte ich mein Blackberry hervor. Der Einzige, der mir noch helfen konnte, war mein Bruder.
»Hey, Maybee! Was gibt's denn?«
»Du musst mich hier rausholen, Alec!« Unter einem Tränenstrom schilderte ich ihm meine Situation.
»Wie soll das Ganze denn funktionieren? Und jetzt beruhige dich erst mal.«
Doch damit bewirkte er das genaue Gegenteil bei mir.
»Ihr seid doch alle gleich. Mum und Dad haben mich abgeschoben. Die Maybee sind wir jetzt los. Soll sie doch alleine sehen, wie sie klarkommt. Und du denkst bestimmt auch nicht anders!«, schrie ich ins Telefon.
»Bee, so stimmt das.«, setzte mein Bruder an, aber ich beendete das Telefonat, bevor er ausgesprochen hatte.
»Weglaufen ist auch keine Lösung.«Unter meinem Tränenschleier versuchte ich die Quelle der Stimme auszumachen. Mit einem Blinzeln ließ ich die salzigen Tropfen an meinen Wangen hinab laufen und hatte freie Sicht auf die Gestalt vor mir. Na toll, niemand geringeres als dieser Emotyp Tristan hatte meinen Heulkrampf verfolgt. Mir war gar nicht aufgefallen, dass er im Schwimmbad nicht anwesend war. Ich spürte, wie meine Augen wieder feucht wurden und begann heftig zu schluchzen.
»Hey, versuch' wieder runter zu kommen.«
Mit einem tiefen Atemzug bemühte ich mein Inneres sich zu sammeln. »Warum auf einmal so nett?! Nur weil ich hier wie eine Heulsuse rumsitze, brauchst du nicht auf »Best Friends« zu machen!« Doch Tristan ging nicht auf meine Anfeindung ein.
»Ich hab' das auch schon mal versucht. Aber es bringt nichts. Alleine kannst du schließlich auch nicht lernen, wieder laufen zu können.«
»Hier bist du! Ich hab mir solche Sorgen gemacht.« Hanna kam auf mich zu gehumpelt und bedachte Tristan mit einem finsteren Blick. »Lass sie in Ruhe, ja?!«
»Ist schon gut. Er hat nichts gemacht.« Verstohlen schielte ich zu meinem Gegenüber. Aber dieser hatte bereits einen verschlossenen Gesichtsausdruck angenommen und sich einer Skizze zugewandt, an der er anscheinend arbeitete.
»Komm' ich bring dich hier raus«, sprach Hanna mir zu und wir machten uns auf den Weg nach draußen.
***
Unter dem freien Himmel begannen sich die Ereignisse Stück für Stück zu lockern. In diesem Moment wollte ich nichts anderes sehen, als den sanft blauen Horizont, der sich bis ins Unendliche erstreckte und mir die kleine Hoffnung gab, an dessen Endpunkt den Weg zurück ins normale Leben zu finden. Das konnte ich nur, wenn ich mich dieser Hölle hier stellte.
»Maybee Clark!« Eine tiefe Stimme schrie meinen Namen und ihr Klang schien sich in weite Ferne zu verlieren, wurde immer undeutlicher, bis nur noch ein Flüstern zu hören war. Sämtliche Sinne in mir spannten sich an und mein Herz fing an wie wild zu pochen. Dock. Dock. Dock. Die Schläge wurden langsamer und verwandelten sich in ein beständiges Rauschen. Mein Körper befand sich am Surfrider Beach. Die ausgebrannten Autowracks waren ein unumgängliches Indiz dafür. Von ihren Bewohnern war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Die gesamte Strandgegend war leergefegt. Trotzdem fühlte ich mich nicht einsam, denn das Rauschen entpuppte sich als der dunkelblau glitzernde Ozean. Und plötzlich wusste ich, was die Stimme, die meinen Namen rief von mir gewollt hatte. Es war ein Aufruf gewesen. Der Aufruf zum Wettkampf meines Lebens. Automatisch ergriffen meine Hände das Surfboard, welches neben mir am Boden lag. Meine Füße steuerten auf das Wasser zu, ehe sie von dem kühlen Nass tosend empfangen wurden. »Life is too short to waste. Go surfing!«, brüllte ich mir von der Seele und wollte mich in die Fluten stürzen. Meine Reaktionen liefen wie in Zeitlupe ab. Ich schien wie eingefroren zu sein, während sich die Wolken über mir zusammenzogen und alles unter ihnen in ein düsteres Licht rückten. Ich war nicht in der Lage mich zu bewegen und verfolgte entsetzt, wie blaue Schlingen aus dem Wasser krochen und sich tentakelartig um meine Knöchel schlangen. Mein Brett wurde mir entrissen. Am nächstgelegenen Felsen wurden die Delphine darauf getrennt und schließlich in tausend einzelne Stücke zertrümmert. Ich wollte um Hilfe schreien, doch bekam keine Chance mehr dazu, da sich etwas glitschiges um meinen Mund windete. Stück für Stück verlor ich an Halt und wurde in die erbarmungslose Dunkelheit entrissen.
***
Als ich meine Augen wieder öffnete, starrte ich an meine, in der Schwärze grau gefärbte Zimmerdecke. Ein erschöpfter Atemzug entwich meiner Lunge. Seit dem Vorfall im Schwimmbad plagten mich diese Albträume. Mittlerweile hatte ich mich zwei Personen anvertraut, die davon wussten. Doktor Shumway und Hanna, die mich stundenlang überzeugt hatte, zu der Psychologin zu gehen. Ich schätzte diese auf Grund des kindlichen Gesichtes und der blonden Engelslocken, die sie meist in einem Pferdeschwanz versteckte, auf Mitte bis Ende zwanzig. Gleich nach Abschluss ihres Studiums hatte sie sich auf Unfalltraumatologie spezialisiert und war wohl die richtige Ansprechpartnerin für mich. Trotzdem war es anfangs sehr schwer, mich ihr zu öffnen. Die Vorurteile , dass solche Ärzte meistens selbst einen Schaden hatten, konnte ich erst nach einigen Therapiestunden ablegen.
Seit meiner Panikattacke waren inzwischen drei Wochen vergangen. Fast jede Nacht hatte ich mit der Rückkehr an den Ort meines Unfalls zu kämpfen. Meine Psychologin beschrieb das als natürlichen Prozess des Gehirns, das Geschehene zu verarbeiten. Nur wenn ich alles noch einmal durchlebte, konnte ich irgendwann mit der ganzen Sache meinen Frieden schließen. Indes hatte ich mich an das graue und trübe Regenwetter, das in Bakersfield eingetroffen war und an den Klinikalltag gewöhnt. Bei meinem Trainingsprogramm machte ich kaum Fortschritte, nur meine Arme hatten an Muskelmasse zugelegt. So konnte ich mich immerhin von alleine aus dem Rollstuhl befreien und hatte damit ein Funken Selbstständigkeit zurückgewonnen. Mit Hanna und auch mit Tristan verstand ich mich immer besser. Die meisten Dinge unternahmen wir fortan als Dreierclique. Anscheinend war Tristan über seinen Schatten gesprungen und war mir weitaus sympathischer als zu Anfang. Zu den restlichen Patienten hatte ich nur oberflächlich Kontakt. Hier ein überfreundliches »Hallo«, aufgesetzt mit einem breiten Grinsen und da ein Flüstern hinter meinem Rücken.
Mühsam quälte ich mich aus dem Bett und platzierte meinen Körper in den Rollstuhl. Die Dunkelheit im Zimmer engte mich ein und ich beeilte mich die schweren Vorhänge zur Seite zu reißen und das Fenster zu öffnen. Überrascht sog ich eine frische Morgenbrise ein, während warme Sonnenstrahlen mein Gesicht umspielten. Meine Kehle entließ ein freudiges Lachen. Dies schien seit langem ein guter Tag zu werden.
Beim Frühstück stieß ich auf Hanna, die gierig eine Portion Knusperflocken verschlang.
»Morgen«, rief ich ihr zu. Sie stand auf und kam auf mich zu. Hanna hatte reichlich Fortschritte gemacht und konnte sich ohne Krücken auf den Beinen halten. Ich freute mich für sie, spürte aber auch ein bisschen Neid, da es bei mir nicht so gut voranging.
»Guten Morgen, Maybee!« Sie umarmte mich flüchtig und schob mich neben ihren Holzstuhl. »Ich besorge dir schnell dein Frühstück. Denn ich habe etwas wichtiges mit dir zu besprechen.«
Meine Neugier war geweckt und ich hielt sie nicht davon ab, mich zu umsorgen als wäre ich ein kleines Kind. Wenig später stieg mir der Geruch frisch aufgebrühten Zitronentees in die Nase. Tristan hatte sich auch zu uns gesellt und trank wie jeden Morgen nur ein Glas Wasser.
»Leute, wir müssen mal raus hier!«, brachte Hanna auf den Tisch. »Etwas anderes sehen, als immer die polierten Gänge und unsere trostlosen Zimmer.«
Mit einem Nicken gab ich ihr Recht. Bisher hatte ich nur an wenigen Ausflügen teilgenommen. Stattdessen war ich hier im Center fast eingegangen wie eine kleine Blume.
»Wie wär es mit einem Ausflug in die Innenstadt?«, wollte Hanna wissen.
»Also, ich bin dabei«, gab Tristan ihr mit einem Zwinkern zu verstehen, das ich nicht richtig deuten konnte.
»Ohne mich geht ihr nirgendwohin«, warf ich ein und wir drei grinsten uns voller Vorfreude an.
***
Gegen Mittag saß ich festgeschnallt zwischen meinen Freunden in einem geräumigen Van. Der Fahrer und ein Pfleger des Klinikpersonals waren als Begleitung mitgeschickt worden.
Mein Blick wanderte aus dem Autofenster und passierte zahlreiche Häuser, die durch das Sonnenlicht golden schimmerten. Viele Menschen waren auf den Straßen unterwegs und hetzten mit Taschen beladen die Bürgersteige entlang. Ich genoss den Hauch Normalität, der sich draußen abspielte. Kilometer für Kilometer wurde die Kleidung der Leute luftiger und wechselte schließlich zu Bikini und Badeshorts. Auf der rechten Straßenseite tauchte das Schild nach Huntington Beach auf. Mir wurde klar, dass wir nicht auf dem Weg in die Innenstadt von Bakersfield waren. Das glitzernde Blau des Ozeans raubte mir für einen Moment die Sprache. Wir befanden uns inmitten der Surfstadt der USA. Tausende Touristen kamen jeden Tag hierher, belegten sämtliche Zimmer in den zahlreichen Hotels und besuchten Surfwettkämpfe. Sie spielten Volleyball oder fuhren mit dem Fahrrad an der Strandpromenade entlang, den ganzen Tag begleitet von einer frischen Seebriese.
»Wieso habt ihr mich angelogen?«, fand ich meine Stimme wieder und schaute in die Gesichter meiner Freunde. Der erste Zauber des Ozeans war verflogen und hatte einer aufkeimenden Panik Platz gemacht.
»Weil wir wussten, dass du nicht mitkommen würdest, wenn wir dir unser wahres Ziel genannt hätten«, versuchte es Tristan mit einer Erklärung.
»Nach dem Vorfall in der Schwimmhalle, suchten wir eine Möglichkeit dir deine Angst zu nehmen«, fügte Hanna hinzu.
»Und das habt ihr alles hinter meinem Rücken getan?!« Ich war ziemlich aufgebracht und fuchtelte wild mit den Armen herum.
»Du kannst dich nicht dein ganzes Leben lang vor einem Besuch am Strand drücken. Irgendwann musst du dich deinem Schicksal stellen, Maybee. Wir wollen nur dein Bestes.« Hanna bemühte sich, mich zu beruhigen.
Irgendwo hatten sie Recht. Ich konnte nicht für immer davon laufen. Das Surfen war ein Teil meiner Selbst gewesen, das konnte man nicht von heute auf morgen ablegen. Aber, was wenn ich nicht bereit dafür war?
Tristan schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Was soll dir heute schon passieren. Wir sind bei dir und unterstützen dich. Sieh es als einen Anfang.«
Ich ließ mir ein wenig Zeit zum Nachdenken und stimmte schließlich beiden zu. Das Meer, das die ganze Windschutzscheibe des Autos eingenommen hatte, strahlte eine beruhigende Friedlichkeit aus. Es wirkte ganz natürlich und nicht so bedrohlich wie das Wasser in der Schwimmhalle.
***
Fünf Minuten später machten wir auf einem überquellenden Parkplatz Halt. Ganze Horden an Familien strömten in Richtung Wasser, angezogen wie von einem großen Magneten. Dieser hatte auch meine Gedanken in seinen Bann gezogen. Unter dem sanften Rascheln der Palmenblätter warteten wir darauf, dass die Reifen der Rollstühle ausgewechselt wurden. Man konnte sich nur mit extra breiten Rädern auf dem weichen Sand fortbewegen.
Und plötzlich sehnte ich mich nach dem leichten Kitzeln der kleinen Sandkörner. Nur würden meine Beine das nicht mehr spüren können. Schnell verwarf ich die deprimierenden Gedanken wieder. Ich wollte Hanna und Tristan nicht den Tag verderben. Sie hatten das alles nur für mich getan. Mein Ego konnte ich später wieder herausholen.
Zu dritt suchten wir uns einen freien Platz zwischen den bunten Sonnenschirmen. Tristan holte sein Zeichenblock raus und war anschließend in seine Arbeit vertieft. Neben uns stritt ein junges Ehepaar darüber, wer das Essen vom Imbiss besorgen sollte, während der andere auf die tollenden Kinder aufpasste. Belustigt lauschte ich den beiden eine Weile. »Die haben Probleme«, kopfschüttelnd sah ich, wie der Mann wütend Richtung Essensquelle davon stapfte. Auf seinem Rücken hatte sich ein heftiger Sonnenbrand breit gemacht. Meine Finger glitten durch den aufgeheizten Sand und streiften ein paar Muscheln und ausgedörrte Holzstücke. Ich beschloss die Dinge in meiner Tasche zu sammeln. Es war nicht abzusehen, wann ich wieder die Möglichkeit hatte an einen Strand zu kommen.
Hanna schlug vor, uns eine Erfrischung am Uferrand zu gönnen. Tristan lehnte geisteswesend ab und ich bewunderte ihn für seine starke Konzentration, mit der er sein größtes Hobby verfolgte.
»Meinetwegen können wir es versuchen.« Blinzelnd schaute ich zu Hanna auf, die mich sofort unter den Armen packte und zurück in den Rollstuhl hievte. Langsam näherten wir uns dem Pazifik. Ich hatte mit einem mulmigen Gefühl gerechnet, doch mein Inneres blieb erstaunlich gelassen. An der Schwelle zum Wasser brachte mich Hanna zum stehen. Ich genoss den Ausblick auf die unendliche Weite, die sich vor mir erstreckte. Am Horizont verfärbte sich die Nachmittagssonne langsam orange. Kindergeschrei drang vom angrenzenden Pier zu uns herüber und mischte sich in den lauten Gesang der Möwen. Ich beschloss den Moment zu genießen.
»Maybee, pass auf!« Hanna riss mich von dem traumhaften Anblick los. Doch zu spät, eine kleine Welle kam drohend auf meinen Rollstuhl zu. Ich fürchtete, dass mich die Angst zurückergriff, aber mein Unterbewusstsein vermutete wohl, dass keine Gefahr ausging.
Mit einem unerwarteten Reflex, versuchten meine linken Zehen der kalten Berührung mit dem Wasser auszuweichen.
»Du hast deinen Fuß bewegt!!!«, kreischte Hanna aufgebracht und tanzte einmal um mich herum. Völlig perplex starrte ich weiter auf meine rot lackierten Nägel. Ich hatte es mir nicht nehmen lassen während dem Aufenthalt in der Klinik auf den Lack zu verzichten.
Die Bewegung war bestimmt nur Einbildung gewesen. Ein Hirngespinst, das mir einen Streich spielen wollte.
»Versuch es nochmal!«, forderte Hanna mich auf. Meine Muskeln gehorchten ihr und meine Zehen wanderten auf und ab. Das aufkommende Glücksgefühl trieb mir die Tränen in die Augen.
»Ich kann sie bewegen.« Stotternd stieß ich einen Jubelschrei aus. Hanna lächelte mich an. Aber ich hatte den Eindruck, als beschäftigte sie etwas. Sie wirkte auf einmal ziemlich ernst.
»Was ist los?«, fragte ich sie.
»Bee, wir müssen reden.«
Auf dem Rückweg zum Van hatte Hanna mir alles erzählt. Während der Heimfahrt klärte sie schließlich auch Tristan auf. Bereits morgen würde sie das Kern Medical Center verlassen und damit auch uns. In den ersten Minuten konnte ich ihr kaum zuhören. Zu tief saß der Schock. Auch die Tatsache, dass ich meine Zehen wieder bewegen konnte, trat in den Hintergrund. Warum konnte es nicht so unbeschwert bleiben, wie es in den letzten Stunden der Fall gewesen war. Neben meiner guten Laune hatte sich gegen Abend auch das schöne Sommerwetter zwischen den Wolken verzogen. In meinem dünnen, weißen T-Shirt begann ich zu frieren und verfluchte mich, keine Strickjacke eingepackt zu haben.
»Ich weiß, es ist nicht gerade fair, euch mit dieser Nachricht vor den Kopf zu stoßen. Jeden verdammten Tag habe ich es vor mir hergeschoben.«
»Warum muss es ausgerechnet heute sein? Der ganze Nachmittag war so schön und jetzt hast du alles kaputt gemacht.« Ich gab mir keine Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen und wusste, dass ich ungerecht war. Hanna war schließlich schon lange vor mir Patientin in Bakersfield geworden. Ich hoffte auf Tristans Unterstützung, doch seine Miene blieb die gesamte Fahrt verschlossen. Vielmehr schien er mit seinen Gedanken woanders zu sein.
»Bee, für mich ist das alles auch nicht leicht. Aber du musst mich verstehen. Seit meiner Ankunft vor vier Monaten habe ich jede einzelne Minute auf die Nachricht gewartet, dass mich Doktor Harsen gehen lässt. Endlich wieder nach Hause, zu meiner Familie und meinen Freunden.«
»Du hast ja Recht, aber«, begann ich und knetete den rauen Anschnallgurt zwischen meinen Fingern. Ungewollt stiegen mir die Tränen in die Augen. Mit einer schnellen Bewegung versuchte ich sie zu verbergen. Zu spät. Hanna hatte mir ihre Hand aufs Knie gelegt und schaute mich traurig an.
»Wir bleiben in Kontakt«, sicherte sie mir zu.
Ich brachte daraufhin nur ein kurz angebundenes Nicken mit einem leisen »Mhm« zustande. Auf der restlichen Strecke herrschte eisiges Schweigen, dem keiner ein Ende bereiten wollte. Hanna schielte mich noch einmal unsicher an, als wir aus dem Auto stiegen und anschließend das Gebäude betraten.
***
»Ich brauche jetzt Zeit für mich.«
»Das kann ich verstehen.« Wie ein Flüstern drangen ihre Wort hinter mir her, als ich mich zum Fahrstuhl aufmachte.
In meinem Zimmer angekommen, verbrachte ich die ersten Augenblicke mit einem heftigen Heulkrampf. Ich musste mich wie ein kleines Kind aufführen, doch es war mir egal. Mit Hanna hatte ich endlich jemanden gefunden, der mich hier unterstützte und mir neuen Mut zusprach. Sie war zu einer richtigen Freundin geworden. Bei ihr ging es nicht darum, wer besser angezogen war oder die meisten Facebookfreunde hatte. Für so etwas hatte sie im Gegensatz zu Erin nichts übrig.
»Du redest, schon so, als wäre sie tot«, wütend schmiss ich meine Handtasche in die Zimmerecke, woraufhin sich das gesammelte Strandgut auf dem Teppichboden verteilte.
»Na toll!«, ging mir durch den Kopf. Ich wandte mich dem Chaos da unten zu. Als ich gerade eine Handvoll Muscheln zurück in die Tüte gestopft hatte, klopfte es zaghaft an der Tür.
»Hanna, lass mich in Ruhe!«, schrie ich ungehalten.
»Ich bin's«, drang Tristans Stimme zu mir durch.
Ruckartig stieß ich die Tür auf und funkelte ihn böse an. Ich wollte ungestört sein, konnte es denn keiner verstehen?
Tristan quetschte sich in seinem Rollstuhl durch die enge Tür. Ich hatte sie vorher nicht vollständig geöffnet.
»Was soll das Kindertheater?«, kam er gleich zum Punkt. »Einmal an Hanna gedacht, wie sie sich jetzt fühlt. Sicher nicht, denn sonst würdest du hier nicht so mitleidig in deinem Zimmer ein riesen Theater aufführen.«
Leider kam mir keine schlagfertige Antwort in den Sinn. So musste ich ihn wohl oder übel weiterreden lassen.
»Maybee, du musst endlich lernen, dich hinten anzustellen. Du bist erst wenige Wochen hier. Gegen Hannas Aufenthaltszeit ist das nichts.«
»Ist ja schon gut. Du musst hier nicht den Moralapostel spielen. Ich werde sie nur so schrecklich vermissen.« Der Versuch halbwegs erwachsen aus dieser Sache rauszukommen, war somit auch gescheitert. Mit einem lauten Schniefen verabschiedete ich mich von den vorerst letzten Tränen.
»Mir wird sie ja auch fehlen«, begann Tristan.
In meiner Ichbezogenheit waren mir seine Gefühle völlig entgangen. Das hatte ich mal wieder super hinbekommen.Er kramte aus der Jackentasche seines schwarzen Pullovers ein Stück Papier hervor. Da ich zu weit weg von ihm saß, konnte ich nicht erkennen, was sich darauf befand. Er tat mir den Gefallen und kam ein Stück näher heran. Sichtlich verlegen hielt er mir ein Bild von ihm, Hanna und mir unter die Nase. Es war unverkennbar, dass es sich um uns handelte. Völlig baff fuhr ich mit meinem Zeigefinger die feinen Linien um unsere Köpfe entlang. Jeder Strich war exakt gesetzt worden und zusammen mit den harmonischen Farben hauchte es dem Bild Leben ein. Mir schauten keine ausdruckslosen Gesichter entgegen. Vielmehr versprühte das Leuchten in unseren Augen eine unbeschwerte Freude.
»Wow. Ich wusste nicht, dass du so derart talentiert bist.« Ich konnte meinen Blick nicht mehr von dem Blatt losreißen. »Wann hast du das gemalt?«
»Heute am Strand. Ich denke, dass würde Hanna als Abschiedsgeschenk bestimmt gut gefallen.«
Wieder beschlich mich das schlechte Gewissen. Ich fühlte mich kläglich. Gegenüber Hanna hatte ich mich einfach unmöglich benommen und zu Tristan war ich keineswegs besser gewesen.
»Tschuldigung.« Schuldbewusst hatte ich meinen Kopf nach unten gesenkt.
»Das musst du morgen Früh zu Hanna sagen. Jetzt lass uns überlegen, wie wir Hannas Geschenk am besten verpacken.«
Innerlich dankte ich ihm dafür, dass er nicht weiter auf das Thema einging. Er hatte es mir viel zu leicht gemacht, aus der Nummer wieder heraus zu kommen. Meine Augen suchten ziellos das Zimmer ab. Ideenlos. Sie blieben auf den verschütteten Muscheln ruhen und mir kam unerwartet ein Gedanke.
»Was ist, wenn wir einen Rahmen für das Bild basteln?« Mit meiner Hand zeigte ich auf den Boden.
»Gute Idee.« Tristan lächelte mich an. »Fangen wir an.«
***
Unendlich froh darüber, etwas tun zu können, gab ich mir alle Mühe die kleinen Muscheln abwechselnd zwischen die Holzstücke zu kleben. Hin und wieder musste Tristan mir aushelfen. Mit seinen dünnen Fingern war er weitaus geschickter als ich. Er füllte selbst die kleinsten Lücken und das Ergebnis konnte sich sehen lassen.
»Hanna wird sich bestimmt freuen«, zog ich ein zufriedenstellendes Resultat.
»Das glaube ich auch. Endlich kann sie von hier weg.«
Es folgte ein zögerliches Schweigen, bevor ich die nächste Frage aussprach.
»Wie lange bist du schon hier?«
Eine leichte Anspannung breitete sich im gesamten Zimmer aus. Ich hatte mich wohl auf gefährliches Terrain begeben. Tristan schnipste auf seiner Jeans herum, so als wollte er einen unsichtbaren Fussel von seiner Hose verbannen. Er räusperte sich und mied es, mich anzusehen, bevor er anfing zu erzählen.
»Seit letztem Herbst bin ich hier eingesperrt.«
Für mich war es ungewohnt, ihn aus seinem Leben berichten zu hören. Nur selten sprach er von seiner Vergangenheit und ich wusste so gut wie nichts über Tristan.
»Mein Bruder und ich hatten damals einen Autounfall. Wir waren zusammen auf dem Weg an die Ostküste. Ein Sommerurlaub in Florida wartete auf uns. Wir hatten uns wochenlang darauf gefreut und alles bis ins kleinste Detail geplant. Nur eins hatten wir nicht bedacht, dass uns irgend so ein beschissener Raser von der Straße drängt.«
Ich wagte nicht, ihn zu unterbrechen. In der Stille des Raumes hörte man einen Moment lang nur das Surren der Lampen.
»Jason war sofort tot. Die Fahrerseite war frontal gegen einen Baum geprallt. Mich hatten sie mit schwersten Verletzungen aus dem Wrack gezogen. Zwei Monate später bin ich hier gelandet.«
Geschockt biss ich mir auf die Zunge und hatte das Gefühl, dass er es bisher fast niemandem erzählt hatte. Mein Schicksal dagegen war ein Unglück. Ein Sportunfall. Etwas, das sich vielleicht wieder gerade biegen ließ. Einen Menschen konnte man jedoch nicht zurückbringen.
»Tut mir leid«, brachte ich heraus. Tristan murmelte etwas unverständliches. Irgendwie schien er erleichtert zu sein.
Wir verabschiedeten uns, denn es war ihm anzumerken, dass er alles gesagt hatte. Da ich nicht wusste, wie man in solchen Situationen reagierte, ließ ich ihn einfach gehen. Es war bereits Mitternacht und ich hatte ein paar wenige Stunden, um mich für den Abschied von Hanna zu wappnen.
Die Zeit bis zum Morgengrauen verbrachte ich zwar ohne Albträume, dennoch tat ich kein Auge zu. Ich sehnte mich nach jemandem, mit dem ich in der Dunkelheit des Raumes reden konnte, über meine Gefühle und Ängste. Nach jemandem, der mir mit einem Murmeln zu verstehen gab, dass er mir zuhörte und für mich da war. Zusammen mit Erin hatte ich so früher den Schlaf um einiges nach hinten verzögert. Mir war der Gedanke gekommen, Hanna oder Tristan zu besuchen. Für das Aufraffen mich mühselig in den Rollstuhl zu ziehen und durch die verlassenen Gänge zu streifen, fehlte mir schließlich der Mut. Der verzweifelte Drang wieder auf eigenen Beinen stehen und sich fortbewegen zu können, versuchte nach langer Zeit wieder die Überhand über meine Gedanken zu ergreifen. Bilder von Tristan, Hanna, Josh und Alec retteten mich vor dem schwarzen Loch. Mit Hilfe einer Pflegerin kroch ich aus dem Bett und nach einem Abstecher ins Badezimmer, fand ich mir vor dem Spiegel wieder. Unter meine Augen hatten sich dunkle Ringe gelegt. Der Unfall hatte auch mein Gesicht gezeichnet.
Sonnenlicht durchflutete jeden Winkel meines Zimmers, ließ die Staubkörner in der Luft tanzen und gab mir die gute Laune zurück. Das hier war Hannas' Tag. Meine Probleme konnten auch mal vierundzwanzig Stunden warten. Das hoffte ich jedenfalls, denn das Theater von gestern wollte ich mir heute ersparen. Mit geübten Handgriffen trug ich dezent Mascara auf meine langen Wimpern. Auf sonstiges Makeup verzichteten wir Surferinnen größtenteils. Lediglich ein dünner Lidstrich sorgte für Akzente. Vor meinem Unfall war das noch anders gewesen. Aber hier verspürte ich nicht das Bedürfnis danach mit einer Maske rumzulaufen.
***
Gegen acht Uhr begab ich mich auf den Weg nach unten. Tristan wartete bereits vor dem Speisesaal, in dem reges Treiben herrschte.
»Guten Morgen«, nuschelte er verschlafen. Seine schwarzen Haare, die ihm sonst ständig in die Stirn fielen, hatte er mit Haargel nach oben gestylt. Ich war nicht die Einzige, die sich für Hanna chic gemacht hatte.
»Morgen«, gab ich zurück. Tristan schaute mich flüchtig an, sagte jedoch nichts weiter. Das Gespräch von gestern Abend kam mir wieder in den Sinn. Sein Blick bedeutete mir anscheinend, dass ich ihn vorerst nicht mehr damit belasten sollte. Ich äußerte mich nicht dazu und fragte stattdessen, ob er Hanna bereits begegnet war.
»Eine Schwester bringt sie gleich zu uns. Zuerst sollten wir noch ein paar Vorbereitungen treffen.« Mit seinem rechten Arm deutete er auf die gläserne Terrassentür, die auf der anderen Seite des Speisesaals im Sonnenschein funkelte. Dahinter verlief ein tief blauer Himmel in die Unendlichkeit. Das traumhafte Wetter hatte sich wahrlich nicht verzogen.
Draußen begrüßte uns angenehme Morgenluft. Aufgeregtes Vogelgezwitscher durchbrach die Stille. Kurz darauf wusste ich auch warum. Vor mir erstreckte sich eine gedeckte Tafel. Der betörende Geruch frischer Croissants stieg mir in die Nase. Zwischen den weißen Tellern sorgten farbenfrohe Servierten und Marmeladengläser für einen fruchtigen Kontrast.
»Glaubst du, Hanna wird das gefallen?« Tristan riss mich aus meinem Staunen und blickte mir erwartungsvoll entgegen. Sein Piercing blitze auf, als ein Lichtstrahl darauf fiel. Er hatte hundertprozentig etwas gut bei mir.
»Mehr als das.« Und ich sollte Recht behalten. Hanna war sichtlich gerührt, als sie wenig später den Frühstückstisch erblickte. Tränen schimmerten in ihren blauen Augen und ich rang schwer um Fassung, nicht lauthals loszuheulen. Der kleine Streit war vergessen. Mehr oder weniger hatten wir uns mit der kommenden Veränderung abgefunden.
»Leute ihr seid die Größten!«, dankte sie uns in einer herzlichen Umarmung.
»Ihr seid verrückt«, fügte sie mit einem Zwinkern hinzu. Nachdem wir mit dem Essen begonnen hatten , wich die Freude einer zähen Anspannung gemischt mit Angst. Die Zeit schien uns davon zu laufen, wie die Butter auf dem knusprigen Gebäck. Morgen würde alles anders sein. Leerer und einsam. Auch wenn ich noch Tristan hatte, so fiel es mir unglaublich schwer von Hanna loszulassen. Sie hatte mir gezeigt wie wahre Freundschaft funktionierte.
Tristan fand als erstes seine Worte wieder.
»Wir haben noch ein kleines Geschenk für dich.« Er überreichte Hanna das eingerahmte Bild. Dies war zugleich das Ende für mein verkrampftes Unterdrücken den Tränen freien Lauf zu lassen, die die ganze Zeit gefährlich unter der Oberfläche gebrodelt hatten. In großen Bahnen strömten sie mir über die Wangen.
»Ich werde dich so unglaublich vermissen.« Unter Schluchzen starrte ich Hanna durch meinen Tränenschleier intensiv an.
»Ich dich doch auch.« Sie tätschelte meine Hand und versuchte mich zu beruhigen. Nach ein paar Minuten normalisierte sich meine Atmung und die salzigen Tränen begannen zu trocknen.
»Bee, ich bin nicht aus der Welt. Wir können immer noch telefonieren und ich werde dich ganz sicher besuchen kommen. Versprochen.«
»In der Zwischenzeit übernehme ich Hannas' Part «, quickte Tristan. Dabei klang seine Stimme so merkwürdig, sodass wir nicht anders konnten, als loszulachen. Die restliche Zeit ging weitestgehend unbeschwert weiter. Hanna erzählte von ihrem Haus im Norden des Bundesstaates und von ihrer Mutter, die sie in den letzten Monaten nur wenige Male gesehen hatte.
***
Gegen elf Uhr fuhr ein Taxi vor, das Hanna zum Bahnhof in Bakersfield bringen sollte. Ihre Mutter besaß unüblicher weise keinen Führerschein und konnte sie deshalb nicht holen. Ihre Eltern waren geschieden und sie hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater. Ich versuchte mich zusammenzureißen, als wir uns in einer innigen Umarmung verabschiedeten. Dass meine Augen dabei erneut feucht wurden, konnte ich nicht verhindern. Ich schaute dem Taxi lange nach, ehe es hinter der nächsten Straßenecke in der Ferne verschwand. Die gesamte Anlage des Kern Medical Centers lag auf einer Anhöhe und gab den Blick auf die hügelige Umgebung frei.
Ein kleiner Punkt erschien am Horizont, der Stück für Stück größer wurde. Ein Auto auf der langestreckten Straße näherte sich mir. Der Teer glimmerte in der Mittagshitze und aufsteigender Wasserdampf erschwerte mir die Sicht. Vielleicht war Hanna umgekehrt. Freudig krallte ich meine Finger um die Armlehnen. Das Fahrzeug kam näher. Doch es hatte nicht die gelbe Farbe des Taxis von vorhin. Es war bloß ein schwarzer Van. Enttäuschung und Ärger machten sich in mir breit. Hanna war endgültig fort und das musste ich akzeptieren. Mich hätte es auch nicht länger hier gehalten, wenn ich meine Entlassungspapiere bekommen hätte.
»Dein Bruder kommt.« Ich zuckte zusammen, als Tristans Stimmer hinter mir ertönte. Beim Raustragen der Koffer war er noch neben uns gewesen. Danach plötzlich weg und jetzt war er wieder aufgetaucht.
Mit den Worten »Ich habe sie vorhin angerufen. Zurzeit finden Wettkämpfe in Huntington Beach statt. Sie waren also in der Nähe«, erklärte er seine Abwesenheit. Schlagartig wurde mir einiges klar. Das was auf mich zu kroch war kein gewöhnlicher Van. Es war der von Josh.
»Woher hattest du die Nummer?«, wollte ich wissen.
»Berufsgeheimnis.« Die Antwort unterstrich Tristans zuweilen mysteriöse Art. Nach wenigen Augenblicken kamen Josh und Alec zum Stehen. Die Beifahrertür öffnete sich und mein Bruder stürmte auf mich zu, ehe er mich in einer Umarmung fast erdrückte. Ich war überglücklich die beiden wieder zusehen. Meine Lippen formten ein stummes »Danke« in Tristans Richtung.
Keine Stunde später saß ich mit gepackter Tasche in meinem Zimmer. Die anfängliche Wiedersehensfreude aber war vergangen. Ich starrte unverwandt auf meine dunkelblaue Sporttasche, fuhr mit meinen Augen, die sich darauf befindenden Wellen entlang und bewegte mich ansonsten keinen Millimeter. Josh und Alec klemmten mich eine Ewigkeit in ihrer Umarmung ein und hatten mich gar nicht mehr loslassen wollen. Dass sie sich so sehr über meinen Anblick gefreut hatten, rührte mich. Die mühsam unterdrückten Tränen fanden wieder ihren Weg nach draußen. Doch diesmal war es nicht so schlimm. Es waren Tränen der Freude und ich wusste, dass mich die zwei niemals im Stich lassen würden. Unter einem strahlenden Lächeln hatten sie mich gefragt, ob ich sie zu den Wettkämpfen als Zuschauerin begleiten würde. Bei Alex freudigem Gesicht, hatte ich es einfach nicht übers Herz gebracht »Nein« zu sagen. Und jetzt saß ich hier, unruhig und von grässlichen Erinnerungen an meinen Unfall geplagt. Ich konnte das nicht durchstehen. Der Besuch mit Hanna und Tristan neulich am Strand war etwas anderes gewesen. Er war unvorbereitet und nirgends war der Geruch nach frisch gewachsten Surfboards zu riechen gewesen. Diesmal war es anders, es würde wie eine Reise in die Vergangenheit sein. Und der würde ich mich stellen müssen, ich wusste nur noch nicht wie.
»Bee, bist du soweit?« Josh klopfte zaghaft an meine Tür.
»Sofort, ich komme gleich. Muss nur noch kurz zu Ende packen.« Um meine Lüge zu untermauern, beugte ich mich zur Tasche am Boden und öffnete lautstark den Reißverschluss.
»Aha, ich wusste, dass du dich nicht komplett verändert hast.« Die letzten Worte drangen nur noch als ein Flüstern zu mir. Anscheinend hatte er sich in Richtung Fahrstuhl entfernt. Ich atmete einmal tief ein und dann wieder aus. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, griff ich nach der Beachbag und verließ mein Zimmer.
Im erdrückenden Flutlicht der Mittagssonne hatte sich der Innenraum des Vans aufgeheizt wie ein Treibhaus. Vorsorglich hatte mein Bruder die hinteren Sitze umgeklappt, sodass ich mit meinem Rollstuhl Platz finden konnte. Doch ich war nicht die Einzige, die nach hinten verfrachtet wurde. Mit aller Kraft hievte man auch Tristan in das Auto. Er grinste mich an und ich konnte nicht anders, als zurück zu grinsen.
»Du bist doch etwa nicht davon ausgegangen, dass ich dich alleine nach Huntington Beach fahren lasse oder?«
»Nein.« Irgendwie war es ein kleiner Trost, dass ich nicht alleine im Sand stehen und meinen Bruder anfeuern musste. Ein Teil meiner Anspannung hatte sich vorerst gelegt.
»Außerdem war ich noch nie bei einem Surfwettkampf.« Auf Tristans Stirn hatte sich eine feine Schweißperle gebildet und ich musste den Impuls unterdrücken, sie fortzuwischen. Ich wusste nicht, wie weit ich bei ihm gehen konnte, dafür kannten wir uns immer noch zu wenig.
»Das ist der pure Stress, aber wenn man erst einmal da ist, vergisst man die Welt um sich herum. Dann ist da nur noch der Wind, das Wasser und seine Wellen«, sagte ich stattdessen und konzentrierte mich wieder auf die Straße. Während der restlichen Fahrt unterhielten wir uns über mehr oder weniger belangloses Zeug wie unseren Schulalltag. Tristan war eine Klassenstufe über mir und hatte bis zu seinem Autounfall eine kunstfördernde Highschool besucht, für deren Gebühren seine Eltern scheinbar alles aufbrachten, was sie hatten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich meine Eltern irgendwann so aufopferungsvoll für mich einsetzen würden. Schließlich hatten sie derartiges bisher nie getan.
***
Als wir das grüne Schild nach Huntington Beach passierten, kroch die Nervosität in jede meiner Adern zurück. Ich versuchte mich gelassen zu geben, als Alec mich auf dem Teerboden des überfüllten Parkplatzes abstellte.
»Da hatten wir ja Glück, dass wir noch einen Platz bekommen haben«, warf ich ein und mein Blick fiel auf eine Truppe von Jugendlichen, die sich jeweils mit einem Surfbrett unter dem Arm geklemmt, eilig zum Strand aufmachten.
Josh tippte unruhig auf seine Armbanduhr.
»Alec, am besten gehst du schon mal vor, meldest dich an und wartest dann im Camp auf mich.«
»Geht klar, Chef. Und ihr zwei« Mein Bruder zwinkerte Tristan und mir verschwörerisch zu. »Drückt uns ganz fest die Daumen, ja?«
»Natürlich!«, antworteten Tristan und ich wie aus einem Mund.
»Das hört sich doch gut an.« Alec schnappte sich seine Sachen und heftete sich an die Fersen der jugendlichen Gruppe, deren Köpfe mittlerweile zu kleinen Stecknadelköpfen geschrumpft waren.
»Dann wollen wir mal sehen, wie ich euch beide hinunter an den Strand bekomme.« Einige Minuten später hatte er die breiten Reifen angebracht und mit Hilfe eines Bekannten, an den ich mich schemenhaft erinnern konnte, brachte er uns sicher an den Strand hinunter.
***
Vor mir erstreckte sich der puderweiße Sand und dahinter der kristallblaue Ozean. Uns wehte eine sanfte Brise um die Nase und ich bemühte mich, die äußeren Umstände nicht mit denen von damals zu vergleichen. Tristan war mir dabei eine große Hilfe. Er löcherte mich mit allen möglichen Fragen. Ich musste ihm erklären, dass mein Bruder in der Disziplin Tube-Riding an den Start ging. Es ist die Königsdisziplin der Techniker unter den Surfern. Der schwierigste Part daran, ist das Ein- und Ausfahren, sowie das Fahren unter einer sich brechenden Welle. Irgendwie tat es mir gut, ihm so viel von meiner größten Leidenschaft zu erzählen und mir damit die Wartezeit auf das Startsignal zu verkürzen.
»Wie stark muss der Wind eigentlich wehen, damit man überhaupt surfen kann?« Tristan schirmte seine Augen mit seiner linken Hand ab, um mich im grellen Sonnenlicht besser ansehen zu können.
»Mindestens zwanzig Stundenkilometer.«
»Es muss ein unglaubliches Gefühl sein.«
Das war es. In diesem Moment hätte ich alles dafür gegeben, um mit den braungebrannten Mädchen, die sich unten am Wasser aufgestellt hatten, tauschen zu können. Eine tiefe Stimme meldete sich aus den am Rand stehenden Lautsprechern.
»Als nächstes stellen sich bitte die Teilnehmer aus dem Team Dark Wave, Shark Riders und Wavers auf.«
Ich versuchte unter den jungen Leuten meinen Bruder auszumachen. Schließlich erkannte ich ihn mit seinem weiß-grünen Brett ein wenig abseits von den anderen stehen. Er wirkte sehr konzentriert. Die Konkurrenten traten ans Wasser und mir blieb für einen Augenblick die Luft weg. Meine Hände verkrampften sich und ich musste meine Atmung beruhigen.
»Bee, ganz ruhig. Wir sind nur Zuschauer«, sprach Tristan mir beruhigend zu und tätschelte meinen Arm. Mir war nicht entgangen, dass er mich zum ersten Mal bei meinem Spitznamen genannt hatte.
»Ich versuch es«, gab ich zurück und setzte eine konzentrierte Miene auf. Stumm formten meine Lippen unseren Anfeuerungsruf, als sich die Meute in die Wassermassen stürzte. In diesem Moment war es unmöglich einzelne Personen unter ihnen auszumachen.
»Dein Bruder wird das schon machen und«, setzte Tristan an und verstummte. Selber irritiert blickte ich in sein verwundertes Gesicht. Doch er schaute mich nicht direkt an. Sein Blick richtete sich auf irgendetwas hinter mir. Langsam wand ich meinen Kopf.
Und da stand er, seine Hände üblicherweise tief in den Taschen seiner Jeans vergraben. Auf seinen dunkelblonden Haaren trug er seine schwarze Lieblingskap. Ich blinzelte, weil ich dachte, mir seine Erscheinung nur eingebildet zu haben, aber er stand weiterhin in voller Größe vor meinen Augen.
»Hallo, Bee.« Seine Stimme ließ mich erschauern und ich hatte absolut keine Ahnung, was ich ihm antworten sollte. Mein Kopf war voller Fragen, aber keine fand ihren Weg aus meinem Mund. So oft hatte ich mir ein Wiedersehen mit Ted Wahlberg ausgemalt. Aber nicht so, nicht auf diese Weise.
Immer noch unfähig auch nur einen einzigen Ton aus meiner zugeschnürten Kehle zu bekommen, starrte ich meinen Freund oder doch eher Exfreund, ich wusste nicht einmal, ob wir noch zusammen waren, an.
Im Gegensatz zu mir schien Ted keinerlei Probleme mit unserem Wiedersehen zu haben. »Was machst du denn hier?«, fragte er ganz selbstverständlich und ich musste mir eingestehen, dass seine rau angehauchte Stimme meinen Armen eine Gänsehaut verlieh.
»Ich unterstütze Alec und du, was treibt dich nach Huntington Beach?« Der bis eben andauernde Schockzustand war abgeflacht und meine Stimme entsprach ungefähr ihrer alten Version.
»Ich genieße die Ferien und bin gekommen, um Erin ein wenig anzufeuern.« Seine ohnehin strahlend weißen Zähne blitzen im darauf treffenden Sonnenlicht noch einige Nuancen heller auf und standen im starken Kontrast zu seiner gebräunten Haut.
»Schön, dass es dir so gut geht.« Zickiger als beabsichtigt warf ich ihm meine Worte entgegen, an die sich viele stumme Fragen anschlossen.
Warum hast du dich so selten gemeldet? Warum bist du mich nicht besuchen gekommen. Bedeute ich dir so wenig, dass du es nicht einmal für nötig hältst, mich anzurufen?
Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich war froh, Ted durch den aufgestauten Schleier nicht mehr ansehen zu müssen.
»Bee, du musst doch nicht gleich weinen. Wir können das alles klären. In einem Gespräch unter vier Augen.« Die unterschwellige Botschaft seiner Aussage war an Tristan gerichtet und bedeutete, dass er uns zwei alleine lassen sollte. Ich wusste nicht, wie lange ich Teds Anwesenheit ertragen konnte und bat Tristan zu bleiben. Vergebens.
»Ich werde mal nach einer kleinen Verstärkung Ausschau halten.« Kaum hatte Tristan zu Ende gesprochen, zog er sich schon mit aller Kraft zurück in den Rollstuhl und das Knirschen von Sandkörnern ertönte, als er sich von uns entfernte.
»Wir werden das hinkriegen. Wenn jemand das schafft, dann sind wir es.« Wieder klarsehend, verfolgte ich mit einer Mischung aus Angst und Hoffnung, wie sich Ted neben mir niederließ. Unter seinem grauen T-Shirt zeichneten sich die Konturen seiner strammen Muskeln ab. Es war unverkennbar, dass er viel Sport trieb. Neben Football, war er auch noch als Basketballer und Ruderer aktiv.
»Wie du das so sagst, klingt das Ganze so einfach, als wäre das hier alles.« Ich zeigte auf meine ausgestreckten Beine, die ihre frühsommerliche Bräune mittlerweile wieder gegen weiße Winterhaut eingetauscht hatten. »Nie passiert.«
»Bee«, setzte er erneut an und verstummte, als ich ihn mit einer gehobenen Hand zum Schweigen brachte. Die Erwähnung meines Spitznamens aus seinem Mund klang so falsch, wie die Tatsache, dass ich im nächsten Moment aufspringen, ihn an der Hand greifen und mit ihm in die sanft abklingenden Wellen stürmen würde.
Ich gehöre nicht mehr in diese Welt, ging es mir gleichzeitig durch den Kopf. Und zum ersten Mal seit Wochen, war mir bewusst, dass ich mich wirklich verändert hatte. Teds zusammengekniffene Augenbrauen, aus denen eine kleine Zornesfalte hervor lugte und das Schweigen meinerseits, machten das nur allzu deutlich.
»Was willst du dann von mir hören?« Mit leicht gerötetem Gesicht schaute er mich an. Erwartungsvoll und anklagend. Ja, was wollte ich von ihm wissen? Ich wusste es selber nicht. Meine rechte Hand griff nach einer abgebrochenen Muschel und ich spürte, wie die scharfe Kante über meine Haut strich, als ich sie darüber hinweg schob. Ich wünschte mich an ihre Stelle, nur war niemand da, der mich von hier fort brachte. Meine anfänglichen Fragen und Vorwürfe waren versickert, wie das salzige Meerwasser im aufgeweichten Uferstreifen. Motivationslos schmiss ich das Strandgut von mir und begann auf meiner Lippe zu kauen. Die Zeit dehnte sich, in der keiner von uns einen Laut von sich gab.
***
Ein lautes Dröhnen durchschnitt die schweigsame Stille und die Sportler im Wasser hatten ihre Boards ergriffen und waren auf dem Weg an den Strand. Meine Augen huschten zur Ergebnisanzeige und fanden Alec auf Position drei wieder.
»Glückwunsch.« Ted hatte sich erhoben und seine breite Statur schirmte mich vom grellen Sonnenlicht ab. Es war allzu deutlich, dass er sauer war.
»Warte!«, krächzte ich und wollte unsere Unterhaltung noch nicht aufgeben. Ted war ein langer Teil meines Lebens gewesen und konnte es in Zukunft auch noch sein.
»So kommen wir nicht weiter. Werd dir erst mal klar, was du wirklich willst.« Seine Stimme war eisig, als er weiter sprach. »Wenn du in zwei Wochen wieder die Alte bist, können wir es nochmal versuchen.«
»Ich werde mich nicht mehr ändern und was gefällt dir an der neuen Maybee denn nicht?« Leichte Verzweiflung keimte in mir auf, bahnte sich einen Weg durch meinen Körper und ließ meine Hände verkrampfen.
»Das bist doch nicht du!«, schrie er mir entgegen und seine Augen starrten erst auf meine am Boden sitzende Gestalt, ehe sie auf meinem Rollstuhl verharrten.
»Doch das bin ich! Und wenn es dir nicht passt, dann brauchst du auch keine zwei Wochen abwarten und kannst dich gleich von hier verpissen!« Eine Welle getragen von Wut und Enttäuschung durchfuhr mich und ich verfolgte abermals, wie sich meine Zehen leicht nach vorne und dann wieder nach hinten streckten. Aber das war mir in diesem Moment nicht genug. Ich wollte meine Füße, meine Beine wieder bewegen können, umherspringen durch den Sand tanzen und mit meinem türkisen Surfbrett im Pazifik abtauchen. Mir stiegen erneut salzige Tränen in die Augen. Leicht verschwommen blickte ich in Teds ausdrucksloses Gesicht, dessen Gleichgültigkeit meinen Schmerz tausendfach anzustacheln schien. Es war als hätte dieser die ganze letzte Zeit über unter der Oberfläche gebrodelt, wartend darauf, dass er frei gelassen wurde. Das konnte alles nicht wahr sein.
»Geh, bitte«, schluchzte ich.
»Aber...«
»Geh endlich!« Teds Schritte entfernten sich dumpf im Strandsand. Ein Teil von mir wollte ihn aufhalten, ihm verzeihen und an meinem alten Leben festklammern. Der andere Teil, der in diesem Augenblick überwog, wollte ihn nie wieder sehen und verlor gleichzeitig alle Hoffnung, dass sich meine Lage jemals wieder bessern sollte. Die positiven Ereignisse der letzten Wochen wurden von einem schweren Klumpen verdrängt, der sich in meinen Gedanken festsetzte wie ein klebriges Spinnennetz, aus dem es kein Entrinnen gab.
Meine Schultern bebten unter den Schluchzern, die ich von mir gab.
»Ist bei dir alles in Ordnung?« Eine ältere Frau war besorgt vor mir stehen geblieben, mir ein Taschentuch hinhaltend, das ich sogleich ergriff.
»Es geht schon«, stotterte ich und hoffte, dass man meine genuschelte Antwort verstand.
»Mädchen, das sieht mir aber nicht danach aus. Die Frau gab sich nicht geschlagen.
»Was ist hier los?« Tristans Stimme drang in mein benebeltes Gedächtnis.
»Ich glaube deiner Freundin geht es nicht gut.«
»Okey, danke, dass sie sich um sie gekümmert haben.«
Teilnahmelos verfolgte ich die Unterhaltung und spürte wie mein feuchtes Gesicht in der Nachmittagssonne brannte. Wortlos setzte sich Tristan Sekunden später neben mich und drückte sanft meine Hand, was mir überraschend ein wenig Trost spendete. Er schien zu wissen, was er tat und ich war froh, ihn an meiner Seite zu haben. Meine klammen Finger verschränkten sich mit seinen und wieder normal atmend, beobachteten wir, wie sich die Surfer vorm dämmernden Horizont für die zweite Wettkampfsrunde bereit machten.
Der Nachmittag am Huntington Beach war der bis dato schlimmste Tag meines Lebens gewesen. Keines der Gefühle, die in mir brodelten, hatten sich entscheiden können , zu welchem Zeitpunkt es an die Oberfläche kommen wollte. Ich war ein reines Nervenbündel. Neben heftigen Heulkrämpfen hatte ich hysterische Lachanfälle und Wutausbrüche. Ich wollte nicht mehr. Auch der zweite Platz, den Alec im zweiten Durchlauf noch herausgefahren hatte, ließ mich kalt.
Die nächsten Wochen verliefen keineswegs besser. Meine Gesundheit machte weiterhin kaum Fortschritte und ich wurde mit jedem Tag ungeduldiger und gereizter. Mit jedem Tag ging auch ein Stückchen Hoffnung in mir verloren. Ted hatte sich in der gesamten Zeit nicht mehr gemeldet. Mittlerweile konnte ich ihn sogar verstehen. Was wollte er mit einer Freundin, die man weder mit an den Strand noch auf eine angesagte Party mitnehmen konnte? Die ganze Zeit am Rande der Tanzfläche stehen, um ihr Getränke zu bringen und sie dann auf die Toilette zu schieben war sicher keine Wunschvorstellung von einer Beziehung. Tristan versuchte sein Bestes, um mich aufzuheitern. Er lud mich zu Malstunden auf sein Zimmer ein und überredete mich das ein oder andere Mal mit auf die große Terrasse in den Garten zu kommen. Doch die roten Spitzen der Blätter an den umstehenden Bäumen erinnerten mich einmal mehr daran, dass ich einen der besten Sommer meines Lebens verpasst hatte.
Wir hatten mittlerweile Ende September und mein siebzehnter Geburtstag stand kurz bevor. Hanna hatte versprochen, dass sie an diesem Tag auf jeden Fall kommen würde. Ich freute mich zwar auf ein Wiedersehen mit ihr, doch hatte ich keine Ahnung wie ich in meiner derzeitigen Verfassung eine halbwegs ordentliche Geburtstagsparty zustande bringen konnte. Die Leitung des Kern Medical Centers hatte mir dafür extra den großen Seminarraum zur Verfügung gestellt. Früher war es für mich das Größte gewesen, meinen Geburtstag zu organisieren. Jetzt wollte ich nur, dass dieser Tag in diesem Jahr ausfiel oder vorüberging, wie jeder andere auch. Aber da konnte ich mich nicht auf die anderen verlassen. Josh und Alec waren immer für Überraschungen gut. Das hatten sie mit dem Wettkampf in Huntington Beach schon bewiesen. Ausfallen würde dieser Tag also auf keinen Fall und so hatte ich gestern mit Dr.Harsen einen Termin für das Wochenende ausgemacht, um mir die feierlichen Räumlichkeiten zu Gemüte zu führen.
»Das wird dich sicher ablenken und deiner Seele gut tun«, hatte sie mir zugesprochen, während sie sich in ihrem Terminkalender die Uhrzeit für Samstag notierte. Ich hatte daraufhin nur ein falsches Grinsen aufgesetzt, um ihr zu signalisieren, dass ich nicht über meinen Geburtstag sprechen wollte. Erstaunlicherweise war sie danach ohne eine weiteres Wort und mit einem ebenso aufgesetzten Grinsen aus dem Raum stolziert. Die Frau war mir seit dem ersten Tag hier kein bisschen sympathischer geworden.
***
Plop. Ich fuhr erschrocken zusammen und der Laptop auf meinem Schoß wäre beinahe von meinen Beinen gerutscht. Das Nachrichtenfenster bei Facebook hatte sich geöffnet. Das erste Mal seit dem Unfall war ich wieder online. Das Postfach war überfüllt mit tausenden Gute-Besserungs-Wünschen und besorgten Nachfragen, wo ich denn die ganze Zeit über gesteckt hätte. Ich war fassungslos darüber, dass noch immer nicht alle wussten, was mit mir passiert war. Das meiste Zeug löschte ich sofort. Lediglich bei einigen Botschaften hielt mein Interesse etwas länger an als zwei Sekunden. Madison hatte einen langen Text verfasst, in den sie chinesische Volksweisheiten eingebaut hatte und der mir die Tränen in die Augen trieb. Ich überlegte, ob ich sie zu meinem Geburtstag einladen sollte. Eigentlich waren bisher nur meine Eltern, Josh, Alec, Hanna und Tristan eingeplant, da ich nicht unnötig mehr Mitleid bekommen wollte. Auf der anderen Seite war Madison immer für mich da gewesen. Sie hatte sich selbst mit der stärksten Erkältung zu unseren Wettbewerben geschleppt und uns bis zur letzten Sekunde angefeuert. Aber ihr Name auf meiner Gästeliste bedeutete auch, dass ich zu Erin Kontakt aufnehmen musste. Ich konnte Madison schlecht befehlen, dass sie sich heimlich still und leise von zu Hause davon schleichen und Erin eine Lüge darüber auftischen sollte, auf wessen Party sie denn gewesen sei. Ich befand mich in einer Zwickmühle. Nervös tippte mein rechter Zeigefinger auf der Tastatur, ohne auch nur ein einziges Wort zu schreiben, während meine Augen den grünen Punkt neben Erins Namen fixiert hatten. Sollte ich sie anschreiben? Aber was sollte ich schreiben?
»Hallo Erin. Nur zur Info. Wie du vielleicht weißt, habe ich bald Geburtstag und diese Nachricht soll keine Einladung für dich sein, sondern nur eine Info darüber, dass Madison zu meiner Party kommen wird. Also nicht wundern, wenn sie nächsten Samstagabend ohne dich das Haus verlässt.« Nein, das konnte ich nicht bringen. Wir waren schließlich sowas wie Freunde, wenn es sich in den letzten Wochen auch nicht so angefühlt hatte. Sie stand dort, wo ich immer sein wollte. An der Spitze der Gesamtwertung der Surferinnen aus ganz Kalifornien. Wettkampf reihte sich an Wettkampf, Interview an Interview. Als ich neulich unten am Kiosk gewesen bin, habe ich ihr braun gebranntes Gesicht sogar auf der unteren Ecke des Surf Magazine entdeckt.
Bevor ich weiter überlegen konnte, in welcher Wortwahl ich ihr einen halbwegs freundlichen Text schicken konnte, öffnete sich ein neues Popup-Fenster. Es war der Chat von Erin und mir.
»Hallo, Maybee. Du bist online?«
Kurz geschockt, über das Schicksal, dass mich soeben ereilt hatte, blieben meine Hände reglos auf der Tastatur liegen.
»Hallo, bist du da?«
»Hey, ja ich bin online.«
»Das sind doch mal gute Neuigkeiten. Wie geht es dir?«
Ich konnte zwischen den Zeilen, die sie geschrieben hatte, leider nicht herauslesen, ob ihre Freude ernsthaft war. Dementsprechend reserviert fiel meine Antwort aus.
»Wie es einem in einer Rehaklinik nun mal geht...«
»Machst du Fortschritte?« Unbeeindruckt stellte sie mir die nächste Frage.
»Nicht wirklich.«
»Das ist schade. Aber ich bin mir sicher, du schaffst das.«
»Mhm.«
»Nein, im Ernst. Ich glaube fest daran.«
Ich versuchte mir ihre Stimme ins Gedächtnis zu rufen, was mir unheimlich schwer fiel, da wir ewig nicht mehr persönlich miteinander gesprochen hatten. Ihr plötzlicher Optimismus schien ganz und gar nicht mit dem Pessimismus zusammenzupassen, den sie sonst an den Tag legte und machte mich misstrauisch.
»Wirklich?«
»Ja, wirklich, was denkst du von mir?« Bevor sie noch ärgerlicher wurde, versuchte ich sie mit einer Frage meinerseits abzulenken und kam dabei immer mehr von dem Vorhaben ab, dass ich ursprünglich für unser Chatgespräch geplant hatte.
»Genug von mir. Wie sieht's bei dir aus? Irgendwelche Neuigkeiten?«
»Ich hatte vor zwei Wochen einen Interviewtermin mit John Welz. Bee, stell dir vor, mit John!« Welz war der Chefredakteur des Surf Magazine und zählte in seiner Jugend zu den begnadetsten Talenten der gesamten Surferwelt. Erins Zimmer war voll mit Postern, die seinen stählernen Body zierten. Schon im Alter von zehn Jahren hatte sie für John Welz geschwärmt und es sich bestimmt nie zu träumen gewagt, ihn einmal persönlich zu treffen. Die Art und Weise, wie ihr Leben momentan verlief, versetzte mir einen Stich. Eine Spur des Neides überkam mich, die ich auch in den nächsten Minuten nicht abschütteln konnte.
»Cool.«
»Das ist nicht nur cool, das ist der absolute Wahnsinn. Du hättest ihn erleben müssen. Ein wahrer Gentleman. Er hat mir und Ted sogar Fotos aus seinen Alben gezeigt und voller Nostalgie von seiner Jugendzeit berichtet.«
Ted? Leider waren meine Finger schneller und ehe ich mich versah, hatte ich meine Gedanken aufgeschrieben und abgeschickt.
»Ted?« Schweigen. Mein Misstrauen wuchs mit der aufkommenden Eifersucht weiter an.
»Du, Bee, ich muss dann. War nett mal wieder mit dir zu schreiben. Alles Gute weiterhin.« Ehe ich ihr antworten konnte, verschwand der grüne Punkt und Erin war offline.
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
meine neue Story ist für all meine tollen Leser!!!Was wäre ich ohne euch
Jojo ♥