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»Die Wölfe überfallen das Lamm im Dunkel der Nacht, doch die Blutspuren haften auf den Steinen im Tal, und    

 das Verbrechen wird für alle sichtbar, wenn die Sonne aufgeht.«

 

 

- Khalil Gibran, Sämtliche Werke

Prolog

In diesen dunklen Nächten kurzweiliger innerlicher Abstinenz überschwappte sie eine sonderbare alles verzehrende Ruhe, die sich jenseits aller Normalität anfühlte. Doch es war weder angenehm noch unbehaglich. Sie hatte kein passendes Wort, um diesem Gefühl einen Namen zu geben – sie fühlte rein gar nichts. Als hätte ihre Seele ihre schützende Hülle verlassen, verzweifelt und empört über den fragilen gebrechlichen Muskel in ihrer Brust. Es gab schier nichts, was sie mit diesem Gefühl gleichsetzten konnte. Fühlte sich so aufgeben an? Wenn man mit dem Leben abgeschlossen hatte, keine Kraft mehr um den steinigen Weg zu gehen, immer dann wieder ein Bein gestellt zu bekommen, wenn man gerade erst wieder angefangen hatte zu lernen?

 

Doch die Ruhe währte stets nur wenige Augenblicke, letztlich wurde sie vom kompletten Gegenteil abgelöst – einem zerstörerischen Orkan an unkontrollierbaren Gefühlen, Gewissensbissen, der schrecklichen Schuld, der sich Tag für Tag von ihrer Seele ernährte und dem heißen Glühen, das unaufhörlich durch ihre Venen gepumpt wurde; ihren Körper schier in Flammen setzte.

Sie verglühte – ausnahmslos.

Nicht einmal Polarwasser hätte in jenem Moment die Wirkung dressieren können, denn das alles wurde in ihrem Kopf ausgelöst, ihrem Herzen, ihrer Seele...

 

Und auch diesmal wurde ihr bewusst, dass die schwarzen Schmetterlinge ihr alles genommen hatten. Unwiderruflich. Denn die Zeit war das Feuer, in dem wir alle verbrannten.

 

Die finstere Nacht hatte sich wie schillernde Seide über die ganze Stadt gelegt, verschluckte alles Licht in der Umgebung problemlos, einzig und allein die wenigen Laternen spendeten ihr genügend Licht, erhellten spärlich ihren Pfad, flackerten abermals unruhig und warfen groteske Schatten – als würden sie mit ihren scharfen Klauen eine klaffende Wunde in den Nachthimmel reißen wollen.

Ihr war diese sonderbare Atmosphäre vertraut, womöglich zu vertraut, dieser Weg fast schon reinste Routine, was bereits unsagbar traurig war, in Angesicht der Tatsache, wer am Ende ihres Zieles auf sie warten würde. Doch sie musste es tun, ihre Nervosität stillen und sich vergewissern, dass ihre Albträume einfach nur irgendwelche Träume waren, gespenstische Wahnvorstellungen, die Verarbeitung ihrer schlimmsten Ängste, oder einfach nur ein geschmackloser Streich; gesendet aus den Tiefen des Fegefeuers. Alles...nur nicht wahr.

 

Ein eisiger Windhauch wehte ihr entgegen, schob sich durch ihren Leinenmantel, liebkoste mit seinen frostigen Fingern ihren Hals, was ihr einen Schauer über den gesamten Körper jagte. Sie knöpfte die letzten beiden Knöpfe zu, zog sich die Kapuze ihres rabenschwarzen Mantels noch tiefer ins Gesicht und beschleunigte ihre Schritte, ganz so, als wolle sie unbekannt bleiben; ein Schatten getarnt in Dunkelheit.

Irgendwann wäre es vielleicht genug, irgendwann würde sie vielleicht aufhören, immer wieder von diesen schrecklichen Ereignissen reinster Wiederholung geplagt zu werden, der tief in ihrer Seele verankert war und sie stets aufs Neue vergiftete.

Sie war in ihrem eigenen Geist nur eine Marionette, denn er beherrschte nachts ihre Träume und tagsüber ihre Gedanken mit solch penetranter Hartnäckigkeit, dass sie meistens gar nicht mehr die nötige Kraft besaß, um sich dagegen zu wehren und ihren Geist davon zu befreien.

Schattenkind.

 

Ihre Schritte wurden langsamer, denn sie hatte ihr Ziel beinahe erreicht. Der allbekannte Geruch wehte ihr augenblicklich entgegen – Friedhofserde. Sie erschauderte, als sie mit der Fingerkuppe abwesend über die kühle Eisengittertür strich, ihren betrübten Blick über die ganzen Gräber gleiten ließ. Unzählige Menschen - aneinandergereiht, unter kalter Erde, verschwunden im unendlichen Nichts. Die einen Opfer, die anderen Täter; Jung und Alt, Mörder, Vergewaltiger und dazwischen Priester, die Männer Gottes.

Etwas zog sich in ihr fürchterlich zusammen. Sie alle waren von Grund auf verschieden, unzählige Individuen, die ihr Leben gelebt, eine andere Geschichte geschrieben hatten. Nichtsdestotrotz waren sie wie alle anderen an diesem Ort gelandet; Ruhe in Frieden stand auf den Gräbern. Doch wie konnte ein Mensch seinen Frieden finden, der sich sein ganzes Leben für das Gute, für Menschen und die Gerechtigkeit eingesetzt hatte, wenn neben ihm ein Mensch lag, der sich wiederum zu seinen Lebzeiten dagegen verschworen hatte und nichts weiter als schlimme Taten vorzuweisen hatte?

Nein, das war kein Frieden. Das war in ihren Augen nichts weiter als Wahnsinn.

 

Einen Moment lang schloss sie die Augen, kramte kurz darauf ihren Schlüsselbund aus ihrer Jackentasche und beförderte das Ding mit zittrigen Fingern in den Türzylinder.

Die Tür knarzte wie eine rostige Scharniere, als sie geöffnet wurde und sie kam nicht umhin, als die angestaute Luft aus ihren Lungen zu lassen.

Um diese Uhrzeit waren die Türe der Friedhöfe selbstverständlich abgeschlossen, deshalb hatte sie vor geraumer Zeit den Friedhofswächter bestochen und so einen zweiten Schlüssel anfertigen lassen, damit sie zu jeder Zeit Zugang hatte.

Niemand wusste davon, viele würden es als eine krankhafte Obsession betrachten und sie vermutlich Zwangseinweisen lassen wollen. Doch sie brauchte das...sie musste es sehen. Immer wieder.

Ihre schwarzen Stiefel quietschten laut unter ihren Füßen und sie starrte wie paralysiert an einen unbestimmten Punkt in der Ferne, hielt aus einem Impuls heraus an, denn sie war da.

An seinem Grab.

 

Eine Welle der Übelkeit schwappte über sie und ein unkontrollierbares Zittern erfasste zeitgleich ihren unterkühlten Körper. Die geordneten Gedanken flatterten wirr durch die Gegend, formten sich letztendlich zu einem dicken undefinierbaren Klumpen und ein kleiner Film spielte sich vor ihrem inneren Auge ab. Die Vergangenheit würde sie niemals hinter sich lassen können, das war ihr schon vor einer sehr langen Zeit schmerzlichst bewusst geworden.

Irgendwann würde sie daran ersticken; an der Schuld und den Gewissensbissen. Sie hatte keine Möglichkeit die Geschehnisse rückgängig zu machen.

In verschnörkelter Schrift war sein Name in das Stein eingraviert worden, doch niemand würde jemals seine Geschichte erfahren; wie er unter die Erde gekommen war. Die Wut und der Schmerz schnürten ihr die Kehle zu, doch gleichermaßen machte sich eine abnormale Erleichterung in ihr breit...

 

Er war tot. Tot.

Immer wenn sie diesen Albtraum hatte, die sich wahrlich wie eine flüchtige Liebkosung des Todes anfühlte, kam sie hierher. Nur um sich zu vergewissern, dass dieses Grab nicht offen stand und der Mann, der durch ihre eigene Hand gestorben war, nicht einen Weg gefunden hatte, um aus dem Höllenfeuer zu entkommen...

Impressum

Texte: Liegt bei mir
Tag der Veröffentlichung: 23.03.2014

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