Cover

Chapter 01 - Wo sich Himmel und Erde küssen

 

~Jeder Mensch ist wie ein Mond:
er hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt. ~

-Mark Twain

 

 

-1- 

 

Seit geraumer Zeit begleiteten mich diese grauen Träume durch die Nächte – wie ein alter Liebhaber seine Geliebte, durch die mit Lichterketten besetzten, einsamen Straßen

 

So eisig und seelenlos die Umgebung in dieser Traumwelt auch stets wirkte, die wenigen Farbtupfer an den bedeutungsvollsten Stellen spendeten der utopischen Szenerie Hoffnung und dämpften jählings die karge Atmosphäre – wenn auch nur für einen Moment.

 

Indigoglanz goss sich beinahe ehrfürchtig über das verlassene Land und das Bild in schwarzweiß verbeugte sich vor dem explosivem Farbenspiel der untergehenden Sonne. Die Momente dauerten jedoch stets wenige Herzschläge, denn das grau nahm seinen Thron wieder ein und regierte gnadenlos über sein Königreich.

 

Ich stand dort, manchmal auch nur daneben. Auf den gepflasterten Wegen; vom Mondlicht spärlich beleuchteten Gassen. Meine hitzigen Gedanken wischte meistens eine unverständliche Erkenntnis nach einer Geste weg, die ich aus einem Impuls heraus tat. Meine zittrige Hand glitt auf meine Brust, um dem panischen Klopfen meines Herzens Einhalt zu bieten.

 

Doch ich spürte nichts mehr. Keinen Herzschlag.

 

Drei.

 

Die treulosen Nachtkatzen des Königreichs huschten leichtfüßig durch die verlassenen Gassen. Die schillernden Saphirblauen Streifen auf ihrem Rücken funkelten irrsinnig, als sie mit dem Mondlicht in Berührung kamen; als wären abertausende winzige Edelsteine in ihrem Fell. Ihre Gestalt machte jeglicher Schönheit Konkurrenz, der ich derweil in meinem Leben begegnet war.

 

Zwei.

 

Meine Beine trugen mich weiter. In beinahe puppenhaften Bewegungen erreichte ich den Turm der verlorenen Seelen. Nur einen Blick konnte ich darauf erhaschen, denn das grau erstickte das Bild beinahe im selben Atemzug. Etwas anderes nahm seinen Platz ein. Etwas neues türmte sich vor mir auf.

 

Eins.

 

Die Kirchenuhr schlug Zwölf. Die Ehrfurcht zwang mich in die Knie. Etwas düsteres, beängstigendes schlängelte sich durch die verlassenen Gassen und machte sich auf den Weg zu mir. Panik. Sie lähmte mich, meinen gesamten Körper.

 

So unheilvoll und gespenstisch das hexenhafte Gekreische in jenem Moment auch klang, sie befreite mich aus der Starre und ich stand auf. Genau dann, als sich die Finsternis erhob.

 

Ich spürte wie sich die Kälte breit machte. Mein Atem wurde sichtbar und ich musste mitansehen, wie das gesamte Königreich binnen von Sekunden vereiste. Eis. Eiskaltes Eis. Stadt aus Eis.

 

Als das unheilvolle Kreischen ein weiteres Mal, das letzte Mal durch die ewige Finsternis hallte, erkannte ich, dass ich mich nicht länger wehren konnte.

 

Dann, als es rabschenschwarze Feder schneite. Er war hier.

 

Meine Hand streckte sich gen Himmel und ich griff nach der unendlichen Finsternis. Sie war allgegenwärtig. Ich wehrte mich nicht, auch dann nicht, als er seinen bitterkalten Körper von hinten um meinen schlang. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut, das Lächeln auf seinen Lippen.

 

Die Federn bedeckten die Landschaft und ich beobachtete, wie meine ausgestreckte Hand, die Hand, die vielleicht noch nach etwas Hoffnung greifen wollte, langsam vereiste und ich zu einem Teil des Königreichs wurde.

 

Zu dem Königreich aus Eis...

 

 

 

 

In dieser Nacht wurde ich viel zu abrupt aus meinem Traum gerissen. Ich brauchte einige zähe Minuten um mich orientieren zu können und das Bild von den wunderschönen Nachtkatzen vor meinen Augen verblasste. Doch auch an die bitterkalte, gespenstische Gestalt konnte ich mich noch erinnern. Sie war wie ein flüchtiger Kuss des Todes gewesen. Ein eisiges Versprechen. Ich vermochte jedoch nicht zu spekulieren, was für ein Versprechen das genau war.

 

 

«Ohjaa, Blake. Mehr

 

 

Die Realität holte mich viel zu schnell und – kaum zu glauben – sie war trostloser und gespenstischer als meine Träume. Ich konnte ein verächtliches Schnauben nicht unterdrücken, als ich mich rücklings wieder in die Kissen fallen ließ und dazu geneigt war, mir die Ohren zuzuhalten. Bevor ich mich vor einigen Stunden in mein Zimmer zurückgezogen hatte, war ich Blakes neuester Flamme im Wohnzimmer begegnet. Ich hatte ehrlich gesagt gehofft, dass er sie vielleicht ausführen würde – wohin auch immer. Aber anscheinend hatte ich ziemliches Pech gehabt. Vermutlich hatte mein Stiefbruder die Gelegenheit und die freie Bude in ein Liebesnest verwandelt.

 

Dieser... verfluchte Playboy. Ich frage mich allen ernstes, warum er mir und sich selbst den Gefallen und in ein Hotel ging. Denn Geld hatte dieser Proller allemal. Zumindest sein Vater. Und der verwöhnte seinen Sohn wirklich sehr. Zu sehr wie ich befand. Doch anscheinend war es für Blake viel einfacher, die Verabredungen unserer Eltern schamlos auszunutzen und seine Flittchen mit einem kurzen Anruf zu uns nach Hause zu bestellen.

«Als würde er eine Pizza bestellen», nuschelte ich zermürbt in mein kuschelig weiches Kissen und drückte mein Gesicht noch tiefer rein.

Er hatte die Stereoanlage in seinem Zimmer ziemlich laut gedreht und scheinbar dachte er allen ernstes, dass er mir ein Gefallen damit tat. Damit ich sie nicht fortlaufen bei ihren Spielchen hören musste.

 

 

Das perverse Lied hätte mich gerade wirklich fast dazu verleitet mitzusingen, als mich ein lautes Poltern reflexartig hochfahren ließ. Ich kniff die Augen wegen der Dunkelheit in meinem Zimmer zusammen und fixierte die Wand rechts vor mir – die das Zimmer von Blake und mir trennte, als könnte ich allein durch meine Vorstellungskraft durch sie hindurchsehen können. Es war nicht zu bestreiten, dass der Krach aus seinem Zimmer gekommen war, aber was war die Ursache? Vielleicht hatte er das arme Mädchen von der Bettkante gestoßen, nachdem er mit ihr fertig war. Gewundert hätte mich so etwas nicht, aber noch nicht einmal ER war so ein gigantisches Arschloch, um so etwas wirklich zu tun. Zumindest hatte ich nichts in dieser Richtung von seinen Freunden gehört. Nicht, dass ich es selbst beurteilen könnte.

 

«Fuck!»

 

Ich wickelte mich weniger galant aus meiner Wolldecke und setzte meine nackten Füße auf den eiskalten Fußboden. Da war doch etwas im Gange; irgendetwas stimmte nicht. Das war eindeutig Blake's Stimme gewesen und die hatte weder erregt, noch erleichtert gelungen. Blindlings tapste ich durch die Dunkelheit und tastete mich mit den Händen langsam voran, um mit dem Schädel nirgends dranzuknallen. Als ich die raue Eichentür unter meinen Händen spürte, führte ich meine Finger an die Türklinge und drückte sie ganz langsam hinunter; darauf bedacht keine allzu Lauten Geräusche zu machen. Womöglich hörten sie mich nun auch, da sie die Musik ziemlich runtergedreht hatten.

Ich streckte meinen Kopf aus meinem Zimmer. Im Flur brannte kein Licht, aber leises Stimmgewirr war aus dem Nebenzimmer zu hören.

Neugierig spitzte ich die Ohren.

 

«Oh mein Gott, alles okay?» Das war Blondie.

«Don't touch it! It's broken», brabbelte mein Stiefbruder wiedereinmal in seiner Muttersprache und ließ die Räder in meinem Hirn rattern, die zu den gelernten Fremdsprachen gehörten, die irgendwo in der hintersten, verstaubten Ecke meines Gehirns gespeichert waren.

Zwar hatte ich keine Probleme Englisch zu verstehen und selbst zu sprechen, aber mein Stiefbruder sprach manchmal so übertrieben schnell und irgendwie 'slanghaft', dass ich zweimal über seine Worte nachdenken musste, bis ich den Sinn dahinter verstand.

«Tut es sehr weh? Das sieht schlimm aus.»

Zurück zum Thema. Was tat weh? Mein Gehirn erfasste urplötzlich einen irrsinnigen Gedanken und ich schlug mir in letzter Sekunde die Hand vor den Mund, bevor ich laut losprusten konnte.

Konnte es sein... konnte es tatsächlich sein, dass sich mein dämlicher Stiefbruder irgendetwas in seinen unteren Regionen gebrochen hatte?

War so etwas möglich? Gewünscht hätte ich es ihm nicht... vielleicht ein wenig, der Ironie halber.

 

Ich schreckte urplötzlich aus meinen tristen Gedanken, als seine Tür geräuschvoll aufgerissen wurde. Zuerst zu perplex und später fast schon hysterisch taumelte ich zwei Schritte zurück und donnerte die Tür lautstark zu. Was zum Teufel... war das gerade? Hatte ich tatsächlich die Tür zugeballert, damit er mich nicht erwischte, wie ich gelauscht hatte? Na ja... vielleicht hatte er es nicht gehört... vielleicht...

«I've heard that!» Er schlug zweimal mit seiner Faust gegen die Tür in meinem Rücken, an die ich mich gelehnt hatte, und lief weiter; ich hörte es an seinen gorillaartigen Schritten, die unser bescheidenes Haus fast zum Vibrieren brachten. Eine weitere Tür wurde geöffnet und kurze Zeit wieder zugeschlagen. Er war ins Badezimmer gegangen.

«Mist!», fluchte ich und kräuselte die Stirn. Jetzt würde er mich erst recht als hobbylos betiteln, weil ich an einem Wochenende nichts Besseres zu tun hatte, als daheimzubleiben und sie zu belauschen.

Es war ja nicht so... dass ich immer lauschte. Na ja... vielleicht manchmal. Blödsinn! Ich tat es in jeder erdenklichen Situation. Eine hässliche Charaktereigenschaft von mir, die mich schon in manch peinliche Situationen hineingebracht hatte.

 

«Blake», donnerte das monotone Quietschen von seinem Wochenendflirt durch den ganzen Flur und ich widerstand nur schwer dem Drang, mir die Ohren zuzuhalten.

«Baby, alles okay?» Sie klopfte lautstark an die Badezimmertür.

Hm, ich hatte immer noch nicht erfahren, was nebenan nun passiert war. Doch irgendwie kam ich mir nun plötzlich ziemlich schäbig vor, weil mich Blake und sein Tun so brennend interessierte, was eigentlich hätte nicht sein dürfen.

Okay, das schabte womöglich an meinem Ego. Er war diese Aufmerksamkeit gar nicht wert, wirklich nicht.

Ich seufzte theatralisch und tapste zurück zu meinem Bett; schmiss mich mit Anlauf darauf, sodass die Matratze leicht unter mir federte.

 

 

Nachdem meine Mutter und sein Vater geheiratet und sie zu uns nach Hause gezogen waren, nutzte Blake wirklich jede erdenkliche Situation aus, um mich in Grund und Boden zu stampfen. Zwar war es absurd – es lag an ihm, nicht an mir – aber in seiner Gegenwart spielte ich immer die unnahbare und dauerfrustierte Stiefschwester, weil ich mich so vor seinen Sticheleien schützen konnte.

 

«Und es ist wirklich alles in Ordnung?»

Erneuert drang leises Gemurmel zu mir hindurch, doch diesmal ignorierte ich es galant.

Es interessierte mich nicht. Ja, mir war es scheißegal, ob sich dieser Kerl seinen Schwanz gebrochen hatte oder nicht.

Was kümmerte es mich? Da waren die Fussel auf meinem Fußboden interessanter als er.

«Don't worry, Baby. Everything is fine.»

Eine weitere Tür wurde zugeschlagen und ich wusste, dass er mit ihr wieder in sein Zimmer gegangen war.

 

Ob er sich wirklich etwas getan hatte? Na ja, immerhin war sie – wie auch immer sie nun auch heißte - da um ihn zu verarzten. Er war also in besten Händen.

Das Handy unter meinem Kopfkissen vibrierte urplötzlich und ich kräuselte verwirrt die Stirn.

Ein Blick auf die Digitaluhr auf der Kommode verriet mir, dass wir bereits zwei Uhr morgens hatten. Wer würde mir um die Uhrzeit schreiben?

 

1 Neue Nachricht.

 

Ich öffnete neugierig die Message.

Julia, meine beste Freundin.

 

Hörst du die Engel singen und die Schmetterlinge lachen?

Ich habe ihn gefunden, Lana, den Ort, wo sich Himmel und Erde küssen.

Schließe die Augen, ich bin bei dir und entführe dich in die Welt des ewigen Glücks.

 

Ich las mir die Nachricht genau fünfmal durch. Fünfmal... und dennoch verstand ich kein einziges Wort.

War das irgendein Scherz oder was meinte sie mit „Schmetterlinge lachen“ und den ganzen Rest?

Den Part mit dem „Der Ort, wo der Himmel die Erde küsst“ verstand ich ja. Sie wurde öfters als nichtbiblische Lesung in der Brautmesse aufgesagt, oder auch nach einigen Trauungen, auf der Feier, zu denen wir beiden eingeladen gewesen waren.  Aber was meinte sie damit?

 

Verwirrt schrieb ich ihr zurück:

 

Was? Alles okay?

 

Kaum hatte ich die Nachricht abgeschickt, blinkte mir eine neue Message entgegen.

»Wow, das gingt aber schnell«, murmelte ich erstaunt und öffnete meinen Posteingang. Das Displaylicht reizte meine Augen.

 

1 Neue Nachricht.

Julia:

 

Nein, alles blöd. Das Leben hat mir wiedereinmal ein Messer in den Rücken gerammt.

Doch der Gedanke an dich bringt alles wieder in Ordnung.

Du und niemand sonst.

Der Ort, wo der Himmel die Erde küsst

 

So langsam wurde ich hysterisch, denn ich verstand nach wie vor kein einziges Wort.

 

Was ist los??? Bist du betrunken? Was meinst du mit „Das Leben hat mir wiedereinmal ein Messer in den Rücken gerammt?“

Hey, du machst mir gerade eine Scheißangst!

 

 

1 Neue Nachricht.

Julia:

 

Bin gleich bei dir... erzähl dir was passiert ist.

Ps. Ja, ich bin betrunken. Sturzbetruknennnnnnnn....

 

Ich ahnte Böses...

Chapter 02 - Medeas Federkleid und die blutrote Sonne

»Der Kreislauf des Lebens.«

»Der im Kreis laufende Scheißeimer des Lebens!«

»Oh, was für ein Wortakrobat.«

 

 

-Shoot 'Em Up

 

 

 

Ihr Lächeln, dieses besondere zarte Lächeln, das mein Herz immer wieder so verlässlich zum Brechen brachte, zierte ihren kirschroten Mund. Nichts und niemand hatte solch eine Wirkung auf mich, wie dieser besondere Mensch, dieser zierliche aufgedrehte Mensch, mit den feuerroten Haaren und dem Temperament eines verspielten Kindes. Julia.

«...und der Ort, wo der Himmel die Erde berührt ist der Ort, wo Menschen sich berühren.» Ich seufzte tief auf; scheinbar zu laut, denn Julia tippte mich unauffällig an und deutete auf das Brautpaar vor mir, das sich unwillkürlich zu mir umgedreht hatte.

Blau brannte in Braun. Die Braut sah mich an... es war Mutter. Ein Stich der Eifersucht bereitete sich in meiner Brust aus, als ich sie so überglücklich neben ihrem Mann sah, vor dem Altar, umgeben von all den Menschen, die sie liebten und diesen besonderen Tag mit ihnen verbringen wollten.

Medea klettert aus ihrem azurblauen und kohlrabenschwarzen Federkleid, ein funkelndes Diadem küsst ihre Stirn. Der Blick, mit dem mich ihre Irden durchbohren, lässt meine Seele schreien und mein Herz zittern, doch ich halte still. Sie wird sauer, bittersüß ist ihr Lächeln, als sie ihre Arme ausstreckt und sich einmal im Kreis dreht. Eine wunderschöne und zeitgleich beängstigende Gestalt. Sie schenkt mir ihre Federn, die sich wie Eisenspäne in mein Fleisch bohren. Schmerz. Und dann fängt sie an zu tanzen...

«Psst, Eifersucht sieht von Nahe betrachtet ziemlich hässlich aus.» Julias Stimme katapultierte mich augenblicklich aus meinem Nervenzirkus heraus und ich lächelte zeitgleich über ihren kleinen Witz.

In schalte mich in Gedanken, weil ich so etwas wie 'Eifersucht' gegenüber diesem Mann empfand, da er mir scheinbar meine Mutter aus den Armen reißen wollte; was allerdings nicht stimmte. Nathaniel war ein unglaublich herzlicher, charismatischer, fürsorglicher, lieber Mann, der meine Mutter glücklich machte, wie es kein anderer Mann es zuvor vermocht hatte. Er tat ihr gut, er war ehrlich, er war der Held in ihren Augen, auf den sie schon so lange gewartet hatte. Der Held, der sie liebte, schätzte und respektierte. Der Held, der etwas Farbe in ihr karges Leben brachte. Ich gönnte es ihr; Gott war mein Zeuge, falls es jemand verdient hatte glücklich zu sein, dann meine Mutter, aber war es nicht vielleicht mein naives Kinderherz, das ihre Mutter nicht mit jemand anderen teilen wollte? Scheinbar jemand Fremdes, der fortan der Ursprung ihres leuchtenden Lächelns sein würde.

«Hm, ja. Werde ich schon langsam grün, wie der große, hässliche Hulk?», flüsterte ich.

Sie zuckte amüsiert mit den Schultern. Eine rote Locke fiel ihr dabei ins Gesicht; sie schillerte wie Seide. «Alles gut, du hast ja noch mich. Trotzdem solltest du deiner Mutter ihr Glück gönnen. Sie ist glücklich, Lana. Siehst du es?»

Für einen Moment versank ich in ihren merkwürdig grünen Augen; so leuchtend grün, wie eine sommerlich grüne Wiese, auf die man sich hinlegen und träumerisch den taubenblauen Himmel betrachten wollte.

«Ich gönne es ihr, Julia, wirklich», sagte ich leise, um nicht noch einmal die Aufmerksamkeit der Gäste auf mich zu lenken, «Der Ort, wo der Himmel die Erde küsst, weißt du noch? Wenn sie glücklich ist, dann bin ich es auch und wenn du bei mir bist, dann ist alles perfekt.»

Sie schauderte einen Moment, als hätten meine Worte eine Gänsehaut bei ihr verursacht. Doch schon im nächsten Moment blickte sie mich wieder an, ihr schönstes Lächeln im Gesicht.

Ich hatte diesen Tag wahrlich mit offenen Armen begrüßt und mit einem weinenden und lachenden Auge verabschiedet.

Der Ort, wo der Himmel die Erde küsst... Mutter war nun dort, an diesem Ort, an ihrer Seite ein wundervoller Mensch, den sie gesucht und nun endlich gefunden hatte...

Grazil ist ihre Bewegung, als würde sie tänzelnd über den Boden schweben. Mein Kiefer schmerzt, der Saphir in meiner Hand bohrt sich tief in mein Fleisch, als ich schließlich aushole und ihn mit einem gezielten Wurf vor ihre Elfenbeine werfe.

Sie stolpert, die Lippen vor Überraschung leicht geöffnet... und dann fällt sie hin.

 

 

 

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

 

 

Ich blinzelte. Für einen Moment schien ich in einem Strudel nostalgischer Erinnerungen gefangen gewesen zu sein; schöne, herzergreifende Erinnerungen, die ich um nichts auf dieser Welt missen wollte. Jedoch hatte ich diesen kleinen hässlichen Fleck nach wie vor nicht aus den zauberhaften Bildern entfernen können. Tragisch, unvernünftig, kindisch.

Sie ist glücklich, Lana. Siehst du es?

Ein kleiner Ruck ging mit mir durch und die merkwürdige SMS von Julia sickerte mir erneuert in meinen Verstand. Gewappnet mit meinem Handy, das mir notdürftig den Weg zu meiner Zimmertür beleuchtete, sprang ich besorgt aus meinem Bett und eilte aus dem Raum. Julia war kein theatralischer Mensch, der aus jeder Mücke einen Elefanten machte. Irgendetwas schien bei ihr wirklich passiert zu sein, wenn sie mir um diese Uhrzeit sturzbetrunken solche seltsamen Nachrichten schrieb. Meine Hand umklammerte die Türklinge und zeitgleich machte sich ein ungutes Gefühl in mir breit. Unschöne Bilder flackerten vor meinem inneren Augen auf, kreisten wie ein pechschwarzer Rabe in meinem Kopf umher; unheilbringend.

Falls...

Helles Licht flutete mein dunkles Zimmer, als ich die Tür öffnete. Einen Herzschlag lang glaubte ich, dass meine Mutter und ihr Mann Nathaniel wieder zu Hause wären, jedoch verwarf ich diesen Gedanken im nächsten Augenblick wieder, weil es in dem Haus ungewohnt ruhig war. Der Pessimist in mir erlangte ein weiteres Mal die Oberhand; es war eine trügerische Stille, das spürte ich. Irgendwo in einer dunklen Ecke, hinter seinem schützenden Tarnvorhang, befand sich der Ursprung meiner unguten Vorahnungen; darauf wartend, aus seinem Versteck hervorzukriechen und mir in einem Sturzflug an den Hals zu springen. Ich schauderte bei diesem grässlichen Gedanken.

«Verfluchte Scheiße. Bleib ruhig, Lana. Es ist nicht das, was du denkst»,ermahnte ich mich abermals in Gedanken und steuerte geradewegs in die Küche. Julia war betrunken. Ziemlich betrunken, so wie es aussah. Deshalb musste ich das tun, was im Moment am wichtigsten war: Kaffee aufsetzten.

Ich knipste hinter mir im Flur das Licht aus und schlüpfte während des Gehens in meine flauschigen Hausschuhe, die ich vorhin noch dort ausgezogen hatte.

 

 

Als ich die Küche betrat, stolperte mein Herz für einen kurzen Moment. «Äh?», überrascht weiteten sich meine Augen, als ich Blake in der Küche erblickte.

Hatte ich ihn nicht vorhin noch ins Zimmer zurückgehen gehört? Tja, nun. Wenigstens war das Rätsel um die Lichter geklärt. Es war ein eigenartiger Tick von ihm, denn egal in welchem Raum er ging, er knipste jeden Schalter an, an dem er vorbeilief. Tagsüber nicht, selbstverständlich; nur nachts, wenn die Monster unter seinem Bett hervorkrochen und er sich vor Angst in seine goldenen Windel kackte. Nun, das war gelogen. Ich wusste nicht, warum er das tat, aber diese Erklärung schien mir recht plausibel.

«What?», bellte er förmlich entnervt.

Ich zuckte kaum merklich zusammen, weil ich schon wieder so tief in meiner Gedankenwelt versunken war. Jetzt erst schien ich mir den Kerl etwas genauer anzusehen. Er trug nichts, nichts weiter als seine Calvin Klein Unterwäsche, dessen Initialen an dem Bund seiner Boxershorts gestickt waren. Der bittere Geruch von Zigarettenqualm stieg mir in die Nase und ich erblickte die Fluppe in seiner linken Hand, die er sich im nächsten Moment zwischen die Lippen schob und genüsslich daran zog. Heiß brannte der Glimmstängel; ein kleines Stück Lavagestein.

«Du sollst hier nicht rauchen», war das einzig Vernünftige, was ich hätte in diesem Moment sagen können. Mein Blick schien für einen Moment an seinem Körper zu kleben; seine Muskeln waren bis aufs äußerste angespannt und kleine Schweißperlen benetzten die gebräunte Haut. Sie glitzerten wie kleine Diamanten.

«Not your Problem», kommentierte er unbewegt. «Anscheinend interessiert es dich viel mehr, was in meinem Schlafzimmer abgeht», fügte er nüchtern hinzu.

Ich ignorierte seine unnütze Bemerkung geflissentlich und drängte mich an ihm vorbei, um Kaffee aufzusetzen. Genau in dem Moment, als mir wieder sein kleiner Unfall in den Sinn kam - wo ich in Gedanken 10 Euro auf einen Penisbruch gewettet hatte - packte er mich rüpelhaft am Oberarm und zog mich mit Leichtigkeit zurück; mein Schädel stieß dabei unsanft gegen seine Brust und ich schnappte überrascht nach Luft.

«Spinnst du?», fragte ich aufgebracht und drückte meine freie Hand gegen seinen Oberkörper, um mich von ihm zu lösen, doch sein Griff blieb eisern.

Er drückte die Zigarette im Waschbecken aus und beugte sich zu mir hinunter; ein spitzbübisches Lächeln auf den perfekt geschwungenen Lippen. «Wenn du dir das nächste Mal wieder unser Fickgestöhne anhören möchtest, dann frag doch mal kurz nach; vielleicht könnte ich dir eine Karte in der ersten Reihe besorgen. Lauschen ist nicht gerade tugendhaft.»

 

Mein Gesicht stand in Flammen; so heiß wurde es mir binnen von Sekunden. «Ich...ich...hab doch gar nicht...»

«Ich...ich...», mit grausamer Ähnlichkeit ahmte er mich nach, «schon okay, ich hätte es auch getan, wenn ich du wäre.» Spott triefte aus seinen Worten und ich fragte mich einen Herzschlag lang, ob er denn nicht daran ersticken könnte. Seine Überheblichkeit und die selbstverliebte Arroganz, die er zumeist an den Tag legte, waren doch nichts weiter als ein Schutzmechanismus, den er immer dann umlegte, wenn er sich von irgendwem bedroht fühlte. In diesem Fall von mir; was ich allerdings nicht verstand. Er hatte mich in der Hand und nicht umgekehrt.

Nichtsdestotrotz war ich mir bei diesem blasiertem Schnösel wirklich nicht ganz sicher, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag. Seine stets wechselnden Gefühlszustände ähnelten eher dem einer hormongesteuerten, schwangeren Frau und nicht dem eines fast schon erwachsenen Mannes. Schließlich war es doch genau diese unergründliche Art, die mich verwirrte und teils auch ziemlich verunsicherte. Es ließ sich kein Schema erkennen. Mal war er still, wenn man absichtlich einen Nerv traf und bereits darauf wartete, dass er wie ein Vulkan explodierte, aber an anderen Tagen wiederum regte er sich über die gleiche Scheiße fast schon theatralisch auf. Übrigens, seine Superkraft war es, Menschen mit bloßen Worten das Genick zu brechen.

 

«Ich habe euch nicht belauscht, euer Lärm war doch kaum zu überhören!», erwiderte ich wütend und versuchte dabei krampfhaft das wissende Lächeln auf seinem Gesicht zu ignorieren. Natürlich war mir bewusst, dass er mich beim Lauschen erwischt hatte, aber der Idiot spann sich in seinem kranken Kopf einen völligen Irrsinn zusammen. Das Poltern aus dem Nebenzimmer hatte mich neugierig aus dem Bett hochfahren lassen und nicht ihr Ächzen und Stöhnen.

Ein weiterer Versuch, mich von seinem Griff zu befreien scheiterte.

«Es ist wirklich Okay. Menschen haben halt seltsame Vorlieben, dafür kannst du schließlich nichts. Ich werde dich deswegen nicht verurteilen», sagte er urplötzlich mit solch einer abartigen Ernsthaftigkeit, dass mir die Knie für einen einzigen Wimpernschlag weich wurden. Wäre ein dritter Mensch in diesem Raum anwesend gewesen, hätte er seinen Worten ohne wenn und aber sofort glauben geschenkt.

Verfluchte Scheiße. Nichtmal ein hinterhältiges Grinsen hatte sich auf seine Züge geschlichen, als er mich mit dem Redeschwall überrumpelt hatte. Von seiner undurchdringlichen Miene wollte ich gar nicht erst anfangen. Teufelskerl; die perfektionierte Version von Pinocchio.

Ich legte die Stirn in Falten. Von der vorigen Hitze, die meinen ganzen Körper urplötzlich aus Scham erfasst hatte, war nichts mehr übrig. Ich fühlte mich, als wäre ich in eiskaltem Polarwasser gelandet und der dichte Nebel, der sich um meinen gesunden Menschenverstand gelegt hatte, schien sich zu lichten. Die Räder in meinem Kopf ratterten wieder auf Hochtouren und ich starrte ihn fassungslos an.

«Blake», presste ich zwischen zusammengebissen Zähnen hervor und stierte ihn zornentbrannt an, «du oberflächlicher, verdammter, arroganter, hinterhältiger...-» Ich hielt augenblicklich in meinen Flüchen inne, als er seine rechte Hand von meinen Schultern nahm und sich kurz durch die verwuschelten, dunklen Haare fuhr; mit einem überheblichen Lächeln auf den Lippen, wollte er meine Beschimpfungen über sich ergehen lassen, als hätte er nur darauf gewartet.

Ich leckte mir über die Lippen, vollkommen von etwas eingenommen. «Was ist mit deiner Hand?»

Er hob bedeutungsvoll eine Augenbraue hoch und schien für einen Moment über den plötzlichen Wechsel verwirrt zu sein. Argwöhnisch betrachtete er mich, seine Blicke huschten über mein Gesicht, lagen einen Moment an meinen Lippen.

Ich schluckte. Er hatte seine Hand in ein kleines perlweißes Handtuch gewickelt; dunkelrot war er verfärbt. Fast schon schwarz.

«Was hast du da?» Völlig unüberlegt und von meiner Neugier zerfressen umklammerte ich sein Handgelenk.

 

«What the...»

Er verstummte, scheinbar völlig perplex und total überrumpelt von meiner Reaktion.

«Jetzt sag doch, hast du dich verletzt, du Idiot?», fragte ich barsch und kräuselte die Stirn.

Blake wehrte sich, doch ich gab ihm keine Gelegenheit zu protestieren. Diesmal war mein Griff eisern; ich fühlte mich einen Moment lang wirklich wie Hulk, weil er sich scheinbar nicht aus ihm befreien konnte. Ein triumphierendes Lächeln konnte ich mir schließlich nicht verkneifen.

«Zeig mal her. Das muss ja schlimm sein, wenn da soviel Blut ist.» Ich wickelte vorsichtig und darauf bedacht ihm nicht wehzutun das Handtuch von seiner Hand und hielt kurz inne, als ich die Schnittwunde in seiner Handinnenfläche erblickte.

Verdammt, die war ziemlich lang...und tief? Vielleicht. Ich konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, denn es quoll bereits erneuert Blut aus dem Schnitt und unterbrach somit meine weniger fachmännische Untersuchung.

«Scheiße, was hast du gemacht?» Ein kleines Blutrinnsal bahnte sich den Weg zu seinem Handgelenk, aber ich reagierte blitzschnell und tupfte es vorsichtig mit dem Handtuch ab.

«Jetzt sag doch.» So langsam machte mich sein eisiges Schweigen doch wütend. War er plötzlich zu einer der drei Affen von Nikko mutiert oder warum antwortete er nicht? Als läge ein undurchdringliches Siegel auf seinen Lippen.

 

«What the hell are you doing?»

Kaum war dieser kurze, für ihn recht typische Satz über seine Lippen gekommen, hallte ein lautes Klatschen durch unsere seelenruhige Küche, was mich unwillkürlich zusammenfahren ließ. Ich keuchte auf und ein leichtes Prickeln breitete sich auf meinem Handrücken aus, bis es wenige Herzschläge später zu einem unangenehmen Brennen überging.

«Fass mich nie wieder an, ist das klar? Es geht dich einen Scheiß an, was passiert ist.»

Hulk grinste diabolisch und zeigte mir seinen fetten grünen Mittelfinger, bevor er sich wieder vollends in seine normale Größe verwandelte. Es kam mir vor, als wäre der Halt in meinem Rücken, die Kraft aus meinen Armen und der Wind in meinen Segeln einfach verpufft. Ich stand vor der Klippe, ruderte wie eine Irre mit den Armen, um mein Gleichgewicht wieder zu erlangen.

 

«Es ist schon irgendwie krank, dass dich das Fickgestöhne anderer Leute so sehr antörnt», wechselte er schließlich wieder das Thema.

 

Ich stand da, kam mir wirklich vor wie der letzte Vollidiot auf Erden, weil ich ehrliches Interesse ein seinem Wohlbefinden gezeigt hatte.

Es schabte so unfassbar an meinen Ego und stimmte mich traurig und unendlich wütend. War es nicht unglaublich krank, dass so einfache Worte – so unbedeutenden Worte aus seinem Mund – solch ein Gefühlschaos bei mir auslösten? Das war nicht normal. Teufel, das war ganz und gar nicht normal.

Ich seufzte leise, straffte die Schultern und klopfte mir den imaginären Staub von den Klamotten. Kein Grund zur Panik. Aus Fehlern lernte man schließlich, nicht wahr? Sollte er irgendwann Mal einen Unfall haben, würde ich es mir mit einer Schüssel Popcorn auf der Couch gemütlich machen und ihm beim Krepieren zusehen. Alles gut. Verdammt gut.

Überraschenderweise tauchte Hulk erneuert vor mir auf. Ein Funke Reue in den schwarzen Irden.

«Nicht im Entferntesten. Aber anscheinend turnt es dich an, deinen kleinen Schlampen das bisschen Hirn wegzuficken, was sie noch nicht ausgekotzt haben, während du dir so eine kranke Scheiße wie 'Wet' dabei anhörst. Vermutlich fühlst du dich dadurch wie ein kleiner Snoop Doggy Dogg und deine Nutten sagen dir, was für ein geiler Hengst du bist, nicht wahr?» Es war raus, bevor ich es hätte runterschlucken können. Und ehrlich, ich wollte es auch gar nicht; ganz bitter der Geschmack. Als würde man Kotze wieder hinunterschlucken, wo es doch bereits den Rachen hinaufgeklettert war und sich im Mund aufgestaut hatte.

 

Zorn blitzte in seinen stahlblauen Augen auf. «Lana», knurrte er und es klang jenseits aller Normalität. Animalisch.

 

Eine abartige Gänsehaut kletterte meinen Rücken hinauf und streifte hauchzart meine Arme. Ich schauderte einen kurzen Moment, versuchte mir jedoch keinesfalls anmerken zu lassen, dass er mir allein durch seine unnatürliche Stimmlage eine Heidenangst eingejagt hatte.

Schließlich animierte mich meine eigene Angst dazu, mich noch weiter hineinzusteigern. Ich ballte meine rechte Hand zu einer Faust und reckte ihm trotzig das Kinn entgegen. «Was?», blaffte ich und starrte ihn gleichgültig an. Eines wusste ich: Wenn man irgendein schlechtes Wort über seine Bettbekanntschaften verlor, stimmte ihn das tierisch wütend. Er mochte diese Frauen...in irgendeiner Weise...in irgendeiner kranken verdrehten Weise, was ich scheinbar niemals vollends verstehen würde.

 

«What the fuck is your problem?», riss mich seine tobende Stimme aus meinen Gedanken.

Ich schnalzte mit der Zunge, keine Ahnung weshalb ich das tat. «Was mein Problem ist?» Entnervt tippte ich mit dem Zeigefinger auf seine Brust. Er spannte unwillkürlich seine Muskel an. »Du bist mein Problem, hörst du? Du bist arrogant, selbstverliebt, unterstellst mir, dich bei deinen abartigen Liebesspielchen belauscht zu haben, obwohl du genau weißt, weshalb ich dort an der Tür gestanden habe!» Ich holte aus und schlug auf seine verletzte Hand, um ihm klarzumachen, dass ich genau deswegen aufgestanden war...weil ich das Poltern gehört hatte. Scheinbar hatte der Idiot irgendetwas zerbrochen und sich selbst verletzt.

«Bist du bescheuert?» Er zuckte zusammen, als meine flache Hand voller Elan auf seine Schnittwunde traf. «Weißt du was? Und du bist mein Problem.« Er brodelte wie ein Vulkan; augenscheinlich einen kurzen Moment davon entfernt auszubrechen. «Ich hasse deine Stimme, deine nervtötenden Macken, dass du immer irgendetwas zu meckern hast, deine Klamotten...ich meine, schau dir deine Jogginghose an. Aus welchem Jahrhundert ist die?» Er riss das Handtuch wieder an sich und drückte es auf seine Wunde. Die Stirn lag tief in Falten, die Lippen zu einer strengen Linie aufeinander gepresst und die Muskeln wieder bis aufs äußerste angespannt. Man konnte sagen, was man wollte, aber er hatte einen unglaublichen Körper.

«Ach ja? Meine nervtötenden Macken?» Ich machte eine übertrieben ausholende Handbewegung. «Wer von uns knipst jeden verdammten Lichtschalter an, an dem er vorbei läuft, hm? Vermutlich glaubst du, dass irgendein dreiköpfiges Gnom aus der Dunkelheit hervorkriecht und dich anfällt, um an deinem verwöhnten Arsch zu knabbern, was? Du kotzt mich an. Es kotzt mich an, wie du mit diesen Frauen umgehst!» Ich hatte gesagt, dass er es nicht mochte, wenn andere über seine „Freundinnen“ schlecht sprachen, jedoch galt das nicht für ihn selbst. Er behandelte sie, wie es ihm in den Kragen passte.

 

Er setzte zum Sprechen an, wollte irgendetwas erwidern und ich wusste, dass er mir mit seinen nächsten Worten das Genick brechen würde, denn genau an diesem Punkt war er scheinbar angelangt. Doch das Läuten der Klingel unterbrach uns...

«Schlucks runter, Arschloch», zischte ich und machte erst zwei Schritte zurück, behielt ihn sicherheitshalber noch für einen winzigen Moment im Auge, bis ich mich schließlich gänzlich umdrehte und zügig aus der Küche verschwand. Mein Herz raste wie verrückt, aber Hulk war da. Er war da und würde mir auch mit dem Gespräch mit Julia beistehen...das hoffte ich zumindest.

 

 

 

 

 

 

 

 

Stumm beobachtete ich, wie der kleine, fast schon unscheinbare Zeigerarm auf die Zahl drei hinaufkletterte. Mein Gespräch vorhin mit Blake hatte sich für mich persönlich wie eine halbe Ewigkeit angefühlt, jedoch waren es gerade mal zehn Minuten gewesen. Doch scheinbar völlig unbewusst hatte ich diese seltsame Art von Ablenkung willkommen geheißen, weil ich – auch wenn es nur für einen kurzen Moment gewesen war – nicht daran denken musste, was ich von Julia erfahren würde, wenn sie schließlich bei mir angekommen war. Wo wir gerade von Julia sprachen...

«Julia...willst du...», ich benetzte mir die trockenen Lippen, kratzte meinen Mut zusammen, «willst du mir nicht erzählen, was passiert ist?»

Ich wollte sie keinesfalls dazu drängen mir irgendetwas zu erzählen. Aber wir saßen nun bereits seit einer Dreiviertelstunde in der Küche, warfen uns gelegentlich unsichere Blicke zu und betrachteten unsere kleine bescheidene Küche, als wäre sie urplötzlich der interessanteste Ort der Welt, scheinbar interessanter, als Paschas prunkvolles Palast.

«Hm», machte sie kleinlaut, umklammerte mit beiden Händen ihre Tasse und blickte trübselig in die schwarze Brühe hinein.

Es war bereits ihre zweite Tasse Kaffee, doch scheinbar war sie nach wie vor betrunken. Ich wusste es nicht. Ihre Augen waren blutunterlaufen und glasig, als wäre das Leben aus ihnen gewichen, die Lippen knallrot, wirkten Wund, vermutlich hatte sie die letzten Stunden nichts anderes getan, als auf ihnen herumzukauen und sie blutig zu beißen. Die rote Mähne, die ich so sehr an ihr liebte, stand ihr völlig wirr und chaotisch vom Kopf ab, doch das tat ihrer Schönheit, ihrem Glanz keinen Abbruch zur Leide.

«Hm?», ahmte ich sie nach und versuchte ihren verlorenen Blick einzufangen, versagte jedoch. Sie benahm sich ehrlich gesagt merkwürdig. Nach ihrer SMS zu urteilen, hatte ich angenommen, dass sie wie ein aufbrausender Wirbelwind hier hereinstürmen und mir sofort erzählen würde, was geschehenen war. Ja, eigentlich war sie genau solch ein Mensch, ein Mensch der nicht um den heißen Brei herumsprach und jegliches Theater vermied.

Ich seufzte, betrachtete meiner Fingernägel, wo an einigen Stellen der dunkelblaue Lack abgegangen war.

«Ich habe meine Mutter noch nie zuvor so aufgeregt und wütend erlebt, Lana. Sie hat geschrien und doch war sie still. Sie hat geweint und doch habe ich keine Tränen gesehen», durchschnitt urplötzlich Julias brüchige Stimme die unangenehme Stille. Sie klang rau, unbenutzt.

Nervös biss ich mir in die Wangeninnenseite und sah sie an. «Was ist passiert, Julia?»

«Mein Vater hat eine Affäre mit einer seiner Klientinnen.» Die bittere Wahrheit, da war sie. Sie traf mich mit der Wucht einer Kalaschnikow, mitten ins Gesicht.

 

«Er...er...», ich versuchte mich zu sammeln, karge Bilder, von einer nicht allzu fernen Vergangenheit, Bilder, die ich versucht hatte zu verdrängen und zu vergessen, flackerten zeitgleich vor meinem inneren Auge auf, mit solch kräftigen und leuchtenden Farben, dass sich urplötzlich ein kleiner Stummfilm in meinem Kopf abspielte, «er hat was?«

Scheiße, scheiße, scheiße, scheiße. Hulk, brech´ mir das Genick. Ich will das nicht hören.

«Elender Lügner», sagte sie verbittert und sah mir das erste Mal ins Gesicht. Ihr Blick ging mir durch und durch und das schlechte Gewissen erlangte in mir wieder die Oberhand. Gott, ich musste kotzen, einfach alles rauswürgen. Vielleicht würde es mir dann besser gehen?

Beichte es ihr, Lana. Du musst es tun...sie ist deine Freundin. Tu es.

Ich seufzte erneuert, massierte mir die Schläfen und versuchte der klugscheißerischen Stimme in meinem Kopf Einhalt zu gebieten. Gott, sie sollte die Fresse halten, sie sollte einfach still sein. Ich war nicht dämlich und wusste was richtig und was falsch war!

«Hättest du mal sein Gesicht gesehen...», sie schnaubte, irgendetwas war zurückgekehrt, etwas. Ihr Temperament, das Leben in ihren Augen und der Schmerz. »Er hat sich entschuldigt...hörst du? Er hat sich tatsächlich vor meine Mutter gestellt und um Verzeihung gebeten.« Sie fing an zu lachen, hysterisch, abnormal. Es machte mir Angst. «Er hat sich entschuldigt...», wiederholte sie abermals, als könnte sie es selbst noch nicht so richtig glauben.

«Was stimmt nicht mit ihm, Lana? Glaubt er, dass jetzt alles wieder in Ordnung wäre? Man entschuldigt sich, wenn man versehentlich etwas kaputt gemacht, eine Vase...ein Glas.» Sie fuhr sich über das Gesicht, lehnte sich zurück. «Du kannst niemandem ein Messer in den Rücken rammen und danach um Vergebung bitten. Er wusste genau was er tat. Er wusste es und hat es trotzdem getan. Bedeutungslos...alles was er ab diesem Zeitpunkt an sagt, ist nichts weiter als bedeutungslos. Er soll sich zum Teufel scheren.»

Du kannst niemandem ein Messer in den Rücken rammen und danach um Vergebung bitten.

Ich schwitzte, mein Herz stolperte über die Verlogenheit. Über meine Verlogenheit.

«Das tut mir so schrecklich leid, Julia. Es tut mir leid.» Ernstgemeinte Worte, doch etwas bitteres lauerte hinter dem Tarnvorhand.

Sie lächelte, Melancholie küsste ihre geröteten Wangen. «Hm, ja. Mir auch. Für meine Mutter.»

Kurz wankte sie zur Seite und ich dachte sie würde jeden Moment vom Stuhl kippen. «Hey, alles in Ordnung?» Blitzschnell packte ich sie an der Schulter, nagelte sie fest.

Sie schüttelte den Kopf, fuhr sich erneuert über das Gesicht. «Ist das eine Scherzfrage?»

Dann sagte ich etwas, was mich selbst ziemlich verwirrte. «Julia, hast du irgendetwas genommen?»

«Nein, wie kommst du drauf?»

Tja, Lana. Wie kommst du darauf? Gute Frage, keine Antwort.

«Ich weiß nicht. Vielleicht, weil du dich so seltsam benimmst?»

Sie lachte, es klang genervt. «Vielleicht liegt das ja daran, dass ich vor wenigen Stunden herausgefunden habe, dass mein Vater seit über drei Monaten eine Affäre mit seiner zehn Jahre jüngeren Klientin hat? Ach ja, die halbe Flasche Wodka nicht zu vergessen, die ich runtergewürgt habe.»

Ich nickte. Kein Grund mir ans Bein zu pissen. «Tut mir leid.»

Doch wenn sie doch so viel getrunken hatte, weshalb roch sie kein bisschen nach Alkohol...oder wieso lallte sie nicht wenigstens? Eine halbe Flasche Wodka wäre mein Untergang. Jedoch erwähnte ich das nicht. Zuviel Chaos herrschte im Moment, deshalb ließ ich es dabei beruhen. Ich würde sie irgendwann anders darauf ansprechen. Nicht jetzt. Irgendwann.

«Können wir jetzt schlafen?»

«In Ordnung.»

 

 

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

 

 

«Bist du dir sicher, dass du nichts bequemes anziehen willst?», fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach und deutete auf die dunkle Shorts in meiner Hand. Ihre enge Jeanshose war nicht wirklich zum Schlafen geeignet.

Sie wälzte sich in meinem Bett zur Seite und hob den Blick, doch ich kannte die Antwort bereits. «Nein.»

Schließlich zuckte ich mit den Schultern und gab auf. Ich konnte sie ja nicht selbst aus ihren Klamotten pellen.

«Was macht denn Blake?», nuschelte sie in mein Kopfkissen.

«Na, was wohl?», seufzte ich entnervt und fischte mein Handy aus der Hosentasche. Ich schrieb ihrer Mutter eine kurze Nachricht, dass Julia bei mir war und sie sich keine Sorgen machen bräuchte. Schließlich kannte ich Julia gut genug, um zu wissen, dass sie einfach aus dem Haus gegangen war, ohne zu sagen, wohin.

Sie lächelte, ich hörte es an ihrer Stimme. »Ehrlich? Jetzt gerade?«

«Keine Ahnung, aber vorhin. Ich dachte, er hätte sich den Schwanz gebrochen», erzählte ich ihr gedankenverloren und tippte auf die leuchtenden Tasten.

 

«Was?» Sie klang ehrlich überrascht.

«Na jaa, wie soll ich sagen...» Ich verstummte erneuert, konzentriert mich darauf die Nachricht zu schreiben.

«Bist du etwa reingeplatzt?»

«Was?» Ich runzelte die Stirn.

«Ich meine ins Zimmer, während sie miteinander...», schnaubte Julia.

«Nein. Aber ich habe es gehört.»

«Was? Wie er sich den Schwanz gebrochen hat?» Sie klang mehr als verwirrt, also sah ich von meinem Handy auf und blickte ihr ins Gesicht.

«Nein», lachte ich, «ich habe ein Poltern gehört und dann Barbies Stimme, es klang alles so verworren, also dachte ich, er hätte sich den Schwanz gebrochen, aber anscheinend hat er irgendetwas kaputt gemacht und sich geschnitten.»

«Seinen Schwanz?»

«Was?», fragte ich perplex und stieß mich mit meinem rechten Fuß von der geschlossenen Tür ab, an die ich mich gelehnt hatte und steuerte auf die andere Seite meines Bettes zu. Ihre Augen folgten mir bedächtig langsam. Verwirrung.

«Was hat er sich geschnitten?»

«Seine Hand, Julia. Er hat sich seine Hand geschnitten...», seufzte ich, «könnten wir jetzt aufhören, von seinem Schwanz zu reden?»

Sie grinste dümmlich und trotzdem hätte es nicht schöner aussehen können. «Einverstanden.»

 

 

Seufzend schloss Julia die Augen, wirkte urplötzlich so jämmerlich zerbrechlich. Mein Herz tat mir weh und ich wünschte, ich könnte ihres küssen, damit sie keine Schmerzen mehr hatte.

«Alles wird gut», versprach ich ihr, schickte die Sms ab und schlüpfte rasch zu ihr unter die Decke.

Julia nickte schwach, hielt die Augen jedoch weiterhin geschlossen, während sie sich wie eine Ertrinkende an meinen Arm klammerte und ihre Stirn an meine Schulter lehnte. «Wenn du es sagst.»

 

Ach, fuck. Wie verlogen war ich bitte? Ich hätte mir selbst in den Arsch beißen können, weil ich meinen beschissenen Mut nicht zusammenkratzen und ihr von der Sache erzählen konnte. Gott, war das erbärmlich. Ich war erbärmlich. Ich mutierte allmählich zu einem Mensch, die ich selbst zutiefst verabscheute. War das Ironie?

Hulk, du Mistkerl. Fick dich hart.

 

«Ja, das sage ich», hauchte ich ihr inmitten meines gedanklichen Dilemmas zu und kniff die Augen fest zusammen.

 

Ironie, huh? Du hast dich doch immer für etwas besseres gehalten, besser als die Menschen um dich herum, doch weißt du was? Du bist viel schlimmer als sie alle zusammen.

 

Erneuert trällerte die klugscheißerin Missy - so nannte ich die Stimme in meinem Kopf liebevoll – in ihrer quietschigen Tonlage und warf mir grauenhafte Dinge an den Kopf. Schade, dass ich ihr nicht ein imaginäres Kopfkissen in den Rachen schieben und sie somit zum Schweigen bringen konnte. Nein, ich konnte es leider nicht. Schließlich war ich ihr die ganze Nacht unweigerlich ausgeliefert und hörte mir stumm ihre Vorwürfe an. Ehrlich, ich versuchte mich sogar fieberhaft auf Blakes Schwanz zu konzentrieren, damit Missy endlich verstummte, doch es funktionierte bedauerlicherweise nicht.

 

Leise seufzte ich und legte meine Hand auf Julias Rücken, drückte sie fester an meine Schulter. Sie schlief, ihr Gesicht wirkte friedlich. Nichtsdestotrotz spürte ich ihre innere Zerrissenheit, der Orkan, der nun nicht mehr in ihren Gedanken, sondern auch fortan für eine lange Zeit in ihren Träumen wüten würde. Er würde einen verheerenden Schaden auf ihrer Seele hinterlassen und ich konnte nichts weiter tun, als mich hinter sie zu stellen und ihr den Rücken zu stärken, damit der Wind sie nicht zu Boden blies. Genau das würde ich tun. Von nun an würde ich nie wieder von ihrer Seite weichen, sie niemals alleine lassen. Würde sie sagen „Spring!“ würde ich fragen „Wie hoch?“

Ja, vielleicht konnte ich mein schlechtes Gewissen ein wenig erleichtern, indem ich ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas und meine Schuld somit irgendwie abarbeitete. Gott, klang das krank. Es klang wirklich verdammt krank, aber ich war einfach nicht imstande ihr die Wahrheit zu erzählen. Deshalb gab es für mich keinen anderen Ausweg.

Mein Blick fiel auf die glitzernde Träne in ihrem Augenwinkel. Sie weinte im Schlaf...

 

...und doch zierte ein kleines Lächeln ihre Lippen.

 

Irgendetwas in mir brach...und zwar die Selbstbeherrschung. Schnell befreite ich mich aus ihrem Griff, darauf bedacht sie nicht zu wecken und schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer. Die Nachtlampe gähnte einen kurzen Moment, warf unheimliche Schatten durch das Zimmer und trotzdem erhellte sie mir den Weg. Stand mir bei. So ein Gefühlschaos herrschte in mir, kaum zu beschreiben. Ich war ein Mensch, der mit so etwas nicht klarkam. Am liebsten schrie ich meinen Ärger und die Wut aus mir raus, kämpfte mit Worten gegen andere als im Stillen gegen mich selbst. Diesen Kampf verlor ich immer wieder, ganz gleich, für wie stark ich mich letztendlich hielt.

 

Ich stürmte ins Badezimmer, stolperte über meine eigenen Füße und beugte mich gerade noch so über die Kloschüssel, bevor mir das schlechte Gewissen alles herauswürgte, was ich an diesem Tag gegessen hatte.

 

 

«Lana, wenn du ihnen irgendetwas davon erzählst, wirst du damit ihr Leben zerstören.»

 

 

Ich schloss die Augen, klammerte mich an die Klobrille.

 

 

«Dreh dich um, lauf weiter und tu so, als hättest du nichts gesehen.»

 

 

Erneuert übergab ich mich. Mein Kehle brannte bestialisch, mein Körper zitterte unkontrolliert.

 

 

«Aber...ich...kann das doch nicht tun. Sie verdienen die Wahrheit.»

 

 

In einer Endlosschleife hämmerte mir das Gespräch gegen den Schädel. Bereits seit zwei Monaten...

 

 

«Eine Wahrheit, die alles zerstören wird. Könntest du damit leben? Könntest du damit leben, eine Familie auseinandergerissen zu haben? Eine Frau von ihrem Mann und eine Tochter von ihrem Vater?»

 

 

Ich summte eine unbestimmte Melodie, würde am liebsten schreien, bis mir die Lungen zu bersten drohten... Hauptsache die Stimme in meinem Kopf würde endlich versiegen. Da war sie, der Ursprung meiner unguten Vorahnung von vorhin... sie war aus ihrem unsichtbaren Tarnvorhang hervorgekrochen und bleckte mir nun drohend die Zähne, die blassgelben Augen hämisch auf mich gerichtet.

 

 

«Könntest du? Könntest du? Schau mir in die Augen! Könntest du das?»

 

 

Zitternd richtete ich mich auf, wischte mir mit dem Handrücken über den Mund und drückte die Klospülung. Die Fliesen unter meinem nackten Füßen fühlten sich eisig an, doch es war angenehm. Trotze ein wenig der Hitze, die mich in dieser Nacht bereits ein zweites Mal übermannt hatte. Irgendwie war ich an der ganzen Scheiße doch selbst schuld. Hätte ich damals den Mut aufgebracht und ihr davon erzählt, wäre das Ganze niemals so ausgeartet. Sie hätten bereits angefangen zu verarbeiten und ich würde hier nicht jämmerlich vor der Kloschüssel sitzen und meinen ganzen Magen auskotzen, weil mich der Mist so sehr quälte. Schwer seufzend fischte ich aus dem kleinen fliederfarbenen Körbchen auf dem Waschbeckenunterschrank ein schwarzes Haargummi und band mir die Haare zu einem chaotischen Zopf zusammen. Minutenlang hielt ich meine Hände unter den eiskalten Wasserstrahl und schauderte, weil sich die Kälte von meinen Händen allmählich durch meinen gesamten hitzigen Körper erkämpfte und ich nicht mehr das Gefühl hatte bei lebendigen Leibe zu verbrennen.

Ich stöhnte wohlig auf. Ja, das tat gut, verdammt gut sogar. Schließlich spritzte ich mir das kalte Wasser abermals ins Gesicht und kramte meine Zahnbürste aus dem Badeschrank, putzte mir die Zähne, um den grauenhaften Geschmack aus meinem Mund loszuwerden. Schon seltsam, wie vertraut mir dieser jämmerliche Zustand war. Eindeutig zu vertraut...

 

Ich ging nicht zurück ins Zimmer, sah auch nicht nach, ob meine Mutter und mein Stiefvater wieder daheim waren. Schließlich wusste ich, dass sie so spät nicht mehr nach Hause kommen würden, sondern erst früh am Morgen oder gegen Mittag. Nathaniel hatte da eine kleine Andeutung gemacht, dass wir auf keinen Fall auf sie warten sollten, bevor er meine Mum zum Abendessen ausgeführt hatte. Vermutlich waren sie wieder in einem Hotel, oder wo auch immer. Ich wollte es im Grunde genommen gar nicht so genau wissen. Sie war bei Nate und dieses Wissen genügte mir, damit ich mir keine Sorgen um meine Mutter machen brauchte.

Seufzend rutschte ich mit dem Rücken die Badezimmerwand hinunter, bis ich schließlich den eisigen Boden durch meine Jogginghose spürte. Hier war es schön kühl, angenehm und die Luft roch nach Zitronen. Vermutlich war mir der Schlaf hier gegönnt, aber ehrlich? Auf dem Boden konnte ich sicherlich nicht schlafen und die Badewanne sah nicht sonderlich bequem aus.

«Auch die dunkelste Nacht weicht dem Tag*», murmelte ich träge und schloss die Augen.

 

 

«What happened?»

 

 

Ich schreckte aus meinem Gedankenwirrwarr, als ich urplötzlich Arschlochs tiefe Stimme hörte. Er lehnte am Türrahmen, die Arme vor der Brust gekreuzt und den Kopf leicht zur Seite geneigt; er musterte mich intensiv, es kamen mir vor wie Minuten.

«Es geht dich einen Scheiß an, was passiert ist», wiederholte ich seine Worte von vorhin und bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick.

Das Arschloch sollte mich bloß in Ruhe lassen, ich war im Moment nicht zu Scherzen aufgelegt. Sein Mitgefühl brauchte ich ebenso wenig. Nur meine Ruhe. Seltsamerweise bewegte er sich kein Stück, auch die üblichen Kommentare blieben diesmal aus, was mich mehr als verwirrte. «Hast du nicht gehört?» Nichts. Er stand da, wie eine Statue – die Statue eines griechischen Gottes, müsste ich wählen – und scannte mich weiterhin mit seinen Augen. Scheinbar suchte er in meinem Gesicht nach etwas...einer Träne, irgendetwas, was meine momentane Lage unterstreichen und mich offenkundig verraten würde, doch ich schenkte ihm diese Genugtuung nicht. Ich weinte nicht. Zumindest nicht oft, also war es ein einfaches Spiel wieder meine gleichgültige Miene aufzusetzen und nicht zu verraten, was für ein Orkan eigentlich in mir wütete. Wie gesagt, es interessierte ihn einen Scheiß.

 

«Hat Lestat für heute genug an seiner holden Jungfrau gesaugt?», spottete ich.

Ja, irgendwie konnte man ihn so beschreiben. Ein Vampir, der jede Nacht aufs Neue eine bildhübsche Frau nach der anderen vernaschte. Bis zum Morgengrauen, denn danach waren sie spurlos verschwunden. Keine vermochte Blakes Aufmerksamkeit länger als einen einzigen Tag für sich zu gewinnen. Zumindest hatte ich nur einige Wenige mehr als einmal zu Gesicht bekommen.

Scheiße, er hatte eindeutig ein gewaltiges Frauenproblem.

 

Als er auch nicht auf meine blöde Bemerkung ansprang, schloss ich schulterzuckend die Augen und genoss sichtlich die angenehme Kühle, die mich umfing. Ich hatte wirklich geglaubt, dass er unser Spiel von vorhin fortführen würde. Er irritierte mich jedes Mal, ich verstand diesen Kerl einfach nicht...

 

...und würde es wahrscheinlich auch niemals, als ich sah, was er tat.

 

Wortlos setzte er sich mir gegenüber auf den Boden, zog die Beine an seinen Oberkörper und stützte seine Arme darauf ab. Stumm. Er sagte rein gar nichts. Doch irgendetwas an seinem Blick bereitete mir Unbehagen. War es Mitleid? Verständnis? Ich wusste es nicht, konnte mich nicht festlegen.

 

Mein Herz schlug augenblicklich ein paar Takte schneller, als mir etwas anderes in den Sinn kam. War das doch wieder ein Spiel? Wollte er mich testen?

 

...und wenn schon, sei einfach ruhig und genieße die Ruhe.

 

 

Ich tat es wirklich. Er war da und Missy hielt unerklärlicherweise die Klappe. Sie sagte nichts mehr, genauso wenig wie wir.

Die ganze Situation hier war unglaublich ungewohnt, doch ich hatte nicht vor, irgendetwas daran zu ändern. Zumindest nicht in diesem Moment.

Er schwieg. Ich schwieg. Wir schwiegen.

 

Solange, bis die ersten Sonnenstrahlen müde aus ihren Wolkenkleidern kletterten und die Welt in eine warme Umarmung zogen.

 

Und Lestat blieb noch eine ganze Weile, seine müden Augen betrachteten die unsagbare Schönheit der blutroten Sonne, während ich fieberhaft überlegte, weshalb er nicht in Flammen aufging...

 

 

 

 

 

▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬

 

«Lieber kämpfe ich mit Worten gegen andere, als im Stillen gegen mich selbst.»

 

 

-Lana-

 

Chapter 03 - Im Schatten des Zahlendiebes

«Gibt's denn niemand anderes, dem du auf die Nerven gehen kannst? Freunde, Familie - giftige Reptilien?»

 

 

-Ice Age

 

 

 

Jemandem die bittere Wahrheit zu servieren und ihm so eine klaffende Wunde in die Seele zu reißen, war sicherlich ungeheuer schwer und benötigte eine immense Überwindung. Doch unmöglich war es nicht. Nicht wenn einem dieser Mensch überaus wichtig war und man stets im Hinterkopf hatte, dass er es auch anders erfahren könnte.

 

Doch wie zum Teufel sollte man mit etwas rausrücken – mit etwas verdammt hässlichem – wenn die tickende Zeitbombe bereits explodiert war und eine ganze Familie mit in den Abgrund gerissen hatte? Meine Weste war sicherlich nicht fleckenlos und ich hatte in meinen jungen Jahren einiges an Unsinn verzapft, worauf ich nicht besonders stolz war, aber das. Mein Schweigen war sicherlich in ihren Augen unverzeihlich und ich wusste ehrlich gesagt nicht, ob ich eine Beichte unserer Freundschaft zumuten konnte.

 

 

Sie würde es nicht überleben. Verglichen wie mit einem Sturz von einem Wolkenkratzer den man unmöglich überleben konnte.

 

Du hättest zu gegebener Zeit die Klappe aufmachen sollen. Schließlich kannst du das doch so gut.

 

Beinahe brutal massierte ich mir mit Zeige- und Ringfingern beider Hände meine Schläfen und schloss tief seufzend die Augen. Ich war sicherlich in einem Alter, in dem ich Falsch von Richtig unterscheiden konnte. Doch zu welcher Zeit war etwas falsch, zu welchem Zeitpunkt etwas richtig?

 

Nach wie vor kompliziert.

 

«Ach, Lana.» Eine große warme Hand legte sich mitfühlend auf meine Schulter und ich öffnete unwillkürlich die Augen wieder, erblickte daraufhin eine Packung Aspirin auf dem Küchentisch, die er vermutlich selbst vor wenigen Sekunden dort abgelegt hatte.

 

«Du solltest dich deswegen nicht so fertig machen», der Akzent von Nate war viel ausgeprägter als der von Blake. Ich blickte auf und verfolgte ihn mit meinen Augen; wie er zielsicher auf den Küchenschrank zusteuerte, ein Glas herausnahm, Wasser einschenkte und es mir schließlich neben die Packung Schmerzmittel hinstellte.

 

Ich seufzte leise. «Leichter gesagt als getan.» Nachdem ich mich im Morgengrauen aus dem Bad wieder zurück in mein Zimmer geschlichen hatte, war mir der Schlaf höchstens nur zwei Stunden gegönnt gewesen. Und als ich voller Unruhe aufgewacht war, hatte sich Julia bereits aus dem Staub gemacht und Nathaniel und meine Mutter waren heimgekehrt.

 

«Deine Mutter ist unendlich traurig deswegen.» Er setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch und beobachtete mich, wie ich umständlich eine Tablette aus der Verpackung rauspulte und mit reichlich Wasser hinunterspülte.

Verständlich. Meine Mutter und Sandra waren sehr gut befreundet und ich hatte es ihr einfach sagen müssen – sie hätte es schließlich auch so erfahren.

 

«Ja, ich weiß», murmelte ich kleinlaut und malte nachdenklich Kreise auf den Tisch, verwischte die kleinen Wassertropfen, die von dem Glas abgeperlt waren.

 

«Hm, aber sie macht sich auch Sorgen um dich.» Ich blickte überrascht auf, seine eisblauen Augen strahlten soviel Wärme aus, ein aufmunterndes Lächeln auf den Lippen. «Ich muss gestehen, dass ich mir auch große Sorgen gemacht habe, als du, nun, ungeheuer blass wie ein Zombie ins Wohnzimmer geschlurft bist und mit einem leicht verstörten Ausdruck im Gesicht, als hätte irgendwer laut Voldemort gerufen.»

 

Ich musste unwillkürlich anfangen zu grinsen. «Ich war ein wenig verwirrt, weil Julia einfach so verschwunden war», gab ich zu und er nickte verständlich.

«Kann ich gut verstehen. Hat sie bereits auf deine Anrufe reagiert?»

«Nein, ich möchte sie auch nicht dazu drängen mit mir zu reden.»

«Mhmh», machte er. «Es ist für sie wohl am besten, jetzt bei ihrer Mutter zu sein und ihr beizustehen. Sie werden Zeit brauchen. Beide. Um dieses schreckliche...Ereignis irgendwie erst einmal zu realisieren, bevor sie es überhaupt verarbeiten können.»

 

Da hatte er wohl Recht. Schließlich waren Julias Eltern seit fast zwanzig Jahre verheiratet und es würde sicherlich seine Zeit brauchen, bis Sandra wirklich akzeptieren würde, dass der Mensch, den sie so sehr liebte, tatsächlich imstande gewesen war, sie so schrecklich zu hintergehen...

 

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

 

Das stetige Kritzeln der Kugelschreiber auf den Arbeitsblättern stimmte mich unheimlich nervös und verursachte einen stechenden Schmerz hinter meinem linken Auge. Als würde Missy höchstpersönlich hinter meinem Augapfel sitzen und spaßeshalber mit einer Nadel hin und wieder Mal ordentlich zustechen. Die Kopfschmerzen waren eine Plage – schon seit zwei Tagen quälten sie mich, aber so langsam wurde es tatsächlich besser. Ich benötigte nur eine volle Mütze Schlaf, um mich wieder gänzlich zu erholen.

 

Seufzend massierte ich mir die Schläfen, ließ meinen Blick über die Klasse wandern, doch jeder einzelne von ihnen schien gerade in seiner eigenen Welt gefangen zu sein. Eine Welt, in der es Zahlen regnete, die Straßen mit Vektorrechnungen gepflastert waren und man über die halsbrecherischen Formeln stolpern konnte. Der Himmel war tintenblau und wir ertranken darin...in Zahlen.

 

Ich wandte meinen Kopf zur Seite und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster. Mein einziger Lichtblick war ein kleiner heimtückischer Bursche, den ich jetzt wirklich gebrauchen konnte. Der Zahlendieb. Einen Moment stellte ich mir tatsächlich vor, wie das Bübchen auf leisen Sohlen in unseren Klassensaal geschlichen kam; auf dem Kopf ein nachtschwarzer Charlie Chaplin Hut mit einer scharlachroten Feder. Das Gesicht halb im Schatten und die Wangenknochen unheimlich scharf hervortretend. Das schurkenhafte Lächeln auf seinen Lippen selbstverständlich nicht zu vergessen und dem sandfarbenen Beutel über seiner Schulter, in der er sein Diebesgut verstauen würde.

 

Er wäre ein Schatten, getarnt in Dunkelheit und schneller als das Licht. Ja, er würde sich all unsere Blätter unter den Nagel reißen und verschwinden, noch bevor sein Licht uns berühren würde.

 

Ich grinste.

 

«Dummheit ist eine unheilbare Krankheit.»

Mein Herz schlug einen einzigen Schlag ziemlich hart gegen meine Rippen, als jemand die meterdicke Stille durchschnitt und mich aus dem Schwachsinn von Gedanken herauskatapultiere. Verdutzt wandte ich den Blick vom Fenster ab und blickte äußerst irritiert nach vorne. Doch schon im nächsten Moment war mir sofort klar, wessen Stimme ich da gerade gehört hatte.

Satan. Lestat. Der Antichrist. Beelzebub. Diabolo. Das Grauen hatte viele Namen und noch mehr Gesichter. Doch ich nannte meinen persönlichen Teufel auch gerne Blake. Oder Arschloch. Arschloch war gut, es passte perfekt zu ihm.

«Bitte?», fragte ich entrüstet und lüpfte eine Braue, starrte auf seinen Hinterkopf. Er saß genau vor mir und ungefähr zeitgleich erwachte in mir das Bedürfnis, den Kaugummi in meinem Mund in seine ach so perfekten Haare zu spucken. Was bildete er sich eigentlich ein, mich als dumm zu bezeichnen? Ich meine, gut. Vermutlich hatte ich nicht genug Talent für Mathe, aber ich war nicht grottenschlecht darin. Ich hatte dieses Wochenende nur kaum die Zeit gefunden, für irgendetwas zu lernen, weil ganz anderer Scheiß stets meinen Schädel gefickt hatte. Und Lestat hatte sicherlich auch seinen Teil dazu beigetragen, indem er sich in der einen Nacht einfach zu mir gesetzt hatte und bis zum Sonnenaufgang bei mir im Badezimmer geblieben war. Mir fiel auf, dass wir beide seither kein Wörtchen miteinander gesprochen hatten, weil uns der Mist irgendwie schon unangenehm war, aber so wie es aussah, hatte er das Eis nun gebrochen und wollte sich seine Langeweile vertreiben. Seine Langeweile mit mir vertreiben, indem er mir auf die Nüsse ging, wohl gemerkt.

 

Er blickte mich über seine Schulter an und anhand seines Seitenprofils konnte ich erkennen, was für ein unwiderstehliches Lächeln an seinen Lippen klebte. Keineswegs überheblich wie ich es erwartet hatte, sondern amüsiert, charmant und sexy. Gutaussehendes Arschloch. Seine stahlblauen Augen fixierten mich einen Moment lang auf unangenehmste Weise, wanderten von meinen Augen über meine womöglich bereits geröteten Wangen, weiter zu meinem Lippen, über meinen Hals, das Schlüsselbein und für einen winzigen Moment erwischte ich ihn dabei, wie er mir ungeniert in den Ausschnitt blickte.

 

Mir wurde urplötzlich ganz warm, meine Haut fühlte sich gereizt an und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, als wären seine Blicke die samtige Spitze einer Feder gewesen, mit dem er mir zart über den Körper gestrichen hatte. Verdammter Mist.

Als ich meinen Blick mit aller Kraft von seinen Lippen löste, fiel mir etwas an seinem Gesichtsausdruck auf. Irgendetwas hatte sich geändert. Nun schaute er mich relativ ernst an und schien kurz zu überlegen.

«Was...», keuchte ich erschrocken und meine Augen wurden riesig, als er sich urplötzlich meinen Test schnappte und ihn blitzschnell mit seinem vertauschte. Mein Herz rutschte mir beinahe in meinem Slip und wie von selbst schnellte mein Kopf nach vorne, meine Augen suchten hysterisch nach unserem Lehrer, doch er schien gerade mit etwas völlig anderem beschäftigt zu sein. Er saß einfach nur da und korrigierte etwas. Vermutlich den Test der Parallelklasse, die er vorhin bereits in den ersten beiden Stunden unterrichtet hatte.

Nichtsdestotrotz ergriff mich die Panik. Was zum Teufel erlaubte sich dieser Idiot eigentlich? Oder besser gesagt: Was hatte er vor?

«Blake...», meinte ich anstrengend ruhig und beugte mich unauffällig über meinen Tisch, wollte wissen, was er vorhatte.

Doch er reagierte kein bisschen. Stattdessen drehte er sich erneuert kurz um und schnappte sich meinen Kugelschreiber, begann damit meine Aufgaben zu lösen. Mein Herz schlug ein paar Takte schneller und meine Handinnenflächen wurden feucht.

Es war klar, dass wir beide eine glatte Sechs kassieren würden, wenn der Lehrer unsere kleine Flunkerei wittern würde. Aber es war nicht diese Tatsache, die mich überaus beunruhigte, sondern eher die, dass Blake mir half. Schon wieder. Im Badezimmer war er meine stille Stütze gewesen und irgendwie...ja, irgendwie war ich ihm doch ein wenig dankbar dafür. Und jetzt löste er all meine Aufgaben und bewahrte mich so vor einer schlechten Note. Ich wusste, dass er gut war in Mathe. Überdurchschnittlich gut sogar, aber ich wusste nicht, weshalb er mir half.

«Blake, verdammt», krächzte ich beinahe und schaute sicherheitshalber noch einmal nach unserem Mathematiklehrer. Er war nach wie vor mit den anderen Tests beschäftigt, blickte jedoch einen kurzen Augenblick auf.

 

So langsam machte mich dieser Idiot mit seiner Ignoranz ziemlich wütend. Ich beugte mich noch ein Stückchen nach vorne und pustete in seinen Nacken, damit ich seine Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Doch er beachtete mich nicht, ein Schaudern konnte er sich dennoch nicht verkneifen, als mein warmer Atem über seinen Nacken streichelte.

«Shht. Be quiet.»

Ich wollte seine Hilfe nicht, verdammt. Er machte das doch nicht nur, um mir wirklich zu helfen. Irgendwo musste ein Haken sein. Dessen war ich mir ziemlich sicher.

Eine kalter Schauer rieselte meinen Rücken hinab, als ich die kratzige Stimme meines Mathematiklehrers hörte. «So, kommt langsam zum Ende. Eure letzte Aufgabe, dann wird abgegeben.» Angestrengt blickte er über die Klasse, seine Stirn lag tief in Falten.

Oh, scheiße. Meine Augen blieben an dem Test auf meinem Tisch hängen.

 

Der Idiot hatte bereits seinen eigenen Namen rechts oben in die Spalte eingetragen. Was sollte ich jetzt machen, wenn er meinen Test einsammelte und Blakes Namen erblickte? Eine Sechs würde mir nichts anhaben, es war eben nur ein kleiner Test. Aber wenn man es bei Herrn Stahl einmal verkackte, würde er bis zum Ende des Schuljahres dein schlimmster Feind werden. Damit hatte er uns nämlich am Anfang des Schuljahres gedroht.

 

Es klatschte und ich zuckte zusammen, als hätte mir jemand einen Nackenklatscher verpasst. Es war Herr Stahl, der zweimal in die Hände geklatscht hatte und somit alle aufforderte, den Stift sofort beiseite zu legen.

Blake tat es. Er legte den Kugelschreiber – meinen Kugelschreiber, verdammt! – beiseite und sah nach vorne. Er wirkte kein bisschen nervös, obwohl unser Mathematiklehrer idiotischerweise genau mit unserer Reihe begonnen hatte, die Tests aufzusammeln. Mit der mittleren Reihe. Vielleicht hatte er etwas bemerkt.

Ich biss mir nervös auf die Unterlippe und überlegte einen Moment, Arschlochs Schädel mit bloßen Händen abzureißen.

 

Und dann geschah etwas, was ich wirklich nicht erwartet hätte.

Blake hustete und als wäre es ein Zeichen, drehte sich Patrick zu uns um. Er saß rechts von uns, in der dritten Reihe, ganz vorne.

Stumm nickte er Arschloch zu, sah mir einen Moment grinsend ins Gesicht, bevor er mit einem Ruck aufstand und sein Stuhl scheppernd zu Boden fiel. Er drehte sich zu seinem Sitznachbarn, das Gesicht zornentbrannt und die Fäuste geballt. Marionetten fühlen nicht, weißt du?

«Was zur Hölle ist dein Problem? Hab ich dir nicht gesagt, dass du mich nicht so dämlich von der Seite anmachen sollst?», bellte er urplötzlich und alle Köpfe im Klassenzimmer hoben sich.

Ich hielt den Atem an, starrte gebannt auf den Burschen und erwartete bereits, dass sein Sitznachbar Adrian ihm seine Faust mitten ins Gesicht donnern würde, weil er absolut nichts gesagt hatte. Er würde sich diese grundlose Anmache sicherlich nicht einfach so gefallen lassen, dafür war Adrian einfach nicht der Typ. Sein Temperament schwappte in solchen Situation unaufhaltsam über und gepaart mit seiner Furchtlosigkeit und der Angriffslust war das wirklich eine gefährliche Kombination. Er war gefährlich.

Aber was hatte Patrick vor? War das ein Ablenkungsmanöver? Nur weshalb sollte er sein Gesicht für so einen Scheiß riskieren? Aus dem Augenwinkel heraus erkannte ich, wie Herr Stahl in seiner Bewegung verharrt und die beiden Jungs ziemlich perplex anstarrte.

 

«Was hast du gesagt?» Adrians Stimme klang ungewöhnlich tief, dunkel. Er war ebenfalls aufgestanden und überragte Patrick in dieser Position um einen halben Kopf.

«Oh, scheiße. Gleich geht es los.»

«Irgendwer sollte für Patrick schon einmal einen Krankenwagen rufen.»

Stimmengewirr drang nur widerwillig zu mir hindurch, weil mein Geist momentan auf einem völlig anderen Planeten verweilte. Planeten Arschloch. Ich sah den Übeltäter an, der sich ganz lässig in seinen Stuhl gelehnt hatte und mit einem arroganten Lächeln auf den Lippen das Schauspiel beobachtete. Er blieb stumm, schien recht amüsiert zu sein. Erneuert erwachte in mir das Verlangen, ihm wehzutun. Ich verabscheute es, welche Macht er über Menschen hatte. Ganz gleich, ob Frau oder Mann.

«Du hast mich schon richtig verstanden. Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, kapiert?»

Adrian gleichgültige Miene ließ mich schaudern. Unberechenbar. «Patrick...», sagte er gefährlich ruhig, keine eindeutige Regung in seinem jugendlichen Gesicht zu erkennen, doch...in seinen Augen glänzte der Schalk.

Und genau in diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Falsches Spiel. Er wusste bereits von dem ganzen Mist Bescheid. Doch wie...wann hatten sie ihn eingeweiht? Ich verstand nicht, ich verstand rein gar nichts mehr. Sie hätten das alles doch unmöglich vorher planen können – oder etwa doch?

«Was ist da los?» Herr Stahl erwachte aus seiner andächtigen Starre und drehte sich nun vollends zu den beiden Idioten um, das Gesicht vollkommen ernst und die Lippen zu einer strengen Linie aufeinander gepresst. Seine Autorität wehte uns entgegen, doch an Adrians undurchdringlicher Mauer prallte sie unweigerlich ab. Er ignorierte unseren Lehrer völlig und fixierte stattdessen Patrick erneut mit diesem seltsamen Funkeln in den Augen.

«Hey!», hallte die Stimme von Herrn Stahl durch das Klassenzimmer, als Adrian Patrick urplötzlich am Kragen packte und gegen die Wand donnerte. Mir fiel wortwörtlich die Klappe auf, weil das alles andere als gefaked aussah. Verdammt, das musste geschmerzt haben!

«Hört sofort auf damit!» Patrick schubste Adrian mit aller Gewalt von sich, der über seinen eigenen Stuhl stolperte und beinahe hinfiel. Doch einen Wimpernschlag später, hatte er sein Gleichgewicht wieder zurück erlangt und stürmte ein weiteres Mal auf Patrick zu.

Euphorie breitete sich im ganzen Klassenzimmer aus, einige waren aufgestanden, feuerten Adrian an, anderen wiederum konnten nicht mehr als den Kopf zu schütteln und beide als Idioten zu beschimpfen. Blake nutzte dieses Chaos aus, um wieder unsere Blätter auszutauschen.

Wenn er nur wegen einem idiotischen Test so ein Chaos anrichten konnte, wozu war er dann in der Lage, wenn er wirklich in der Klemme steckte?

Meine Vorsicht und mein Misstrauen ihm gegenüber waren eben nicht unbegründet gewesen. Mit Blake legte sich nur jemand an, der wirklich bescheuert war, oder nicht viel Wert auf seinen Ruf in der Öffentlichkeit legte. Doch ich hatte mittlerweile das Gefühl, dass es hierbei gar nicht um den Test ging. Sondern einfach nur darum, um mir – vielleicht auch der ganzen Klasse – seine Macht zu präsentieren.

 

 

Nachdem Herr Stahl die beiden Affen mit aller Gewalt auseinander gebracht hatte, verdonnerte er sie zum Rektor und sammelte schnell alle Tests ein, um sie zu begleiten, damit sie sich auf dem Weg nicht wieder an die Kehle sprangen. Doch ich wusste es besser. Das würden sie nicht, hatten sie genau genommen gar nicht getan. Alles war ein Schwindel gewesen, ein falsches Spiel und der Drahtzieher war von Grund auf ein falscher Mensch, falsche Karten.

 

Er manipulierte alles und jeden. Das, was er gerade abgezogen hatte, war ein Scheiß dagegen, was er auf der Hochzeit meiner Mutter getan hatte...niemals, würde ich ihm das verzeihen...

Rabenschwarze Fäden – ein Tropfen Schwermut. Wer zieht, wer spielt? Wer ist der Spieler, wer der Gegenspieler? Das verlorene Ich.

Hulk juckte es bereits in den Fingern ihm dafür sein schönes Gesicht zu verunstalten...

Doch alles hatte seine Zeit. Irgendwann würde er sich an seinem eigenen Spiel die Finger verbrennen und bis dahin würde ich warten, ihm auflauern und bei der perfekten Gelegenheit noch eins draufsetzen.

Heimtückische Schlange. Ersticke bloß nicht an deinem eigenen Gift.

Missy konnte sagen, was sie wollte. Er hatte es verdient, das und noch so viel mehr.

 

Das Läuten der Klingel beendete den Unterricht und löste somit die Anspannung einiger Schüler auf. Sie stürmten alle in die Pause, tuschelten über das gerade Geschehene und spekulierten, was der Grund für den Streit sein könnte und was für eine Strafe ihnen nun blühen würde. Was Patrick anbelangte, waren alle einer Meinung: Er würde nur ein wenig Anschiss vom Rektor bekommen und mit einer Mahnung davon kommen, doch bei Adrian hingegen sah das schon ganz anders aus. Er war ein Raufbold und hatte schon für sehr viel Ärger gesorgt.

 

Ich seufzte leise und fuhr mir mit dem Finger fahrig über die Stirn, klemmte mir eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. Erst jetzt schien ich zu bemerken, wie angespannt und nervös ich die ganze Zeit über gewesen war, denn mein Kiefer schmerzte und ein leichtes Stechen breitete sich in meiner Magengegend aus, weil ich wirklich sämtliche Muskel angespannt und die Zähne fest aufeinander gebissen hatte.

 

 

 

Der Ingrimm zerschellte in abertausende Teile und die Euphorie verblasste. Sie alle waren aus dem Saal verschwunden, nur ich saß nach wie vor auf meinem Platz und ließ das gerade Geschehene noch einmal Revue passieren. Irgendetwas sagte in mir, dass es noch nicht vorbei war, sondern erst der Anfang, der Anfang von etwas, was mir etliche Nerven und alle meine Selbstbeherrschung kosten würde.

«Hm, ich hätte viel mehr erwartet.» Seine Stimme war getränkt in Spott, das Lächeln überheblich und amüsiert. Wenige Strähnen fielen ihm ins Gesicht, stahlblaue Augen fixierten mich. «Du bist doch krank...», sagte ich angestrengt ruhig und atmete die angestaute Luft aus meinen Lungen. Meine Selbstbeherrschung bröckelte, grün kam zum Vorschein. Hulk war nicht weit entfernt.

«Ich hätte ein wenig Dankbarkeit erwartet, Lana.» Mit einem Ruck stand er von seinem Stuhl auf und wandte sich mir zu. Arrogantes Arschloch. Stumm lächelnd verschränkte er die Arme vor der Brust und sah von oben auf mich herab, musterte mich eindringlich und legte dabei den Kopf ein wenig schief. Was war nur sein beschissenes Problem? Dankbarkeit? Erwartete er ernsthaft von mir, dass ich ihm dafür danken würde?

Ich lachte genervt und schüttelte ungläubig den Kopf.

«Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten, also glaube nicht, dass ich dir dafür danken werde.» Genervt räumte ich meine Sachen in die Tasche und stand ebenfalls auf, seine Augen folgten mir recht interessiert. Ich wusste, was er von mir erwartete. Und zwar, dass ich aggressiv werden würde und anfing mich mit ihm zu streiten, doch diese Genugtuung schenkte ich ihm nicht.

Er seufzte gespielt traurig und tippte mit dem Zeigefinger an seinen Kinn. Mein Blick fiel unweigerlich auf den kleinen Piercing, links an seiner Unterlippe. «Cherry, you owe me something.»

«Bitte? Ich schulde dir einen Scheiß!», spie ich ihm entgegen und machte schwungvoll zwei Schritte auf ihn zu. Ich wusste es. Der Haken. Nun glaubte Arschloch doch tatsächlich, dass ich in seiner Schuld stand.

 

Er grinste und es machte mich wahnsinnig. «Hör auf damit. Was grinst du so dämlich? Wenn du mich verpfeifen willst, sage ich Herrn Stahl, dass du das alles geschrieben hast. Er wird doch wohl unsere Schrift unterscheiden können.» Wobei ich das wirklich sehr arg bezweifelte. Ich hatte eine Sauklaue – genauso wie Arschloch.

«Cherry...», erneuert seufzte er gespielt traurig und legte mir dabei eine Hand auf die Schulter. Sein Parfüm umspielte meine Nase und es roch abgöttisch gut. Ich mochte es...auch, wenn es ziemlich bescheuert war, ich hatte mich einmal in sein Zimmer geschlichen, nur um an der Scheiß Flasche zu schnuppern.

«Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Natürlich wenn du nicht möchtest, dass dein kleines dreckiges Geheimnis die Runde macht.»

Mir fiel die Klappe auf und mein Herz stolperte. Mein kleines dreckiges Geheimnis? Wusste er etwa von... Er bluffte doch...wollte er vielleicht gerade so ein Geheimnis aus mir herauslocken?

«Red keinen Unsinn!», blaffte ich und schlug ihm die Hand von meine Schulter, doch er umklammerte meinen Oberarm im nächsten Moment und zog mich an sich ran. So nah, dass ich die köstliche Wärme, die von seinem Körper ausging, spürte.

«Tue ich das wirklich?», wisperte er mir zu, seine Stimme klang rau, unbenutzt. Unsere Nasenspitzen berührten sich, sein heißer Atem streifte meine Lippen.

Es jagte mir eine Gänsehaut über den Körper und ließ mich von innen heraus zittern.

Erde an Lana. Wir verlieren die Kontrolle.

«Ja...», sagte ich, doch es klang nicht halb so sicher, wie ich gehofft hatte. Er brachte mich....aus dem Konzept.

Aufhören, verdammt.

«Hm, so siehst du auch aus.» Sein raues Lachen an meinem Ohr ließ mich unweigerlich Schaudern und mein Körper verkrampfte sich. Ich spürte, wie er seinen rechten Arm um meine Hüfte legte um mich noch fester an sich zu pressen.

«Was...tust du da? Hör auf, du Idiot!», presste ich heißer hervor und stemmte meine Hände gegen seine Brust. Was war jetzt los? Was sollte dieser Scheiß? Das war doch krank.

Seine Hand wanderte erneuert an meine Schulter, wo er sie hochwandern ließ, bedächtig langsam und mich nicht aus den Augen lassend. Ich konnte seine warmen Finger an meinem Hals spüren, was mich aufkeuchen und erzittern ließ. Was...tat er?

«Blake...was...» Ich brach ab und keuchte auf, als er meine Haare urplötzlich um seine Faust wickelte. Mein Kopf fiel automatisch zur Seite und ich verkrampfte mich unheimlich, als ich seinen warmen Atem an meinem Hals spürte.

Hauchzart, die Berührung seiner Lippen an meiner empfindlichen Haut. Mein Körper bebte. Mein Herz zwitscherte eine mir unbekannte Melodie und meine Knie wurden weich. Was war das...wieso reagierte mein Körper nur so heftig auf eine simple Berührung? Eine Berührung von ihm! Lestat...

«Mhmm, you smell good.»

Ich keuchte überrascht auf und sämtliche Nackenhaare stellten sich mir auf, als ich seine feuchtwarme Zunge spürte, die entlang meines Halses strich.

«Blake! Was...was...» Nein, er sollte aufhören. Das war nicht mehr witzig.

Ich konnte spüren, wie sich seine Lippen an meinem Hals zu einem Lächeln verzogen und schließlich war es das, was den Hulk wieder in mir hervorrief. Triumphierend lächelte er. Er verspottete mich. Spielte mit mir, versuchte mich nur aus dem Konzept zu bringen.

 

Ich winkelte meinen rechten Arm an und war gerade dabei, meinen Ellenbogen schmerzlichst gegen seine Rippen krachen zu lassen, damit ich mich endlich aus seinem Griff befreien konnte, ehe mir eine Idee in den Sinn kam. Was Arschloch konnte, konnte ich besser.

Einen kurzen Moment schloss ich die Augen, versuchte meine wirren Gedanken zu ordnen. «Blake...», hauchte ich leise und legte soviel Sex in meine Stimme, wie es nur irgendwie möglich war. Leise, verführerisch, gespickt mit einem kaum vernehmbaren Stöhnen.

Ich war mir sicher, dass er nicht geil davon wurde – diese Absicht pflegte ich nicht, widerlich – aber es würde ihn aus dem Konzept bringen, was auch mein Ziel war. Schließlich war ihm meine heftige Reaktion auf seine ungewohnten Berührungen nicht entgangen und das war mein einziger Trumpf. Dass er mich wirklich geil machte und ich das nur zu gern erwiderte.

 

Er verharrte eindeutig in seiner Bewegung, doch seine warmen Lippen an meinem Hals brachten mich um. Ich konnte wahrlich nicht leugnen, dass er ein verflucht attraktiver junger Mann war, denn damit würde ich mich nur selbst belügen. Aber sein Charakter war unglaublich hässlich, da konnte die Verpackung noch so schön sein. Die blauäugigen Püppchen konnte er scheinbar problemlos damit rumkriegen, was mich ehrlich gesagt auch nicht wunderte. Sie waren selbst Schuld, spielten dieses niveaulose Spiel mit, weil sie sich Hoffnungen machten die Eine zu sein, ihn ändern und läutern zu können. Doch einige wiederum spielten nur mit, weil sie sich einfach nur seine Aufmerksamkeit wünschten – sei es auch nur für eine kurze Zeit.

 

 

Ich grinste, keine Ahnung aus welchen Grund ich das tat. «Weißt du...», hauchte ich ein weiteres Mal mit dieser Stimme, von der ich glaubte, dass sie verführerisch klang, wie ein schnurrendes Kätzchen.

Langsam, bedächtig langsam wie er zuvor, presste ich meinen Unterleib gegen seinen, mein Oberkörper war nach wie vor ein ganzes Stückchen von ihm entfernt, weil der Idiot noch meine Haare um seine Faust gewickelt hatte. Seine Lippen an meinem Hals, die Muskeln angespannt.

«Weißt du, Blake...», sagte ich ein weiteres Mal, ließ den Satz unbestimmt in der Luft hängen, während ich meine linke Hand zu seiner Faust führte, vorsichtig die gewickelten Strähnen nacheinander von seinen Fingern löste, sanft, langsam, und mit Genugtuung stellte ich fest, wie er es einfach geschehen ließ. Glaubte scheinbar, dass ich jetzt etwas sagte, was seinem Ego schmeicheln würde. Vielleicht, dass ich ihn unglaublich sexy fand? Hm, ja. Das stimmte, aber das würde ich ihm sicherlich nicht sagen.

«What?», unterbrach er die eingekehrte Stille und löste seine Lippen zögernd von meinem Hals, sein Kopf blieb jedoch weiterhin nach unten geneigt, ganz nah an der empfindliche Haut, sein warmer Atem meinen Hals liebkosend.

Einen Moment lang schloss ich die Augen, als ich spürte, wie seine Hände von meinen Schultern hinab zu meinem Hüften wanderten, nur um mich fest zu packen und in dieser Postion zu halten. In einer Position, in der mein Unterkörper eindeutig zu nah an seinem klebte. Ich schauderte kurz, was leider nicht zu meinem Plan gehörte, doch sofort donnerte Hulks Faust von innen heraus gegen meinen Schädel und bleckte bedrohlich die Zähne - in den schwarzen Augen blitzte Wut auf.

 

Scharlachrot.

 

Auf keinen Fall durfte ich nun Schwäche zeigen, gerade jetzt, wo ich ihn beinahe in der Falle sitzen hatte. Sein dämlicher Gesichtsausdruck wäre köstlich, das durfte ich unmöglich vermasseln.

Ich neigte meinen Kopf leicht zu Seite, damit sich unsere Wangen berührten und meine andere Hand vergrub ich in seinem seidigen Haar, ließ sie durch sie hindurch gleiten. Er sagte nichts, war scheinbar ziemlich perplex und ich nutzte diese Gelegenheit, um mich ein wenig zurückzuziehen und ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen. «Weißt du...», nuschelte ich ich ein weiteres Mal, gab ihm noch einen Kuss, zog mich jedes Mal immer ein Stückchen nach hinten, bis ich seinen Lippen gefährlich nahe kam. Mit Genugtuung stellte ich fest, wie sich seine Atmung beschleunigte, sein Herzschlag unter meinen Fingern langsam schneller wurde. Sein Duft hing überall in der Luft, benebelte beinahe meine Sinne.

«Dummheit...», ich grinste diabolisch und drückte ihm einen Kuss auf den Mundwinkel, «ist eine unheilbare Krankheit.»

Sein Griff um meine Hüfte wurde mit einem Mal fester, als meine Lippen beinahe seine berührten, doch im nächsten Moment zog er mich blitzschnell zurück und starrte mich mit einer Miene aus Wut und Fassungslosigkeit an.

Und genau darauf hatte ich gewartet. Dieser Gesichtsausdruck... Ich prustete laut los und stieß mich von ihm ab.

«Lana...», knurrte er, trat zwei Schritte auf mich zu. Ich lachte, weil ich niemals geglaubt hätte, dass er auf solch einen Schwachsinn reinfallen würde. Wieso hatte er mich nicht vorher von sich gestoßen? Weshalb hatte er es mir überhaupt erlaubt, soweit zu gehen und beinahe seine Lippen zu küssen?

«Hör auf deine Stirn zu kräuseln, davon bekommst du Falten, Baby», zwinkerte ich ihm lachend zu und schulterte meine Tasche, rauschte an ihm vorbei, doch er bekam mein Handgelenk zu fassen.

«Komm schon, den Sieg habe ich mir ehrlich verdient», sagte ich gespielt trotzig und schob die Unterlippe vor. Arschloch würde sich das sicherlich nicht gefallen lassen, aber hey, der Punkt ging eindeutig an mich. Die Niederlage musste er jetzt einfach akzeptieren.

Er grinste, doch ich erkannte nach wie vor die Wut in seinen Augen. Seufzend schüttelte er den Kopf und ließ mich schließlich wieder los. «Das wird ein Nachspiel haben», drohte er und ich nickte theatralisch. «Das wird es immer.»

 

Diesmal hielt er mich nicht zurück. Ich stolzierte mit aufgeblähter Brust und mit dem Stolz einer Löwin aus dem Raum. Wäre es nicht kindisch, hätte ich wirklich einen Freudentanz aufgeführt, doch ich blieb bescheiden und rief noch ein «Ich schulde dir nichts, nur damit das klar ist», bevor ich die Klassenzimmertür hinter mir zuschlug.

Mein Herz raste wie verrückt, was mir erst jetzt bewusst wurde. Das kleine Spiel hatte anscheinend seine Spuren auch bei mir hinterlassen.

«Na, seid ihr endlich fertig?»

Erschrocken stoppte ich, bevor ich in meiner Euphorie frontal mit jemandem zusammenstoßen konnte.

Meine Augen weiteten sich. Natalia.

Oder wie ich sie gerne nannte: Teufelsweib. Das perfekte Gegenstück von Blake.

Sie starrte mich unentwegt aus diesen blassblauen Augen an, die dunkle Braue hämisch nach oben gezogen. «Bitte?», fragte ich völlig irritiert und verschränkte aus einem Impuls heraus beide Arme vor der Brust, nahm unwillkürlich eine Abwehrhaltung an.

Um ehrlich zu sein, machte mir dieses Weib eine Heidenangst. Auch bei ihr bewirkte die schöne Verpackung nicht recht viel, und zur Hölle, sie war wirklich eine wunderschöne junge Frau. Die aalglatten rabenschwarzen Haare gingen ihr fast bis zu den Hüften und glänzten nur so voller Leben. Sie wirkten total lebendig und gesund, im Gegensatz zu meinen spröden, dunklen Haaren. Wäre sie nicht so arrogant und ein verdammter Eisklotz, hätte ich vermutlich gefragt, welche Haarkur sie benutzte.

«Cherry, hm», sagte sie nachdenklich und ihre vollen dunkelroten Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. Eine Gänsehaut kletterte meine Arme hinauf, ihre Stimme klang so... eintönig. Weder Verärgerung noch Spott war herauszuhören. Verlorene Melodie.

«Er ist noch im Klassenzimmer», lenkte ich schnell ein und sah an ihr vorbei. «Man sieht sich.» Hoffentlich nicht.

Ich würdigte sie keines zweiten Blickes und lief los. Mein Rücken brannte, ihre Blicke brannten auf auf mir, aber ich unterdrückte glorreich den Impuls mich umzudrehen und eilte aus dem Gebäude, als stünde mein Hintern auf dem Spiel.

Ich wusste, aus welchem Grund Blake sie immer wieder traf. Natalia interessierte es nicht, wer er war, wie er sich benahm und was er eigentlich wollte. Denn sie war genauso wie er, wollte selbst einfach nur ihren Spaß haben und nicht versuchen ihn irgendwie zu ändern.

Natalia, sie gehörte eben zu diesen wenigen Frauen, die Blake im Gegensatz zu den Eintagsfliegen sehr oft mit nach Hause brachte. Der unverbindliche Spaß hatte scheinbar seine Reize. Für ihn und für sie.

Der Teufel und seine Braut...

 

 

Und mal von dem ganzen Scheiß abgesehen, musste ich unbedingt herausfinden von welchem kleinen dreckigen Geheimnis Blake vorhin gesprochen hatte und ob er überhaupt irgendetwas wusste...

 

 

 

 

 

Sicht des allwissenden Erzählers.

-Lestat-

 

 

 

Seine staubigen Nebelaugen glitten schwermütig über den jungen Mann zu seiner rechten; ein unausgesprochenes Wort auf den leicht geöffneten Lippen. Sie wollten mit penetranter Hartnäckigkeit den ganz Raum fluten und niederschmetternd von den hohen Wänden wieder zurückhallen, um die eingekehrte Stille wie eine zerbrechliche Vase in abertausende Teile zersplittern zu lassen. Doch die Worte weigerten sich über seine Lippen zu kommen, seine Stimme war verflucht. Er konnte nicht reden, nur zusehen.

Er seufzte luftleer. Sein rabenschwarzer Mantel flatterte auf, doch der Wind war nicht da, ging ihm aus dem Weg. Ein Vorwurf in den alten Augen, bittere Enttäuschung. Schwärze umhüllte ihn. Die Sonnenstrahlen fluteten den ganzen Saal, wagten es jedoch nicht ihn zu berühren. Sie würden ihre Wärme verlieren, durch seinen nachtschwarzen Mantel ins ewige Nichts verschwinden.

Kein Schatten, er hatte keinen Schatten.

 

Genervt verschränkte Blake beide Arme hinter seinem Kopf und starrte dümmliche grinsend die schmutzige Decke seines Klassenzimmers an. Es waren viele Gefühle, die in jenem Moment auf ihn einströmten, aber eines siegte glasklar. Wut. Er war nicht wirklich wütend auf Lana – schließlich würden sich noch genug Gelegenheiten ergeben, um es ihr heimzuzahlen – sondern eher stinkwütend über die Tatsache, dass er wohl auf den ältesten und beschissenen Trick der ganzen Menschheit hereingefallen war. Was dachte er für einen Scheiß? Er war auf seinen eigenen Trick hereingefallen, der bereits so veraltet und verstaubt war, dass er ihn nur bei irgendwelchen hirnlosen Schlampen anwendete, um sie zu ficken. Und bei Lana. Bei Lana hatte er diesen Trick ebenfalls sehr oft angewandt, sie versucht allein durch seine Berührungen, seiner Stimme und seinen Blicken aus dem Konzept zu bringen und gefügig zu machen. Aber bisher hatte sie es niemals gewagt, den Spieß umzudrehen. Es war einfach nicht ihr Stil. Lieber versuchte sie ihn mit harten Worten, nackten Tatsachen niederzuschmettern, als ihn mit – für sie relativ unüblichen - kleinen hinterhältigen Tricks zu blenden und ihn anschließend vergnüglich bloßzustellen. Aber er hatte sich zu seinem Leidwesen geirrt. Nur was störte ihn an dieser Niederlage so sehr? Sie stritten sooft miteinander wie andere Menschen atmeten, legten sich manchmal aus purer Langeweile miteinander an, maßen die Kraft ihrer eigenen Worte und testeten, wie weit sie bei dem anderen gehen konnten, bis die Selbstbeherrschung wie Putz von den Wänden bröckelte und der hässliche Charakter zum Vorschein kam.

 

Aber irgendetwas war dieses Mal anders.

 

Er seufzte genervt und schloss einen Moment lang die Augen. Stahlbau ertrank in Schwärze. Nichts, es gab keine Worte dieser Welt, die beschreiben konnten, wie sehr er sie hasste. Wirklich nichts konnte dieses Gefühl tief in seinem Inneren gerecht verpacken und richtig darstellen. Sie hatte diese kleine Saat bei ihrer ersten Begegnung in ihn gepflanzt und seither wuchs er beständig. Seine Sonne war ihr Hass und das Wasser ihr ganzes Wesen, ihr ganzes Erscheinen und ihre Art. Er kribbelte bereits in seinem ganzen verfluchten Körper, wenn er nur daran dachte, sie dafür büßen zu lassen. Für diesen abgefuckten Streich von vorhin. Sie würde betteln...ja betteln, damit er endlich aufhören würde.

 

«Blake?»

Eine Stimme drang zu ihm hindurch und er öffnete widerwillig die Augen, wandte seinen Kopf zu Seite.

Natalia, dieses umwerfende Stück stand im Türrahmen gelehnt und hatte die Arme unter ihrem großzügigen Dekolleté verschränkt. Ihre Brüste wirkten wie zwei reife Äpfel, die nur darauf warteten von ihm gepflückt zu werden und scheiße noch einmal eins, er war erregt. Der ganze gedankliche Hick Hack, die Wut und der Hass auf dieses Biest Lana hatten ihn doch tatsächlich erregt. Er musste Druck ablassen...in vielerlei Hinsicht.

Ein verstohlenes Lächeln kletterte seine Lippen hinauf, als er sich mit der rechten Hand durch seine Haare fuhr und sich gänzlich zu ihr umdrehte.

«Du kommst gerade gelegen», lächelte er unverschämt und erreichte sie mit wenigen Schritten.

Um Lana würde er sich später kümmern, dafür hatte er alle Zeit der Welt.

«Was hast du vor?» Doch bereits im nächsten Moment wusste Natalia ganz genau was Blake vorhatte. Auch sie war nicht abgeneigt – um nicht zu sagen: Sie hatte das gleiche im Sinn

Blake umfasste ihr Handgelenk und zerrte sie aus dem Klassenzimmer, raus aus dem Gebäude.

«Ich werde dich jetzt ficken.»

Chapter 04 - Zwei einsame Seelen in Gotham City

«Ich hatte eine Vision. Von einer Welt ohne Batman... (...) und es war soo... langweilig.»

 

 

-Joker; aus The Dark Knight

 

 

 

 

 

 

«Dr. Cooper?»

«Ja?»

«Ich bin Special Agent Paige, FBI.»

«Sie sagen, Sie sind Special Agent Paige, FBI...»

«Hier ist mein Ausweis.»

«Und hier ist meine Mitgliedskarte der Gerechtigkeitsliga, aber das besagt nicht, dass ich Batman kenne.»

«Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, über Howard Wolowitz.»

«Oh, na schön. Niemand würde die Strafe riskieren, die droht, wenn man sich als Bundesbeamter ausgibt, nur um Fragen zu stellen zu einem Ingenieur der unteren Liga mit einem ungelösten ödipalen Komplex.»

 

Ich lauschte nur halbherzig dem Gespräch des paranoiden Sheldon Coopers, während mein rechter Arm kraftlos von der Couch hing und ich den Fernseher anstarrte, ohne mir die flimmernden Bilder wirklich einzuprägen. Ich fühlte mich auf eine seltsame Art und Weise entspannt, vollkommen leer und sorglos, obwohl es gerade mal erst drei Tage her war, seit Julia die Bombe zum Platzen gebracht und meine ungute Vorahnung in jener Nacht bestätigt hatte. Sie war aus ihrem Tarnvorhang hervorkrochen, die gelben Augen triefend vor Spott.

Eine Bombe, die ich versucht hatte von ihr fernzuhalten und die ganzen letzten Monate in der hintersten und dunkelsten Ecke meiner Seele verschanzt hatte, ohne es wirklich gewollt zu haben, doch gewissermaßen hatte ich mich dazu verpflichtet gefühlt sie davor zu schützen. Jedoch hatte ich es zu meinem und ihrem Leidwesen nicht geschafft. Die Schuldgefühle waren unerträglich, das eisige Schweigen der letzten Monate unverzeihlich, aber mein Verstand hatte die schlaflosen Nächte dazu genutzt, um eine imaginäre Mauer zwischen Missy und mir zu errichten, bevor mich ihre Worte in den Wahnsinn treiben konnten.

 

«Woran denkst du?»

Ich löste meinen Blick von dem Fernseher und blickte relativ überrascht in Blakes Gesicht, der sich hinter die Einzelcouch rechts von mir gelehnt hatte und mich interessiert musterte.

Er hatte eine Dose Coke in der rechten Hand und mit der linken hatte er seinen Kopfhörer aus dem Ohr gestöpselt.

«Nicht an dich», murmelte ich leise. Seit wann war der Idiot eigentlich wieder zu Hause?

Leise lachte er, hinreißend und ich schauderte einen kurzen Moment.

«Glaub mir, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du nur noch an mich denken.»

Die Zweideutigkeit seiner Worte ließ meine Wangen glühen und ein angenehmes Ziehen breitete sich in meinem Unterleib aus.

«Natürlich», sagte ich schnell und hob bedeutungsvoll eine Braue hoch. «Dasselbe gilt auch für dich. Du wirst von mir träumen, Lestat.»

«Lestat?», fragte er amüsiert und wiederholte die Geste mit meiner Braue, nippte bedächtig langsam an seinem Coke und leckte sich anschließend über die Lippe. «Bin ich das für dich, ein Vampir?»

Ich schluckte und versuchte mich auf sein Gesicht zu konzentrieren. «Ein Dämon, dessen Seele bis in die Unendlichkeit verdammt ist. Ja, das bist du für mich», erklärte ich ihm schroff und löste mein Blick von seinen Augen, weil es mich irgendwie aus dem Konzept brachte. Sein Lachen, dieses besondere Lachen, oder der Blick, mit dem er mich manchmal taxierte, war purer Sex und ich wusste, dass er es mit Absicht tat. Er wollte mich durcheinander bringen und sich für die Partie im Klassenzimmer revanchieren. Doch ehrlich gesagt verspürte ich im Moment keinerlei Lust, mich mit ihm auseinanderzusetzen und zu duellieren. Dafür war ich einfach zu müde.

 

Er setzte zum Sprechen an, doch ich schnaubte, unterbrach ihn. «Lass mich in Ruhe, Blake, ich bin müde. Hast du nichts zu tun? Verkrieche dich zurück in deinen Sarg»

«Lana...», sagte er, ein bedrohlicher Unterton schwang mit darin.

Ich schloss die Augen, kniff mir in die Nasenflügel und setzte mich schließlich auf. «Ja, ich weiß. Du wirst mich für die Nummer von vorhin noch bluten lassen.»

«Nicht nur das...»

Ich hob eine Braue hoch. «Du sollst einkaufen gehen», lenkte ich schnell ein, weil ich keine Lust hatte mit ihm zu diskutieren.

Und es klappte. «Was?», fragte er mich irritiert.

«Mum hat einen Zettel dagelassen, du sollst einkaufen gehen.» Ich hielt den zerknüllten Zettel hoch, damit er es sehen konnte.

«Ich soll einkaufen gehen?», wiederholte er misstrauisch und kam auf mich zu, schnappte sich das kleine Stück Papier und las sich den kurzen Satz durch. Untendrunter stand die Liste mit den Besorgungen und das Geld auf dem Tisch. «Da steht, dass wir einkaufen gehen sollen.»

Ich seufzte erneuert, massierte mir die Schläfen. «Willst du das wirklich? Du weißt, was das letzte Mal passiert ist...»

Ein teuflisches Grinsen schlich sich auf seine Züge. «Sehr gut sogar. Na los, steht auf und lass uns einkaufen gehen.»

 

Ich wollte protestieren, aber er gab mir keine Gelegenheit dazu. Etwas unsanft – wie ich es bereits von ihm gewohnt war – packte er mich am Oberarm und zerrte mich aus dem Haus. Unbeholfen stolperte ich ihm hinterher und lies es einfach geschehenen, weil ich nicht wirklich die Kraft dazu hatte, mich nun mit ihm zu streiten. Ich wusste, wieso er die Besorgungen für meine Mutter ohne Einwände erledigen wollte und mich sogar mitnahm. Der Grund dafür war die Zwillingsschwester von Megan Fox. Ja, die Kassiererin im Supermarkt war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten – sie war wirklich sehr hübsch. Doch sie hatte nicht wirklich Interesse an Blake, weil sie ein paar Jährchen älter war als er und scheinbar nicht wirklich auf jüngere Kerle stand. Das letzte Mal ging seine Anmache sogar soweit, dass sie uns beide hatte rausschmeißen lassen. Zwar konnte ich recht wenig dafür, aber wie sagte man so schön? Mitgehangen, mitgefangen.

 

«Du wirst die Finger von Megan lassen...», ermahnte ich ihn, während ich zu ihm in sein Auto stieg.

Sein verdammtes Mercedes S 65 AMG. In 4,4 Sekunden spurtete das Ding von 0 auf 100 km/h und unter der Haube versteckten sich 630Ps, was für genug Nervenkitzel sorgte. Blake war ein verdammter Raser...und ich liebte es. Der Lederbezug unter meinen Fingern, der Duft eines Neuwagens und das unglaubliche Gefühl von Angst, das einen kurzen Moment später vom Adrenalin gedeckt wurde. Wenn er raste, wurde ich feucht. Es war verrückt, die Tatsache war wirklich nicht normal, aber es erregte mich äußerst, wenn er so unglaublich schnell die Straßen runter bretterte.

Schließlich schob ich diese ungewöhnliche Reaktion meines Körpers auf den Adrenalin-Kick und die Aufregung. Was anderes fiel mir darauf nicht ein.

«Schnall dich an», sagte er beiläufig und ignorierte meine Mahnung geflissentlich. Ich hob eine Braue, sah ihn von der Seite unbeeindruckt an, ohne mich zu rühren.

 

«Hast du gehört?» Ich war mir nicht sicher, ob Megan heute überhaupt dort arbeitete. Schließlich kannten wir ihren Arbeitsplan nicht auswendig, aber Vorsicht war bekanntlich besser als Nachsicht. Arschloch musste die Flossen von ihr lassen. Ein weiterer Rauswurf wäre unweigerlich mit einem Hausverbot verknüpft und darauf hatte ich nicht wirklich Lust.

«Schnall dich an, habe ich gesagt.» Er klang leicht genervt und streckte seinen rechten Arm aus, um seine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach zu fischen, was mich unweigerlich dazu veranlasste, ein wenig zur Seite zu rutschten, damit er mich mit seinen Flossen nicht berührte.

Er hatte überall so eine herumliegen. In seinem Zimmer, zwei im Wohnzimmer und die andere eben hier. Natürlich nur teure Markensonnenbrillen. Arschloch war scheinbar auf billige Sache allergisch.

 

Als ich mich immer noch nicht rührte, um den Sicherheitsgurt umzulegen, wandte er den Kopf zur Seite und starrte mich an. Ich konnte seinen Blick nicht deuten, da die dunklen Gläser der Sonnenbrille mir jegliche Sicht auf seine schönen Augen versperrten.

Blake war ein ungeheurer attraktiver junger Mann. Ich konnte es nicht oft genug denken. Er war gut gebaut, hatte diese unglaublich sexy verwuschelten dunklen Haare, durch die jede Frau mal mit den Fingern fahren wollte, um sich zu vergewissern, ob sie wirklich so seidig waren, wie sie auch glänzten. Er war groß, hatte breite Schultern und seine Bauchmuskeln zeichnete sich immer leicht ab, wenn er wie heute solche engen schwarzen Shirts trug. Es war nicht zu viel, er sah nicht aus wie diese Protze, die mehr Zeit im Fitnessstudio verbrachten als zu Haus. Bei ihm war es perfekt...

 

Ich seufzte geschlagen und schnallte mich schließlich an. Er würde nicht nachgeben, das war mir klar und ich hatte auch nicht wirklich Lust um mit ihm zu diskutieren.

«Brav», hörte ich ihn murmeln, bevor er endlich den Motor startete und losfuhr.

Mit einem Knopfdruck machte ich das Radio an und ich rutschte tiefer in den Sitz, dachte an den seltsamen Vorfall mit Adrian und Patrick nach.

 

 

«Sag mal Blake...» Ich starrte aus dem Fenster, lauschte nur halbherzig der Musik. «Was schulden dir die beiden?»

Er wandte seinen Blick kurz zur Seite, ich konnte es aus dem Augenwinkel heraus erkennen. «Was?»

«Ich meine Adrian und Patrick.» Er sagte nichts, ich wandte meinen Kopf zur Zeit, sah ihn nachdenklich an. «Du meintest, dass ich dir jetzt etwas schulde... Das haben sie anscheinend auch, sonst hätten sie diesen Kinderscheiß nicht mitgemacht. Oder?»

Er lachte, zuckte unschuldig die Schultern. «Ich habe ihnen vorher ein Angebot gemacht, das sie nicht ablehnen konnten.»

«Witzig», zischte ich. «Sag schon... Und was meinst du mit vorher? Hattest du also schon geplant mir zu helfen, damit ich in deiner Schuld stehe?» Ich starrte ihn ungläubig an.

 

Das war sogar für seine Verhältnisse ziemlich...krank. Und woher hätte er eigentlich wissen können, dass ich den Test verhauen würde? Wobei, Mathe...

 

«Natürlich hatte ich es geplant. Und du stehst in meiner Schuld, vergiss das nicht.» Es war wirklich bemerkenswert, dass er die deutsche Sprache nahezu perfekt beherrschte. Manchmal, in ganz seltenen Momenten ging sein Akzent mit ihm durch, aber das geschah allerdings nur dann, wenn er kurz davor war auszuflippen und unbewusst wieder in seine Muttersprache wechselte.

«Weißt du, dass du gestört bist?»

«Weißt du, dass du unerträglich bist?» Er seufzte genervt, kniff sich in den Nasenrücken und drehte die Musik ein wenig lauter. Aber ich wollte Antworten.

Ich nickte, spielte an dem Lautstärkeregler, drehte ihn wieder leiser «Ja, gelegentlich bin ich das. Erzählst du mir jetzt, wieso sie in deiner Schuld standen?»

«Stehen», korrigierte er mich, «und nein.»

«Wieso?»

«Weil es dich nichts angeht, Lana.» Er sah mich an, sein Blick hängte einen Moment länger als nötig an meinen Lippen, was mich hart schlucken und eben auf diese Lippe beißen ließ. Ich mochte es, wie er meinen Namen aussprach. Er hatte eine tiefe, männliche Stimme und doch passte es zu seinem jugendlichen Aussehen. Es war seltsam, vielleicht kam es nur mir so vor...

 

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

 

 

Im Supermarkt trennten sich unsere Wege. Ich trottete mit dem Einkaufswagen durch die Gänge, versuchte die Besorgungen auf der Liste zusammenzukriegen, während Blake das tat, was er am Besten konnte: Jagd auf potenzielle Bettgenossinnen. Und erneuert fragte ich mich, wie das Verhältnis wohl zu seiner Mutter gewesen war, als er noch bei ihr gewohnt hatte. Normal war das jedenfalls nicht.

 

Ich hielt bei den alkoholischen Getränken an. Zwei Weinflaschen standen auf der Liste und ich fragte mich, ob und wen meine Mutter wohl zum Essen einladen wollte. Sie hatte mir gegenüber jedenfalls kein Wörtchen darüber verloren.

«Lana?»

Ich zuckte kaum merklich zusammen, die Stimme kam mir äußerst bekannt vor. Verwirrt drehte ich mich um, die Weinflasche noch in der Hand.

«Chris.» Ich grinste. «Was machst du denn hier?» Er nahm mich in die Arme, gab mir einen Kuss auf den Schopf.

«Einkaufen, was sonst», zog er mich auf und wuschelte mir durch die Haare, wie bei einem kleinen Kind.

«Schon klar», ich schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen, lächelte. «Wie geht’s dir?»

Er krempelte die Ärmel seiner weißen Longsleeve hoch, lächelte. «Sehr gut, Kleines. Und dir? Wo treibst du dich rum?»

«Ganz ok. Wo treibst du dich eigentlich rum? Du hast dich nach der Hochzeit von meiner Mum gar nicht mehr gemeldet. Hast du etwas eine andere, du Schuft?» Ich legte die Weinflasche in den Einkaufswagen.

Er lachte herzhaft, seine dunkelblonden Haare waren zwar total unordentlich, aber dieser „gerade-aufgewacht-Look“ stand ihm äußerst gut.

«Du hast mich erwischt», er zuckte grinsend die Achseln und deutete dann auf den Einkaufswagen. «Bist du alleine hier?»

Kopfschüttelnd griff ich nach der zweiten Weinflasche. «Nein, bin mit Blake hier. Wie läuft es eigentlich mit Darian?»

Er hob eine Braue, immerhin wusste er, dass Blake und ich uns so gar nicht verstanden, geschweige denn gemeinsam Einkaufen gehen würden.

«Sehr gut», räusperte er sich, «und wie läuft es mit Blake?»

Mir wäre beinahe die Flasche aus der Hand gefallen. Ungläubig starrte ich ihn an. «Was?»

Chris lachte leise, legte den Kopf anschließend schief und sah mir unverwandt in die Augen. «Ich wollte wissen, ob ihr mittlerweile besser miteinander auskommt, jedoch mache ich mir nun doch etwas Sorgen, da du bloß bei der Erwähnung seines namens beinahe die Flasche fallengelassen hättest, als hätte man dich bei irgendetwas ertappt.» Er sah mich abwartend an.

 

Genervt legte ich die zweite Flasche in den Wagen, schürzte die Lippen und hob eine Braue in die Höhe. «Da läuft nichts», ließ ich ihn wissen, «immer, wenn jemand seinen Namen ausspricht, empfinde ich das als Provokation. Deshalb reagiert mein Körper so heftig darauf.» Mein linkes Auge zuckte, doch ich tat es mit Absicht. Das begriff auch Chris, weshalb er sich in die Hände klatschte und lachend den Kopf in den Nacken warf.

 

Zwischen mir und Blake lief selbstverständlich nichts. Doch ich erzählte ihm natürlich nicht, dass er mir gegenüber – sehr oft sogar – äußerst perverse Andeutungen machte. Jedoch wussten wir beide, dass dies eben nur als Provokation diente, nur könnten das Außenstehende wirklich falsch auffassen und deuten.

 

«Verstehe», grinste er und ich beäugte die ganzen alkoholischen Getränke, dazu geneigt auch für mich etwas zu holen, falls Julia bei mir aufkreuzen sollte. Sie würde sicherlich die nächsten Tage sehr oft vorbeikommen, da sich die Lage daheim nicht beruhigt hatte. Und wenn sie trank, dann lieber bei mir, als sich irgendwo die Kante zu geben und danach sturzbetrunken durch die Straßen zu schlurfen und ihren Rausch anschließend bei mir auszuschlafen.

«Mhmh», machte ich und griff nach einer Flasche Wodka; von den billigen. «Der Wein ist vermutlich für deine Mutter», er deutete auf den Einkaufwagen, «für wen ist der?»

Ich grinste verschwörerisch. «Dreimal darfst du raten, Sherlock.»

«Du trinkst?»

«Nein», ich seufzte, «zumindest sehr selten», korrigierte ich mich. «Aber den Painkiller sollte ich im Haus haben, für alle Fälle.»

Nathaniels Whisky fasste ich niemals an – im Gegensatz zu Blake. «Aha», sagte er, folgte mir gleich darauf mit seinem Wagen, als ich mich auf den Weg zu den normalen Getränken machte. «Und, wieso?»

 

Einen Moment lang haderte ich mit mir, ob ich ihm vielleicht die Sache mit Julia erzählen sollte. Chris und Julia hatten sich auf Anhieb sehr gut verstanden, als ich sie miteinander bekannt gemacht hatte. Also war es nur eine Frage der Zeit – Julia würde ihm gewiss alles erzählen. Wobei...ich wusste noch nicht einmal, ob Chris und Julia überhaupt noch Kontakt hatten. Immerhin hatte ich selbst kaum etwas von ihm gehört die letzten Wochen...

 

Ich blickte ihn über die Schulter an. «Wegen Blake», log ich schließlich. Es war Julias Entscheidung, ob und vor allem wem sie von der Sache erzählen würde.

«Das ist doch bescheuert.» Er runzelte die Stirn und blieb neben mir stehen, beäugte mich misstrauisch.

Seufzend packte ich ein paar Energy Drinks in den Wagen und fuhr mir durch die langen Haare. Irgendwie stand ich auf den Billigkram; entweder bildete ich es mir nur ein oder aber die No-Name-Produkte schmeckten tatsächlich viel besser, als der ganze andere Mist.

Ich öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, doch als mein Blick an Chris' Einkaufswagen hängen blieb, legte ich die Stirn in Falten, sah ihn ungläubig an. «Tampons?», fragte ich verwirrt, «bekommt Darian neuerdings seine Tage?»

Einen kurzen Moment schien er über diesen Wechsel verwirrt zu sein, jedoch lächelte er im nächsten Moment. «Manchmal habe ich tatsächlich das Gefühl, dass er ab und an seine Tage bekommt. So wie er wegen Kleinigkeiten ausflippt....» Ich grinste. «Aber nein, die sind für meine Schwester. Sie wohnt für einige Zeit bei mir, bis sie etwas findet.»

«Maria?», fragte ich überrascht und sah ihn mit großen Augen an. Er nickte seufzend.

Das quirlige Biest war vor acht Monaten mit einem Rocker durchgebrannt, der mit seiner Band quer durch ganz Deutschland tourte, umso mehr überraschte es mich, dass sie plötzlich wieder da war. Immerhin hatte sie alles gegeben, um jeden mit ihrer dramatischen Rede zu überzeugen, dass Billy – oder Johnny, vielleicht auch Bobby, was auch immer – der Mann für sie war. Ihr strahlender Held in glänzender Rüstung.

 

Doch bei dem komischen Kauz hatten nur die fettigen Haare geglänzt, sonst nichts.

 

«Und was ist mit dem Rockerboy?», fragte ich interessiert und packte noch einen Karton O-Saft in den Wagen.

Er kniff sich in den Nasenrücken, erinnerte mich mit dieser Geste unwillkürlich an Blake. Und irgendwie an mich. «Dieser Wichser hat sie scheinbar die ganze Zeit über mit irgendwelchen Groupies betrogen.»

Überrascht sah ich ihn an. «Wie das?» Um es kurz zu sagen: Maria war eine Klette; sie war sicherlich bei jedem seiner Gigs dabei, also wie um Himmels Willen hätte er einfach willkürlich Mädels abschleppen können, ohne dass sie Wind davon bekommen hatte? Irgendetwas stimmte da nicht.

Ein belustigter Ausdruck trat in Chris Züge, er legte mir eine Hand auf die Schulter und sah mich an, sichtlich darum bemüht nicht zu grinsen. «Ich weiß, dass du noch sehr unerfahren bist, Prinzessin. Aber ich glaube du hast in der Schule aufgepasst und weißt, wie das zwischen einem Mann und einer Frau funktioniert, oder?» Sein rechter Mundwinkel zuckte verdächtig, scheinbar wollte er es unbedingt verhindern zu grinsen.

 

Ich sah ihm empört an. «Arsch», murmelte ich und tippte mit meinem Zeigefinger an seine Brust. «Mal davon abgesehen, dass ich dir das im Vertrauen erzählt habe, meinte ich damit etwas völlig anderes.» Ich hatte bisher mit keinem Kerl über solche privaten Angelegenheiten gesprochen, aber nach allem, was mir Chris über sein Leben erzählt und anvertraut hatte, war ich schier begeistert von seiner Offenheit gewesen, immerhin machte man sich auch gegenüber jener Person verletzlich, legte die Kugelsichere Weste ab.

 

Er sah mich entschuldigend an, umfasste mein Zeigefinger und führte sie an seine Lippen, küsste die Fingerkuppe. «Tut mir leid», er lächelte, «und wir sind hier doch alleine. Also habe ich keinen Vertrauensbruch begangen.»

«Mhmh», machte ich und zuckte die Schultern. «Also, wie konnte der Wichser Maria einfach so betrügen, ohne dass sie Wind davon bekommen hat...oder hm, erst so spät? Denn Maria ist – verstehe mich nicht falsch – eine verdammte Klette.» Er sah mich grinsend an – wahrscheinlich weil ich den Kerl nun auch Wichser nannte.

«Ehrlich gesagt, weiß ich das auch nicht.» Er sah mich nachdenklich an. «Hey, hast du die Woche mal nachmittags Zeit? Wir könnten Eis essen, oder einen Cocktail trinken. Ich nehme Maria auch mit, sie würde sich freuen, dich zu sehen.»

Ich hob belustigt eine Braue in die Höhe, klemmte mir eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. «Wollen Sie eine minderjährige zu Alkohol verführen, Mister?»

Er lachte leise, zwinkerte mir zu. «Nichts, was du auch nicht ohne mich machen würdest.»

«Ok», nickte ich einverstanden. «Ich melde mich dann. Grüße Maria und Darian von mir, ja?»

«Mach ich. Und lass du dich nicht von Blake ärgern, er ist doch nur so gemein zu dir, weil er dich nicht haben kann.» Der sarkastische Untertun entging mir selbstverständlich nicht.

Ich verdrehte die Augen. «Ist klar.»

 

 

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

 

 

«Ich liebe diesen Song!», rief ich als Green Days Boulevard of broken dreams aus der Anlage dröhnte. Mit einem gezielten Knopfdruck öffnete ich das Fenster auf meiner Seite, lehnte mich genüsslich zurück in den Sitz und krallte mir die sündhaft teure Sonnenbrille, ehe Blake sie sich auf die Nase setzten konnte. Oh, verdammt ja. So machte eine Autofahrt Spaß. Ich genoss den frischen Wind, der meine Mähne durcheinander brachte und die warmen Sonnenstrahlen, die auf meiner Haut kitzelten. Wir hatten mittlerweile Mai und es war für diesen Monat wirklich sehr angenehm warm.

«Wer war der Kerl mit dem du vorhin gesprochen hast?», unterbrach mich Blake in meinem leisen Geträller. Ich blickte ihn äußerst überrascht ihn, da ich absolut keine Ahnung hatte wovon er sprach, bevor es mir allmählich dämmerte. «Chris.»

Er zuckte gelangweilt die Schultern, trat auf das Pedal und beschleunigte..

«Wollte ich wissen wie er heißt?»

Genervt verdrehte ich die Augen, konnte über soviel Egozentrik letztlich nur den Kopf schütteln.

«Er ist ein guter Freund und war sogar auf der Hochzeit unserer Eltern. Chris war doch ständig in meiner Nähe.»

«Meinst du ich habe an dem Tag auf dich geachtet und wer um dich herumschwirrt ist?»

Seine Sticheleien nervten mich allmählich, die Arroganz war fast schon unerträglich. «Natürlich nicht. Mister Universe hat nach potenziellen Sommerlöchern Ausschau gehalten, die er vielleicht stopfen könnte.»

Es war einer dieser grotesken Momente, in denen man aus lauter Entnerven völlig unüberlegt den Mund aufmachte und urplötzlich etwas herausplumpste, womit weder der Gegenüber noch man selbst gerechnet hätte. Blake sah mich überaus erstaunt an und zeitgleich erfasste ein kleines Kribbeln meinen Körper, wohl wissend, dass er etwas grausames darauf erwidern würde.

Entgegen aller Erwartungen brach er in schallendem Gelächter aus und ich musste ernsthaft überlegen, ob er meinem geschmacklosen Spruch tatsächlich witzig fand.

«Ist er nur ein guter Freund oder läuft da was zwischen euch?», fragte Blake letztlich irgendwann, nachdem er sich eingekriegt hatte. Ich konnte keineswegs Spott oder derartiges in seiner Stimme ausmachen, sondern ehrliches Interesse, weshalb ich beschloss ihm eine richtige Antwort zu geben, anstatt ihn noch etwas auf die Schippe zu nehmen.

«Nur ein guter Freund. Für Letzteres bin ich wohl das falsche Geschlecht.»

Er grinste und sah umwerfend aus dabei. Tatsächlich gehörte er zu diesen wenigen Menschen, die allein mit einem normalen Lächeln auf das Cover irgendeiner Zeitschrift gedruckt werden konnten, während die Normalen – wie ich – 200 Selfies von sich schossen, angefangen von der Unschuldsmiene, bis hin zum Duckface, ehe mir schließlich ein einziges mehr oder weniger zusagte.

«Lädt deine Mum irgendjemanden zum Essen ein oder wofür das ganze auf der Liste?»

Ich zuckte die Schultern. «Das weiß ich auch nicht, sie hat mir jedenfalls nichts gesagt.»

«Vielleicht Julias Mutter?»

Hätte ich gerade irgendwas getrunken, hätte ich mich sicherlich daran verschluckt.

Natürlich! Wieso war ich die ganze Zeit über nicht darauf gekommen? Am Wochenende hatte ich meiner Mutter schließlich erzählt, was vorgefallen war. Sicherlich wollte sie nun Sandra zum Essen einladen, ein wenig mit ihr reden. Deshalb auch der Wein. Aber Moment mal...

«Wieso gerade sie, Sandra?», fragte ich misstrauisch und wandte mich zu ihm. Er lehnte lässig in seinem Sitz, die rechte Hand dabei höher auf dem Lenkrad als die andere und blickte etwas gelangweilt auf die Straße. Mir kam die Wunde an seiner Hand in den Sinn, wurde jedoch prompt von anderen Gedanken verdrängt.

«Weil ihr Mann doch scheinbar die ganze Zeit über eine andere flachgelegt hat. Tu nicht so scheinheilig.»

Ich schnappte überrascht nach Luft, einen Moment lang äußerst perplex wie ich das nun interpretieren sollte. Wusste er das von seinem Dad...oder....

«Hat dir Nate davon erzählt?» Ich rutschte ein wenig nervös auf dem Sitz hin und her, wusste nicht so recht wohin mit meinen Händen.

Als er nickte, atmete ich erleichtert aus. Jedoch hatte ich keinen blassen Schlimmer von welchem dreckigen Geheimnis er vorhin im Klassenzimmer gesprochen hatte und welchen Zweck diese ganze Adrian und Patrick Aktion hatte. Er war so ein verschrobener und äußerst scheinheiliger Kerl, dass ich tatsächlich niemals hundert prozentig sicher sein konnte, wann er mich auf den Arm nahm und wann er irgendetwas verdammt ernst meinte.

«Hast du dir deshalb am Wochenende die Seele aus dem Leib gekotzt?»

Es war das erste Mal seither, dass er mich darauf ansprach. «Nein...», erwiderte ich etwas unsicher, da ich überhaupt keine Ahnung hatte, ob und wie viel er von dem Ganzen wusste.

«Natürlich», meint er ironisch und schaltete den Blinker ein, bog in unsere Straße.

 

Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass sehr bald noch eine Bombe explodieren würde. Und den Zünder dafür, hatte kein geringerer Mensch als Blake fucking Collister in der Hand. Er würde mein Untergang werden....

 

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

 

 

Während ich meinen Laptop hochfuhr um mir ein paar neue Lieder auf mein Ipod zu ziehen, hatte ich stets das dumpfe Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben – nur wollte es mir auch nach schier gefühlten Minuten des Grübeln nicht einfallen.

Ich seufzte frustriert und schloss den Adapter an meinen Laptop, wühlte durch die hunderten Lieder und erstellte mir eine neue Playlist.

Es war kurz vor 18 Uhr und ich fragte mich, wann meine Mum Feierabend machen und nach Hause kommen würde, schließlich musste noch das Essen vorbereitet werden. Nur wieso hatte sie mir gegenüber kein Wörtchen diesbezüglich verloren? Vielleicht wollte sie Sandra gar nicht zum Essen einladen? Jedoch war das sicher kein Familienessen, denn während der Woche kamen wir fast nie zusammen; Nathaniel und meine Mutter aßen während ihrer Mittagspause draußen und Blake und ich kümmerten uns selbst um unser Essen; mal bestellten wir eine Pizza oder ich beglückte uns mit meinen weniger guten Kochkünsten – na ja, wobei wir dann meistens doch auf irgendwelche Fertiggerichte zurückgreifen mussten.

 

Das Vibrieren meines Handy in meiner Hosentasche ließ mich zwangsläufig in meinen Gedanken innehalten und ich fischte es mit zwei Finger raus – eine Whatsapp Nachricht; Chris.

Lass dir den Wodka schmecken, Prinzessin. ;)

Einen Moment starrte ich irritiert auf mein Display, runzelte anschließend ungläubig die Stirn. Verdammt! Jetzt fiel es mir wieder ein. Unverzüglich robbte ich mich aus dem Bett, flitzte sofort in unsere Küche und wühlte durch die Einkaufstüten, doch nichts. Dieser...

Er hatte doch tatsächlich den Alkohol aus meinem Wagen stibitzt. Jetzt wusste ich selbstverständlich auch, weshalb ich seither das Gefühl gehabt hatte, irgendetwas vergessen zu haben. Auch als ich die Einkäufe auf das Band gelegt hatte.

Flinke Finger hast du da, das muss ich zugeben. >:(

Ich schickte die Nachricht ab und verstaute die Einkäufe, torkelte zurück in mein Zimmer. Für diese Nummer würde mir Chris mindestens drei Cocktails spendieren müssen, schließlich kam ich nicht ohne weiteres an Alkohol ran. Vorhin war Blake bei mir gewesen und da er bereits 19 war, konnte er auch legal hochprozentigen Alkohol kaufen.

Ja, das höre ich öfter :P

Ich verzog einen Moment lang das Gesicht, brach anschließend in schallendem Gelächter aus, als ich die Nachricht von Chris erblickte.

Darian scheint ja ein richtiger Glückspilz zu sein

 

Grinsend zog ich den Adapter raus, fuhr meinen Laptop runter und torkelte ins Wohnzimmer, wo ich Blake auf der Couch erblickte. Er sah kurz auf, richtete seine Aufmerksamkeit jedoch genauso schnell wieder auf den flimmernden Fernseher. Seufzend ließ ich mich neben ihm auf die Couch plumpsen. Ich hatte so viele Fragen an ihn, die mit penetranter Hartnäckigkeit ausgesprochen werden wollten, doch ich wusste sehr wohl, dass er mindestens die Hälfte davon einfach ignorieren und die andere Hälfte mit einem blöden Spruch beantworten würde. War ich masochistisch genug, um diese Tortur über mich ergehen zu lassen, wohl wissend dass nichts dabei herauskommen würde?

«Was starrst du mich so dämlich an?» Ich war durchaus überrascht, denn tatsächlich hatte ich nicht bemerkt, dass ich ihn derweil angestarrt hatte.

Ich wandte meinen Blick unverzüglich von ihm ab und starrte wieder auf den Fernseher, ohne irgendetwas darauf zu erwidern.

«Willst du vielleicht das beenden, was du vorhin im Klassensaal begonnen hast?», fügte er plötzlich hinzu und ich schluckte einen Moment lang schwer, weil das Spiel wieder begonnen hatte. Unser Spiel.

«Es ist beendet, Blake», sagte ich gelangweilt. «Der Punkt ging ja wohl an mich.»

Grinsend legte er mir seinen rechten Arm um die Schulter und zog mich mit einem Ruck zu sich; mein Kopf landete auf seiner Brust. Lediglich aus einem Impuls heraus legte ich meine Hand auf seinen Bauch, denn er hatte mich mit dieser Geste durchaus überrumpelt.

Seine Hand huschte von meiner Schulter hinab zu meiner Wirbelsäule, strich sie beiläufig immer mal rauf und hinab, was unweigerlich eine Gänsehaut bei mir auslöste.

Ich sog einen Moment lang ganz unauffällig seinen wunderbaren Duft tief in mich ein, speicherte ihn mehrmals in meinem Gedächtnis ab – zur Hölle, ich erstellte ein paar Sicherheitsdateien damit auch ja nichts verloren ging.

Ehrlich gesagt sehnte ich mich an manchen Tagen nach seiner Nähe, was meistens nicht körperlicher Natur war, denn ich war Blake derweil noch nie so Nahe gekommen, wie in den vergangenen Tage. Er war viel eher ein menschlicher Ventil, an dem ich gelegentlich meine ganze Frustration, die Wut und den Stress herausließ. Blake war der einzige Mensch auf der Welt, der die Gabe hatte, mit einem Wort, einer Geste, manchmal sogar mit einem einziges Blick meine hässlichsten Charakterzüge zum Vorschein zu bringen, den Hulk unweigerlich aus seinem Versteck zu locken, der in blinder Wut nichts als Chaos hinterließ, gleichermaßen auch ein Schutzschild darstellte, damit mich seine Worte nicht in voller Härte treffen konnten.

Jedoch konnte ich es mir wahrlich nicht erklären, wie er es gleichzeitig schaffte, auch das komplette Gegenteil zu bewirken. Mir eine innere Ruhe zu verschaffen und sogar Missy zum Schweigen zu bringen. Allein in dieser einen Nacht, in der ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, war er mit seiner bloßen Anwesenheit und der unsagbar wundervollen Stille, die uns beide umgeben hatte, ein Trost, eine Stütze gewesen und gerade das konnte ich mir nicht erklären.

«Bist du betrunken?», fragte ich, meine Stimme klang ein wenig heißer. Ich hob ein wenig den Kopf, meine Nasenspitze berührte seinen Kinn und ich konnte deutlich erkennen, wie sich ein kleines, dreckiges Blake-Lächeln auf sein Gesicht stahl.

Der perfekte Augenblick um das zu beenden, was du vorhin im Klassenzimmer begonnen hat.

Apropos Missy! Die Schlange meldetet sich wieder zu Wort und ich kam nicht umhin als hart zu schlucken. Im Klassenzimmer hatte ich keineswegs die Absicht gepflegt ihm einen richtigen Kuss auf die Lippen zu pflanzen. Sein Mundwinkel war das Ziel gewesen und diente lediglich als Provokation und zugleich Verwirrung. Ich hatte nichts zu beenden!

«Nein», sagte er. «Was wäre angemessen, um deine Schuld bei mir zu begleichen, Lana?»

Tatsächlich mochte ich es wie er meinen Namen aussprach, er hatte eine unverhohlene Verderbtheit in seiner Aussprache, die mich abermals Schaudern und Schlucken ließ.

«Ich...», erwiderte ich verdutzt, versuchte mich im nächsten Moment ärgerlich vom ihm zu stoßen, doch meine Versuche scheiterten abermals, er ließ einfach nicht locker. «Ich schulde dir nichts, du Spinner.»

«You know, Cherry...I can't keep any secrets...»

Argh, verdammt. Ich hätte viel früher versuchen müssen, mich aus seinem Griff zu befreien. Darauf hatte er aus also abgesehen gehabt. Ich war ihm so völlig ausgeliefert und konnte ihn noch nicht einmal wütend anfunkeln!

«Was für ein Geheimnis, Blake? Wovon sprichst du?» Meine Wut und die Neugier siegten letztlich über die Angst, die ich vorhin noch im Klassenzimmer gegenüber jenen Worten verspürt hatte. Es konnte niemals sein, dass er darüber Bescheid wusste. Weshalb hätte er mich dann am Wochenende noch auf seine verschrobene Art trösten sollen, wenn er sowieso vorgehabt hatte, die Wahrheit als Druckmittel gegen mich einzusetzen und mich damit zu erpressen? Wieso hätte er überhaupt diese Adrian-Patrick Aktion geplant, wenn er doch sowieso etwas gegen mich in der Hand hatte?

Das passte vorne und hinten nicht, alles war so verworren und nervtötend, was mich unweigerlich binnen kürzester Zeit beinahe zum Ausflippen brachte.

«Ich denke, das weißt du genau.» Mit einem Ruck stieß er mich von sich, ich landete rücklings auf der Couch, keuchte überrascht auf und ehe ich überhaupt die Gelegenheit dazu hatte, irgendwie zu reagieren, spürte ich seinen Körper auf meinen. Er vergrub mich regelrecht unter sich, stützte seine Hände jeweils links und rechts neben meinem Kopf ab – der Schalk glänzte in seinen Augen, jedoch machte mir sein ernster Gesichtsausdruck Angst, nahm mir kurzweilig den Wind aus den Segeln.

Ihn noch einmal so zu spüren, auf mir...war noch mal etwas ganz anderes.

 

Ein Schauer nach dem anderen jagte über meinen Rücken und würde ich nicht gerade liegen, hätte man vermutlich das unkontrollierte Zittern meines Körpers durchaus bemerkt. Die Hitze schoss mir in die Wangen und ich öffnete leicht den Mund, war jedoch nicht wirklich imstande irgendetwas sinnvolles zu erwidern. Wie konnte er nur... Wie konnte er mich in der einen Minute so wütend machen, dass ich am liebsten die Wände hochgehen würde, in der nächsten Minute jedoch völlig andere Gefühle in mir auslöste? Gefühle, die ich bis dato geflissentlich ignoriert hatte, das sie so unscheinbar und schmächtig waren, dass ich sie die meiste Zeit kaum wahrnahm.

«Blake...», sagte ich angestrengt ruhig, presste meine Hand auf seine Brust. Ich brauchte Abstand, sehr dringend sogar.

«Hm?», machte er amüsiert und beugte sich zu mir hinunter. Sein linker Mundwinkel dabei höher als der andere. Ich übte keinerlei Druck mit meiner Hand auf seine Brust aus, weshalb sie problemlos wieder runtergedrückt wurde.

«Du hättest dein kleines Spiel vorhin im Klassenzimmer richtig beenden sollen. Wenn du schon auf meine Tricks zurückgreifst, dann mach es verdammt noch einmal richtig, du kleines Biest.»

Mein Denken setzte vollkommen...denn das nächste, was ich spürte, waren seine warmen Lippen, die er hart auf meine presste...

Chapter 05 - Mandy, pinke Brause und das Verhängnis von Ikarus

Es heißt 'le problème' weil Probleme immer männlich sind

 

-anonym

 

 

 

 

«Wenn du schon auf meine Tricks zurückgreifst, dann mach es verdammt noch einmal richtig, du kleines Biest.» Seit einer gefühlten Ewigkeit hallten seine Worte in meinem Kopf wider, nervtötend laut und anhaltend wie eine Sirene. Seine Aktion schabte unfassbar an meinem Ego, nicht zuletzt, weil er damit all seine bisherigen Spielchen übertroffen hatte. Dennoch...es wäre eine Verleugnung zu behaupten, dass ich nicht lieber diejenige gewesen wäre, die das getan hätte; ihn damit komplett durcheinandergebracht und aus der Bahn geworfen hätte. So etwas hatte ich bisher niemals in Erwägung gezogen, aus Angst er würde den Spieß umdrehen und behaupten, ich hätte es auch anderen Gründen getan...aber bei ihm...

Ich schloss die Augen, führte meine zittrige Hand an meinen Mund, strich mit der Fingerkuppe über meine brennende Unterlippe. Eine Sekunde.. Nur eine einzige Sekunde hatte ich wahrscheinlich seinen Kuss zugelassen...nur so lange, bis ich sein Lächeln an meinem Mund gespürt hatte.

Danach hatte ich ihn gewaltsam zurückgedrängt; das dreckige triumphierende Lächeln in seinem Gesicht hatte mich beinahe in den Wahnsinn getrieben, jedoch hatte ich kein einziges Wörtchen herausgebracht. Stattdessen war ich wie von der Tarantel gestochen in mein Zimmer gestürmt, als er von mir gestiegen war.

Argh.

Verdammte Drecksscheiße. Dieses Arschloch nervte mich so sehr.

Das würde er doppelt, nein, dreifach zurückbekommen. Ich hasste ihn.


«Lana?!»

Ich fuhr zusammen und öffnete die Augen.

Seit nunmehr einer Stunde stand ich mit dem Rücken an meiner geschlossenen Tür, ließ das Geschehen immer und immer wieder Revue passieren.

Ein kleiner, winziger, kranker und unglaublich versiffter Teil in mir hatte es genossen. Eine Sekunde, nur eine kurze Sekunde...

«Ja?», rief ich zurück, versuchte mich zu sammeln. Scheinbar war meine Mutter bereits zu Hause.

«Kommst du bitte mal her.» Es war keine Frage.

«Ja...uhm, ich komme.» Ich schüttelte genervt den Kopf, als könnte ich dadurch die Bilder aus meinem Kopf vertreiben.

Seufzend öffnete ich die Tür und lief ins Wohnzimmer, erblickte meine Mutter hektisch und durchaus ungeschickt mit den Töpfen hantierend in unserer Küche. Ich fand diesen Teil unseres Hauses total unpraktisch und hässlich. Die Küche grenzte an das riesige Wohnzimmer, die Treppe aus Holz führte nach oben in den zweiten Stock, wo das Schlafzimmer von Nathaniel und meiner Mutter war; sie hatten auch ein eigenes Badezimmer was natürlich praktisch war – nur Blake und ich mussten uns ein gemeinsames Bad im ersten Stock teilen. Und es nervte. Er brauchte morgens teilweise viel länger als ich, was für einen Mann einfach unglaublich untypisch war.

Tja, nun. Blake eben.

«Hilfst du mir mal?» Sie deutete mit einem Kopfnicken auf das blubbernde Wasser auf dem Herd, daneben eine Packung Nudeln.

Es war sonderbar, denn ich sah meine Mutter äußerst selten kochen. Aus dem einfachen Grund: Sie konnte nicht wirklich kochen. Die einfachsten Gerichte konnte sie noch zubereiten, aber mhm, nein. Sie war wirklich keine gute Köchin und ich war der festen Meinung dass dies vererbbar war; nur wollte mir das seltsamerweise niemand glauben. Weder meine Oma hatte ein Talent für das Kochen gehabt, noch meine Mutter. Ich stand in der Kette der verfluchten ungeschickten Hausfrauen ganz unten, jedoch war ich ebenfalls davon betroffen.

Ich gab etwas Öl und Salz in das kochende Blubberwasser und gab schließlich die Nudeln dazu, während meine Mutter in einem kleinen Topf die Tomatensauce zubereitete.

«Ich hatte ja einen Moment lang gezweifelt, ob du und Blake wirklich den Einkauf für mich erledigen würdet.»

Ihre blauen Augen strahlten spottend, eine Strähne ihres blonden Haares hatte sich aus dem Kringeldutt gelöst.

Meine Mutter sah heute wirklich hübsch aus in ihrem lachsfarbenem Kostüm, wie mir ausfiel. Ihr Bleistiftrock ging ihr bis zu den Knien und die Knöpfe ihres Blazers strahlten in einem funkelnden Gold; geschminkt war sie – wie immer eigentlich – äußerst dezent. Rosafarbene Lippen, frischer pfirsichfarbener Teint, honigblondes Haar und ganz wenige helle Sommersprossen auf ihrer Stupsnase. Sie wirkte jugendlich...vielleicht sogar ein wenig unschuldig.

Sie war wirklich eine bildhübsche Frau und deshalb war es solch ein großes Jammer, dass ich ihr absolut nicht ähnlich sah. Im Gegensatz zu ihr hatte ich äußerst dunkle Haare und braungrüne Augen, auch vom Teint her war ich von Natur aus gebräunt, Solarium und so einen Kram brauchte ich deshalb nicht. Ich sah sehr wahrscheinlich meinem Vater ähnlich – von ihm hatte ich nur ein einziges altes vergilbtes Bild.

«Ja, was soll ich sagen.» Ich zuckte die Achseln. «Für Megan würde er bis an das Ende der Welt gehen.»

Meine Mutter hob den Blick und hörte einen Moment lang auf in der Soße zu rühren. «Megan? Hat er endlich eine feste Freundin?»

Etwas in mir zog sich zusammen und ich schluckte. «Eher wird die Hölle zufrieren.»
«Sag doch so etwas nicht», rief meine Mutter schockiert und ich lachte.

«Lädst du Sandra zum Essen ein?», lenkte ich schließlich ein und sie nickte.

Das Mysterium war gelöst – Blake, dieses schlaue Kerlchen. Er hatte zuerst auf sie getippt.

«Ich denke, es wird ihr guttun, wenn sie ein wenig darüber redet. Auch wenn es gerade erst passiert ist. Sie wird noch genug Zeit für sich alleine haben.»

«Mhm», machte ich abwesend, versuchte gar nicht erst auf die zeitgleich aufflackernden Bilder einzugehen. «Meinst du er bereut erst?»

Meine Mutter wirkte überrascht. «Meinst du Alexander?»

«Ja, meinst du es tut ihm wirklich leid? Ich meine, er liebt Julia. Und wie er sie liebt.»

Ihre Züge wurden um einiges weicher. «Ich denke nicht, dass dies irgendetwas mit Julia zu tun hatte, mein Schatz. Kein Vater würde doch sein Kind mit Absicht verletzten oder bloßstellen. Die Probleme liegen sehr wahrscheinlich zwischen ihm und seiner Frau, Sandra.»

«Aber die Tragweite seiner Entscheidung..», ich wusste nun wirklich nicht, wie ich seine Affäre nennen konnte, ohne dass es abartig in meinen Ohren klang, «muss ihm doch klar gewesen sein. Dass er nicht nur seine Frau, sondern auch Julia damit verdammt verletzten würde. Mal von der unendlichen Enttäuschung einer Tochter gegenüber ihrem Vater abgesehen und der Tatsache, dass er wirklich imstande gewesen war beide zu hintergehen: Julia ist auch eine Frau und keine vernünftige Frau würde jemals so etwas akzeptieren, dulden oder gar verzeihen. Deshalb kann sie sich wahrscheinlich auch sehr gut in ihre Mutter hineinversetzten und all das hat sie vermutlich doppelt so hart getroffen. Sie ist nicht nur die enttäuschte und verletzte Tochter, sondern auch eine furchtbar gekränkte und mitfühlende Frau, weil sie erlebt hat, wie das ihrer Mutter, einer anderen Frau widerfahren ist.»
Es würde Julia umbringen, wenn ihr Freund David so etwas tun würde.

Meine Mutter haftete ihren nachdenklichen Blick wieder auf die Soße, ein kleines Lächeln legte sich auf ihre Lippen. «Du wirst wirklich erwachsen, Lana.» Sie klang stolz und ich zuckte die Schultern.

Ob diese Einsicht etwas mit dem Erwachsenwerden zu tun hatte, wusste ich nicht.

Nur, dass niemand so etwas verdient hatte...

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

Ich ging Blake die komplette Woche aus dem Weg. Abermals hatte er mir mit einem dämlichen süffisanten Grinsen im Gesicht angeboten, mich mit in die Schule mitzunehmen, jedoch hatte ich mit zuckersüßer Stimme und mit ein paar saftigen Beleidigungen abgelehnt. Bevor ich mir nicht etwas richtig Gutes, verdammt Hulk-mäßig Gutes überlegt hatte, wie ich ihm diese Aktion heimzahlen konnte, würde ich kein Wörtchen mit ihm sprechen.

Das alles verfolgte mich sogar in meinen beschissenen Träumen, weshalb ich meistens mit klopfendem Herzen und zitterndem Körper mitten in der Nacht aufwachte. Affektiert versuchte ich die Bilder aus meinem Gedächtnis zu verbannen, schließlich träumte ich nicht, wie oder dass ich ihm das irgendwie heimzahlen musste, nein, natürlich nicht, sondern viel eher davon, wie er mich geküsst hatte.

Es war wirklich zum verrückt werden.

«Hi, Lana!» Eine weibliche Stimme unterbrach mich in meinen chaotischen Gedanken und ich hob den Blick.

Es war Jenna, sie ging in die 11. Klasse und war somit eine Stufe unter mir. Freundlich, überaus nett, aber doch recht verrückt.

«Hey», erwiderte ich lächelnd. «Alles klar?»

Sie nickte, ihre blonden Locken wippten hin und her und sie ließ sich neben mich auf die Couch plumpsen.

In der Mittagspause hielten wir uns meistens im Aufenthaltsraum auf, es gab genügend Sitzplätze, einen Billardtisch und sogar einen großen Tischkicker. Der Kiosk grenzte an diesen Raum, also zog ich es niemals in Erwägung nach Hause zu gehen und etwas zu essen. Schließlich müsste ich es mir dann selbst zubereiten und das würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen.

«Was machst du?», fragte sie neugierig und ich klappte das kleine Buch in meinem Händen mit dem Ledereinband sofort zu, zog den Kopfhörer meines IPods aus den Ohren; Papa Roach's 'No Matter What' wurde immer leiser und leiser, verstummte gänzlich mit dem Aus-Knöpf.

Ich zuckte die Achseln. «Nichts...» Das Buch verschwand in meiner Tasche. «Und du?»

Sie wickelte sich die Strähnen ihrer kurzen blonden Haare nachdenklich um ihren Finger, ließ abermals Kaugummiblasen platzen und zuckte anschließend ebenfalls die Achseln. «Ich langweile mich.»

Ich legte die Stirn in Falten, als sie ihre Beine anzog. An sich ja kein Problem, aber unter der kurzen Lederjacke trug sie ein recht knappes, weiß-gelbes Sommerkleid, die gegenüber sitzenden Jungs an den Tischen konnten sehr wahrscheinlich ihren Slip sehen. Mal davon abgesehen, hatten wir noch nicht einmal Sommer!

«Und was soll ich jetzt dagegen machen?» Es klang gereizter, als beabsichtigt.

Jennas Augen wurden groß und sie blickte mich von unten an, da sie tief in der Couch versunken war.

Ihre Finger verschwanden in ihrem Mund und sie zog den Kaugummi ellenlang, wickelte es um ihren Finger und saugte es anschließend wieder in ihren Mund. Sie hatte wirklich viele Ticks. Sehr viele.

«Habe ich was verpasst?», fragte sie nachdenklich, sprach sicherlich auf meinen nicht sehr höflichen Ton an.

Ich schüttelte selbstverständlich den Kopf. «Nein, gar nicht.» Jenna und ich waren nicht wirklich Freunde, schließlich kannte ich sie gar nicht mal so lange. Sie war offen, ein wenig anhänglich und so etwas wie Schamgefühl besaß sie nicht. Manchmal setzte sie sich einfach so an einen Tisch mit ihr unbekannten Leuten, klinkte sich in die Gespräche ein und verschwand danach wieder.

Bei mir war das genauso gewesen. Doch ich schätze, sie wusste damals sehr wohl wer ich war. Blakes – leider, leider, leider - Stiefschwester.

Und sie – wer hätte es gedacht? - fuhr irgendwie auf ihn ab. Scheinbar glaubte sie, durch mich viel näher an ihn ranzukommen, doch wir beide hingen niemals in der Schule miteinander ab. Mal davon abgesehen, brauchte sie bei ihrer quirligen und offenen Art niemanden um an Blakes Hintern kleben zu können.

 

Stimmgewirr drang zu mir hindurch, lautes hysterisches Lachen gefolgt von einem Klatschen. Als ich den Blick hob, erblickte ich Blake, Adrian, Patrick, Natalia und ein paar andere Leute, die gerade durch die Tür kamen. Ich verkrampfte mich augenblicklich, das tat ich immer, wenn ich ihn sah.

Die Spieler am Billardtisch verschwanden wortlos, räumten den Platz für sie, was mich unwillkürlich die Stirn runzeln ließ.

«Die Bad Ass Gang von Berlin», flüsterte Jenna, ihre lauten Schmatzgeräusche an meinem Ohr verursachten eine Gänsehaut bei mir. Ich mochte so etwas nicht.

«Tz», schnaubte ich. «So bad wie ein Eichhörnchen auf Crack.» Von einer echten Gang konnte hier niemals die Rede sein.

Diese Früchtchen würden in solchen Kreisen bei lebendigem Leibe verspeist werden. Ich war der festen Meinung, dass sie für ihr Verhalten gegenüber den anderen irgendwann im Leben den Arsch vollkriegen würden.

Payback, bitches. Payback.

Missy hatte diesmal recht. Irgendwann, in anderen Kreisen, dann, wenn sie wieder den Dicken raushängen lassen würden, als wären sie in ihrem Terrain...

Jenna stieß mich an und ich wandte meinen Blick von Blake. «So würde ich das nicht sagen. Adrian ist wirklich gefährlich...Ich hab da echt schlimme Sachen über ihn gehört.»

Mein Interesse war nicht wirklich geweckt, denn was Adrian betraf, hatte sie so weit recht. Auch ich hatte ein paar sehr unschöne Dinge über ihn gehört; Dinge bei dem sich mir die Nackenhaare aufgestellt hatten.

«Ja, gut. Adrian», erwiderte ich. «Aber Patrick und die anderen, genauso wie Blake sind doch nur Blender. Ich denke nicht, dass sie wirklich etwas drauf haben...» Natalia stand neben Blake, sie sah heute wirklich sehr gut aus. Dunkle enge Jeans, schwarze Sandalen, ein schwarzes transparentes Hemd und darunter hatte sie ein genauso schwarzes Top an. Die langen Haare trug sie heute leicht gewellt.

Sie war furchtbar unnahbar, ich fragte mich, woran das lag. Sie war hübsch, keine Frage und ich war mir ziemlich sicher, dass sie das auch wusste. Aber sie hatte keine aufgesetzte arrogante Art an sich, sie wirkte von Natur aus so. Kein dämliches „ach-ich-bin-so-toll-und-jeder-will-etwas-von-mir“ Getue. Sie war einfach so, durch und durch überheblich und verhalten gegenüber anderen Mädchen.

Vermutlich war sie auch schon immer so gewesen.

«Ich hasse diese Schlampe», gestand Jenna. Scheinbar war sie meinem Blick gefolgt. «Sie lässt niemals zu, dass sich irgendein Mädchen Blake nähert.»

«Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Doch ich denke nicht, das sie es wirklich drauf anlegt. Die Mädchen meiden sie einfach, sie tut nichts großartiges. Ihre toten kalten Augen reichen als Abschrecke...denke ich.»

Jenna lachte. «Sind die zusammen?»

«Nein!», rief ich, etwas überrascht, dass die Antwort so schnell aus mir rausgeschossen war.

Sie schien das jedoch nicht wirklich bemerkt zu haben. Ihr Blick hing an Blake, er lachte herzhaft und es stand ihm fantastisch.

Er war genauso wie Natalia sehr dunkel gekleidet heute.

Ich blickte sie beide an. Er trug schwarze Longsleeve, etwas eng damit sich die Muskeln ja schön abzeichneten, dunkle hüftige Jeans und schwarze Air Max. Sie passten von der Optik her wirklich sehr gut zueinander.

«Gut», rief sie munter. «Wollen wir am Wochenende was unternehmen? Bei dir vielleicht?»

Ich widerstand nur schwer dem Drang die Augen zu verdrehen. «Ich habe leider schon etwas vor.»

«Ach ja?» Sie betrachtete sich ihre Nägel, der dunkle Lack war ein wenig abgeblättert. «Und was?»

Wieder ließ sie eine Blase platzen.

«Ich treffe mich mit einem Freund.» Tatsächlich würde ich mich später noch bei Chris melden und mich morgen mit ihm treffen, wenn er Zeit hatte. Morgen war Samstag, vielleicht war er mit Darian unterwegs.
Neugierig blickte sie zu mir auf, ihre blauen Augen wirkten ein wenig...glasig. Sie war ziemlich stark geschminkt, schwarzer Kajal und Eyeliner. «Nur ein Freund...oder dein Freund?»

«Ein Freund, sagte ich doch.» Wieder dieser unhöfliche Unterton.

Sicherlich lag das an meinen gereizten Nerven – Schuld daran war natürlich Blake.

Und Missy.

Und Hulk - dieses Arschloch hatte sich wahrscheinlich in der Bathöhle verkrochen und schaute sich mit Batman den neuen Film Avengers an, anstatt mit mir neue Rachepläne zu schmieden. Batman war sicherlich traurig. Was ein Jammer.

«Ist er von dieser Schule?» Sie setzte ihre Füße wieder auf den Boden und strich sich eine ihrer Locken aus dem Gesicht.

Als es zur Unterrichtsstunde klingelte, schnappte ich mir meine Tasche und stand auf. «Nein», sagte ich und lächelte sie an, damit sie nicht annahm, ich hätte irgendetwas gegen sie. Das war natürlich nicht der Fall. Sie war manchmal ziemlich nervig, aber nicht bösartig oder dergleichen.

 

 

 

 

An manchen Tagen kotzte mich der Dreck dieser Stadt an. Ich war in Berlin aufgewachsen, aber manchmal hatte ich fürchterlichen Fernweh, so sehr, dass ich manchmal den Drang dazu verspürte, mein Sparschwein zu plündern und von hier abzuhauen. Diese Gedanken schoben sich aber genauso schnell wieder in den Hintergrund wie sie auch gekommen waren ; Familie und Freunde waren dafür selbstverständlich der Grund. Und die Tatsache, dass ich mit dem jämmerlichen Inhalt meines Sparschweins keine drei Blocks weit kommen würde. Ich sollte mehr sparen; vielleicht wäre der Drang irgendwann unerträglich stark und ich hätte wenigstens Mittel und Möglichkeiten, tatsächlich abzuhauen.

«Hey, Mädchen. Willst du nicht einsteigen? Ich habe auch Süßigkeiten da!» Ich erschrak mich fürchterlich und sprang zur Seite.

Als ich Blake erblickte, der mit geöffneten Fenstern in Schrittgeschwindigkeit neben mir herfuhr, schluckte ich die Ladung Flüche wieder herunter.

«Nein, danke. Ich stehe nicht so auf Süßes», blaffte ich, ohne stehenzubleiben. Seine fabelhafte Karre glänzte wie ein majestätischer Panter.

Er lachte. «Immer noch sauer, Cherrybaby?»

«Hör auf mich so zu nennen.»

Blake genoss es; seine Überlegenheit, den Triumph. Und wie er es genoss.

«Nur Cherry?»

Ich verdrehte die Augen, wich einem eiligen Passanten aus.

«Baby?» Ich blieb stehen und der Wagen stoppte ebenfalls.

Mit wenigen Schritten gelangte ich an das Auto und beugte mich durch das öffnete Fenster.

Er nahm die Sonnenbrille ab und lächelte mich abwartend an.

«Erstens: Ich bin weder dein Baby, noch dein Cherry, oder dein Cherrybaby. Hör auf dir so dämliche Kosenamen auszudenken. Zweitens: Die Aktion mit dem Kuss bekommst du noch sehr bald zurück, kein Grund dich hier so aufzuspielen. Drittens: Du bist ein Arschloch und ich hasse dich. Verstanden, oder soll ich es dir noch einmal aufschreiben?»

Arrogant fuhr er sich durch die Haare, leckte sich über die volle Unterlippe. «Na, schriftlich brauche ich es nicht. Könnte ich deinen Lippen für den mündlichen Teil noch einmal haben?»

Es traf mich unerwartet, so sehr, dass ich mich abrupt von der Tür abstieß, als hätte ich mich verbrannt.

Er warf mir einen unergründlichen Seitenblick zu und drückte die Handbremse runter. «Hör lieber auf, dich auf ein Spiel einzulassen, bei dem du nichts anderes als verlieren kannst.»

Damit fuhr er los. Ich war wie erstarrt, blickte ihm paralysiert hinterher bis sein Auto aus meinem Blickfeld verstand.

 

Er hatte recht. So verdammt recht. Um Blake wirklich ebenbürtig zu sein, musste ich auf seine dreckigen Tricks zurückgreifen und so werden wie er...

 

 

 

 

 

Heiße Dampfschwaden stiegen von meiner feuchten Haut, als ich aus der Dusche trat und mir das frische Handtuch um den Körper wickelte.

Vorsichtig tappte ich mit den Füßen auf der Wasserlache die ich hinterlassen hatte und öffnete das Fenster. Als ich überaus frustriert und genervt daheim angekommen war, darauf gefasst von Blake wieder ein paar dämliche Sprüche zu kassieren, hatte ich ihn nicht vorgefunden.

Unwillkürlich fragte ich mich, wo er war. Es war Freitagabend, wahrscheinlich zog er mit seinen Freunden um die Häuser, doch seltsamerweise war er noch nicht einmal dagewesen um sich umzuziehen.

Ich schmiss meine dreckigen Klamotten in den Wäschekorb und schlurfte in mein Zimmer. Das Licht im Gang brannte, obwohl es noch gar nicht so dunkel war. Das alles konnte nur eines bedeuten: Lestat war daheim.

Seufzend knipste ich die Lichter aus und verschwand in meinem Zimmer. Zwei Sekunden später hörte ich eine Faust gegen meine Tür donnern.

«Nein!», rief ich instinktiv und suchte mir aus meiner Schublade frische Unterwäsche aus.

«Lana, ich brauch dein Ladekabel. Es ist wichtig.»

Der schwarze Slip passte wirklich sehr gut zu dem aquamarinblauen BH, obwohl sie ja gar nicht zusammengehörten.

Nachdenklich warf ich sie auf mein Bett und lief rüber zu meinem Schrank.

«Lana!», donnerte es ein weiteres Mal und ich stutzte die Ohren.

Ja, stimmt. Da war ja was.

«Ja, nein, vielleicht.» Was war mit seinem Kabel?

Meine helle Jeans und der weiße Hollister Hoodie landeten ebenfalls auf dem Bett.

«Es ist wichtig!», er klang langsam ganz schön gereizt. Doch es interessierte mich nicht.

Ich nahm das Handtuch von meinem Körper, trocknete mich ein wenig ab und zog meinen schwarzen Slip an.

«Steht die nationale Sicherheit auf dem Spiel?», fragte ich gelangweilt und griff nach meinem BH.

Wahrscheinlich brauchte er für heute Abend ein Mädchen und ohne die Nummern in seinem toten Handy lief natürlich nichts.

«Lana!» Die Tür wurde aufgerissen und mein Herz machte einen Satz.

So etwas hatte er niemals gebracht. Schließlich hatte er ganz genau gewusst, dass ich gerade noch Duschen war.

Sonst hätte er niemals solange an die Tür geklopft.

«Blake!», rief ich entsetzt und bemerkte, dass ich den BH noch gar nicht angezogen hatte.

Sofort schlang ich mir meine Arme um den Körper und funkelte ihn wutentbrannt an.

«Du mieses Arschloch. Hättest du nicht warten können?»

Er stockte, als er mich so halbnackt sah. Sein Blick wanderte abermals über meinen Körper, die Hände auf meinen Brüsten, meine Beine und den schwarzen Slip.

Hätte ich meine Hände wegnehmen können, hätte er schon meinen CD-Player, das Laptop und einen Kühlschrank auf dem Kopf.

«Dein Ladekabel...», sagte er betont ruhig und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich drehte ihm den Rücken zu, schnappte mir das Handtuch und verhüllte damit notdürftig meine Brüste.

«Irgendwann...irgendwann werde ich dich umbringen.» Ich lief an ihm vorbei, es interessierte mich nicht sonderlich, dass er meinen nackten Rücken sah und meinen Hintern nur um Slip. Ich nahm das Ladekabel von meinem Schreibtisch und steuerte auf ihn zu.

Er grinste nicht, er machte noch nicht einmal einen dämlichen Witz. Stattdessen nahm er das Kabel an sich und ging wieder.

Wieso konnte er nicht einfach normal sein, huh? Wer machte denn so etwas?! Das nächste Mal würde ich auch einfach in sein Zimmer reinstürmen.

Oh, ja. Das würde ich machen! Aber dann würde ich in etwas gaaanz anderes reinplatzen.

 

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

 

Als ich am nächsten Nachmittag fertig geschminkt und angezogen vor dem Spiegel stand, checkte ich noch einmal mein Handy.

Eine weitere SMS blinkte mir von Chris entgegen, worin stand, dass wir uns spätestens in einer halben Stunde im Cafe treffen würde. Selbstverständlich nahm er wie bereits angekündigt seine Schwester Maria mit und ehrlich gesagt freute ich mich ein wenig auf die perfektionierte Dramaqueen mit einem pathologischen Hang dazu, sich von einem katastrophalen Abenteuer ins Nächste zu stürzten und sich dabei die schmierigsten Kerle des Planeten zu angeln. Sie hatte ein Talent; ein irdisches Talent, nein, eine Superkraft. Sie war ein Arschlochmagnet.

Ich blickte noch einmal kurz in den Spiegel. Das Wetter war heute fabelhaft, deshalb trug ich Ballerinas, dunkle Jeans und ein schwarzes Top mit einem Batman-Aufdruck. Aber ohne meine schwarze Lederjacke würde ich das Haus nicht verlassen.

«Mum?», rief ich, als ich sie im Flur am Kleiderständer nicht finden konnte.

Hatte sie es vielleicht weggelegt?

«Mum!» Ich suchte noch einmal in meinem Zimmer, im Kleiderschrank, doch nichts.

«Hör auf zu brüllen, ist ja unerträglich deine Stimme so früh am morgen zu hören.»

Müde rieb sich Blake die Augen, tauchte nur in einem Boxershort bekleidet in meinem Zimmer auf.

«Wir haben schon 17 Uhr, du Idiot.»

Er streckte sich genüsslich die Glieder und ich schluckte bei seinem Anblick.

«Ach ja?», meinte er ironisch und ich verdrehte angenervt die Augen, schloss meinen Kleiderschrank wieder.

«Wann bist du überhaupt nach Hause gekommen?» Blake war gestern noch weg gewesen. Noch nie war er an einem Wochenende daheim geblieben, ohne wirklich aktiv zu sein. Im Bett, versteht sich.

«Ich bin zu Hause?», rief er entsetzt und furchtbar theatralisch, dass ich einen Moment lachen musste.

Grinsend nickte ich. «Oh ja, in einer Schubkarre haben dich deine Freunde nach Hause gebracht. Du warst völlig weggetreten. Ich wollte dich anfangs ja gar nicht mit reinnehmen, aber du hast so jämmerlich und bemitleidenswert ausgesehen, dass ich es nicht ertragen hätte, wenn sie dich in die Tonne geklopft hätten.»

Er verdrehte die Augen und zog an meinem Batman Oberteil. Mein BH blitzte durch.

«Wohin gehst du?»

«Was trinken.»

«Du...und trinken?», fragte er ungläubig und lehnte sich mit verschränkte Armen an meinen Türrahmen.

So kamen seine Muskeln fantastisch zur Geltung.

Damn it!

«Jap», sagte ich knapp und sah mich noch einmal in meinem Zimmer um.

«Was suchst du?», fragt er und stellte sich an meinem Schminktisch, wühlte durch die ganzen Kosmetikartikel, von denen ich noch nicht einmal ein Viertel benutzte.

 

«Stehst du jetzt endlich zu deiner femininen Seite? Ich freue mich so unglaublich für dich!», klatsche ich ironisch in die Hände.

Er warf mir einen vernichtenden Blick zu, als er an einem meiner Parfüms schnupperte und das Gesicht verzog.

«Was zur Hölle ist das denn? Es riecht abartig!»

Ich blinzelte. «Das ist für die Vaginaldusche, damit da unten ja alles auch schön riecht.»

Entsetzt stellte er die Flasche zurück, etwas zu hektisch, denn sie kippte zur Seite.

«What the fuck? Are you fucking serious?» Er wirkte furchtbar angewidert.

Ich zuckte die Achseln. «Welchen Grund hätte ich, dich zu belügen?»

Sein Blick wanderte abermals von der Flasche zu meinem Gesicht. «Wenn eine Frau da unten so riecht, na dann gute Nacht. Scheinbar verschreckst du die ganzen Macker so, die dir ans Höschen wollen.»
Dass mir irgendwelche Macker ans Höschen wollten, nun, das war mir neu. Aber wovon zur Hölle sprach er da eigentlich? Ich verschreckte niemanden!

«Du hast da was?», ich führte meine Hand an meinen Mundwinkel um ihm zu verdeutlichen, wo genau es war.

Doch scheinbar stand er noch immer unter Schock, nur langsam kam er meiner Geste nach und fuhr sich über seinen Mund.

«Was denn?», fragte er genervt.

«Scheiße, Blake. Du hast da Scheiße, weil du immer so eine abgefuckte Scheiße redest. Scheinbar ist dein Hirn noch nicht wach, das ist Parfüm. Steht doch auch auf der Flasche!»

Er wurde langsam ziemlich wütend. «Nur du würdest auf so eine abgefuckte Scheiße kommen. Vaginaldusche. Tz, Psycho-Bitch.»

Ich schnaubte empört und trat gegen meinen Schrank, weil ich diese Dreckslederjacke einfach nicht fand. «Leck mich, Blake! Wo zum Teufel ist meine Lederjacke!»

«Pff, wenn du diese Scheiße da untenrum trägst, dann nicht.»

Ich hätte heulen können, weil er mich gerade so nervte. Und ausrasten, als ich seine nächsten Worte vernahm.

«Lederjacke? Meinst du die, die im Flur gehangen hat?»

«Ja...», fragte ich misstrauisch und furchtbar gedehnt. «Hast du irgendeine kranke Sauerei damit angestellt?»

Realitätsfern, aber bei ihm wusste man ehrlich gesagt nie.

«Ich hatte gestern Lena bei mir. Oder hieß sie Anna? Vielleicht aber auch Katja...»

«Komm auf den Punkt!», unterbrach ich ihn, hatte abwartend die Arme verschränkt.

«Ich hatte kein Bock sie nach Hause zu fahren und draußen war es kalt. Du kannst dir denken, dass sie etwas extrem scharfes an hatte.»

«Ja, kann ich mir denken. Hauptsache ihre Brüste und die Cuca sind halbwegs verdeckt, alles andere muss Mann ja sehen. Du gibst scheinbar keinen Fick auf andere Werte.»

«Nun, was ich eigentlich sagen wollte...»
Bevor er es aussprechen konnte, dämmerte es mir. «Du hast meine geliebte Lederjacke einem Flittchen gegeben?!»

Er ignorierte mich total. «Sie hat gemeint, sie wäre Jungfrau...aber was sie alles mit ihrem Mund anstellen konnte.»
Ich verzog das Gesicht.

«Wahrscheinlich hat sie gelogen.» Er kratzte sich am Kinn und wirkte nachdenklich.

Wütend trat ich ein paar Schritte auf ihn zu, schnipste mit dem Finger von seinem Gesicht. «Wirklich? Das beschäftigt dich gerade?! Ob sie Jungfrau war?!»

Er verdrehte die Augen und lief aus dem Zimmer, ich folgte ihm selbstverständlich. «Hey, ich rede mit dir! Was gibst du einfach meine Sachen irgendwelchen dämlichen Flittchen, die denken, nachts wie Tarzan rumlaufen zu müssen?!»

«Verfickte Scheiße, reg dich mal ab. Ich kaufe dir ein neues!»

Genervt öffnete er den Kühlschrank und nahm eine kleine Flasche Wasser an sich.

Ich schnaubte. «Ich will keine neue. Die hat Julia mir geschenkt!»

«Ideeller Wert und so, blabla. Ich habe es verstanden. Ich hole sie wieder.»

Er nahm einen langen, ausgiebigen Schluck Wasser und ich widerstand nur schwer dem Drang, die Flasche zuzudrücken, damit er daran ersticken konnte.

«Du weißt noch nicht einmal wie das Flittchen heißt, wie willst du sie überhaupt finden? Mal davon abgesehen, will ich sie nicht mehr.»

Ich würde doch nicht wieder etwas anziehen, was irgendeine seiner Püppchen getragen hatte. Arschloch.

«Kannst du einmal aufhören rumzuzicken?!», wütend schraubte er den Deckel zu und starrte mich an. «Du willst dies nicht, du willst das nicht. Wie wäre es mit einer saftigen Portion „Dann halt doch einfach mal deine verdammte Klappe und geh mir aus der Sonne?“»

 

Ich war extrem genervt und Kopfschmerzen bahnten sich an. Statt weiterhin darauf einzugehen, verschwand ich in meinem Zimmer.

Oh ja, diesmal stand er erst recht auf meiner Abschussliste. Zuerst die Sache mit Adrian und Patrick, seine mysteriösen und merkwürdigen Drohungen irgendein affiges Geheimnis von mir zu wissen, der Kuss, dass er einfach in mein Zimmer gestürmt war, obwohl ich nichts getragen hatte und jetzt das.

Das brachte das Fass zum Überlaufen. In meinem Zimmer trat ich noch einmal gegen meinen Schrank, so wütend war ich.

Ich schnappte mir mein dünnes Jäckchen, zog es über und stoppte einen Moment an meinem Schminktisch.

Mit einem Wurf landete die Flasche Parfüm in der Tonne. Nicht, dass ich Wert auf seine Meinung legte... Ein bisschen vielleicht.

 

 

Geräuschvoll schlug ich die Tür zu und machte mich auf den Weg ins Café.

Notiz an mich: Einen Dreizack und etwas Gleitcreme besorgen.

 

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

 

Ich schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut.

Die Wut hatte ein wenig abgeebbt, aber die Ärgernis war noch da. Blake erlaubte sich in letzter Zeit zu viel.

«Was wolltest du nochmal?»

Als ich Chris Stimme hörte, öffnete ich die Augen.

Maria inspizierte die Karte und blickte dann zu mir auf.

«Wodka-Lemon.»

«Den nehme ich dann auch», grinste sie und sah ihren Bruder an, der nur genervt die Augen verdrehte.

Er mochte es nicht, wenn ich trank, was ich eigentlich sehr selten tat.

«Und, erzähl. Was gibt es Neues bei dir?», wollte Maria wissen und legte ihre Hand auf meinen Unterarm.

Ihre langen platinblonden Haare glänzten fürchterlich schön in der Sonne, sie hatte eine hübsche gerade Nase die etwas Spitz zulief, hohe Wangenknochen, dunkle lange Wimpern und eisblaue Augen. Obwohl es nicht so warm war, trug sie ein weißes kurzes Kleidchen und ein dünnes Jäckchen drüber. Was hatten die alle nur mit den Sommerkleidern im Mai? So warm war es doch gar nicht...

Ich zuckte die Achseln. «Nichts, eigentlich. Was gibt es denn bei dir Neues? Du bist doch immer unterwegs.»

Sie tippte sich mit ihrem langen Zeigefinger an ihr Kinn, wirkte einen kurzen Moment nachdenklich. «Johnny und ich haben uns getrennt. Sehr tragisch, niemand hatte es wirklich kommen sehen.» Ein theatralisches Seufzen, gefolgt von einem leidvollen Blick in die Ferne.

Wusste ich es doch. Irgendwas mit zwei Buchstaben und einem ´y´

Innerlich verdrehte ich die Augen. Niemand hatte es kommen sehen? Ihre Bekannten hatten bereits Dutzende Wetten abgeschlossen, wie lang sie es diesmal mit einem Mann aushalten würde. Tragisch, tragisch. Ja, ne. War klar.

«Das tut mir leid», erwiderte ich der Höflichkeitshalber und lugte unauffällig rüber zu Chris, der den Satz von seiner Schwester mit einer hochgezogenen Braue quittierte. Scheinbar dachte er gerade ebenfalls an das, woran ich auch dachte.

«Ja, wir waren einfach zu verschieden. Haben uns auseinandergelebt...»

Die Schauspielerin in ihrer Vollendung.

«Was redest du für einen Mist, Maria?», warf Chris ein.

Ich war kurz davon in einem Gelächter auszubrechen. Scheinbar wusste sie nicht, dass er mir davon erzählt hatte.

«Bitte?», fragte sie entrüstet, ihre Stirn legte sich abermals in Falten.

«Er hat eine andere gevögelt.»

«Aber so etwas von», rutschte es aus mir heraus.

Chris und ich brachen in schallendem Gelächter aus.

«Ihr seid furchtbar.» Sie warf sich die Haare zurück und seufzte frustriert.

Ich war die erste, die allmählich verstummte, aber Chris lachte noch weiter.

Sicherlich lachten wir nicht darüber, dass er sie betrogen hatte. Ich konnte mir vorstellen, dass sie das wirklich getroffen hatte. Schließlich war das gerade für eine Frau, die alles für ihn aufgab um ihn zu begleiten, wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Und ich war mir sicher, dass Chris ihm den Kiefer brechen würde, wenn er ihm irgendwann einmal zufällig über den Weg laufen würde. Wir lachten eher über die Tatsache, dass sie sich jedes Mal neue Geschichten ausdachte, weshalb es nun diesmal nicht mit einem Mann geklappt hatte. Ich fand absolut nichts peinliches daran, schließlich hatte dieser Bastard sie mit irgendwelchen Groupies betrogen.

Er sollte sich schämen und nicht sie.

Die hübsche Kellnerin kam mit unserer Bestellung und ich leckte mir über die Unterlippe.

«Hast du dir nichts bestellt?», fragte ich an Chris gewandt und schenkte das Zitronenwasser aus der Flasche in das pure Wodka in dem Glas.

«Doch, Eis. Kommt sicher gleich.»

Ich nahm einen genüsslichen Schluck und schloss die Augen.

«Flinke Finger, Freundchen. Das muss ich echt gestehen», murmelte ich und lugte zu Chris, hob eine Braue in die Höhe.

Er grinste dämlich und fuhr sich durch die dunkelblonden Haare.

«Und das heißt was?», wollte Maria wissen, doch ich winkte ab.

«Nicht wichtig. Was willst du jetzt eigentlich tun? Arbeiten, studieren?»

Sie zuckte die Schultern und sah ihren Bruder mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht an. «Ich werde wahrscheinlich noch eine Weile im Hotel Bruder verbringen. Wer weiß, wohin mich das Schicksal das nächste Mal hinführt.»

«Unter eine Brücke, mit obdachlosen Pennern.»

Ich grinste und Maria schauderte einen Moment. Ihre Haare würden sich sicher nicht gut mit Regenwasser waschen lassen.

«Sag doch so etwas nicht.» Sie klopfte auf den Tisch. «Ich werde bald schon etwas finden.»

Ob das tatsächlich der Fall sein würde, vermochte ich zu bezweifeln, denn Maria hatte die Aufmerksamkeitsspanne einer Fliege, hübsche Sachen interessierten sie nicht an anderen, viel eher das Abenteuer, die Unwissenheit und die Gefahr, deshalb konnte ich sie mir absolut nicht hinter einem Schreibtisch vorstellen, – ein guter und sauberer Job eben - acht Stunden brav sitzend und irgendwelchen Kram eintippend.

Sie war die wahrhaftige Tochter Fortunas.

«Das hoffe ich für dich.»

Angestrengt blickte sie in die Ferne und ich war der Meinung, dass es nun an der Zeit war, das Thema zu wechseln. Ihr wollte ihr die Stimmung nicht verderben, auch wenn Chris weniger rücksichtsvoll war, was seine Schwester betraf. Obwohl er alles für sie tun würde, wusste ich einfach, dass er ihr sehr oft die Schuld an der ganzen Misere gab. Schließlich war Maria kein Kind mehr.

Bevor ich meine Gedanken in die Tat umsetzten konnte, kam sie mir vor.

«Wie läuft es bei die, Süße? Schule?»

Ich nippte an meinem Getränk und nickte. «Ja, 12. Klasse, Abitur. In einem Jahr bin ich frei, Baby.»

Sie beide lachten und ich tat es auch.

«Frei von was, Baby?», fragte Chris, als ob er die Antwort nicht schon kennen würde.

Scheinheiliger Mistkerl.

«Von der Schule natürlich», zwinkerte ich grinsend.

«Was möchtest du danach machen?», wollte Maria neugierig wissen, stützte sich mit beiden Armen auf dem runden Tisch ab.

Ich dachte einen Moment lang nach, zuckte anschließend unschlüssig die Schultern. «Ich weiß nicht. Vielleicht gehe ich ein Jahr lang nach Amerika, als Au Pair.»

«Wahnsinn, das klingt super. Ich wollte auch schon einmal in die Staaten», rief sie entzückt und ich lächelte.

Irgendwann, ja, irgendwann würde ihr Schicksal sie sicherlich auch nach Amerika führen.

Dessen war ich mir eigentlich ziemlich sicher. Bei ihrem Glück...

«Bei deinem Glück...», schnaubte Chris, sprach meine Gedanken laut aus.

Ich stimmte ihm zu und nahm einen weiteren Schluck. Der Wind wehte mir sein Parfüm entgegen; Jean Paul Gaultier, die blaue Flasche. Der nackte Oberkörper. Das wusste ich genau, denn Blake trug denselben Duft. Ich liebte diesen Geruch. Es machte mich schwach. Wirklich.

Wir plauderten eine Weile über banales Zeug, lachten über dämliche Sachen und ich war froh, dass niemand Blake erwähnte. Bei Chris hatte ich mich eigentlich bereits darauf gefasst gemacht, dass er das Thema aufbringen würde, jedoch tat er es nicht. Zum Glück.

«Und so landete mein High Heel auf seinem Kopf. 4 Stiche, musste genäht werden», beendete Maria ihre spannende Geschichte, wie sie ihren Macker mit einer anderen erwischt hatte. Gut gemacht, schoss es mir durch den Kopf.

Verdammt gut. Dieser abartige Kerl.

Nach einem weiteren Getränk verabschiedete ich mich. Chris wollte noch etwas mit Darian unternehmen und Maria...?

Wahrscheinlich plante sie bereits ihr nächstes Abenteuer...

 

 

 

 

 

 

Ich verharrte augenblicklich in meiner Bewegung als mich ein kalter Regentropfen auf meiner Wange traf. Das Wetter war nach wie vor sehr mild und angenehm, jedoch konnte ich in der Ferne sturmgraue Wolken ausmachen, die sich unnachgiebig nach der untergehenden Sonne verzehrten. Sehr bald würde sie vereint sein. In der Dunkelheit vielleicht.

Es war ein kurzweiliges Gefühl, wie die flüchtige Liebkosung eines Verehrers in einer leidenschaftlichen Nacht, dann wenn der Mond im Nachtgewandt am Firmament von Göttern und Regen erzählte. So spürte ich es.

Meine Hand verschwand in meiner Tasche und ich kramte mein Telefon heraus. Ich hatte es gespürt, genauso. Eine Nachricht blinkt mir von Julia entgegen und ich machte mich auf den Weg. Auf den Weg zu unserem Platz.

In einem vergessenen Viertel von Berlin, der Glockenturm war bereits alt, erzählten eine anregende Geschichte wie die Falten auf dem Gesicht einer alten Frau von einer anderen Zeit.

Das Betreten war verboten, jedoch hing das Sperrband lange nicht mehr dort – es hatte uns niemals gekümmert.

Staubig und stockdüster war es hier. Die alten modrigen Treppen knarzten wie eine rostige Scharniere als ich mich auf den Weg nach ganz oben begab. Julia meinte stets, dass es der Weg in die Hölle und zugleich Himmel war. Theatralisch. Es gab kein Stützgeländer, wir setzten uns immer an den gefährlichen Rand, ließen unsere Beine herunterbaumeln, genossen den prasselnden Regen und die Lichtgeister der Stadt.

Eine Geschichte die niemals zu Ende erzählt wurde.

Ich hörte den aggressiven und kühlen Wind, der wie ein jaulender Höllenhund um die Häuser pfiff, die Regentropfen die stetig zunahmen und lauter wurden. Familiar

Ich lächelte unwillkürlich, als ich den Druck auf meiner Schulter spürte. Kurz darauf war er verschwunden, Julia setzte sich neben mich. Vermutlich waren keine zwanzig Minuten seit ihrer Nachricht vergangen, doch sie war dennoch hier.

«Ich würde mich nicht wundern, wenn das ganze Drecks-Teil irgendwann einstürzt und wir dabei draufgehen», hörte ich sie keuchend sagen.

Sie setzte sich neben mich und ich blickte auf. «Irgendwann, vielleicht», zuckte ich die Schultern.

«Wie geht es dir?» Ich hatte die ganze Woche über nichts von ihr gehört, akzeptierte dass sie nun etwas Zeit für sich brauchte, doch ich musste es wissen.

«Geht so, denke ich.» Sie kramte in ihrer Tasche und holte drei Dosen Jacky-Cola raus, reichte mir eine.

Ich nahm die eiskalte Dose in meine Hand und biss mir auf die Unterlippe, haderte einen lächerlichen Moment mit mir und schloss die Augen.

Die Worte wollten mit penetranter Hartnäckigkeit ausgesprochen werden, schmeckten widerlich, säure ähnlich, doch ich würgte es ein weiteres Mal mit aller Kraft runter. Einfach aus dem Grund, weil ich noch nicht bereit dazu war, alles auf eine gottverdammte Karte zu setzte und unsere Freundschaft bis dato auf die härteste Probe zu stellen.

Das Zischen der Jacky-Dose riss mich aus meinen Gedanken, Julia nahm einen gewaltigen Schluck und seufzte anschließend.

«Immer noch so schön, wie damals», murmelte sie und ich folgte ihrem Blick, spürte den kalten Regen auf meiner Hand.

«Ja», erwiderte ich nachdenklich. Hier oben, genau hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

«Ich habe sie gesehen, seine Nutte.» Das letzte Wort spuckte Julia mit solch einer Verachtung aus, dass es mir eiskalt den Rücken hinunterlief.

Ich öffnete meine Dose und nahm einen gewaltigen Schluck. Was sollte ich nun darauf antworten? Oder sollte ich sie nun viel eher scheinheilig fragen, wie seine Nutte denn aussah?

«Wo hast du sie gesehen?», fragte ich sie stattdessen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich Alexander weiterhin mit ihr traf.

Die ganze Scheiße war explodiert wie eine verdammte Bombe, verbrannte Erde war zurückgeblieben. Die Teile undefinierbar, geschweige denn noch irgendwie zu reparieren. Trotzdem...das war keine Entschuldigung dafür, sich weiterhin mit seiner Affäre zu treffen, nur weil er seine Frau, womöglich nun auch Julia verloren hatte. Für die Familie kämpfte man doch oder nicht? Auch wenn der Kampf manchmal sinnlos war.

«Ich bin ihm gefolgt, nach der Arbeit. Zuerst war er in einem Cafe, ich dachte er würde sie dort treffen. Aber nein, er hat nur einen Kaffee getrunken, ist dann anschließend in ein Blumengeschäft gefahren und hat ihr irgendeinen billigen Blumenstrauß gekauft. Passt gut, billige Blumen für eine billige Nutte.»

 

Ich schluckte heftig, damit hätte ich absolut nicht gerechnet. Verdammte Blumen? War das sein beschissener ernst?

«Scheiße», murmelte ich, meine Augen in den finsteren Himmel gerichtet.

«Sie hat die Tür geöffnet, lachend. Als wäre nichts passiert, rein gar nichts.»

Ich nahm einen weiteren Schluck, wurde mit jedem Wort wütender und wütender.

«Lana.» Julia legte ihre Hand auf meinen Unterarm und ich blickte sie fragend an.

In ihren stechend grünen Augen konnte ich unfassbare Wut erkennen, doch mehr als die, die ich zu diesem Zeitpunkt empfand.

«Sie war jung, wirklich wirklich jung.»

Ich verzog das Gesicht, als ich mich an ihr Gesicht erinnerte.

Sie war hübsch, mindestens 1,70 groß, lange schwarze Haare, dunkle Augen und wilde Locken.

«Hast du was gesagt, bist du zu ihnen gegangen?»

Noch ein Schluck. «Nein, aber ihr Auto hat ein schönes Andenken von mir bekommen.»

Meine Augen wurden groß, ich wusste nicht, dass Julia zu so etwas fähig war. Ich hoffte nur, dass sie sich damit nun nicht in irgendwelche Schwierigkeiten gebracht hatte.

«Nutte habe ich auf ihre Heckscheibe geschrieben. Wieso sollten die Nachbarn nicht wissen, was für eine sie ist? Die Frauen sollten lieber ihre Männer wegsperren. Wer weiß, wen sie noch alles anspringt.»

Sie war wütend, so unfassbar wütend. Ein blauer Kranz Adern pochte an ihrer Schläfe, die flammenden Strähnen tanzten im Wind.

Ich verstand sie, Himmel, das tat ich wirklich. Aber ihr Vater trug genauso viel Schuld an dem Ganzen, wie diese Frau.

«Sie ist es nicht Wert, weißt du...»

Julia sah mich abschätzend an, legte die Stirn danach in tiefe Furchen, als würde sie es nicht verstehen.

«Meinst du das ernst? Sie hat meine Familie zerstört, sie und dieser Dreckshund von Vater.»

«Julia», stöhnte ich, mehr schockiert, als empört. Niemals hatte sie ihren Vater so genannt. Sie waren das verfluchte Dreamteam gewesen; Mädchen beneideten die grandiose Beziehung zwischen ihnen, das war bereits immer so gewesen.

Auch ich hatte sie beneidetet, so lange. Als Kind hatte ich sehr oft geweint, daran erinnerte ich mich noch. Jetzt würde ich das nicht tun, ich war mittlerweile 17, würde bald 18 werden. Jetzt...nun, jetzt brauchte ich keinen Vater mehr. Nathaniel war mehr Freund als Vater, das wusste auch er. Ich wollte das so.

Jedoch war Alexander ein Mann gewesen, zudem auch ich aufgesehen hatte, auf seiner Schulter hatten wir uns wie verdammte Halbgötter gefühlt. Unbesiegbar, verdammt cool. Ich musste gestehen, dass er auch mich ziemlich enttäuscht hatte. Schließlich war er mein Kindheitsheld gewesen und Helden machten so etwas doch nicht.

«Du hast keine Ahnung wie ich mich fühle Lana. Ich meine all die Jahre war er einfach perfekt gewesen. Scheiße, Lana, welcher Mensch ist denn perfekt? Er war es zumindest. Niemals Streit, an Wochenenden Grillpartys, Filmabende, Fußball im Garten. Aber wem erzähle ich das eigentlich? Du warst doch immer dabei. Du weißt doch wie es bei uns war. Was hat ihm gefehlt?»

Sie schnaubte und kramte erneuert in ihrer Tasche. Zuckende Blitzstrahle erhellten einen Moment die Umgebung, danach ertrank alles wieder in tintenblau. Natürlich wusste ich, wie es war. Deshalb konnte ich ihren Kummer, die Ärgernis und die unsagbar große Enttäuschung verstehen.

Ihre Worte verletzten mich, doch ich sagte nichts.

«Gab es Streit? Ich meine zwischen deinen Eltern? Hast du je was mitbekommen?»

Ich erinnerte mich unwillkürlich an das Gespräch mit meiner Mutter. Sie hatte gemeint, dass das alles mit Sandra und Alexander zu tun hatte, keineswegs mit Julia. Das verstand ich natürlich, irgendetwas in ihrer Ehe schien vielleicht gewaltig schief gelaufen zu sein.

Sie kramte immer noch in ihrer Tasche, wurde mit jeder verstrichenen Sekunde wütender und wütender, bis sie letztlich etwas gefunden hatte.

Ich verschluckte ich an meinem Getränk. «Was zum...Ist das dein beschissener ernst?»

Julia ignorierte mich gänzlich, schien sich überhaupt nicht in ihrem Tun beirren zu lassen. Mit dem Feuerzeug zündete sie sich den Joint an, pustete ein wenig an die Spitze der Fluppe, damit sich die Glut durch das Paper fressen konnte. Danach inhalierte sie den Rauch tief. Ich kannte den Duft – von Blake natürlich. Jedoch machte er das ziemlich selten.

Es roch süßlich, würzig, gleichzeitig auch etwas modrig.

«Komm runter, es ist ja nicht so, als würde ich jeden verdammten Tag kiffen.»

Manchmal machte sie mich echt wütend. Mit dem Alkohol würde sie genauso high werden, wozu brauchte sie verdammte illegale Drogen?!

«Weiß David davon?», schnaubte ich. Sie war mit dem Jungen seit fast zwei Jahren zusammen. Er wirkte etwas verwegen, ein gewisses Bad Boy Image sagte man ihm nach, aber im Grunde war er ein richtig netter Kerl. Er sorgte sich sehr um Julia und ihr Wohlbefinden, deshalb konnte er das unmöglich gutheißen.

Sie legte grinsend den Kopf in den Nacken, nahm einen weiteren tiefen Zug. «Er hat sie mir gegeben.»

Ungläubig starrte ich sie an. «Rede keinen Schwachsinn.»

«Doch wirklich.»

«Und wieso sollte er das tun? Seit wann macht er denn so etwas?»

Genervt verdrehte sie die Augen, bot mir anschließend einen Zug an. Ich schüttelte den Kopf. Der Alkohol zeigte bereits gut Wirkung, meine Wangen glühten, meine Brüste wurden taub. Das war wirklich lachhaft und absurd, aber daran merkte ich die volle Wirkung des Alkohols.

Durch die wohlige Wärme und die Taubheit meiner Brüste.

Ich grinste.

 

«Und um deine Frage zu beantworten...» Sie stieß den Rauch aus, es roch wirklich heftig danach. Und das, obwohl wir hier quasi im Freien waren. Das Arschloch hatte das einmal bei uns zu Hause getan, genüsslich in seinem Zimmer einen Joint geraucht. Meiner Mutter war das gar nicht aufgefallen, sie kannte sich mit dem Quatsch überhaupt nicht aus, jedoch hatte es Nathaniel sofort bemerkt und ihn wirklich heftig zusammengeschissen.

Das war ein wundervoller Tag gewesen.

Schadenfreude, wohl gemerkt.

«Nein, sie hatten sich niemals gestritten. Ich hätte es doch gehört, irgendwie. Wir haben schließlich unter einem Dach gewohnt.»

«Julia...wie ist das überhaupt rausgekommen?» Sie hatte mir nur erzählt, dass sie es herausgefunden hatten. Doch wie?

Mein Magen überschlug sich. Ich ahnte etwas böses.

Drei weitere tiefe Züge, danach warf sie den Joint in die Tiefe. Sie fing an zu lachen, hysterisch, abnormal.

«Ein anonymer Brief. Kannst du das glauben? Ein Brief hat alles zum Einstürzen gebracht.»

Der Blitz schlug erneuert ein, gefolgt von einem tiefen Grollen. 

«Ein Brief?» Meine Stimme klang schrill. Was zum...

Irgendjemand, irgendein Bekannter schien die beiden ebenfalls zufällig zusammen gesehen haben. Dieser Mensch hatte scheinbar mehr Mum als ich, hatte wenigstens irgendetwas unternommen. Gleichzeitig jedoch auch wissentlich eine ganze Familie zerstört.

Sie nickte. «Lustig, oder?»

«Wohl eher traurig», murmelte ich.

«Zuerst hat er es abgestritten», sie warf die Hände in die Luft, rutschte dabei gefährlich vor, weshalb ich meinen Arm gegen ihren Oberkörper drückte, um sie zurückzudrängen.

«Danach hat er diskutiert.» Ein Schnauben.

«Der Streit begann, die Drohungen meiner Mutter die Tussi aufzusuchen.»

«Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit hat er es zugegeben. Gefolgt von lächerlichen Entschuldigungen und falschen Tränen.»

Ich seufzte tief und nahm den letzten Schluck von meinem Jacky-Cola. «Wo wohnt er jetzt eigentlich`?»

Die Dose folgte dem Joint. 12 Meter waren es bis nach unten, vielleicht mehr. Oder weniger. Ich hatte nie darüber nachgedacht.

«Keine Ahnung. In einem Hotel glaube ich, wahrscheinlich zieht er bald zu ihr. Wer weiß. Seine Sache hat er jedenfalls noch nicht abgeholt...»

Die letzte Dose Jacky-Cola wurde von mir geöffnet. Ich nahm einen gewaltigen Schluck.

«Hast du deiner Mutter davon erzählt? Dass du sie gesehen hast?»

«Natürlich nicht», schnaubte sie.

Das Gewitter nahm zu und ich schloss die Augen, führte meine Hand an diese besondere Stelle. An die Stelle, an der das Holz nachgelassen hatte, die Kante war furchtbar spitz, erzählte jedoch eine genauso besondere Geschichte.

Manche Geschichten werden zu Ende erzählt, andere wiederum bleiben offen. Für immer...

 

 

 

 

SONNTAG, August 2003

 

«Lana, das bleibt unser Geheimnis!», flüsterte Julia mit fester Stimme und löste das Sperrband.

Sie hatten sich auf dem Spielplatz verabredet, als sie von einem fürchterlichen Regen überrascht worden waren. Das erste Mal in ihrem Leben hatte Lanas Mutter Claudia erlaubt, mal alleine mit Julia rauszugehen. Ihr Freude war gar nicht in Worte zu packen. Sie fühlte sich so unfassbar erwachsen.

«Ist gut.» Lana war gerade mal 8 – Julia 10. Ihre Mütter kannten sich von der Arbeit und sie sich bereits seit ihrer Geburt.

Es war staubig und alt, schon lange war niemand mehr gewesen. Das begriffen sie sofort, als sie eintraten.

«Wahnsinn», keuchte Julia atemlos. Ihre großen stechend grünen Augen inspizierten die Umgebung, als wären sie auf einem verlassenen Schiff gelandet, wohl wissend, dass sich unfassbare Schätze hier irgendwo verbargen.

Lanas Begeisterung hielt sich dagegen in Grenzen. Es war nichts besonderes, es roch seltsam und dreckig war es auch noch.

Ein beklommenes Gefühl beschlich sie, je weiter sie die Treppen hinaufstiegen. Ihre Mutter wäre sicher sauer, wenn sie hiervon erfahren würde.

«Komm, schneller», keuchte Julia, ihre roten lockigen Haare wippten hin und her, als sie nach Lanas Hand griff und sie hinter sich herzog.

Unbeholfen stolperte sie hinter ihr her, versuchte darauf zu achten, wohin sie trat, weil die Treppen fürchterlich knarzten, als würden sie gleich unter ihren Füßen einstürzten.

Das aggressive Sommergewitter klang hier oben fürchterlich laut, Donner grollte und bizarre Blitze durchzuckten den wolkenverhangenen Nachthimmel, in der Mitte befand sich die alte Glocke, weilte grausam verschmäht in der Dunkelheit – nutzlos.

«Wow», staunte diesmal auch Lana, als sie die spektakuläre Aussicht von hier oben erblickte. Es gab kein sicheres Fenster, keine Tür. Nur ein weiteres Sperrband sollte verdeutlichen, dass man hier absolut nicht sein sollte.

«Nicht wahr?!», strahlte Julia und löste das zweite Sperrband, ließ es zeitgleich los, damit es im Wind tanzen konnte und letztendlich verschwand. Sie blinzelte dem fürchterlichen Gewitter entgegen, der ihr Regentropfen ins Gesicht peitschte.

«Wie hoch das ist!», keuchte Lana mit Tellergroßen Augen, atemlos und vollkommen überwältigt. Nur vorsichtig näherte sie sich dem Rand, hielt sich an dem kalten Gemäuer fest. Ihr Körper zitterte, ob aus Angst oder Überwältigung.

Ein weiteres Mal grollte der Donner, diesmal lauter, viel näher. Zu Nahe.

Als würde ein Riese an die Pforten des Höllentores klopfen. Himmel und Hölle.

Lana verkrampfte sich, blickte angestrengt in den rabenschwarzen Himmel und zuckte sie zusammen, als sie den zuckenden hellen Strahl sah, der das Firmament in ein purpurnes Licht tauchte.

Ihre Mutter wäre sicherlich sauer, das wusste sie, aber Lana bereute keine Sekunde. Das war aufregend.

«Von nun an ist das unser Platz, verstanden?» Julia umfasste Lanas unterkühlte Hand.

Das Gewitter verschluckte jeglichen Laut in der Umgebung, deshalb musste Lana brüllen, damit sie verstanden werden konnte.

«Hier kann uns niemand was!»

«Noch nicht einmal Mandy?», lachte Lana. Mandy war eine grimmige dicke Schlägerin aus der vierten Klasse.

In der ersten Pause hatte sie Lana das Bein gestellt, sie war fürchterlich hingefallen und hatte sich beide Knie aufgeschürft.

Jeder hatte sie ausgelacht, was ihre Wut auf sie nur noch gesteigert hatte.

Dann, in der zweiten Pause, als sie auf der Treppe gestanden hatte und Mandy mit dem Rücken zu ihr, war es einfach passiert.

Ihre Wut so unkontrollierbar, wie ein aggressiver Tiger an einer zu langen Kette.

Mit einem Ruck war sie auf Mandy gesprungen und hatte auf sie eingeprügelt. An mehr erinnerte sie sich nicht, denn sie waren beide zu Boden gestürzt. Wahrscheinlich hatte sich Lana den Kopf gestoßen, denn der hatte auch Tage danach geschmerzt.

Viel schlimmer hatte es jedoch Mandy getroffen, denn bei dem Sturz hatte sie sich den Arm gebrochen. Das war das erste Mal, das Lana Hausarrest bekommen hatte; ganze zwei Monate. Seither war ihr Mandy aus dem Weg gegangen, ihr Blick jedoch ruhte stets äußerst aufmerksam auf Lana, als würde sie nur darauf warten, dass sie erneuert zuschlug und ihr wehtat. Doch das tat Lana natürlich nicht; sie hatte schlimme Gewissensbisse gehabt, als sie Mandy Wochen mit dem Gips an ihrem Arm umherirren gesehen hatte.

Claudia hatte eine Karte für Mandy gekauft und Lana gezwungen etwas reinzuschreiben und es ihr zu geben. Sie hatte es getan, eine Entschuldigung geschrieben und in den Umschlag getan, auf dem Schulweg jedoch hatte sie es wieder zerrissen und weggeworfen.

Auch wenn Mandy sie ab diesem Vorfall an in Ruhe gelassen hatte, schikanierte sie weiterhin die anderen Mitschüler.

«Mandy? Sie geht dir doch auch schon so aus dem Weg. Überleg dir einen anderen Bösewicht. Den größten der dir in den Sinn kommt.»

Lana fiel niemand ein, sie fühlte sich unbesiegbar hier. Die Welt schien unter ihnen beinahe unterzugehen, doch mit Julia an ihrer Hand fühlte sie sich stärker und mächtiger, wie nie zuvor.

«Was macht ihr denn da!» Abrupt drehten sich beide um, erblickten in der fragmentarischen Dunkelheit das Gesicht von David; ein weiterer Blitz schlug irgendwo ein, erhellte sein Gesicht.

Scheinbar war er ihnen vom Spielplatz aus gefolgt, denn er war ebenfalls dort gewesen.

Lana machte einen Satz, gefährliche Nahe am Abgrund und bevor sie sich erneuert entspannen konnte, hörte sie es laut Knacken.

Ein Stück des Holzes unter ihren Füßen gab nach, sie verlor mit einem Schlag das Gleichgewicht und stürzte.

«Verdammt, Achtung!», hörte sie ihn brüllen, doch sie konnte an nichts mehr denken.

Julia reagierte schnell und sie drückte ihre Hand zu, ließ ihre nicht los und griff nach ihrem anderen Arm.

Ihr Brustkorb schlug fürchterlich auf dem Boden auf, doch sie ließ nicht los.

«Halt sie fest!» Sofort spürte sie Davids gesamtes Gesicht auf ihrem Körper, damit Julia nicht wegrutschen und beide hinabstürzten konnten.

Julia ließ Lana nicht los. Sie beide wussten, dass sie an diesem Tag gestorben wären, wenn David ihnen nicht gefolgt wäre.

Denn Julia hätte sie nicht losgelassen. Niemals.

 

 

 

      

 

Ich fühlte mich wie betäubt, als ich mich mit wackeligen Beinen auf den Weg nach Hause machte. Die Straßen waren wie leergefegt, eine absonderliche Ruhe verschluckte das ganze Viertel, was mir einen Schauer über den Rücken jagte. Das Gespräch mit Julia hatte mich keineswegs von den gewaltigen Schuldgefühlen befreit, einen Moment lang hatte ich sogar das Bedürfnis verspürt mich zu übergeben; nicht wegen Alexander, sondern meinetwegen. Weil ich ihr tatsächlich nach alledem in die Augen sehen konnte; sie war abgefuckt und ich trug auch meinen Teil dazu bei.

Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto entschlossener wurde ich was mein Schweigen anbelangte. Irgendwann würde ihr Schmerz nachlassen, die Wunden heilen, irgendwann würde es besser würden.

Sie würden es überleben, all das, ja, das würden sie. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, wenn ich es vergaß. Für immer. Nie wieder darüber nachdachte, obwohl es mich nach wie vor unsagbar quälte. Doch ich konnte nichts mehr an der Gesamtsituation mehr verändern, rein gar nichts mehr. Wenn ich reden würde, dann...

Ich schüttelte den Kopf. Was würde es ihr eigentlich bringen, wenn sie es erfahren würde? Sie wäre nichts weiter als enttäuscht und verletzt.

All das musste ich selbstverständlich noch einmal überdenken, wenn ich nicht betrunken war. Mit Alkohol im Blut war man solch ein Faker, ein Scharlatan; der üble Mutmacher.

Ich blinzelte als ich an einer Bushaltestelle vorbeikam, die flackernde Laterne daneben verzerrte ein wenig das Bild vor meinen Augen, ich bekam Schwierigkeiten mein Gleichgewicht zu halten. Nun, tatsächlich war ich nicht die große Trinkerin wie mir auffiel. Die zwei Gläser Wodka-Lemon zählte ich mal nicht dazu, weil die Wirkung bereits vor Stunden nachgelassen hatte. Die zwei Dosen Jacky-Cola hatten mich viel eher umgehauen.

«Come little children, I'll take the away into a land of enchantment. Come little children the time's come to play, here in my garden of shadows.»

Ich erstarrte augenblicklich als ich jemanden Singen hörte. In meinem Kopf drehte sich alles, eine abartige Gänsehaut kletterte über meine Arme und mein Kopf schoss nach vorne. Jemand saß auf der Bank an der Bushaltestelle. Ich kniff die Augen zusammen, konzentrierte mich. Nein, da saß niemand, sondern lag. Jemand lag auf der Bank. Erneuert schüttelte ich mich, weitere Zeilen kamen über ihre Lippen, die Stimme hatte etwas harmonisches und zugleich furchtbar gruseliges an sich. Das Lied kannte ich irgendwoher...und das Mädchen auch.

Meine Augen wurden groß und ich schluckte, als ich sie erkannte.

Gleißendes Licht tauchte die Dunkelheit in Licht, die Nacht wich urplötzlich dem Tag. Ein leichter Geschmack von Salz trug der kühle Wind mit sich, eine kurze Berührung auf den Lippen. Schallendes Gelächter, vermischt mit dem rauschenden Klang des Meeres echote in der Unendlichkeit. Er war ein freier Vogel, überwältigt und berauscht von den sensationellen Gefühlen, starrte er an die bizarre Stelle, wo sich augenscheinlich der Himmel und das Meer berührten. Genau dieser besondere Punkt, wenn man auf den endlos weiten Ozean blickte und sich die beiden Blautöne zu einer Einheit vermischten. Genau dort, wo sich die Unendlichkeit des Meeres dem majestätischen Himmel beugte.

Niemand könnte ihn aufhalten oder gar bezwingen, der König der Lüfte. Ein weiteres Lachen perlte über seine Lippen, seine Flügel trugen ihr empor in die Luft, die Hitze nahm zu, denn die Sonne hatte ihren höchsten Punkt bereits erreicht. Übermütig.

Ein Wettlauf mit dem Wind, geküsst von der Sonne. Dann erst spürte er den Schmerz, die unfassbar ätzende Hitze in seinem Rücken – seine Federn schmolzen. Aus Wachs, sie waren aus Wachs. Er stürzte, Fassungslosigkeit in den aufgerissenen Augen, nur einen Moment spürte er die Angst, eine eisige Umarmung, dann schloss er die Augen. Denn die unendlichen Tiefen würden wahrscheinlich sein ewiges Grab werden.

War er doch kein König gewesen, sondern einfach nur furchtbar übermütig...

 

«Jenna», hauchte ich wie paralysiert und steuerte auf sie zu. Sie nahm mich überhaupt nicht wahr, malte mit ihrer linken Hand Kreise in die Luft, in der rechten Hand hatte sie eine große Flasche Wein. Unfassbar. Ich konnte meinen Augen kaum glauben.

Sie trug ein pechschwarzes langärmeliges Kleid, das ihr bis zu den Knien ging. Wieder einmal hatte sie die Beine angezogen, präsentierte unwillkürlich ihre Unterwäsche der ganzen Welt. Ihre Füße steckten in halblangen dunklen Stiefeln mit Metallkappen, ihr blondes Haar war zerzaust und auf der Bank zerstreut.

«Jenna», sagte ich ein weiteres Mal benommen und sie erschrak fürchterlich, als sie mich erblickte. Augenblicklich verstummte sie, nur langsam schien sie mich in ihrem benebelten Zustand zu erkennen, denn nach gefühlten Minuten, wurden ihre Züge weicher – sie brach in Gelächter aus.

«Lana! Was machst du denn hier?» Sie klang unfassbar glücklich, sprang mit einem Ruck auf und ließ die Weinflasche aus ihrer Hand fallen, die scheppernd auf dem Boden zerschellte.

Ich zuckte instinktiv zusammen. «Ich wollte...ähm, nach Hause.»

Ihre stürmische Umarmung überforderte mich in wenig, beinahe verlor ich das Gleichgewicht, doch sie rückte genauso schnell wieder von mir.

«Langweilig», rief sie und klatschte theatralisch in die Hände, als sie die Sauerei erblickte. «Oh, nein. Der arme Wein.»

«Was machst du denn hier?» Ich hielt sie an der Schulter fest, damit sie nicht zur Seite kippen konnte. Erst jetzt erblickte ich eine weitere Flasche auf dem Boden, jedoch war diese heil und leer. Was war nur los mit ihr?

«Langweilen», erwiderte sie schulterzuckend und fischte aus ihrer Tasche einen Kaugummi heraus, schob sich ihn sofort in den Mund.

Scheinbar langweilte sie sich andauernd. So kam es mir nämlich vor.

«Aber mitten in der Nacht an einer Bushaltestelle trinken? Und dann auch noch so...» Ich deutete auf ihre Kleidung, als sie mich verständnislos ansah.

Es gab genug betrunkene Idioten, die sich in dieser Gegend an Mädchen vergriffen. Sie lag mit angezogenen Beinen auf einer Bank, trank Alkohol und sang irgendein Lied, ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, dass irgendetwas hätte passieren können. Mal davon abgesehen, war sie gänzlich von der Welt abgeschottet gewesen, schließlich hatte sie mich erst dann bemerkt, als ich unmittelbar neben ihr gestanden hätte.

Mit einem Mal wurde ich wütend, wütend über soviel Leichtsinn.

Wobei du ja nicht viel besser bist, hm? Erinnere dich an den Turm...

«Mir passiert nie etwas.» Sie blickte in die Ferne, nahm den Kaugummi aus ihrem Mund und starrte mich dann an. «Ist komisch, oder?»

Danach setzte sie sich erneut auf die kühle Bank. Zum Glück hatte der Regen nachgelassen, sonst wäre ich sicherlich komplett durchnässt gewesen.

«Komisch? Wohl eher ein Wunder, wenn du so etwas öfters machst. Sei nicht so übermütig, Jenna. Was wäre, wenn dich eine Gruppe von halbstarken betrunkenen Idioten überrascht hätte?»

Ich setzte mich ebenfalls auf die Bank, mein Kopf dröhnte und der Geruch von dem Wein aus der zerbrochenen Flasche drang allmählich in meine Nase.

«Ich hätte geschrien, oder so. Oder ihnen meine Flasche über den Kopf gezogen.»

Sie schob sich den Kaugummi wieder in den Mund, seufzte tief. Plötzlich wirkte sie so unfassbar müde.

«Natürlich», sagte ich ungläubig. «Mich hast du ja auch so schnell bemerkt.»

Lachend hob sie den Zeigefinger, der im Licht der Laterne feucht von ihrer Spucke glänzte.

«Zum Glück nicht, was? Sonst hätte ich dir womöglich die Flasche über den Kopf gezogen.»

Lächelnd schüttelte ich den Kopf, versteifte mich einen Moment, als sie ihren Kopf auf meine Schulter bettete.

Sie schlang ihre Arme um meinen rechten Arm und seufzte erneuert tief.

«Was ist los, Jenna?» Irgendetwas bedrückte sie, das konnte ich nicht nur spüren, sondern auch sehen.

Zwar hatte sie im Gegensatz zu mir keine Berührungsängste gegenüber Menschen, die sie noch nicht solange kannte, aber das war nun doch etwas ungewöhnlich für sie.

«Ach nichts», murmelte sie.

Sie roch süß, nach Kaugummi, Lutscher und pinker Brause, vermischt mit dem Alkohol Duft. Der typische Jenna-Geruch eben.

Jedoch meistens ohne den Alkohol.

«Sag schon.» Ich stieß sie leicht an.

Scheinbar juckte ihre Nase oder so, denn sie rieb ihr Gesicht an meine Schulter. Zu faul um ihre Hand zu benutzten.

«Blake hat mich versetzt», jammerte sie hoffnungslos.

Ich versteifte mich erneuert und meine Augen wurden groß. «Was?»

Blake hatte Jenna versetzt? Seit wann hatten die Beiden überhaupt Kontakt? Nein, das war doch unmöglich.

«Wir haben gestern geschrieben, er hat mich auf Adrians Party eingeladen, aber dann hat er mich versetzt.»
Tatsächlich wollte es mir einfach nicht in den Sinn. Wieso hatte er sie überhaupt eingeladen? Jenna war überhaupt nicht sein Typ, mal davon abgesehen war sie furchtbar jung und kindisch. Jedoch fragte ich mich, weshalb er sie danach doch versetzt hatte? War ihm das ebenfalls klar geworden, oder steckte etwas anderes dahinter?

«Ich denke die Schlampe Natalia hatte etwas damit zu tun.»

 

Sie seufzte und stand auf, starrte mich mit entschlossener Miene an.

«Wollen wir eine Party crashen?»

Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke. «Bitte, was?»

«Ich meine es ernst. Lass uns der Schlampe eine Lektion erteilen.»

Ich stöhnte. «Jenna. Sicher nicht. Woher willst du überhaupt wissen, dass sie etwas damit zu tun hatte? Mal davon abgesehen, wissen wir noch nicht einmal, wo Adrian wohnt.» Ich blickte auf die Uhr, es war weit nach Mitternacht, die Party war sicherlich im vollen Gange.

«Ich weiß es einfach.» Genervt strich sie sich eine blonde Strähne hinters Ohr und hielt mir ihre Hand hin. «Übrigens weiß ich, wo Adrian wohnt. Na, komm schon. Das wird ein Riesenspaß.»

Mir war schlecht und ich fühlte mich wie geädert. Der Tag hatte bereits beschissen begonnen, ich wollte keineswegs, dass sie wegen Blake, ganz zu schweigen wegen Natalia in einer Katastrophe endete. Woher wollte sie überhaupt wissen, dass uns Adrian reinließ?
Es war ja nicht so, als wären wir mit ihm befreundet. Er ging in meine Klasse, das war es dann auch schon.

«Jenna, du bist betrunken. Wie willst du in diesem Zustand noch auf eine Party gehen?» Obwohl ich sie davon abbringen wollte, griff ich nach ihrer Hand und stand auf. Sie hakte sich bei mir ein und zog mich hinter sich her.

Scheinbar war die Lolita nun vollkommen nüchtern. Was kein Wunder war, denn auch mir schoss das Adrenalin durch den Körper.

«Mir geht es super», lachend hüpfte sie. «Siehst du? Deshalb liebe ich das Leben, mein weiß nie, wie der Tag enden wird. Vorhin dachte ich noch, dass ich mich alleine betrinke und auf der Bank einschlafen werde und nun crashen wir eine verdammte Party.»

Ich versuchte mit ihr Schritt zu halten. «Warum zum Teufel auf der Bank einschlafen? Bist du verrückt geworden?»

Natürlich ist die Kleine verrückt. Fällt dir das erst jetzt auf?

Sie spuckte den Kaugummi geräuschvoll raus und schnalzte anschließend mit der Zunge.

«Ich habe meinen Eltern erzählt, dass ich bei Larissa übernachte. Sie hätten mir unmöglich erlaubt, dass ich auf eine Party von Adrian gehen. Dazu auch noch mit Blake als Begleitung. Sie wissen so einiges über die beiden, wegen meinem bescheuerten Bruder. Er kann echt nichts für sich behalten. Na ja, als er mich versetzt hat, bin ich rausgegangen und habe mir die Flaschen Wein geholt. Nach der ersten Flasche habe ich Larissa angerufen, aber die dumme Kuh ist nicht rangegangen. Und so spät hätte ich ja nicht bei ihnen klingeln können. Ihre Eltern mögen mich eh nicht so wirklich...»

Ach, war das so? Seit wann besaß Madame denn irgendwelche Hemmungen oder ein Anstandsgefühl? Das war mir nun wirklich neu.

«Und hättest du bei keiner anderen Freundin übernachten können?»

«Sind alles Spießer. Ich bin immer für sie da, würde sie zur Not sogar durch das Fenster lotsen, wenn sie mal einen Schlafplatz brauchen, aber dafür sind sie ja zu große Schisser.»

Wir bogen in eine dunkle Gasse ein, eine Abkürzung wie sie meinte.

Allmählich tat sie mir leid. Jenna war wirklich einzigartig, eine Persönlichkeit die es sicherlich nicht oft gab. Solche Menschen waren jedoch sehr oft einsam, eben weil sie niemanden hatten, der mit ihnen mithalten konnte und genauso verrückt war wie sie.

«Hör zu», lenkte ich ein. «Wir checken kurz die Lage ab, verschwinden dann genauso schnell wieder. Von mir aus kann dich Natalia sehen, aber ich möchte auf keinen Fall, dass mich Blake oder gar Adrian erblickt, geht das klar?!»

«Geht in Ordnung, Chef.»

Sie war furchtbar aufgedreht, ich konnte wirklich nicht mir ihr mithalten.

Nach gefühlten zehn Minuten hob sie den Zeigefinger. Wir waren in einer Straße mit aneinander gereihten Einfamilienhäuser angelangt, die Laternen erhellten uns notdürftig den Weg, nur wenige Lichter in den Häusern brannten noch.

«Siehst du das Haus am Ende der Straße?» Sei deutete mit dem Zeigefinger auf ein großes Haus, jedoch konnte ich nicht viel erkennen.

Ob Leute im Vorgarten waren oder dergleichen. Schließlich wollte ich nicht, dass mich das Arschloch sah. Am Schluss würde er mich auch noch als Stalker bezeichnen und nachdem ganzen abgefuckten Scheiß, die er mit mir abgezogen hatte, würde ich ihn wahrscheinlich töten.

 

«Hey, Mädchen!» Jenna blieb abrupt stehen, riss mich unwillkürlich zurück, da ich nicht so schnell wie sie reagiert hatte.

«Kennst du den?», fragte sie mich und ich drehte mich um. Sah einen Kerl auf uns zu laufen, Anfang zwanzig vielleicht, Lederjacke, dunkle Jeans, schwarze Haare und ziemlich groß.

Ich klammerte mich an Jenna. «Nein, lauf weiter. Schnell.»

Bevor wir reagieren konnten, rief er wieder etwas. «Ich glaube, ihr habt etwas verloren.» Meine Tasche war zu, das Handy und all der andere Kram war ebenfalls darin. Ich blickte Jenna an, doch sie schüttelte den Kopf.

Ohne darauf einzugehen, zog ich sie weiter. Doch mit einem Stöhnen stoppten wir erneuert.

Zwei weitere Kerle standen vor uns. Wie aus dem Nichts waren sie urplötzlich vor uns aufgetaucht. Schattenkuss.

Ich schluckte schwer und versuchte sie nicht anzustarren, oder irgendetwas zu provozieren. «Wir wollen kein Stress», rief Jenna und versuchte an ihnen vorbeizulaufen, doch sie schnitten uns den Weg ab.

Die drei waren verdammt groß und obwohl ich mir sicher war, dass ich sie nicht kannte, ließ mich das beklommene Gefühl nicht los, als hätte ich sie irgendwo schon einmal gesehen. Einen flüchtigen Moment.

«Gibt uns eure Taschen», sagte einer der Kerle, betont ruhig und leise.

Mir wurde speiübel. Sie rochen nach billigen Aftershave, ihre Haare glänzten furchtbar im schmächtigen Licht der Laterne, als hätten sie zwei Tonnen Haargel für diese geleckte Frisur gebraucht. Ich wollte sie anbrüllen und ihm meine Faust mitten ins Gesicht donnern, aber ich war merkwürdigerweise still.

«Habt ihr nicht gehört?!» Der zweite Kerl, seine giftgrünen Augen durchbohrten mich förmlich.

Es war Jenna, die sich als erste von der Starre löste und ihnen gehorchte. Sie schmiss ihm ihre Tasche förmlich ins Gesicht, soviel Verachtung lag in ihrem Blick, so etwas war ich gar nicht von ihr gewohnt.

Adrenalin pumpte durch meinen Körper, ich ballte meine Hände zu einer Faust, keuchte im nächsten Moment erschrocken auf, als mir der dritte Kerl, der hinter uns stand plötzlich heftig in den Rücken stieß.

Ich knallte voller Wucht auf den Bastard vor mir, der mich ebenfalls von sich stieß.

«Deine verdammte Tasche!», wiederholte er.

Sie hätten mir die Tasche auch gewaltsam nehmen können, doch ich war mir sicher, dass sie keinen Aufstand wollten. Ich würde schreien und sofort wäre die ganze Nachbarschaft wach.

Er zuckte sein Messer, das Licht der Laterne brach sich in der Klinge.

«Lana, mach schon», flüsterte Jenna verstört, als sie das Messer erblickte.

Ich schmiss ihm meine Tasche ebenfalls ins Gesicht, mein ganzer Körper zitterte, soviel Adrenalin pumpte durch meinen Körper. Scheiß auf die verdammte Tasche, darum ging es mir überhaupt nicht. Was für ein beschissenes Arschloch musste man sein, um zwei Mädchen auf der Straße mit einem Messer zu bedrohen und zu berauben?

«Kommt, lass abhauen», hörte ich den Widerling hinter mir rufen.

Und plötzlich ging es wieder mit mir durch. Wie damals bei Mandy.

Einen Moment lang verlor ich die Kontrolle, nur einen winzigen Moment. Als würde ich jeden Moment aus Wut explodieren.

Ich holte aus und trat dem Bastard vor mir mit aller Kraft zwischen die Beine, er stöhnte gequält, Jenna schrie.

Vielleicht war es doch nicht wie bei Mandy. Damals war ich ihr überlegen gewesen.

«Du Schlampe.» Seine giftgrünen Augen starrten mich zornentbrannt an und er holte aus.

Ich hatte keine Chance auszuweichen oder irgendwie zu reagieren. Seine Faust traf mich heftig an meiner Wange und mein Kopf flog zur Seite.

Danach träumte ich von Ikarus.

Chapter 06 - Die Geister im Nacken

„Diego?! Du bist ja wieder auf den Pfoten!“

„Neun Leben, Baby!“

 

-Sid & Diego; aus Ice Age

 

 

 

 

Dieser Ort war mir fremd, jedoch hatten die rauschenden Wellen eine beruhigende Wirkung auf mich. Abertausende von winzigen Sandkörnern säumten das Paradies von der Unendlichkeit; mit den Fingern fuhr ich durch sie hindurch, ließ den kühlen Wind meine Wange liebkosen und schloss die Augen.

«Traumhaft nicht?», hörte ich ihn sagen. Dann wurde mir alles klar.

Ich hatte eine Teetasse aus Porzellan in der Hand. Azurblaue Orchideen tanzten drauf.

«Ja», erwiderte ich überwältigt. Eine gellende Leere hatte mich eingenommen, meine Herzschläge wurden stets langsamer, die Stimmen in meinem Kopf verstummten gänzlich. Es fühlte sich gut an – frei. Frei von allen negativen Gedanken - verschanzt in einem eisernen Käfig.

Ich blickte auf, meine Augen konnten lediglich seinen Umriss ausmachen. Die Sonne hinter ihm war so furchtbar grell, gleißendes Licht, eine Umarmung von Sunna.

Mein Finger hakte sich in den Henkel und ich hob die Tasse hoch, führte sie an meine Lippen. Ein Schluck Meerwasser.

«Ich habe nicht oft Besuch, weißt du.»

Salz prickelte auf meinen Lippen. «Bist du denn einsam?»

«Manchmal. Doch dieser Ort macht es ein wenig Wett.»

Ich schwieg eine Weile, vergrub meine nackten Füßen in den warmen Sandkörnern. Es fühlte sich herrlich himmlisch an.

«Und bist du glücklich?»

«Ja.»

«Lieber glücklich einsam, als alleine zu zweit?»

Ich bekam keine Antwort. Wie paradiesisch diese ganzer Ort auch zu sein schien...mir wäre es wahrlich nicht Wert, das alles bis in alle Ewigkeiten alleine zu genießen. Bei anderen Menschen fühlte man sich vielleicht oftmals alleine, aber ich...ich fühlte mich niemals einsam. Nicht bei ihm...

Seine bitterkalten Finger legten sich um mein Handgelenk, ein eisiger Windhauch wehte mir entgegen und ich blinzelte verwirrt. «Scheinbar hast du deine Entscheidung bereits getroffen...»

Ich nickte mechanisch, die Hand war verschwunden, die Tasse in meiner Hand zerbrochen. Es schmerzte nicht.

«Dann tu mir einen gefallen...» Er hatte keine Stimme. «Wach auf.»

 

 

«Lana, wach auf!» Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Körper, sammelte sich in meiner kompletten linken Gesichtshälfte und ich musste gequält aufstöhnen, als mich die stechende Intensität des Schmerzes mit jedem Atemzug beinahe überwältigte.

«Psst, Lana. Es ist alles gut.» Eine Hand strich vorsichtig über mein Haar und ich öffnete zaghaft die Augen.

Die verschwommene Sicht nahm allmählich Gestalt an und ich erkannte Jenna. Sie wirkte überaus besorgt. «Kannst du aufstehen?»

Erst jetzt realisierte ich, dass ich auf dem Boden lag. Es war kühl, meine Handflächen und mein Becken schmerzte. Wahrscheinlich von dem Sturz.

«Ja», hauchte ich benommen und setzte mich mit ihrer Hilfe auf, versuchte keine allzu hektischen Bewegungen zu machen, denn dann...ja, dann würde ich mich womöglich auch noch übergeben.

«Was ist passiert?» Mit zittrigen Fingern tastete ich vorsichtig über meine pochende Gesichtshälfte, fühlte jedoch zum Glück kein Blut.

«Dieser Penner hat dir eine reingehauen.» Ihre Hand ruhte auf meinem Rücken und sie blickte hektisch um sich. «Danach sind sie einfach abgehauen. Ich dachte schon die bringen uns um.» Sie schüttelte den Kopf, legte die Stirn in tiefe Furchen. «Siehst du, mir passiert niemals etwas.» Zum Ende hin war es nur noch ein leises Geflüster.

«Du solltest dich freuen. Das ist doch kein Fluch...», murmelte ich und stand langsam auf. Meine Beine zitterten, mein gesamter verfluchter Körper schmerzte, als hätte mich ein Panzer mehrfach überfahren. Verfickte Scheiße.

«Ich wollte rüber laufen und Hilfe holen», mit großen Augen und einer Handbewegung deutete Jenna auf das Haus am Ende der Straße, «aber ich konnte dich doch nicht einfach hier liegen lassen. Zum Glück bist du aber jetzt wach, komm, lass uns schnell zu ihnen gehen...»

Sie zog an meinem Arm, allmählich kehrte die aufgedrehte und quirlige Jenna zurück, doch ich ging nicht drauf ein. «Nein.»

Überrascht drehte sie sich zu mir um, die Lippen leicht geöffnet. «Nein?»

«Nein.» Ich wollte doch jetzt nicht ernsthaft auf eine beschissene Party gehen und nach Blake suchen, um ihm dann zu erklären, dass wir bei der Mission, eine Party zu crashen von drei Wahnsinnigen mit einem Messer bedroht und ausgeraubt worden waren. Hinzu kam natürlich, dass ich unglücklicherweise Bekanntschaft mit einer Faust gemacht hatte, weil ich – wie immer einmal – mein Temperament nicht unter Kontrolle gehabt hatte.

«Wieso denn nicht?» Jenna ließ mich los, trat wenige Schritte zurück und blickte mir fest in die Augen. Sie klang wie ein kleines trotziges Kind.

Ich seufzte, mir war speiübel, mein gesamter Körper zitterte unkontrolliert und das pulsierende Pochen in meinem Gesicht nahm zu. Das Adrenalin hatte gänzlich nachgelassen und allmählich wurde mir bewusst, was für einen Mist ich verzapft hatte.

Damit hatte ich nicht nur mich in eine verdammt gefährliche Situation gebracht, sondern auch Jenna.

«Was genau willst du denn, Jenna? Wir müssen die Polizei rufen und dort können wir das sicherlich nicht machen. Wenn die Bullen dort auftauchen...du weißt sicherlich auch, dass auf der Party nicht nur Alkohol ausgeschenkt wird. Wer weiß, was da gerade alles abgeht...»

Ich log natürlich nicht. Sicherlich gab es dort Drogen, wahrscheinlich sogar minderjährige betrunkene Leute. Adrian würde uns beide fertig machen. Aber nicht deshalb scheute ich mich, nun dorthin zu gehen. Wenn mein Gesicht so aussah, wie es sich anfühlte... Hinzu kam, dass ich erklären musste, was ich hier überhaupt zu suchen hatte.

Schließlich war der ursprüngliche Plan gewesen, dass sich Jenna nur kurz blicken ließ – es eben Natalia unter die Nase rieb – und wir dann sofort wieder verschwanden. Ohne dass mich jemand von denen erblickte...

«Wir können doch von dort aus die Polizei anrufen und dann wieder hierher kommen und auf sie warten. Wo ist denn das Problem?»

Ich blickte um mich. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass diese Kerle wieder auftauchen würden, aber sicher war sicher.

«Jenna...» Ich fühlte mich ratlos. Was sollte ich jetzt tun? Meine Mutter würde einen fürchterlichen Aufstand darum machen, ich konnte es mir bereits vorstellen. Jenna und ich hatten ebenfalls etwas getrunken, was eigentlich ja kein großes Problem war, schließlich konnte man Bier ja legal ab 16 kaufen und trinken. Jedoch würden sie uns mit Sicherheit beide nach Hause fahren. Vor allem weil es bereits so spät war. Wusste das Jenna?

«Sie werden uns nach Hause fahren. Du wolltest vorhin noch auf einer Bank schlafen, weil du deinen Eltern verklickert hattest, dass du bei deiner Freundin übernachtest. Was werden sie sagen, wenn dich die Bullen nach Hause bringen?»

Ein perfektes, überraschtes und langgezogenes Ohhh kam über ihre Lippen. Sie starrte mich missmutig an.

«Scheiße, daran hatte ich ja gar nicht gedacht. Was sollen wir dann jetzt machen?»

Langsam wurde sie ungeduldig und nervös, sprang von einem Bein auf das andere. Die schwarze Schminke war verschmiert.

Theoretisch gesehen, könnten wir zu uns gehen und dann die Polizei rufen. Den Stress mit meiner Mutter könnte ich in Kauf nehmen, der Polizei würde ich sagen, dass Jenna sowieso vorgehabt hatte bei mir zu übernachten und wir auf dem nach Hausweg überfallen worden waren.

Panik flutete im selbigen Moment meinen Körper, ich verspürte Angst. Wirkliche Angst.

Nein, wir konnten jetzt unmöglich nach Hause laufen. Die Wahrscheinlichkeit, ihnen auf dem Weg bis zu mir daheim doch zu begegnen, schien nun gar nicht mehr so gering zu sein.

«Verdammter Mist!», fluchte ich und legte meine Hand auf meine Wange

«Das wird bestimmt noch übel blau werden», deutete Jenna mit dem Zeigefinger auf mein Gesicht. «Es ist jetzt schon ziemlich rot und angeschwollen.»

Ich biss mir auf die Unterlippe, meine Augen brannten und ich stieß zittrig die Luft aus meinen Lungen.

 

 

«Hallo.» Jenna und ich schreckten zusammen, suchten beinahe hysterisch die Person, dem die Stimme gehörte.

In der Dunkelheit erblickten wir eine Frau, kein Licht in ihrem Haus brannte, die Tür war einen Spalt geöffnet und sie lugte zu uns herüber.

«Hi», rief Jenna lächelnd und hob die Hand zur Begrüßung und ich verdrehte die Augen.

«Kann ich euch irgendwie helfen?» Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie uns derweil belauscht hatte, denn ihre Worte waren von ausgewählter Sorgfalt und sie klang ziemlich ruhig, als wollte sie es vermeiden, ein verschrecktes Reh in die Flucht zu schlagen. Vorsichtig trat sie aus der Tür, inspizierte aufmerksam die ganze Umgebung und blickte dann erneuert zu uns. Sie trug einen seidenen Morgenmantel, das dunkle Haar war zerzaust und kurz. Ich schätze sie auf ungefähr 50.

Ich schluckte und sah zu Jenna, doch sie hatte mich vollkommen vergessen.

«Sie kommen gerade wirklich wie gerufen. Wir wurden gerade ausgeraubt, einer der Kerle hat meiner Freundin eine reingehauen, weil sie ihm zwischen die Beine getreten hat. Sie hatten auch ein Messer bei sich. Aber zum Glück sind sie abgehauen, als ich geschrien habe. Ist es nicht komisch, dass niemand aus der Nachbarschaft etwas gehört hat? Sonst wäre doch jemand ans Fenster gekommen und hätte die Polizei gerufen. Das ist echt schräg. Jedenfalls wollte wir zu einem Bekannten gehen und die Polizei selbst anrufen, aber das war dann doch keine so gute Idee, weil wir ja dann nach Hause gefahren werden und ich meinen Eltern erzählt habe, dass ich bei meiner Freundin übernachte. Und jetzt haben wir keinen Plan, was wir machen sollen. Für Lana wäre es kein Problem, aber meine nervige Mutter würde mir wahrscheinlich bis ans Lebensende Hausarrest geben. Sie ist ja so ein Spießer.»

Ich war einfach...fassungslos. Soviel zum Thema „Was machen wir jetzt?“

Nur zu Jenna, erzähl ihr doch auch gleich noch von deinem Lieblingsessen, was du gerne an verregneten Sonntagen tust und was deine beschissene Konfektionsgröße ist!

Das war es nun. Die Frau würde mit Sicherheit die Polizei rufen.

«Wollt ihr reinkommen?» Nun, irgendetwas lief hier wirklich gewaltig schief.

Ich verstand gar nichts mehr und war wirklich kurz davor, mich in die Hecken zu übergeben.

«Klar. Ich müsste ganz dringend mal aufs Klo», rief Jenna.

Die Frau verschwand kurz im Haus. Nur kurz hörten wie ein lautes Summen, bevor sich die weiße Gittertür automatisch öffnete.

«Jenna, warte!» Ich bekam ihren Arm nicht zu fassen, denn sie stürmte los.

Verzweifelt blickte ich um mich. Das hier klang nach dem Anfang eines Psychothrillers aus den 80er Jahren und ich war nicht wirklich heiß auf einen verfluchten Psychothriller. Langsam, wirklich ganz langsam keimte die Wut in mir auf, die unbändige Wut, die ich noch vorhin gegenüber diesen Typen empfunden hatte. Doch diesmal war die Ursache dafür niemand geringeres als Jenna. Sie macht mich wirklich fertig.

Kein Mensch konnte doch so unsagbar arglos und leichtsinnig sein.

«Möchtest du nicht auch reinkommen? Ich gebe dir ein Eisbeutel für deine Wange und kann euch ein Taxi rufen, wenn ihr nicht wollt, dass irgendjemand hiervon erfährt.» Ich traute ihr nicht.

Sie wirkte durch und durch normal, kein wahnsinniges Funkeln in den Augen – ob es so etwas gab, wusste ich nicht, Blake meinte stets, dass manche Weiber so etwas hatten und er sich vor solchen verrückten Hühnern fernhalten musste, weil er sie sonst niemals wieder loswerden würde.

Vielleicht hätte ich ihr niemals misstraut, wären wir gerade nicht ausgeraubt worden. Aber gerade jetzt wollte ich einfach nur nach Hause und mich in mein Zimmer einsperren.

«Na, komm schon Lana.» Jenna tauchte hinter der Frau wieder auf und ich spähte rüber zum Briefkasten. Sie hieß Johanna Berg.

Hör auf so unfassbar paranoid zu sein. Sie wirkt nett und rettet euch womöglich den Arsch.

Ich seufzte geschlagen und lief zu ihnen ins Haus. Vereinzelte, bunt blühende Blumen säumten den Weg dorthin, der Rasen war äußerst gepflegt und ein silberner Mercedes parkte vor der Einfahrt.

Sie erklärte Jenna, wo das Badezimmer war und bat mich ihr in die Küche zu folgen.

«Danke», murmelte ich und nahm den Kühlbeutel an mich und legte ihn vorsichtig an meine Wange.

«Du solltest vielleicht zum Arzt gehen, um sicherzustellen, dass nichts gebrochen ist.»

Johanna stellte ein Glas Wasser auf den Tisch und lehnte sich anschließend an die Theke. Sie trug keine Socken, scheuerte stets die nackten Füße aneinander, da die Fließen scheinbar äußerst kalt waren.

«Hm», machte ich und mit einem Schlag fühlte ich mich so unfassbar erschöpft.

Siehst du? Deshalb liebe ich das Leben, man weiß nie, wie der Tag enden wird.

Jennas Worte hallten in meinem Kopf wider. Der Tag hatte beschissenen geendet, darauf hätte ich wirklich liebend gerne verzichtet.

«Meine Güte, wie hatte ich denn ausgehen. Wie ein Pandabär auf Ecstasy.» Madame Desaster tauchte in der Küche auf. Sie hatte sich scheinbar frisch gemacht, denn von der verschmierten Schminke war nichts mehr übrig. Um genau zu sein, war sie gar nicht mehr geschminkt.

Wahnsinn, sie sah nun so furchtbar jung aus. Noch jünger als ohnehin schon.

«Ist das ihre Familie?» Ich hatte mich wahrlich getäuscht. Sie besaß weder Taktgefühl noch Anstand.

«Jenna!», rief ich empört, als ich den Bilderrahmen in ihrer Hand erblickte. Wo hatte sie nun den her? War das zu fassen?

«War.» Johanna trat auf sie zu und nahm den Rahmen an sich. Sie war damit überhaupt nicht grob oder dergleichen, sondern einfach nur bestimmend. «Das war meine Familie.» Damit verschwand sie aus der Küche. Irgendetwas bitterliches war in ihrer Stimme gewesen.

«Kannst du mal damit aufhören?»

Jenna setzte sich ebenfalls an den Küchentisch und sah mich fragend an. «Was denn? Das Bild war auf der Theke im Flur gewesen. Umgekehrt. Komisch, nicht?»

 

Ich schüttelte den Kopf und sagte absolut nichts mehr. Liebenswert verrückt hin oder her, im Moment konnte ich sie wirklich nicht ertragen.

«Ich habe Hunger. Du nicht auch?» Sie wickelte sich eine Strähne um ihren Finger und inspizierte die Küche, doch mit einem warnenden Blick gab ich ihr sofort zu verstehen, dass sie es nicht wagen sollte, jetzt auch noch die Schränke zu durchwühlen oder den Kühlschrank zu plündern. Sobald uns Johanna ein Taxi gerufen hatte, würden wir von hier verschwinden.

«Hast du dir überlegt, was wir machen sollen, wenn wir daheim sind?»

Sie zuckte die Schultern und ihre Augen wanderten abermals zu den Schränken. «Ich dachte, ich kann bei dir schlafen.»

Ja, das hatte ich mir auch schon überlegt, als mir der Plan in den Sinn gekommen war. Aber ich hatte etwas komplett anderes gemeint.«Ich meine, was die Polizei betrifft», seufzte ich. «Keine Lügen oder dergleichen. Nicht, dass es nach hinten losgeht.»

«Wie cool es gewesen wäre, wenn uns irgendwelche gutaussehenden Kerle gerettet hätten, oder?» Jenna klang begeistert, ihre Augen wurden groß. Jedoch konnte ich absolut nicht verstehen, wie sie jetzt darauf kam. Wir hatten anderes zu besprechen – es ging hier immerhin um ihren verdammten Arsch. Für mich wäre es kein Problem, wenn mich die Polizei nach Hause fahren würde; schließlich hatte ich nichts verbrochen. Gut, vielleicht war das übertrieben. Meine Mutter würde höchstwahrscheinlich ausrasten uns sich am Ende noch selbst die Schuld dafür geben. Keine Ahnung wieso, aber irgendwie schaffte sie das immer.

Jenna sollte sich viel eher Gedanken darum machen, was genau wir sagen sollten, wenn wir die Aussage machen mussten.

«Jenna?»

«Ja?» Sie starrte mich nach wie vor mit diesem schwärmenden Blick an, Jenna war noch bei den Kerlen.

«Halt die Klappe.»

«Ist gut.»

Ich würde mir schon irgendetwas überlegen. Dazu hatte ich ja noch etwas Zeit.

Nur hoffte ich, dass es meiner Mutter noch nicht aufgefallen war, dass ich nicht bereits im Bett lag. Als ich mit Julia im Turm gewesen war, hatte ich ihr eine SMS geschickt, dass ich bald nach Hause kommen würde. Ja, das hatte ich vorgehabt. Bevor Jenna mich überredet hatte diese dämliche Party zu crashen, was leider völlig nach hinten losgegangen war. Letztlich wurden wir gecrasht – oder besser gesagt ich.

Wenn sie bereits schlief, konnte ich sie ja aufwecken und ihr davon erzählen, oder erst morgen früh. Ich hoffte nur, dass sie nicht mit dem Telefon am Küchentisch saß und mich permanent besorgt auf meinem Handy anrief. Der war ja nun auch weg.

 

 

«Ich habe euch ein Taxi gerufen, es wird jedoch ein wenig dauern.» Johanna betrat die Küche und legte das Haustelefon auf den Tresen.

Innerlich atmete ich auf, denn mein geliebtes Zuhause war bereits in greifbarer Nähe. Womöglich würde ich die nächsten Tage durchschlafen und mein Zimmer überhaupt nicht verlassen. Ich war so unfassbar erschöpft und fertig.

«Danke», sagte ich.

«Haben Sie vielleicht etwas zu Essen? Altes Brot, Bonbons, oder vielleicht Kräcker? Egal was, ich verhungere.» Ein leidvoller Ausdruck legte sich auf Jennas Gesicht und sie versank in ihrem Stuhl, ihre kleine Hand wanderte zu ihrem Bauch. Ihr Magen knurrte zeitgleich und Johanna lächelte.

«Ich mache euch ein Sandwich.»

«Danke!» Ihr Gesicht hellte sich schlagartig auf und sie leckte sich über ihre Unterlippe.

Irgendetwas in mir sagte, dass ich mit diesem Mädchen noch sehr viel erleben würde. Ob dabei die guten Erlebnisse überwiegen würden...nun, das vermochte ich wirklich zu bezweifeln...

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

Gedankenverloren starrte ich aus dem fahrenden Taxi ohne mir überhaupt irgendetwas von der Außenwelt einzuprägen. Hin und wieder blendete mich das Licht der vorbeifahrenden Autos, erzeugte einen Tanz aus Licht und Schatten im inneren des Wagens. Danach rauschten sie in unverminderter Geschwindigkeit ans uns vorbei und ich starrte weiter hinaus in die Dunkelheit.

Das Taxi hatte eine geschlagene halbe Stunde gebraucht um uns endlich von Johanna abzuholen. Vorher hatte sie uns noch ein Sandwich gemacht und uns ruhig dabei zugesehen, wie wir es verputzt hatten. Jenna hatte viel gesprochen, zu viel nach meinem Geschmack, aber sie nicht ein einziges Wort.

Vielleicht war das der Grund für mein Misstrauen. Keine Paranoia, weil ich kurz vorher ausgeraubt worden war, sondern einfach nur ihr irdisches...Verständnis. Sie hatte absolut keine Fragen gestellt und ich war mir sicher, dass wir nach Alkohol rochen. Auch die Tatsache, dass sie die Sache einfach für sich behielt und uns sogar mit in das Haus genommen hatte, beunruhigte mich etwas.

Ich kannte niemandem wie sie. Wirklich keine Erwachsene die so reagiert hätte, wie sie.

Meine Faust drückte sich fester zu und ich starrte meine geschlossene Hand an. Sie hatte uns sogar das Geld für das Taxi gegeben, obwohl ich wirklich dagegen gewesen war. Das war dann doch zu viel des Guten, aber sie hatte sich wirklich nicht von ihrem Vorhaben abhalten lassen. Johanna hatte eine unfassbar ruhige, zugleich beruhigende Art an sich, dennoch wirkte sie bestimmend, keineswegs grob und streng. Sie war sehr eigen.

«Hm, jetzt werde ich auch langsam müde.» Jenna kuschelte sich an meine Schulter und ich wandte meinen Blick von meiner geschlossenen Hand ab, starrte erneuert aus dem Fenster.

«Was hattest du alles in deiner Tasche?», fragte ich nach einer Weile.

«Das übliche. Handy, Geldbörse, Kaugummis, Schminke, Parfüm, Bonbons und hey, sogar ein Pfefferspray!» Den letzten Teil hatte sie schnell und schrill ausgesprochen, als würde sie sich gerade erst daran erinnern. «Mist, ich hatte ein Pfefferspray. Wieso ist mir das nicht eingefallen?»

Nun, jetzt war es bereits zu spät. Kein Grund sich darüber aufzuregen.

«Hätte ich ihnen das nur ins Gesicht gesprüht, dann wären wir nicht ausgeraubt worden!»

Mein Kopf schoss nach oben und unsere Blicke trafen sich unwillkürlich im Rückspiegel. Der Fahrer sah überaus erstaunt aus. Ein Mienenspiel war zu beobachten. Zuerst erstaunt und verwirrt, danach nachdenklich und anschließend ziemlich missmutig.

Zwei junge Frauen die ausgeraubt wurden, ergo kein Geld für die Fahrt.

«Wir haben Geld, keine Sorge», beruhigte ich ihn in einem etwas schroffen Tonfall und lehnte mich anschließend wieder zurück, ließ es vollkommen zu, dass mich die ungeheure Müdigkeit und der pochende Schmerz in meinem Gesicht überwältigten. Danach schlidderte ich ungebremst auf den bodenlosen Abgrund zu...

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

«Wie fühlt es sich an?», murmelte Jenna. Sie lag auf der Seite in meinem Bett und ihr warmer Atem streifte mein Gesicht. Vor etwa einer Stunde waren wir endlich bei mir zu Hause angekommen. Da die Lichter im gesamten Haus nicht mehr an gewesen waren, hatte ich mich kurzerhand dazu entschlossen, meine Mutter nicht zu wecken. Jenna und ich waren um das Haus geschlichen und durch mein offenes Fenster in mein Zimmer geklettert.

Ich schauderte einen Moment. Das Fenster war offen gewesen, an sich hatte mich das niemals interessiert. Ich ließ mein Fenster oftmals offen um das Zimmer zu lüften, wenn ich nicht da war. Aber jetzt betrachtete ich das ganze von einer ganz anderen Perspektive – für Einbrecher wäre es so verdammt leicht gewesen in das Haus einzudringen. So etwas würde ich Zukunft wirklich lassen.

«Was genau meinst du?», fragte ich in die Dunkelheit.

Sie bewegte sich ein wenig, die gefühlten Tausend Armbänder mit den verschiedenen Anhängern an ihren Handgelenken klirrten dabei.

«Wie fühlt es sich an ein Held zu sein?»

Ich hätte gelacht, wäre die ganze Situation nicht so fürchterlich jämmerlich. «Ein Held zu sein? Denkst du ich bin ein Held?»

«Ja.»

«Wenn das so ist: Es fühlt sich beschissen an.»Jenna kicherte leise.

«Wir rufen gleich in der frühe die Polizei an. Jetzt sollten wir einfach schlafen. Ich fühle mich wirklich beschissen. Als hätte mich Hulk windelweich geprügelt...» Das alles fühlte sich noch furchtbar surreal an, fernab jeglicher Realität.

Ich wand mich im Bett, drehte mich auf die Seite und zog die Decke bis über meine Nase. Einfach schlafen.

«Kannst du mir eine Geschichte erzählen?», flüsterte sie leise, flehend.

Mein Kiefer schmerzte, weil ich die Zähne aus einem Impuls heraus fest aufeinander biss. Meine Geduld für Jenna...ja, hier ging sie zu Ende. Nach allem was wir heute durchgemacht hatten und in der Frühe noch durchmachen werden würden, wollte sie ernsthaft eine beschissene Geschichte von mir hören? Wie alt war sie? 12?

«Schlaf, Jenna...», erwiderte ich sichtlich um Fassung ringend, darum bemüht die Ärgernis aus jeder Silbe zu tilgen.

Ich gab ihr zwar nicht die Schuld an der ganzen Misere, obwohl mir ohne sie so etwas wahrscheinlich nicht widerfahren wäre, aber sie machte es mir wirklich verdammt schwierig durch und durch nett zu sein. Und das andauernd, jede Sekunde, jede Minute in der sie sprach oder irgendetwas tat. Dazu war ich einfach nicht der Mensch und nicht nervenstark genug. Nicht gerade, nicht jetzt.

Innerhalb von Sekunden waren meine Nerven wieder zum Zerreißen gespannt. Ich kniff die Augen zusammen und mein Kopf verschwand ganz unter der Decke. Ich musste gerade in Ruhe gelassen werden. Wirklich...

Vielleicht hatte sie das verstanden...oder gefühlt. Denn sie sprach kein Wort mehr und ließ mich komplett in Ruhe.

Mein Körper zitterte erneuert, es war ein abgefuckter und beschissener Tag gewesen. In meinen Träumen sah ich das funkelnde Messer in der sich das flackernde Licht der Laterne brach und heiße Tränen, die über meine Wange kullerten...

 

 

 

 

Das grelle Sonnenlicht tauchte das ganze Zimmer in gleißendes Sonnenlicht. Ich gähnte verschlafen und tastete mit meiner Hand nach Jenna. Langsam bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich in der Nacht beinahe die Beherrschung verloren hätte.

«Jenna?», murmelte ich verwirrt und hob meinen Kopf, als meine Hand nichts fand.

Wahrscheinlich war sie bereits schon aufgestanden und wühlte nun in den ganzen Schränken nach etwas Essbarem.

Oh, fuck.

Ich riss die Decke zur Seite und robbte mich aus dem Bett, stolperte beinahe über meine eigenen Füße. Hoffentlich hatte sie meiner Mutter noch nichts von dem gestrigen Abenteuer erzählt; sie wäre äußerst wütend darüber, es aus ihrem Mund zu hören und nicht gleich von mir. An meiner geschlossenen Holztür stoppte ich unwillkürlich, meine Augen erblickten ein Blatt an der Tür. Verwirrt umfasste ich das untere Ende und versuchte es zu lösen, aber das Ding wollte nicht abgehen.

Ach du scheiße. Auf meinem Schminktisch lag die kleine Tube Sekundenkleber. Die Kleine hatte doch tatsächlich ein Blatt mit Sekundenkleber an meine Tür geklebt. Verrücktes Mädchen, ehrlich.

Gähnend rieb ich mir den Schlaf aus den Augen und trat näher an meine Tür und las die wenigen Zeilen durch.

 

Hey, Lana.

Ich konnte einfach nicht einschlafen, also bin ich aus dem Haus geschlichen, als es endlich hell geworden war.

Falls du noch die Polizei anrufen möchtest, dann tue mir bitte den Gefallen und erwähne mich nicht. Vielleicht würden sie später dann irgendwann ein Brief zu uns nach Hause schicken oder sogar meine Eltern anrufen. Darauf habe ich keine Lust, Spießer Eltern und so. Du weißt Bescheid.

Jedenfalls danke ich dir für diese abgefahrene Nacht. Vielleicht sollten wir das mal wiederholen...oder auch nicht. :D

Du machst Hulk wirklich Konkurrenz.

Küsschen, Jenna.

 

Darunter hatte sie ein Pandagesicht hingekritzelt, nur das linke Auge von dem Bären war schwarz umrandet und über dem Pfeil stand mein Name. Verdammtes Biest, jetzt machte sie sich bereits schon lustig über mich. Ich riss das Blatt mit Gewalt von der Tür und knüllte es zusammen. Mit einem Wurf landete es in meinem Papierkorb. Seufzend setzte ich mich auf meinen Stuhl, und betrachtete mich einen Moment in dem großen runden Retro-Spiegel mit den schönen Verschnörkelungen an den Rändern – ein Geschenk von Nathaniel. Tatsächlich sah ich...beschissen aus. Langsam verfärbtere sich die angeschwollen rote Stelle an meiner Wange grünlich-blau. Unter den Augen würde es bestimmt fürchterlich aussehen.

Meine Finger zitterten als ich vorsichtig darüber strich und die Konturen nachfuhr, zeitgleich keimte sich ein mulmiges Gefühl in mir auf, was ich aber sofort verdrängte und wieder aufstand. Ich fand es wirklich scheiße von Jenna mich jetzt irgendwie im Stich zu lassen, schließlich hatte ich nur für sie geschwiegen, damit sie wegen ihren – so wie es stets sagte – Spießer Eltern, nicht bis ans Ende aller Tage Hausarrest bekommen würde.

Anfangs hatte ich mir Sorgen darüber gemacht, die Polizei über den Ort des Geschehens anzulügen, aber für sie hatte ich das in Kauf genommen. Und nun musste ich auch sagen, dass ich alleine gewesen war und nach dem Überfall niedergeschlagen wurde. Das war doch absurd.

Wo genau war die ganze Scheiße passiert, gab es irgendwelche Zeugen, wieso hatte ich nicht sofort irgendwo Hilfe gerufen, nachdem die Kerle verschwunden waren und erst am Morgen? All diese Fragen...mir wurde schlecht.

«Lana! Bist du wach?» Die Stimme meiner Mutter katapultierte mich augenblicklich aus meinem gedanklichen Hick Hack. Meine Augen wurden groß, im selben Moment durchflutete mich Panik. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass wir bereits 10 Uhr hatten, scheinbar machte sie gerade das Frühstück.

Ich schluckte schwer und öffnete meine Tür einen Spalt. «Ja, ich wollte kurz duschen.» Ob Arschloch bereits zu Hause war? Unweigerlich musste ich überlegen, was er sagen würde, wenn er von dem Ganzen erfuhr...

Wahrscheinlich, dass es meine eigene Schuld war, weil ich um so eine Uhrzeit noch unterwegs war. Und das mit Jenna.

«Gut, danach gibt es Frühstück. Beeile dich.»

Scheinbar war sie Jenna heute morgen nicht begegnet und wusste auch nicht, dass ich so spät nach Hause gekommen war. Das war gut, wirklich gut für den Moment. Meine Nervosität wurde ein wenig gestillt, denn nun konnte ich mir überlegen, ob ich mit der Wahrheit rausrücken – verziert mit ein paar kleinen Lügen natürlich, um Jenna zu decken – oder ob ich es einfach verschweigen sollte. Es war mir klar, dass sich meine Mutter fürchterliche Vorwürfe machen würde; immerhin hatte sie von nichts eine Ahnung. Noch nicht einmal, dass ich erst so spät zurückgekehrt war. Aber dennoch musste ich ihr irgendwie mein Gesicht erklären...

 

Genervt verschwand ich im Badezimmer und stieg unter die Dusche. Diese abgefuckte Scheiße regte mich so verdammt auf. Das ewige hin und her. Noch bevor ich mir frische Klamotten angezogen hatte, war meine Entscheidung gefallen. Ich hatte kein Bock mehr auf den Mist, für mich war es gegessen und Jenna würde noch etwas von mir zu hören bekommen.

Ich zog mir kurze Shorts an, einen Top und band meine nassen Haare zu einem unordentlichen Zopf. An meinem Schminkspiegel tupfte ich noch ein wenig Make-Up an die geschwollene und leicht gerötete Stelle und betrachtete mich zufrieden im Spiegel. Mein Kiefer schmerzte und der stechende Schmerz an meiner Schläfe war ebenfalls noch da, aber nun sah ich nicht ganz so...scheiße aus.

«Kann ich dir helfen?», flötete ich in einem seltsamen Stimmungswechsel und trat neben meine Mutter.

Sie war mit den Rühreiern beschäftigt und deutete auf den Kühlschrank. «Du bist aber gut drauf...»

Nicht wirklich, aber das gespielte gut-drauf-sein hatte auch etwas an sich. Das konnte ich nicht leugnen.

Gut denken, gut fühlen.

Ich plünderte unseren Kühlschrank, legte alles auf den Tisch und kramte den Toaster aus dem Schrank.

«War es gestern schön mit Chris?»

Irgendwie hatte ich es meiner Mutter zu verdanken, dass ich ihn kannte und nun nicht mehr missen wollte. Vor einigen Jahren hatte ich große Probleme mit der Versetzung gehabt, der i-don-fucking-care Modus natürlich aktiviert. Daraufhin war sie auf eine Anzeige aufmerksam geworden. Natürlich, Nachhilfelehrer. Anfangs hatte ich fürchterlich für ihn geschwärmt, nicht wirklich dazu in der Lage mich auf den Stoff und seine Erklärungen zu konzentrieren. Doch irgendwann, irgendwann war es irgendwie zur Sprache gekommen, dass ich – oder wohl eher Frauen im allgemeinen – nicht sein bevorzugtes Geschlecht in Sachen Partnerschaft waren. Meine Seifenblase war jämmerlich zerplatzt, danach hatte ich die Hoffnung aufgeben, dennoch waren wir sehr gute Freunde geworden. Der Altersunterschied fiel mir mittlerweile fast nie mehr auf. Wobei er gerade erst 24 war; in vielerlei Dingen verstand er mich wirklich verdammt gut.

«Ach, du meine Güte. Lana!» Aus Schreck ließ ich den Toaster aus meiner Hand fallen – zum Glück war es nicht der Riesentoaster; der hätte sicherlich meinen Fuß zerschmettert.

«Was?!», fragte ich furchtbar gereizt, zugleich erschrocken.

Meine Mutter schlug sich die Hand auf den Mund, entsetzten spiegelte sich in ihren Augen wieder. «Was hast du angestellt?» Sie zog mich an meinem Arm, an die Teerassentür, weil dort das Licht ziemlich grell war. Bestimmend legte sie mir eine Hand auf den Kopf, die andere an meinen Kiefer und legte meinen Kopf schief, wobei sie mir beinahe das Genick brach.

Es tat weh, verdammt. «Mum lass mich los. Es ist nichts, nur ein dummer Unfall.»

«Das sieht aber nicht nach einem Unfall aus.» Mit gerunzelter Stirn inspizierte sie meine Wange. «Was ist passiert?»

«In der Bahn gab es eine Rangelei, zwei Kerle sind sich an die Kehle gesprungen und ich habe leider etwas abbekommen, weil ich zwischen ihnen gestanden habe.» Mit Gewalt befreite ich mich aus ihrem Griff und starrte sie an.

«Ist das die Wahrheit? Soll ich Chris anrufen? Weiß er was davon? War er dabei?»

Ich kniff mir in den Nasenrücken und seufzte, versuchte mich mit jedem tiefen Atemzug ein wenig mehr zu beruhigen und die Nervosität aus meinem Körper zu spülen. «Nein, es ist auf dem Nachhauseweg passiert. Halb so schlimm, es geht mir doch gut.»

Genervt drehte ich ihr den Rücken zu und hob den Toaster vom Boden. «Wieso hast du mir nichts gesagt? Oder angerufen?»

«Ach ja, ich habe meine Tasche scheinbar in der Bahn vergessen...» Ich kratzte mich am Hinterkopf und schluckte. «Ergo sind mein Handy und all der andere Kram nun auch weg. Ich glaube, ich muss meinen Karte sperren und den Verlust meines Persos bei der Personalausweisbehörde anzeigen, damit ich mir einen neuen beantragen kann.»

«Ist das dein ernst? Lana, das sieht dir wirklich gar nicht ähnlich.» Aufmerksam inspizierte sie mich von oben bis unten, schien keineswegs über meine Antworten zufrieden zu sein; schließlich kannte sie mich sehr gut und wusste, dass ich manchmal äußerst überreagieren und Mist anstellen konnte. Sicherlich zog sie tief in ihrem Inneren in Erwägung, dass ich mich mit jemandem geprügelt hatte, deshalb waren meine nächsten Worte von ausgewählter Sorgfalt; meine Züge wurden weicher, meine Stimme ehrlich und sanft.

Mit wenigen Schritten überquerte ich die Distanz zwischen uns und blickte sie an. «Mum, es geht mir wirklich gut. Es war nur ein ziemlich beschissener Tag gewesen, mit Unfällen und einigen Zufällen. Wenn irgendetwas ernstes gewesen wäre, hätte ich dich doch aufgeweckt. Mach dir keine Sorgen.»

 

Nur langsam wich die Anspannung aus ihrem Körper, ihre straffen Schultern sanken ein wenig und die sorgenvollen Zügen entspannten sich zunehmend. Erst im Nachhinein erschrak ich mich darüber, wie leicht es mir gefallen war zu lügen und beinahe meisterhaft mit Gestik und Mimik umzugehen, um sie von meinen Worten zu überzeugen. Das schmeckte bitter auf meiner Zunge; schließlich war ich nicht wirklich der Mensch, der viel und gerne log. Geschweige denn wirklich gut darin war...Doch irgendetwas schien sich nach der Sache von Julias Dad geändert zu haben.

Es könnte alles sein und doch nichts.

«Du würdest mir doch erzählen, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist, oder?» Ihre Hand legte sich behutsam auf meine Schulter, sie wirkte einen Moment nachdenklich, doch keineswegs so angespannt und zerstreut wie noch vor wenigen Augenblicken.

Ich seufzte lächelnd und nahm ihre Hand in meine, verhakte unsere Finger ineinander. «Ja, Mum. Das würde ich.»

Zum Glück ließ sie es darauf beruhen und ging nicht mehr weiter drauf ein. «Ist Nate schon wach? Und Blake?»

Es roch herrlich in unserer Küche und allmählich überkam mich ein Mordshunger, da ich die letzten Tage über sehr wenig gegessen hatte. Stress schlug mir auf den Magen; wahrscheinlich hatte ich das ebenfalls von meiner Mutter.

«Nathaniel ist vor einer Stunde ins Büro gegangen. Er war ziemlich sauer, als er Blake nicht in seinem Zimmer vorgefunden hat. Wahrscheinlich war er die Nacht über gar nicht nach Hause.»

Ich schnappte mir einen Croissant und tunkte es in die Marmelade, biss herzhaft rein. Es wunderte mich ehrlich gesagt nicht, dass Arschloch noch nicht heimgekehrt war. Wer wusste schon, was genau auf der Party gestern losgewesen war.

«Im Büro?», ich ging auf die Sache mit Blake überhaupt nicht ein. «Es ist Sonntag...» Auch wenn ich wusste, dass es Nathaniel ungeheuer schwer hatte, ein ganzes Imperium von Deutschland aus zu führen, würde ihm etwas weniger Arbeit sicherlich guttun. Und dabei ging es mir noch nicht einmal darum, dass er meine Mutter in irgendeiner weise vernachlässigen könnte – das tat er nämlich nicht. Viel mehr ging es mir um seine Gesundheit. Soweit ich wusste, hatten Nathaniel und sein Bruder der in den Staaten lebte, die Leitung über das Collister Banking Corporation. Alles was Nathaniel von hier aus erledigen konnte, tat er auch, immerhin hatte er ein ganzes Büro gekauft und Personal eingestellt. Aber auf Dauer würde das natürlich nichts werden und ich wusste sehr wohl, dass er nicht nur kurzweilig zurück in die Staaten fliegen würde, sondern bald für immer. An wichtigen Meetings nahm er via Skype teil, manchmal flog er auch wieder zurück in seine Heimat.

Was alles sicherlich viel einfacher wäre, wenn er seinem Bruder die alleinige Vollmacht über das Imperium geben würde, sodass er nicht zwangsläufig bei jeder Entscheidung miteinbezogen werden musste. Aber ehrlich gesagt war ich froh, dass Nate das nicht getan hatte. Diesbezüglich hatte ich mal ein Gespräch zwischen ihm und meiner Mutter belauscht. Eine furchtbare Angewohnheit von mir, das wusste ich.

Aber sein Bruder Jonathan war ein furchtbarer Prolet; nicht sehr viele Menschen waren mir durch und durch unsympathisch. Aber er...er war es gewesen. Die Blicke, mit denen er mich auf der Hochzeit meiner Mutter traktiert hatte, waren fürchterlich überheblich und arrogant gewesen. Scheinbar war er es nicht gewohnt unter normalen Menschen zu verkehren, sondern nur in den gehobenen Kreisen, mit dem Menschen, die in Champagner badeten und Kaviar zum Frühstück aßen. Widerlicher Kerl. Auch wenn er sich kein einziges Mal über irgendetwas beschwert hatte, so waren seine Blicke sehr deutlich und einfach zu deuten gewesen. Ein stiller Zerstörer, wie ich solche Menschen nannte.

«Ja, du kennst ihn doch.» Meine Mutter schenkte sich Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch. «Hast du was von Blake gehört? Hat er dir gesagt, wohin er gegangen ist?»

Ich verschluckte mich an dem Bissen und schüttelte hustend den Kopf. «Nein, interessiert mich auch nicht sonderlich.»

«Lana», ermahnte mich meine Mutter mit drohendem Blick.

«Was denn?»

«Eure Streitereien müssen doch bald mal ein Ende haben. Ihr seid doch keine Kinder mehr.»

Die Wut keimte erneuert in mir auf. «Dann sag ihm das mal! Er beschwert sich über alles und jeden, benimmt sich total daneben, verschenkt meine Sachen und...» Ich stockte erschrocken.

Halt deine gottverdammte Klappe, fluchte Missy lauthals in meinem Schädel.

Beinahe...wirklich beinahe hätte ich den Kuss ausgeplaudert. Mir wurde übel.

«Und was, Lana?», hakte meine Mutter nach und blickte mich durchaus interessiert an.

Das Croissant auf Mundhöhe sank hinunter, ich verzichtete auf einen weiteren Bissen. «Mum, ich komme mit ihm einfach nicht klar. Es gibt Menschen, die mag man nicht, aber wenn es drauf ankommt, könnte man sich mit ihnen durchaus arrangieren oder sogar zusammen leben. Und dann gibt es Menschen», ich hielt einen Augenblick inne und versuchte die passenden Wörter zu finden, «die dir die Luft zum Atmen und die Lust am Leben nehmen. Ja, sie können dich sogar zu einem Psychopathen oder zum Mörder verwandeln.»

«Lana!», rief meine Mutter erbost und ich lachte aus einem unerfindlichen Grund auf.

Gut, das waren nicht wirklich die passenden Worte gewesen. «So etwas will ich nie wieder hören.»

Ich nickte und nahm einen weiteren Bissen. «Er soll mir einfach aus dem Weg gehen und mich in Ruhe lassen...»

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

Der 50 Euro Schein verschwand in meiner Hosentasche und ich löste das Zopfgummi von einem Vogelnest von Haaren, zupfte die noch leicht feuchten, welligen Strähnen zurecht, damit sie halbwegs in Ordnung aussahen. Die letzten vier Stunden hatte ich damit verbracht, laut Musik zu hören und die gestrigen Geschehnisse abermals Revue passieren zu lassen und mir stets verschiedene Szenarien auszumalen, wie das Ganze noch hätte Enden können. Manchmal hatte ich eine höchst masochistische Ader wie mir auffiel, schließlich fühlte ich den Schmerz, der mit dem gestrigen Vorfall verbunden war noch am eigenen Leib und als ob das nicht genug wäre, malte ich mir noch viel schlimmeres aus. Ob mir noch zu helfen war?

Und mal davon abgesehen, hätte ich mein Leid so gerne mit Julia geteilt; gestern Nacht, nach dem Vorfall und im Bett, war sie mir immer wieder mal durch den Kopf gegangen. Sie würde mich fertigmachen, weshalb ich sie nicht direkt angerufen hatte, das war mir klar. Aber ich wollte sie nicht gleich mit meinen Problemen belästigen, wo ich doch wusste, dass sie gerade selbst darin badetet. Ich seufzte, heute Abend würde ich sie aber gerne treffen und mit ihr reden...

 

Mein Schädel brummte noch immer, deshalb nahm ich gleich zwei Aspirin aus der Packung und spülte sie mit reichlich Wasser aus der Flasche runter, die auf meinem Schminktisch lag. Ich würde womöglich nicht zum Arzt gehen, obwohl man die Schmerzen nicht gerade ausblenden konnte. Dennoch war ich der festen Überzeugung, dass nichts gebrochen war oder dergleichen, schließlich wären diese Schmerzen kaum auszuhalten. Das waren lediglich nur meine Vermutungen, denn bisher hatte mir niemand ins Gesicht geschlagen, sodass ich irgendeinen Vergleich hatte.

 

Ich begutachtete mich noch einmal im Spiegel und war der Meinung, dass mein Gesicht noch etwas Makeup vertragen könnte; danach suchte ich geschlagene zehn Minuten nach meiner Lederjacke. Schnaubend schlug ich meinen Kleiderschrank zu, als ich mich letztendlich wieder daran erinnern konnte, wo die geblieben war. Arschloch.

 

Er war mittlerweile wieder zu Hause. Gleich nach dem Frühstück mit meiner Mutter war ich in mein Zimmer verschwunden und trotz der lauten Musik, die mich eingehüllt hatte, war er absolut nicht zu überhören gewesen. Seine Gorillaartigen Schritte verrieten ihn sofort. Ernsthaft, sogar das Haus vibrierte. Nach einer kleinen Diskussion mit meiner Mutter und einem kurzen, aber sehr brausenden Telefonat mit seinem Vater, war er in seinem Zimmer verschwunden. Scheinbar musste er das Abenteuer von gestern noch verarbeiten. Das war mir wirklich nur recht, er hatte mich zum Glück noch nicht gesehen und ich hoffte, dass ich ihm so lange wie möglich aus dem Weg gehen konnte. Wenigstens so lange, bis die Schwellung an meinem Gesicht etwas abgenommen hatte und ich das nötigste mit dem Makeup etwas besser kaschieren konnte.

 

Ich wollte Blake wirklich nicht schlechter darstellen, als er es ohnehin bereits war, aber ich war der Meinung, dass er irgendeinen lächerlich und überaus unpassenden Spruch ablassen würde, sodass ich leider Gottes gezwungen wäre ihm den Kiefer zu brechen. Nicht zuletzt, weil mich seine stets wechselnden Gemütslagen nicht nur verwirrten, sondern auch verunsicherten.

Mein Herz schlug ein einziges Mal kräftig gegen meine Brust, als wollte es mich verhemmt an irgendetwas erinnern, was im Zusammenhang mit diesen Gedanken stand. Ich kam nicht sofort drauf, erst als ich meine Finger gedankenlos an meine brennende Lippe führte, dämmerte es mir.

 

Der Kuss.

 

Nur eine Sekunde.

Vielleicht auch ein ganzes Leben.

 

Irgendetwas war an diesem Kuss gewesen, das mich seither auffraß. Innerlich verbrannte.

 

Es hat dir gefallen, grölte Missys Stimme äußerst amüsiert in meinem Kopf und ich sog scharf die Luft ein. Einen Moment lang schloss ich die Augen, versuchte all diese Gedanken auszublenden, Missys Stimme mit Gewalt stummzuschalten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

 

Nicht jetzt.

 

Ich öffnete meine Tür, darauf bedacht keine allzu lauten Geräusche zu machen und lugte hinaus. Außer Blakes Musik vernahm ich keinerlei verdächtige Laute – klirrende Teller oder dergleichen, was mir signalisieren würde, dass er sich momentan in der Küche aufhielt, denn meine Mutter war nicht mehr im Haus. Bereits bei unserem Frühstück hatte sie mir gesagt, dass sie sich um ein Uhr mit Vivien, einer Freundin von der Arbeit, auf Kaffee und Kuchen treffen würde. Und wir hatten bereits nach zwei. Also begab ich mich rasch in den Flur und steuerte geradewegs in die Küche, das an unser Wohnzimmer angrenzte. Oder andersrum. Wie man es sah. Klar war jedoch, dass ich es nicht mochte; es war so altmodisch, zwei separate Räume fand ich hingegen viel schöner und stilvoller.

 

Ich schüttelte den Kopf. Das war jetzt absolut nicht der richtige Zeitpunkt um über das Haus nachzudenken, denn ich hatte gerade etwas wichtiges zu erledigen.

 

 

…~°~…~°~ …~°~…

 

 

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis ich an meinem Ziel ankam. Die Hektik dieser Stadt an diesem Sonntag hatte mich ein wenig überrumpelt, obwohl ich es gewohnt war. Vielleicht lag es meinen pochenden Kopfschmerzen. Lautes Lachen, aufregende Gespräche, zerknirschte Gesichter, wüste Telefonate, rauschende Autos und das durchdringende Läuten der Straßenbahnen – ein Meer aus Geräuschen das für meinen Schädel die reinste Folter war. Aber ich hatte es geschafft.

Einen Moment lang starrte ich auf den Briefkasten und musste dümmlich Grinsen, als mir meine gestrigen Gedanken in den Sinn kamen. Johanna Berg. Ich hatte sie ernsthaft für gefährlich gehalten, auch wenn es nur für einen ziemlich kurzen Augenblick gewesen war. Aber das konnte ich dem Vorfall zuschreiben, schließlich war ich nicht ganz klar gewesen.

 

Dennoch tat es mir fast schon leid, als ich bei ihr klingelte. Ich hätte ihr den 50 Euro Schein auch einfach in den Briefkasten tun können; sie würde sicherlich sofort wissen, dass er von mir war. Das Geld, das sie uns gestern für unser Taxi gegeben hatte. Etwas viel meiner Meinung nach. Also hatte ich meine Spardose geplündert, um es ihr zurückzugeben. Mir gefiel das Gefühl nicht, dass ich in der Schuld einer praktisch mir völlig fremden Person stand. Sie war sehr zuvorkommend und behilflich gewesen, aber das war mir dann doch etwas zu viel.

 

Als niemand die Tür öffnete, spielte ich tatsächlich mit dem Gedanken ihr das Geld einfach in den Briefkasten zu werfen und von hier zu verschwinden. Bisher hatte ich es mit penetranter Hartnäckigkeit vermieden, mich hier umzusehen und somit dem gestrigen Vorfall die Chance zu geben, in grellen und bunten Farben vor meinem Inneren Auge aufzutauchen, aber allmählich sickerten ein paar Tropfen durch die brüchige Mauer.

 

 

«Lana.» Eine krabbelnde und furchtbar heftige Gänsehaut schob sich durch meine Lederjacke und ich zitterte. Als hätte mir ein Geist in den Nacken gehaucht. Ich schluckte schwer und meine Augen wurden riesig, als ich das Gesicht des Mannes erblickte, den ich hier niemals erwartet hätte; was überaus lächerlich war, wenn man bedachte, dass er gleich hier am Ende der Straße wohnte.

«Adrian.» Meine Stimme klang ein wenig schrill wie mir im Nachhinein auffiel, also räusperte ich mich. Abermals. Doch der Knoten löste sich nicht. Meine Reaktion war vielleicht nicht nachvollziehbar, aber ich fühlte mich gerade ertappt, als hätte ich versucht eine Straftat zu begehen. Hinzu kam, dass ich Adrian bisher nie, wirklich niemals außerhalb der Schule zufällig irgendwo, in irgendeiner Lokalität, in einem Kino oder dergleichen über den Weg gelaufen war. Wofür ich Gott auch wirklich dankbar war, denn er war mir wirklich nicht geheuer.

«Was treibst du denn hier?» Er legte den Kopf leicht schief und lüpfte vielsagend eine Braue, als er aufmerksam mein Gesicht inspizierte. Ich widerstand nur schwer dem Drang mir ans Gesicht zu fassen, oder es gar mit meinen Händen zu bedecken, damit er nicht so draufstarrte.

Er trug dunkle, zerschlissene Jeans, schwarze Chucks und passend dazu eine schwarze Lederjacke. Seine Haare waren wie immer ganz kurz geschoren, das Gesicht wie gemeißelt, breite Schultern, kräftig gebaut als würde er gleich in den Ring steigen; seine Haut war gebräunt, ein dreckiges Solariumbraun und eine kleine undurchsichtige Narbe zog sich über seine linke Augenbraue. In seinen dunklen Augen tobte etwas, aber ich vermag nicht zu spekulieren, was es war.

 

Sogar wenn er nichts tat, wirkte er auf mich ungeheuer bedrohlich, was vermutlich an den unzähligen Geschichten lag, die man sich an unserer Schule anstelle von Gruselgeschichten erzählte. Er kannte angeblich die übelsten Burschen der ganzen Stadt, die gefährlichsten Kriminellen und die schlimmsten Drogendealer. Hinzu kam...hinzu kam, dass er, und das wusste niemand den ich kannte mit hundertprozentiger Sicherheit, ein...

«Und?» Er unterbrach meine Gedankengänge und ich kräuselte ein wenig die Stirn, weil ich ihm beinahe schon aus Reflex ein „Das geht dich einen feuchten Dreck an“ um die Ohren werfen würde, aber ich hielt mich vernünftigerweise zurück. Wenn Blake mit so einem Kerl um die Häuser zog, was sagte das nur über ihn aus?

«Ich besuche hier nur eine Freundin von meiner Mutter.»

Und plötzlich betete ich dafür, dass Johanna endlich die verdammte Tür öffnete, auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr groß war, dass sie sich überhaupt nicht im Haus aufhielt – schließlich hätte sie mir doch derweil die Tür geöffnet, oder nicht.

«Die Berg?» Mit einem Kopfnicken deutete er auf ihren Briefkasten, ein Hauch von Sarkasmus schwang unterschwellig in seiner Stimme mit, was mich verwirrte.

«Ist was damit?»

Seine Miene wurde wieder ernst und ich vollkommen steif. Seine Augen waren zwar ziemlich dunkel, aber mit etwas Anstrengung konnte ich tatsächlich seine Pupillen ausmachen. Und verdammt, waren die riesig. Er war also sehr wahrscheinlich high.

 

Piss keinen gefährlichen Typen an, der hinzu noch auf Drogen ist, was ihn vermutlich noch gefährlicher und unberechenbarer macht als er es ohnehin schon ist.

 

«Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?» Noch nie in meinem Leben hatte ich mit diesem Kerl gesprochen und das obwohl wir in dieselbe Klasse gingen, also aus welchem verdammten Grund führten wir jetzt auf einmal ein Kaffeekränzchen? Er hatte sich noch nie für mich interessiert, wieso jetzt all diese Fragen?

 

«Ein dummer Unfall», sagte ich in einem Tonfall, das weder barsch, noch giftig klang, aber er sollte ihm definitiv signalisieren, dass das Gespräch für mich beendet war. Tatsächlich schien er drauf einzugehen, denn er nickte mir mit einem hämischen, leicht gefährlichen Lächeln zu, trat mehrere Schritt zurück und spukte auf den Boden, als wäre das seine Art sich zu verabschieden.

«Ich habe mich schon immer gefragt, was das für Unfälle sind, von dem Leute immer ein blaues Auge bekommen.» Er machte sich ernsthaft lustig über mich, schließlich war „Es war ein Unfall“ die lächerlichste Ausrede die es für ein blaues Auge jemals gab; nicht nur im echten Leben, sondern auch in Filmen und Büchern. Leute die darauf reinfielen, waren dämlich, aber Adrian nicht. Er war nicht dämlich. Sicherlich hatte er unzähligen Menschen bereits so ein Hieb verpasst, sodass er mir bereits den Winkel und die Geschwindigkeit berechnen konnte, mit dem mich der Schlag getroffen hatte.

 

Ich beruhigte mich etwas als er verschwand, doch ein ungutes Gefühl saugte sich an mir fest und ließ einfach nicht locker. Erst als ich die Tür hinter mir mit einem leisen Gequietsche öffnen hörte, verdrängte ich Adrian. Johanna war tatsächlich zu Hause. Aber wieso hatte sie dann nicht...

«Hallo», sagte sie vollkommen ruhig und beherrscht. Das Haar zerzaust und der Körper noch immer im selben Seidenmantel gehüllt.

«Sie sind ja doch zu Hause», sagte ich überrascht.

Sie deutete mit einem Kopfnicken hinter mich, als stünde da noch jemand. «Gerade, als ich dir aufmachen wollte, kam dieser Junge angelaufen. Der ist mir nicht geheuer.»

Willkommen im Club, Johanna. Also fühlte nicht nur ich mich in seiner Gegenwart unwohl.

«Ich muss Ihnen etwas geben.» Um meine Worte zu unterstreichen, nahm ich das Geld aus meiner Hosentasche und hob es hoch. Mit hochgezogenen Brauen bedachte sie mich einen Moment lang so, als wäre das jetzt nun vollkommen überflüssig, was ich da gerade vorhatte, aber sie sagte nichts.

Stattdessen drückte sie auf den Knopf, das summend das Gittertor vor mir öffnete. Dieses Geräusch war noch so vertraut, eben wegen gestern Nacht.

«Magst du nicht reinkommen? Ich koche uns einen Tee.» Die Worte blieben in meinem Hals stecken, denn ich wollte mich eigentlich nur für ihre Hilfe bedanken, ihr das Geld zurückgeben und verschwinden, aber ich nickte. Irgendwie beschlich mich das heimliche Gefühl, dass ihr etwas Gesellschaft gut tun würde. Sie wirkte immer so beherrscht und äußerst ruhig, aber irgendetwas in ihren Augen sang von Trauer.

 

 

 

«Woher kennst du diesen Jungen?» Johanna saß nicht mit mir am Küchentisch. Sie hatte sich wieder an die Theke gelehnt, scheuerte stets die nackten Füße aneinander. Weshalb zog sie sich keine Socken an, wenn die Fliesen augenscheinlich so kalt waren? Ernsthaft, diese Frage brannte mir sekundenlang auf der Zunge, aber ich befand, dass es doch unhöflich wäre sie zu stellen. Was interessierte es mich, weshalb sie keine Socken anzog?

Ich nahm einen Schluck von dem faden Schwarztee mit zwei Würfeln Zucker und stellte es wieder auf die Untertasse. «Wir gehen auf dieselbe Schule.»

Sie wirkte etwas überrascht. «Sogar in dieselbe Klasse», fügte ich hinzu.

«Ist der Bursche nicht etwas zu alt, um mit dir in einer Klasse zu sein?»

Ich nickte. «Er ist schon fast 20 und ist bereits zweimal sitzen geblieben, soweit ich gehört habe. Ärger mit dem Gesetz, hat den Unterricht nie besucht. Deshalb besucht er jetzt genau wie ich die 12. Klasse an der Berufsschule um sein Abitur zu machen.» So einen großen Altersunterschied zwischen uns gab es dann doch nicht. Ich war 17, hatte bald Geburtstag und er würde – genau wie Blake – bald 20 werden. Blake selbst hatte unverschämtes Glück gehabt, als er vor einigen Monaten vollends – und das selbstverständlich zwangsweise, nach der Hochzeit seines Vater – nach Deutschland gezogen war. Seine schulischen Leistungen waren so gut, dass er nach mehreren Tests und Beurteilungen unserer Lehrer mit in die 12. Klasse – zu mir leider Gottes – einsteigen durfte. Ich hatte da mal ein paar Theorien fallen lassen; zum Beispiel dass Blake die Lehrer, ach vergisst die Lehrer, sonder das ganze Ministerium bestochen hatte, um gleich ein Jahr zu überspringen. Aber meine Mutter hatte mich ziemlich übel zusammengestaucht, was bei mir nur wieder einen Lachanfall ausgelöst habe. Aber seither hatte ich kein Wörtchen mehr darüber verloren.

Ich musste mir letztendlich eingestehen, dass er wirklich so gut war. Zumindest in der Schule.

 

«Nicht schlecht», sagte sie anerkennend und ich war verwirrt. Ärger mit dem Gesetz zu haben und zweimal eine Klasse zu wiederholen, war doch nichts worauf man stolz sein konnte.

Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte, legte sich ein kleines, wirklich winziges Lächeln auf ihre Lippen. «Für manche mag er vielleicht ein Versager sein», so hätte ich das nun wirklich nicht ausgedrückt, «aber ich finde, er kann trotz allem stolz auf sich sein. Nach allem was man so über ihn hört, die ganzen Probleme, die er hat und auch meistens verursacht, scheint er doch irgendetwas erreichen zu wollen. Er klammert sich immerhin ja noch an die Schule.»

 

So hatte ich das Ganze wirklich noch gar nicht betrachtet. Man sagte ihm übles nach, aber Bildung schien ihm trotz allem noch wichtig zu sein. Aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen? Nach den ganzen Gerüchten über seine Strafanzeigen und dass er bereits im Jugendknast war, könnte das vielleicht auch so vom Gericht beschlossen worden sein. Keine Scheiße bauen, weiterhin die Schule besuchen, sonst kam er zurück in den Bau. Das waren stets irgendwelche Vermutungen, denn ich hatte absolut keine Ahnung, wie das so bei einer Bewährungsstrafe ablief.

«Und bei diesen Eltern, hätte der Junge auch nur so werden können.»

Ich nahm ein weiteren Schluck, obwohl es mir nicht wirklich schmeckte. Aber ich wollte nicht unhöflich sein. Als ich ihre Worte vernahm wurde ich hellhörig.

«Was ist denn mit seinen Eltern?»

Sie blickte an einen unbestimmten Punkt in der Ferne, scheuerte immer wieder die Füße aneinander. «Der Vater von ihm taucht alle paar Monate mal auf, ich sehe dann immer seinen schwarzen Geländewagen vor ihrer Einfahrt parken. Er hinterlässt einen Batzen Geld und verschwindet nach einigen Stunden wieder. Doch der Krach, die Streitereien die sie dann immer haben, ist in der ganzen Nachbarschaft zu hören.»

Das alles klang sehr seltsam. Und woher wusste Johanna überhaupt, dass er immer so viel Geld daließ? War sie mit Adrians Mutter befreundet?

 

«Woher wissen Sie das?»

Sie blickte mich an. «Was genau?»

«Na, dass er ihr immer so viel Geld gibt.» Die Tasse war halbleer, der Tee bereits etwas erkaltet. Irgendwie schmeckte es etwas salzig auf meinen Lippen.

«Er sagt es stets. Wenn sie sich auf der Straße streiten. Sie würde es nicht zu schätzen wissen, dass er immer mit mehreren Tausend Euros hier antanzt.» Woher das ganze Geld?

Abermals schüttelte sie den Kopf. «Doch alles was sie tun, tun sie dem Jungen an. In so einer verstörten und gewaltgeladenen Familie, hätte er doch nur so werden können.»

«Gewalt? Haben sie Adrian etwas angetan?»

«Das weiß ich nicht. Aber alles was sie tun oder sagen, beeinflusst den Jungen. Sie können ihm doch nicht jedes Mal, wenn sein Vater auftaucht, das Spiel der Gewalt vorspielen und dann annehmen, dass er zu einem vollkommen ausgeglichenen, gewaltverachtenden Menschen heranwächst, der sich lieber mit Worten artikuliert, als seine Fäuste sprechen zu lassen.»

«Also gehen sie aufeinander los?» Ich schluckte schwer.

Das hatte ich nicht gewusst. Das was Adrian stets durchmachte.

Sie nickte. Bei anderen Erwachsenen hätte sich wahrscheinlich nach dem ganzen Gerede von Gewalt und einem Kind darin, ein Ausdruck von Verachtung und Missbilligung breit gemacht, aber bei ihr war da keine Spur davon. Noch nicht einmal in der Stimme. Sie klang vollkommen beherrscht. Sie hatte nach dem ganzen Redeschwall noch nicht einmal Vorwurfsvoll geklungen, obwohl sie seinen Eltern ganz klar Vorwürfe machte – schließlich hatte sie das gesagt.

Sie war wirklich äußerst seltsam. Vielleicht bildete ich es mir aber auch nur ein.

«Einmal ist er auf sie losgegangen, mitten auf der Straße – ich frage mich, weshalb sie diese Streitereien auch noch auf der Straße austragen müssen, so lange, bis er in seinem Auto sitzt – und der Junge hat seinem Vater ganz furchtbar den Arm verdreht.»

Mich schüttelte es, ich blickte aus dem Fenster. Von wo aus sah sie sich dieses Grauen immer an? Von der Küche aus war es unmöglich. Vielleicht aus den oberen Stockwerken? Ein ganz schön großes Haus für eine Frau. Ob sie Familie hatte?

«Und niemand hat ihnen geholfen? Wieso ist er auf sie losgegangen?» Mein Magen zog sich zusammen.

 

Mir kam etwas in den Sinn. Gestern, nach dem wir ausgeraubt worden...Und zwar die Worte von Jenna an Johanna...

 

Aber zum Glück sind sie abgehauen, als ich geschrien habe. Ist es nicht komisch, dass niemand aus der Nachbarschaft etwas gehört hat? Sonst wäre doch jemand ans Fenster gekommen und hätte die Polizei gerufen. Das ist echt schräg.

 

Jenna war unerträglich, laut, quirlig und äußerst leichtsinnig, aber manchmal stellte sie verdammt gute Fragen. Hätte bei uns in der Nachbarschaft jemand geschrien, um Hilfe gerufen oder derartiges, stünden die meisten Nachbarn sicherlich schon auf der Straße, die Polizei gleich nach zehn Minuten. Irgendwas stimmte mit den Leuten hier nicht...

 

«Scheinbar haben sie beide Affären und in der Nacht, hat er ihre herausbekommen, was aber nun wirklich kein Geheimnis war. Dennoch spielt das keinerlei Rolle, denn sie führen keine Ehe. Keine richtige. Er verschwindet, sie verpulvert das Geld.»

Mein geschockter Gesichtsausdruck schien ihr aufgefallen zu sein, denn sie versteifte sich.

«Tut mir leid, Kind. Ich rede nicht gern hinter dem Rücken anderer Leute. Ich habe mich vergessen.»

Ich schluckte, abermals. Aber da war wieder dieser Knoten. Ich hatte so viele Fragen. Vielleicht Tausend in jenem Moment, aber keine einzige, sinnvolle durchbrach das Chaos; konnte gestellt werden. «Sie betrügen sich wirklich gegenseitig?», brachte ich letztendlich hervor. Das war krank...aus welchem Grund ließen sie sich dann nicht scheiden? Immerhin schienen sie nicht mehr wirklich eine Ehe zu führen.

Johanna zuckte die Achseln. Das passte irgendwie gar nicht zu ihr. «Nachbarsgeflüster. Das habe ich nicht mit eigenen Ohren gehört.»

 

Und sofort wechselte sie das Thema. «Wie geht es deinem Gesicht, Kind? Und deiner Freundin?»

Ich war noch zu aufgewühlt um sofort auf diese Fragen antworten zu können, deshalb musste ich mich zuerst sammeln. Verdammt, Adrian tat mir gerade außerordentlich leid. Nun interessierte er mich, sein Leben, alles was er durchgemacht und ertragen hatte, all das, was ihn zu dieser Person werden ließ. Ich verstand nicht, weshalb Johanna so abrupt das Thema gewechselt hatte. Zwar nahm ich nicht an, dass sie eine schlechte Person war, aber sie konnte mir nicht ernsthaft verklickern, dass sie nicht gerne hinter den Rücken anderer Leute sprach. Das hatte sie schließlich die letzten gefühlten 30 Minuten getan. Und jetzt auf einmal...

«Kind?»

«Lana», korrigierte ich sie, versuchte jede einzelne Frage, die ich bezüglich Adrian und seinen Eltern hatte hinunterzuschlucken. «Nennen Sie mich doch Lana. Meinem Gesicht geht es den Umständen entsprechend und meiner Freundin geht es gut. Denke ich.» Schließlich war sie einfach abgehauen. Mehr wusste ich auch nicht.

Sie schien einen Moment zu überlegen, scheuerte wieder die Füße aneinander. «Ich habe da eine Salbe, hilft sicherlich gegen die Schwellung.» Damit verschwand sie aus der Küche.

 

Ich fühlte mich gerade ernsthaft erschöpft und mal davon abgesehen, tat so viel Information meinem Magen nicht gut. Dass Adrian so große Schwierigkeiten hatte, hätte ich niemals angenommen. Nicht jeder rebellische, gefährliche Junge hatte gleich so ein abgekorkstes Familienverhältnis und so üble Eltern. Aber dass es mir ernsthaft noch nie in den Sinn gekommen war, überraschte mich dennoch sehr.

 

 

Johanna tauchte wieder in der Küche auf. «Trage es zweimal am Tag auf und es wird Wunder bewirken.» Sie drückte mir gleich die ganze Packung in die Hand und ich fühlte mich etwas überrumpelt; nicht zuletzt weil ich noch etliche Fragen wegen Adrian hatte, die in meinem Kopf herumbrausten. Dennoch stand ich auf, irgendetwas an ihrer Körperhaltung sagte mir, dass ich nun gehen sollte.

«Danke», sagte ich und holte den Schein erneuert aus meiner Hosentasche, den ich beim Eintreten wieder da reingesteckt hatte. Ich legte ihn auf den Tisch und machte mich auf den Weg, als mich ihre Stimme aufhielt, ein letztes Mal.

«Kind, lass dich nicht von seiner Geschichte blenden. Er ist dir ebenfalls nicht geheuer, das habe ich in deinem Gesicht gesehen. Also vertrau diesem Gefühl.»

Ich nickte mechanisch, jegliche Fragen wären im Moment überflüssig gewesen, denn ich war mir ziemlich sicher, dass sie keine davon beantworten wurde. Also öffnete ich die Tür und ging, hinterließ diesmal eine Johanna, die sich an die Wand im Flur gelehnt hatte, mir nachsah und wieder die Füße aneinander scheuerte.

 

Die frische Luft trotzte ein wenig der Hitze, die von meinem Körper ausging, aber es tat meinem pochenden Gesicht mehr als gut; drängte die Information, die ich in den letzten Minuten wie ein Schwamm aufgesaugt hatte für einen kurzen Augenblick in den Hintergrund. Adrian musste nicht zwangsläufig mein Freund sein, dass er mir wegen seinen Eltern und dem Umfeld, in dem er jahrelang aufgewachsen war und nun noch immer lebte, leid zu tun. Wir Menschen waren da etwas einfacher gestrickt: Wir hatten sogar Mitgefühl für die Menschen, die wir absolut nicht kannten.

 

 

«Lana!» Kaum hatte ich das Gittertor hinter geschlossen, hörte ich ihn. Seine Stimme. Es vibrierte beinahe in meiner Brust. Mein Kopf schoss augenblicklich in die Höhe; mein überraschter Blick traf den wutentbrannten Gesichtsausdruck von Blake; er stand mit Adrian auf der gegenüberliegenden Straßenseite; neben ihnen drei weitere düstere Gestalten, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte.

Ein Kribbeln breitete sich in meinen feuchten Handflächen aus und ich schluckte schwer, trat zwei Schritte aus Reflex zurück, bis ich die eisernen Gitterstäbe in meinem Rücken spüren konnte.

 

Blake...

 

Aber wie...woher...Adrian.

 

Lestat verlor absolut keine Zeit. Er kam auf mich zugeschritten, erinnerte mich mit seinen anmutigen Bewegungen an einen blutrünstigen Wolf, der dabei war seine Beute in Stücke zu reißen und danach zu verspeisen. Aber irgendetwas passte nicht ins Bild...

Er wollte seine Beute nicht töten, sondern...beschützen.

 

Unmittelbar vor mir kam er zum Stehen. Sein betörender Duft wehte mir entgegen - er war das wandelnde Chaos und dementsprechend sah er auch aus. Als hätte ihn jemand noch vor wenigen Minuten aus dem Bett geklingelt und vermutlich war dies auch der Fall. Adrian dieser miese Verräter...

 

«Lana...», sagte er erneuert, aber so leise, dass ich es kaum vernahm.

Ich schluckte schwer, als er mit zwei Fingern mein Kinn umfasste und leicht zur Seite drehte, damit er mein Gesicht besser begutachten achten.

Sein Blick war in jenem Moment so durchdringend, so hasserfüllt und angsteinflößend, dass ich ernsthaft große Schwierigkeiten hatte, mein Gleichgewicht zu halten und nicht gleich auf die Knie zu sacken. Doch ich wusste, dass sein Hass in diesem Moment nicht mir galt, auch gar nicht konnte. Ich konnte es alles aus seinen Blicken herauslesen, aus jedem einzelnen angespannten Muskel, die sich so wunderbar durch sein Shirt abzeichneten.

Anschließend legte er seine warme Hand auf meine verletzte Wange, seine Fingerkuppe berührte hauchzart meine Unterlippe und sofort breitete sich ein leichtes prickeln und brennen darauf aus.

 

«Who the fuck did this to you?»

 

Ich schluckte schwer...der Knoten war wieder da. Und diesmal war ich mir vollkommen sicher, dass mir eine schwache Ausrede hier nicht raus helfen würde. Denn er wollte die Wahrheit hören.

 

Nichts als die Wahrheit...

 

Chapter 07 - Die grauen Nachtkatzen des verrückten Königs

 

S W E E T    T E M P T A T I O N

 

 

~ x X x ~

 

 

 

»Das ist eine richtig nette „Ich scheiß dich nicht an, du scheißt mich nicht an“-Vereinbarung.«

 

 

aus: From Dusk Till Dawn

 

 

 

-7-

 

 

Die zwielichtigen Gestalten verblassten beinahe synchron aus meinem Augenwinkel, als hätte Lestat ihnen per Gedankenübertragung zu verstehen gegeben, dass sie verschwinden sollten. Doch das linderte die penetrante Nervosität nicht im geringsten, die sich binnen von Sekunden an mich festgesaugt hatte und derweil auch keine Anstalten machte zu verschwinden – ganz im Gegenteil.

 

Der Umstand, dass ich ihm nun in gewisser Hinsicht vollkommen ausgeliefert war und das ohne jegliche Vorwarnung, ließ meine Nervosität ins Unermessliche steigen und schmälerte meinen grandiosen Plan ihm wenigstens eine gewisse Zeit aus dem Weg zu gehen.

«Lana», sagte er beinahe tonlos und blickte mir abwechselnd in die Augen. Trotz des Zornes in seinen eisigen Augen wirkte Lestat so furchtbar müde – lila Schatten tanzten unter seinen Augen, ein kleines Präsent zu langer Nächte. Doch es stand ihm merkwürdigerweise, es stand ihm sogar hervorragend so gezeichnet zu sein. Die Nacht liebte ihn.

 

«Lana», wiederholte er sichtlich unruhiger wirkend, durchbrach damit meine tristen Gedankengänge. Ich hatte nicht die geringste Ahnung was ich ihm nun sagen sollte, und seine warme Hand an meiner pochenden Wange trug sicherlich ihren Beitrag zu meiner Unsicherheit bei. Ich hatte Blake wahrlich noch niemals so erlebt; so viel Hass lag in seinen Augen, aber da war mehr, so viel mehr. Sorge.

«Ich...», murmelte ich ratlos und schluckte abermals. Der Knoten war nach wie vor an Ort und Stelle und seine Nähe machte mir unheimlich zu schaffen. Deshalb hob ich meine rechte Hand, ließ ihn auf seiner angespannten Brust zu Ruhe kommen, übte nur geringfügig Druck aus um ihm zu signalisieren, dass er mir etwas Freiraum geben sollte. Und tatsächlich kam er dieser stummen Bitte auch nach; seine Hand verschwand von meiner Wange und er trat zwei Schritte zurück. Dennoch wirkte er nach wie vor unruhig, abwartend und verlangte eine Antwort.

Ich leckte mir nervös über die Lippen und klemmte mir eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. Er machte es mir gerade verdammt schwer ihm aus dem Weg zu gehen; viel besser noch: Auszuflippen und ihm ein „Das geht dich einen Scheiß an“ um die Ohren zu hauen, denn er benahm sich absolut nicht so, wie ich es angenommen hatte. Er schien sich ernsthaft Sorgen zu machen und das jagte mir ernsthaft Angst ein.
«Ein blöder Unfall», plumpste es schließlich aus mir heraus. Ich musste bei meiner ursprünglichen Lüge bleiben, denn die Wahrscheinlichkeit enttarnt zu werden wäre sehr viel höher, wenn ich jedem irgendetwas anderes erzählen würde. Und die Wahrheit war etwas anderes. Mal davon abgesehen...ganz gleich wie besorgt er in jenem Moment auch wirkte, es gab keinerlei Garantie dafür, dass er die Wahrheit irgendwann mal nicht gegen mich verwenden, oder mich gar erpressen würde. Vielleicht war das etwas zu hoch gepokert und ich war nur ein Arschloch ihm so etwas zuzumuten...aber wer wusste schon wie Lestat morgen, nächste Woche oder in einem Monat diese Sache sehen würde? Nein, ernsthaft. Ich musste dicht halten.

«You gotta be fucking kidding me, are you fucking serious, Lana? You think I´m gonna believe that shit?» So viel zu seiner astreinen Selbstbeherrschung. Aber verdammt! Wie viele Fucks hatte er gerade von sich gegeben? Oh, oh. Das hatte sicherlich nichts Gutes zu bedeuten.

 

Die Angst mit den blassgelben Augen schabte mit ihren scharfen Klauen an den Tarnvorhang, scheinbar unschlüssig darüber ob der Moment passend genug war um mir an die Kehle zu springen, doch Hulk stellte sich hinter mich, stärkte mir den Rücken und nahm mir jegliche Möglichkeit jetzt einen Rückzieher zu machen. Ich straffte selbstsicher die Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust; dabei hegte ich überhaupt nicht die Absicht aggressiv rüberzukommen; das würde mich sicherlich nur verraten und ihm nur eine weitere Bestätigung geben, dass ich wirklich etwas verbarg.

 

«Blake», sagte ich vollkommen beherrscht und in einem sonderbar ruhigen Tonfall, in dem ich bis dato wirklich sehr selten mit ihm gesprochen hatte. «Es war wirklich ein blöder Unfall. Frag meine Mutter», damit würde ich sicherlich an Glaubwürdigkeit punkten. Dass meine Mutter bereits davon wusste.

«Deine Mutter weiß das schon?» Er legte den Kopf schief, lüpfte vielsagend eine perfekt geschwungene Braue in die Höhe und musterte mich ausgiebig; als würde er nach einer verräterischen Geste suchen und meine Lüge somit enttarnen. Doch ich blieb eisern und beharrte darauf.

«Natürlich. Ich habe noch vorhin mit ihr gesprochen.» Seine Muskeln spannten sich abermals an und er legte den Kopf einen Moment in den Nacken, die Hände verschwanden in den Hosentaschen seiner zerfetzen dunklen hüfttiefen Jeans.

Nach einer kurzen Bedenkzeit drehte er sich einfach um und lief wortlos los, hinterließ mich überaus perplex zurück, weil ich absolut keine Ahnung hatte, was er nun vorhatte. Stirnrunzelnd lief ich ihm hinterher, bis wir an der Kreuzung rechts abbogen und mir sein perfekt polierter Mercedes entgegenstrahlte.

Er blickte mich an, kurz bevor er einstieg. «You should tell me exactly what happened.» Ich schluckte. «Steig ein», deutete er mit einem Kopfnicken in Richtung der Beifahrertür und ich haderte einen Moment, ob ich vielleicht nicht doch lieber abhauen sollte. Aus welchem Grund sollte ich nun überhaupt in sein Auto steigen, schließlich hätte er mich hier draußen weiter ausfragen können. Wollte er mich etwa an einen abgelegenen Ort verschleppen und die Wahrheit mit Folter aus mir rauskitzeln? Ich grinste dümmlich, das war lächerlich.

«Lana», hörte ich ihn sagen, das Fenster komplett runtergefahren. Diesmal lag nichts mehr von der voran-tastenden Vorsicht in seiner Stimme. Er klang bestimmend und etwas härter.

Ich wusste, dass ich es bereuen würde, noch bevor ich zu Lestat – dieser beinah schon grausam schönen und zugleich gefährlichen Romanfigur – ins Auto gestiegen war, dennoch tat ich es. Ich öffnete mit einem mulmigen Gefühl die Wagentür, blickte geradewegs auf sein markantes Seitenprofil. Die dunkle Sonnenbrille saß bereits auf seiner Nase, verbargen die schönen lila Schatten unter seinen eisigen Augen. Er wartete nur noch bis ich angeschnallt war und brauste los.

 

 

 

Nach einer halben Ewigkeit in diesem schwarzen Prachtexemplar bekam ich stets mehr das Gefühl, dass er kein bestimmtes Ziel ansteuerte, sondern einfach nur völlig planlos durch die Gegend fuhr. Die Stille um uns war dennoch sonderbarer als diese Tatsache, keineswegs unangenehm, sodass ich das Gefühl bekam aus dem fahrenden Auto springen zu müssen, sondern wirklich angenehm, durch und durch. Es beruhigte mich, gab noch nicht einmal Missy irgendeine Chance um aus den billigen Plätzen einen unangebrachten Kommentar von sich zu geben. Mal davon abgesehen, war ich in meinen Gedanken mit etwas völlig anderem beschäftigt; ich sah ihm gerne dabei zu, wie er sein Auto fuhr. Er machte das mit so viel Eleganz und Leichtigkeit, mit so viel Zärtlichkeit und Hingabe, dass man nach einer Weile das Gefühl nicht los wurde, als würde er sich um eine Frau kümmern.

«Are you hungry?» Ich zuckte zusammen, so grotesk fühlte es sich an, als seine Stimme die wunderbare Stille durchbrach. Aber seine Frage war grotesker. Ob ich hungrig war? Wieso? Ahnte er etwas? War das ein Trick? Ich schnappte nach Luft und kniff mir in den Nasenrücken, versuchte ruhiger zu werden und meine Paranoia zu unterdrücken. Tatsächlich hatte ich Hunger, auch wenn das Frühstück noch nicht so langer her war.

 

«Ja, geht», sagte ich also.

Fünfzehn Minuten später saßen wir im Vapiano. Lestat hätte sicherlich der Höflichkeitshalber fragen können, worauf ich denn eigentlich Hunger hatte, aber gut. Einen Orden bekam er allein schon dafür, dass er mich überhaupt gefragt hatte. Mal davon abgesehen mochte ich dieses Restaurant, es war sehr originell. Beim Eintreten hatten wir eine Chipkarte bekommen, worauf die Bestellungen stets erfasst wurden, erst am Ende wurde bezahlt. Ich hatte eine Pizza bestellt, weshalb ich einen elektronischen Funkmelder bekommen hatte, der Alarm gab, wenn mein Essen fertig war und ich ihn an der Station abholen musste. Deshalb saß ich bereits an einem gemütlichen Fensterplatz ganz weit hinten. Lestat hingegen stand noch am Tresen und wartete auf sein Pasta; dahinter war die Showküche, wo das Essen frisch zubereitet wurde. Eine kleine Traube von Menschen hatte sich bereits gebildet und sahen den Köchen dabei zu, wie sie ein Meisterwerk nach dem anderen vollbrachten. Mir war das zu anstrengend gewesen, deshalb saß ich bereits.

 

 

 

 

Blake genoss seine - wirklich absolut köstlich aussehenden - Nudeln und ich meine Pizza. Wir schwiegen eine ganze Weile; ein Abkommen das wir unbewusst im Stillen getroffen hatten, denn ein Gespräch würde diesen wunderbar herzhaften Moment zerstören. Es gab nicht viele Momente, in denen wir die Waffen ablegten und uns wie zivilisierte Menschen benahmen, aber wenn, dann kamen sie unerwartet und immer gelegen.

«So, do you know the guy who punched you in the face?»

Das Stück Pizza blieb mir im Hals stecken, Hitze schoss mir ins Gesicht. So viel zu meinem Schwärmen bezüglich dieser angenehmen Stille. Beim nächsten Mal würde ich vermutlich dreimal auf Holz klopfen und auf den Boden spucken. Oder wie funktionierte das?

Ich trank einen großzügigen Schluck von meinem kalten Eistee und versuchte mich zu sammeln.

«Natürlich, wenn er mir nicht gerade ins Gesicht schlägt, verabreden wir uns gerne mal ins Kino, oder gehen Tontaubenschießen. Kommt aber immer auf seine Laune an», meinte ich ironisch und schob mir das letzte Stück Pizza in den Mund ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen.

Er blickte mich unverfroren mit diesen eisigen Augen an, die Arme hatte er vor seiner Brust verschränkt und Dank seines kurzärmeligen Shirts konnte ich das schöne Tattoo auf seiner gebräunten Haut sehen. Es war groß, ein typischer Tribal, dessen Ranken sich bis zu seiner Brust zogen. Obwohl er absolut nichts außergewöhnliches tat oder sagte, hatte er meistens diese irrsinnige Ausstrahlung die mich in Gedanken manchmal sündigen ließ.

«Ich habe dich etwas gefragt.» Keine Veränderung in Mimik oder Gestik, nichts. Und diese Kühle in seiner Stimme...gab es eigentlich irgendwelche Seminare darüber, konnte man das erlernen? Mich fröstelte es tatsächlich.

 

«Nein», sagte ich, «wirklich nicht.» Das stimmte ja auch.

«Und wie hat er dich getroffen? Warst du in der Nähe?»

Ich seufzte, kniff mir in den Nasenrücken. «Es ist in der Bahn passiert, Blake. Ich stand zwischen zwei angeheiterten Typen die sich aus irgendeinem Grund ziemlich schnell in die Wolle gekriegt haben. Der Schlag galt nicht mir, aber ich konnte ihm auch nicht mehr ausweichen, weil die Bahn so rammelvoll war.»
«Wieso bist du nicht an dein Handy rangegangen?»

«Wann?» Ich war ein wenig irritiert, dann dämmerte es mir. Wahrscheinlich hatte er mich unterwegs noch angerufen, bevor er mich vor Johannas Haustür aufgeschnappt hatte.

«Tasche verloren», zuckte ich wie selbstverständlich die Schultern, als würde mir so etwas hin und wieder mal passieren. Ich nahm noch einen Schluck von meinem Eistee und versuchte ruhig zu bleiben.

«You are hidding something, Lana.» Sein Blick veränderte sich schlagartig und er beugte sich vor. « Was zur Hölle hattest du überhaupt in Adrians Gegend zu suchen? Wer war diese Frau bei der du warst?»

Mein Kiefer schmerzte weil ich die Zähne wieder einmal fest aufeinander biss. «Was geht dich das an?» Ich klang schroffer als beabsichtigt, aber seine Fragerei reizte mich zunehmend, nicht zuletzt deshalb, weil ich mich wirklich in die Ecke gedrängt fühlte. Mir gefiel das nicht.

«Sag es mir.»

«Hör auf damit.»

«Glaubst du ich hatte Lust, nach der langen Nacht noch rumzufahren und dich in Adrians Gegend aufzusammeln?»

Ich erstarrte einen Moment. «Ist...das dein ernst, Blake? Wer bitte hat dich denn darum gebeten mich abzuholen? Deine kranken Marionetten haben dich scheinbar – aus welchem Grund auch immer – angerufen, als sie mich dort gesehen haben. Wieso eigentlich? Bezahlst du sie dafür, damit sie dir Bescheid geben, wenn sie mich mal sehen?» Oh, oh. So langsam wurde ich wirklich sauer.

Doch er verzog keine einzige Miene. «Wenn du irgendeinen krummen Scheiß hinter meinem Rücken drehst, dann werde ich mit Sicherheit herausfinden, was für ein Scheiß das genau ist. Glaub mir.» Das klang ernsthaft wie eine Drohung.

«Einen Scheiß. Hinter deinem Rücken...», murmelte ich leise lachend, mehr aus Wut als aus Belustigung. Denn witzig war das nun wirklich nicht. War dieser Kerl eigentlich noch betrunken? Oder wollte er mich einfach nur ärgern?

«Blake», sagte ich anstrengend ruhig. «Irgendein Scheiß hinter deinem Rücken drehen würde bedeuten, dass es dabei irgendwie um dich gehen könnte. Dass du irgendetwas damit zu tun haben könntest. Aber glaub mir, ich habe wirklich andere Sorgen, als auch nur einen müden Gedanken daran zu verschwenden, wie ich dir irgendwie schaden könnte. Du nimmst dich anscheinend für viel zu wichtig. Und, tut mir wirklich leid, deine Illusion jetzt zerstören zu müssen, aber das bist du gar nicht.» Meine Stimme wurde gegen Ende hin immer leiser und boshaft zuckrig.

Und diesmal konnte ich eine Regung erkennen. Wut.

Endlich. Ich hatte getroffen.
Doch er ging auf meinen Redeschwall gar nicht ein. «Was hast du angestellt?»

«Gar nichts.»

«Lana!»

«Was?» Ich warf die Hände in die Luft. «Kannst du es nicht einmal gut sein lassen? Mische ich mich jedes Mal in deinen Scheiß ein? Lass es doch einfach gut sein.» Damit stand ich auf und lief raus.

 

Die frische Luft trotzte der Hitze die mir ins Gesicht geschossen war. Ich verharrte einige zähe Augenblicke vor dem Restaurant und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Meine Reaktion war nun ein gefundenes Fressen für Blake um weiterzubohren und mich in den Wahnsinn zu treiben, das war mir klar. Jedoch wollte ich gerade keinerlei Gedanken daran verschwenden. Am liebsten würde ich mich einfach in mein Zimmer verkriechen und die letzten 24 Stunden aus dem Gedächtnis streichen.

 

Noch bevor ich meinen zweiten Schritt getan hatte um die Straße zu überqueren und zur nächsten Bahnhaltestelle zu laufen, hörte ich das aufregende Läuten einer Fahrradklingel; einen Atemzug später wurde ich durch eine Hand an meinem Oberarm grob zurückgezogen. Verwirrt wirbelte ich herum und traf den Blick von Blake.

«Oh.» Kam es überrascht über meine Lippen. Der Radfahrer rauschte an uns vorbei und stieß ein «Hast du keine Augen im Kopf, Mädchen?» hinterher. Ich ließ die angestaute Luft aus meinen Lungen und schluckte.

«Du kannst noch nicht einmal eine verdammte Straße überqueren ohne dabei fast getötet zu werden.» Er klang so unsagbar kalt. In einem zuckrig-klebrigen Roman wäre das sicher ein fundamentales Ereignis der die vorige reizgeladene Stimmung kippen und eine romantische Atmosphäre schaffen würde. Wobei der männliche Hauptcharakter das Mädchen ja immer vor einem Auto rettete; der Dramatik halber. Danach kam das gefühlte stundenlange anstarren, der klischeehafte Wind im Rücken der mit ihren Haaren spielte und schlussendlich vielleicht sogar ein Kuss.

«Ich...», murmelte ich die Stirn runzelnd und blickte um mich. «Ich war in Gedanken.»

Er sagte nichts mehr, meinen Arm ließ er jedoch nicht los, als wir die Straße überquerten. Ich fühlte mich dabei wie ein kleines Kind

 

 

Blake sagte nichts mehr. Auch nachdem er mich beinahe schon mit Gewalt in sein Auto verfrachtet hatte und nun nach Hause fuhr sagte er keinen Ton. Aber trotz der Stille konnte ich eindeutig seinen inneren Kampf wahrnehmen, den er mit sich selbst ausfochte. Seine Muskeln spannten sich beinahe im Minutentakt an, er seufzte zwischendurch immer mal wieder und fuhr sich durch die Haare. Ich konnte deutlich sehen, dass er mit mir reden und mich noch einiges fragen wollte, dennoch unternahm ich nichts, um ihn aus dieser Unruhe zu befreien. Vielleicht machte er sich doch irgendwie Sorgen und hatte vorhin nur die falschen Worte ausgewählt. Dennoch konnte ich das nicht einfach so hinnehmen, denn dass er trotz allem irgendwie annehmen könnte, dass es hierbei in irgendeiner Weiße um ihn ging, machte mich beinahe verrückt.

 

Deshalb ließ ich ihn in Ruhe verrückt werden.

 

 

 

~ x X x ~

 

 

 

Montagmorgen fühlte ich mich sogar noch beschissener als die Tage zuvor deshalb machte ich mir noch nicht einmal die Mühe und blieb reglos im Bett. Die Stille nach meinem Aufwachen währte nicht allzu lange, denn Lestat war ebenfalls aus seinem Schlaf erwacht. Ungewöhnlich früh sogar. Seine Tür wurde abermals geöffnet und geschlossen, er ging Duschen, danach in die Küche und nach einer halben Stunde hörte ich ihn leise im Flur auf und ablaufen. Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen als es kurz ungewöhnlich still wurde. Irgendwie hatte ich den Verdacht. dass er vor meiner geschlossenen Tür stand und lauschte, ob ich vielleicht auch schon wach war. Doch ich gab kein Geräusch von mir. Vielleicht machte er sich wirklich Sorgen um mich, aber ich war momentan zu ausgelaugt um über derartiges weiter nachzudenken.

 

Fünf Minuten später hörte ich seinen Wagen anspringen und mit quitschenden Reifen davonfahren. Seufzend drehte ich mich auf die andere Seite und blickte auf die Digitaluhr auf meiner Kommode. Es war kurz nach Sieben. Die Schule war fünf Autominuten von hier entfernt und begann erst um viertel nach acht. Merkwürdig dass er so früh aus dem Haus ging. Ob er ein Frühstück-Date mit Natalia hatte? Gab es so etwas überhaupt? Ein Frühstück-Date? Darüber musste ich ernsthaft grinsen. Dass ich auch nur einen müden Gedanken an so etwas verschwendete war fast schon jämmerlich.

 

Als ich das nächste Mal auf die Uhr blickte war es bereits halb neun. Meine Mutter war abermals in mein Zimmer gekommen um nach mir zu sehen und zu fragen, ob sie mich denn zum Arzt fahren sollte. Ich hatte mit einem müden Lächeln abgewinkt und gesagt, dass ich mich nur ausruhen bräuchte und die letzten Tage mich einfach nur geschafft hatten. Schweren Herzens hatte sie letztlich nachgegeben und war zur Arbeit gefahren.

Ich quälte mich aus dem Bett und schlurfte in die Küche, nahm aus dem Brotkasten ein Brötchen und biss zweimal halbherzig hinein, damit ich die Schmerztablette nicht auf nüchternem Magen nahm. Anschließend machte ich mir eine Tasse Kaffee und ging mir der dampfenden Brühe in der Hand auf die Terrasse, ließ die sanften Sonnenstrahlen meine Nase kitzeln. Die Stille im Haus war ungewohnt, aber angenehm. Meistens war das Surren des Fernseher zu hören oder die laute Musik aus Blakes Zimmer. Meiner Mutter und Nathaniel waren ja sowieso fast den ganzen Tag auf der Arbeit.

 

Mir ging so vieles durch den Kopf und ehrlich gesagt vermisste ich Julia. Die Gespräche und Albereien mit ihr...einfach alles. Zuletzt hatte ich sie vor zwei Tagen im Turm – vor dem Vorfall – gesehen, dennoch kam es mir vor wie ein halbes Leben. Die Stimmung war mittlerweile anders, was man unter diesen Umständen selbstverständlich verstehen konnte, aber ich hatte angenommen, dass diese Sache uns auf irgendeine Weise viel näher bringen würde; dass sie vielleicht viel öfter herkommen würde um den Problemen zu entfliehen.

Aber das genaue Gegenteil war geschehen. Ich hatte das beklommene Gefühl dass sie ihre Probleme auf eine andere, vielleicht nicht zu gesunde oder legale Weise zu lösen versuchte. Der Joint und das demolieren des Autos von Alexanders...Geliebten mal als Beispiel genommen. Ich hoffe nur inständig, dass dies bereits die Spitze des Eisberges war und nichts hässlicheres hinter dem Vorhang lauerte.

Seufzend kniff ich mir in den Nasenrücken und ließ die Schultern sinken. Insgeheim war ich doch eine Heuchlerin. Ich hoffte, wünschte und betete, dass Julia nichts Dummes anstellte aber selbst schien ich nicht das geringste zu unternehmen, damit es wirklich nicht dazu kam. Ich war noch nicht einmal bei ihr gewesen, nachdem sie mir die Sache von ihrem Vater berichtet hatte. Das musste aufhören, ich musste das schlechte Gewissen beiseite schieben und für meine Freundin da sein. Denn sie war es immer für mich gewesen...

 

 

 

~ x X x ~

 

 

 

Der Friseurladen in dem Julia das letzte Jahr ihrer Ausbildung absolvierte war 20 Minuten Fußweg entfernt und dennoch lief ich, anstatt die Bahn zu nehmen. Laufen half mir immer meine Gedanken zu ordnen und mich zu beruhigen, es tat meiner Seele gut.

Die Tatsache dass Julia bei uns Zuhause nicht angerufen hatte beunruhigte mich etwas. Denn das bedeutete, dass sie mir auch keine Nachrichten auf mein Handy geschrieben hatte, der ja leider nicht mehr in meinem Besitz war. Aber gut, das hatte nichts zu bedeuten. Sie hatte gerade ganz andere Sorgen und musste sich ja nicht jeden Tag bei mir melden.

Als ich den Laden betrat hielt ich instinktiv nach einem Rotschopf Ausschau, denn Julia war die einzige Mitarbeiterin mit solchen Flammen von Haaren. Doch bevor ich mit meiner Suche wirklich fündig wurde, begrüßte mich eine Frau und ich erkannte sie als Julias Chefin Nicole. Eine schöne Frau in den Vierzigern. Sie trug ihre Haare jedoch nun viel heller und kürzer; einen Bob hatte sie sich geschnitten und das schwarze, knielange Kleid mit dem Ripsband um ihre Hüfte, das sie zu einer kleinen Schleife zusammen gebunden hatte, umschmeichelte ihre schlanke Figur. Am Bund schimmerte die Spitze durch aber sonst war es wirklich blickdicht.

«Hallo, Lana», begrüßte sie mich und entblößte bei ihrem freundlichen Lächeln eine Reihe perfekter weißer Zähne. Ihr warmen, blauen Augen huschte einen Moment auf meine geschwollene Wange und die dunkler verfärbte Stelle unter meinem Auge und dem Lid. Jedoch blickte sie mir genauso schnell wieder in die Augen und erhielt ihr freundliches Lächeln aufrecht.

«Hallo», erwiderte ich mit einem Lächeln, das nicht halb so heiter wirkte wie ihres. Aber immerhin.

«Wird bei dir heute etwas gemacht?» Diesmal huschten ihre Augen über meinen Vogelnest von Haaren. Ich hatte sie wieder einmal zu einem chaotischen Zopf gebunden. Wenn ich mich jämmerlich fühlte, dann musste ich auch so aussehen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz und geschah völlig unbewusst. Aber wer hatte schon Lust sich rauszuputzen, wenn es ihm nicht sonderlich gut ging?

«Nein», schüttelte ich den Kopf. «Ist Julia da?»

Sie wirkte einen Moment überrascht. «Sie hat sich diese Woche krankgemeldet.»

Diesmal war ich diejenige mit dem überraschten Gesichtsausdruck. Aber ich sammelte mich sofort wieder. «Mhm, ach so.»

«Sie klang nicht sehr gut am Telefon. Weißt du was bei ihr los ist?»

Natürlich wusste ich was los war. Und sicherlich wusste auch Nicole, dass ich es wusste, denn ein wehmütiges Lächeln stahl sich kurz in mein Gesicht. Julias Chefin kannte mich schon ziemlich lange, immerhin war ich oft hier gewesen, wenn auch nicht als Kundin. Für den praktischen Teil ihrer Prüfungen hatte Julia mich oft als Modell genommen, weil sie – wie sie stets immer sagte – mit meinen langen Haaren ordentlich was raushauen konnte. Vor allem was extravagante Hochsteckfrisuren betraf. Und Julia war gut, verdammt gut sogar.

«Nein», verneinte ich. «Aber ich werde mich mal später bei ihr melden.» Ich verabschiedete mich von Nicole, bevor sie mich in ein längeres Gespräch einwickeln lassen konnte. Denn nach dem Ausdruck in ihrem Gesicht zu urteilen, hätte sie mich gerne noch einige Dinge bezüglich Julia gefragt, aber ich hatte ihr nicht mehr die Gelegenheit dazu gegeben. Immerhin wusste ich nicht, was genau Julia ihrer Chefin sagen würde, was ihre Abwesenheit betraf. Und im Grunde ging mich das auch nichts an. Es betraf ihren Job.

 

 

 

Auf dem Nachhauseweg machte ich noch an einer Bäckerei halt. Ich hatte nicht viel Geld eingesteckt aber das Kleingeld in meiner Hosentasche reichte noch für ein Croissant und eine Capri Sonne. Nachdem ich einen großen Schluck genommen hatte, packte ich das Gebäck aus der Tüte biss herzhaft hinein und führte meinen Weg fort. Die Sonne wärmte meinen Rücken, die Temperaturen waren leicht gestiegen und hatten die morgendliche Frische vertrieben. Bald würde der Sommer wieder an die Tür klopfen und obwohl ich eine Vorliebe für kalte Jahreszeiten hatte, konnte ich es diesmal kaum erwarten, dass es wieder sonnig warm wurde.

«Und wenn es dem edlen Ritter gelingt, die verschollene Prinzessin zu finden und in das Königreich zurückzuführen, so wird er bis an sein Lebensende mit unsagbaren Reichtümern, wunderschönen Mägden und Fässern voll mit Wein überschüttet werden.»

Ich stolperte beinahe über meine eigenen Füße, als ich seine Stimme erkannte.

David.

 

 

Noch bevor ich mich ganz zu ihm herumgedreht hatte, wurde ich bereits in die Arme genommen und wie ein kleines Kind im Kreis gewirbelt. Ich warf den Kopf in den Nacken und lachte laut...so laut, dass es etwas fremd in meinen Ohren klang, denn es war ehrlich.

«Lass mich runter. Die Leute schauen schon.» Als ich nicht aufhören wollte zu zappeln stellte er mich zurück auf die Beine und löste die Umarmung. Jetzt erst konnte ich einen Schritt zurückmachen und ihm ins Gesicht sehen.

Das dunkle Haar wirkte irgendwie länger als ich es in Erinnerung hatte. Sie waren leicht gewellt und das pure Chaos. Der frische Wind wehte ihm einige seiner etwas längeren Strähnen ins Gesicht und der dreitage Bart trotze ein wenig den jugendlichen Zügen, die ihm die Zeit noch nicht genommen hatte.

«Was...ist passiert?» Von der vorigen Euphorie war nichts mehr übrig. Besorgnis und Unglauben breitete sich in seinen dunklen Augen aus.

Zuerst war ich zu perplex um zu verstehen worauf er ansprach, aber als sein Blick abermals über die geschwollene Stelle in meinem Gesicht huschte, dämmerte es mir.

«Ach...das. Lange Geschichte.»

Es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit als ich ihn zuletzt gesehen hatte, aber es war höchstens ein Monat vergangen. Ich legte meine Hände auf seine Schultern und wischte imaginären Staub von seiner Lederjacke. «Imagewechsel?» Ich deutete auf seine dunklen Klamotten, die Lederjacke, der silbernen, dünnen Kette um seinen Hals und den schwarzen Chucks. «Bad Boy?», tippte ich spielerisch und lachte auf, als er die Hand aus reiner Gewohnheit zu meinem Kopf führte um mir die Haare durcheinander zu wuscheln, aber Dank des Zopfes den ich mir gemacht hatte, von seinem Vorhaben abgehalten wurde.

Natürlich sah er nicht komplett anders aus. Es waren die Farben und die schwarze Lederjacke die ihm einen Touch von Bad Boy verlieh. Aber das tat so eine Jacke bei jedem wie ich empfand.

«Erzähl mir die Kurzfassung.» Er ließ sich nicht beirren, aber ich war nicht im geringsten dafür in Stimmung das alles noch einmal durchzukauen, nicht jetzt. Vor allem wollte ich gerade nicht über Jenna und ihrem unmöglichen Verhalten sprechen. Wenn ich schon nur an ihren Namen dachte zuckte mein rechtes Auge.

 

«Ich werde dir sogar die längere Version erzählen, aber nicht jetzt. Bitte zwing mich nicht.» Ich blickte ihm entschuldigend in die Augen, hoffte dennoch auf Verständnis. «Wir können uns ja mal die Woche noch treffen, mit Julia zusammen.» David und Julia würde ich natürlich die wahre Geschichte erzählen, denn ihnen vertraute ich vollkommen.

Zuerst schien er über mein Angebot nicht wirklich zufrieden zu sein, aber nach einem kleinen Blickduell, verdrehte er leicht genervt die Augen und seufzte ergebend.

«Wo gehst du eigentlich hin?», knüpfte ich an das erstbeste Thema an, das mir in den Sinn kam um die aufkommende Stille gleich zu vertreiben.

«Ich war bei Nicole. Julias Chefin.»

Ich blickte überrascht auf. «Wirklich? Dann hast du mich ja um Minuten verpasst.» Er hatte aufgeholt, weil ich danach noch kurz in der Bäckerei gewesen war.

«Was hast du denn dort gemacht? Und wieso bist du eigentlich nicht in der Schule?» Wir setzten unseren Weg langsam fort und ich zuckte unschlüssig die Schultern.

«Eigentlich wollte ich zu Julia, aber...» Ich ließ den Satz unbeendet und blickte zu ihm auf. «Weißt du wo sie ist?»
Er nickte. «Ja, klar. Ich habe eben ihre Krankmeldung bei ihrer Chefin abgegeben. Sie ist Zuhause.»

 

Ich war verwirrt, schließlich wohnten Julia und ich im Bezirk Mitte, sogar im gleichnamigen Ortsteil. Der Laden war fünf Fußminuten von ihrem Haus entfernt. Wäre es da nicht einfacher gewesen selbst bei ihrer Chefin vorbeizuschauen oder die Krankmeldung einfach ihrer Mutter zu geben, damit sie es vorbeibringen konnte? Zwar wohnte David ebenfalls im Berlin Mitte, aber in einem anderen Ortsteil – Tiergarten.

«Ist sie krank?», fragte ich unsicher.

Er vergrub die Hände in seinen Jeans und blickte an einen unbestimmten Blick in der Ferne. «Hast du die Sache mit ihrem Vater-»

«Ja», unterbrach ich ihn. «Ich habe es gehört.»

Er nickte geistesabwesend. «Sie war gestern ziemlich übel drauf und war den ganzen Tag betrunken. Ich habe es nicht geschafft sie nüchtern zu bekommen, also habe ich sie irgendwann gegen 22 Uhr ins Krankenhaus gefahren.»

Ich erstarrte. «Was?»

Ein nervtötendes Surren ertönte plötzlich in meinen Ohren.

«Hey, alles gut. Es geht ihr gut», beruhigte er mich hastig, als er meinen entsetzten Gesichtsausdruck erblickt hatte. «Anders hätte ich sie nicht dazu gekriegt wieder runterzukommen. Sie hat eine Infusion bekommen und danach sind wir gleich wieder nach Hause gefahren. Wobei das gegen ärztlichen Rat geschehen ist, aber immerhin. Es ging ihr danach wirklich wieder besser. Körperlich meine ich.»

Ich schluckte schwer und meine Hände zitterten. Als würde ich noch an etwas festklammern, das mir schon vor einer Weile abhanden gekommen war. «Wieso...wieso hast du mich nicht angerufen?» Meine Stimme klang schrill und grausam fremd. «Du hättest mich anrufen müssen...»

«Lana», sagte er seufzend. «Ich habe versucht dich zu erreichen aber dein Handy war aus.»

Das Pochen an meinem Gesicht nahm stetig zu und ich starrte ihn ungläubig an. «Und das hat dich davon abgehalten mir zu sagen, was mit Julia los ist? Du hast doch unsere Hausnummer, ja sogar die Nummer meiner Mutter, David!»

 

Er hob beinahe schon abwehrend beide Hände hoch. Scheinbar wusste er noch vor mir, wohin das ganze hier gerade zusteuerte, deshalb wollte er es im Keim ersticken. «Ich hatte nicht die Zeit um herumzutelefonieren und dich irgendwie zu erreichen. Immerhin habe ich sie danach noch nach Hause gebracht, ihrer Chefin von ihrem Telefon aus eine Nachricht geschrieben – dass sie angeblich krank ist - und sie heute morgen pünktlich geweckt, damit sie Nicole noch anrufen und ich sie dann zum Arzt bringen konnte. Mal davon abgesehen wollte ich nicht, dass du dir umsonst Sorgen machst. Ich hatte alles dahingehend unter Kontrolle und es war nichts, wofür ich die ganze Nachbarschaft zusammen trommeln musste.»

Mir war heiß und kalt zugleich und obwohl es nicht wirklich fair und verständnisvoll von mir war auf David wütend zu sein, so war ich es dennoch. Ohne ein weiteres Wort zu sagen drehte ich mich um und lief los, viel schneller als das Tempo das wir vor wenigen Minuten noch drauf gehabt hatten.

«Ach, komm schon. Lana!», hörte ich ihn beinahe schon mit einem schuldbewussten Unterton nach mir rufen und ich hielt tatsächlich inne.

 

Ich hatte kein großes Talent dafür angemessen auf unvorhergesehene Situationen zu reagieren. Ich gab mir noch nicht einmal die Zeit um in Ruhe über die Dinge nachzudenken bevor ich etwas unternahm oder sagte. Deshalb interpretierte ich in einem Moment der Rage viel zu viel in Sachen hinein die eigentlich gar nicht so verworren oder als Angriff gemeint waren. Ich fühlte zu viel und reagierte zu heftig. Irgendwie musste ich lernen meinem Gehirn eine kurze Denkpause zu geben, denn diese ständige Paranoia, dass alles ein Angriff war, würde mich irgendwann noch in ernsthafte Schwierigkeiten bringen oder Menschen verletzen, die mir wirklich wichtig waren.

 

Seufzend drehte ich mich um und blickte David in das nachdenkliche Gesicht. Er hatte sich kein bisschen von der Stelle gerührt und machte auch keine Anstalten mir entgegenzulaufen, also tat ich es selbst. Unmittelbar vor ihm kam ich zum stehen und verschränkte aus einem Impuls heraus die Arme vor der Brust.

«Wirst du mir jetzt eine reinhauen?»

Ich verdrehte die Augen, aber er konnte mir dennoch ein Lachen abgewinnen.

«Bring mich nicht in Versuchung», witzelte ich unsicher und er schien zu bemerken, dass ich mich gerade ziemlich unwohl fühlte.

Sein Blick wurde sanfter. «Ach, Lana.» Eine Hand legte sich auf meine Schulter. «Du solltest verstehen, dass ich dir niemals etwas vorenthalten würde, was Julia betrifft. Es war eine ungewohnte Situation mit der ich gestern und auch heute noch klar kommen musste, aber es war kein Ding der Unmöglichkeit. Wenn es aus dem Ruder gelaufen oder etwas ernsthaftes passiert wäre, dann hätte ich dir mit Sicherheit irgendwie Bescheid gesagt.»

Ich glaubte ihm. Natürlich tat ich das. «Ich weiß», murmelte ich leise und überlegte einen Moment. «Ist sie noch bei dir? Falls ja, dann komme ich mit. Ich sollte sowieso mal nach ihr sehen.»

Er unterbrach mich zwar nicht mit Worten, aber nach seinem Kopfschütteln verlangte ich nach einer Erklärung.

«Nein, ich habe sie bereits nach Hause gebracht. Wenn du willst, kannst du sie ja dort besuchen, denn ich muss noch zur Uni. Aber ich würde dir raten dich erst heute Nachmittag oder am Abend bei ihr zu melden. Sie sollte sich vielleicht erst einmal ausruhen.»

Ich lauschte seinen Worten und nickte geistesabwesend. Vermutlich hatte er Recht. Nach der Nacht brauchte sie sicher etwas Ruhe und viel Schlaf.

«Ist gut.»

«Vielleicht können wir uns ja auch zu dritt treffen. Immerhin hast du mir das», er deutete mit dem Finger auf mein Auge, «noch nicht erklärt.»

Ich nickte und befand das als eine gute Idee. Obwohl ich mir sicher war, dass Julia vermutlich ausflippen würde.

Nach einem kurzen Blick auf sein Smartphone schien er etwas in Eile zu geraten. Er schlang seinen Arm um meinen Nacken und drückte meinen Kopf sanft an seine Brust und lächelte. «Also dann. Ich muss meine Bahn kriegen sonst komme ich zu spät zu der Vorlesung. Der edle Ritter verabschiedet sich nun und wird sich zu einem späteren Zeitpunkt nach dem Wohlergehen der Prinzessin erkundigen..»

Nach der Andeutung einer ritterlichen Verbeugung brauste er los. Ich verdrehte lachend die Augen und sah ihm nach. Die Bahnhaltestelle war gar nicht mehr weit, man konnte sie bereits sehen.

 

«Weißt du David, wir sind keine Kinder mehr. Der edle Mondritter und die hilflose Prinzessin sind erwachsen geworden. Das Schloss bewohnen nur noch die grauen Nachtkatzen.»

 

Er hob eine Hand hoch ohne sich umzudrehen; ein Zeichen dafür dass er mich noch gehört hatte. Danach verschwand er in dem Trubel von Menschen die alle noch in die Straßenbahn einsteigen wollte.

 

In dieser Nacht träumte ich wieder von den wunderschönen grauen Nachtkatzen des verrückten Königs und die Nostalgie hatte einen angenehm bitteren Beigeschmack.

Chapter 08 – Die Nacht kennt alle Geheimnisse

 

 

 

~Luzifer? Ich dachte Luzifer wäre nur eine Geschichte,

die man auf der Dämonen-Sonntagsschule erzählt~

 

aus: Supernatural

 

 

-8-

 

Bevor ich aus der Haustür verschwunden war, stolperte ich beinahe über meine eigenen Füße, denn ich erblickte etwas am Kleiderhaken - meine Lederjacke. Eingepackt in einer durchsichtigen Tüte; am Haken selbst hing noch ein Zettel. Ein Kassenzettel – von der Reinigung.

 

Ehrlich gesagt wusste ich nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Blake hatte mir meine Lederjacke zurückgeholt und scheinbar hatte er meine Worte verdammt ernst genommen. Als ich meine Jacke aus der Tüte packte und mir unser Streit wieder in den Sinn kam, schüttelte ich abermals den Kopf über mein eigenes Verhalten. Sicherlich hatte Blake keinerlei Recht dazu meine Sachen einem x-beliebigen Mädchen zu geben – und dann auch noch mein Lieblingsstück, ein Geschenk von Julia – aber ich hatte wirklich übertrieben. Nicht zuletzt deshalb, weil er derjenige von uns beiden war, der Größe bewiesen und mir mein Kleidungsstück zurückgeholt hatte.

 

Seufzend packte ich die Jacke aus der Tüte, zog sie mir eilig über und düste aus der Haustür. Dass ich heute etwas spät dran war hatte dann doch etwas gutes – ich hatte nämlich auch nicht viel Zeit um über Blakes gute Tat nachzudenken...

 

 

 

Der Schultag zog sich zäh dahin – wie ein alter klebriger Kaugummi unter der Schuhsohle, dessen Bestandteile in ihrer Einzelheit kaum noch definierbar waren. Selbstverständlich hatte ich mich unbehaglich gefühlt als ich das Schulgebäude betreten hatte, aber die Übelkeit war so viel stärker und präsenter gewesen – was vor allem an einigen undefinierbaren Blicken seitens bekannter und auch unbekannter Gesichter gelegen hatte – dass ich kein anderes Gefühl wirklich festhalten konnte.

 

Und kurze Zeit später hatte mich die Apathie abgelöst. Seltsamerweise dann, als ich Adrians merkwürdig wissenden Blick im Deutschunterricht auf mir gespürt hatte. Die anderen Gesichter aus der Klasse drehten ertappt den Kopf weg, wenn sie meinen Blick trafen. Beschämt darüber, weil ich bemerkt hatte, wie sie mich angafften. Danach hörte ich sie äußerst unauffällig unter vorgehaltener Hand tuscheln – ihren Fantasien freien Lauf lassen. Jetzt würden sie mein ganzes Leben zerreißen, schwachsinnige Theorien aufstellen und letztendlich würde sich wahrscheinlich die irrsinnig geistloseste Geschichte wie ein Lauffeuer an der ganzen Schule verbreiten und mich brandmarken.

 

Ich war noch nie erpicht darauf gewesen einen blitzblanken Ruf in der Gesellschaft zu etablieren, aber eine erfundene Geschichte die mich an Ende noch als „Opfer des Drogendealers ihrer Mutter“ oder im Zusammenhang mit einem nicht vorhandenen „gewalttätigen, alkoholabhängigen Freund“ bringen würde, würde mich sehr wahrscheinlich stören, vielleicht sogar mehr als das.

 

Menschen hatten im Allgemeinen eine seltsame Affinität dafür, das ohnehin schreckliche noch viel mehr auszuschmücken und es grausamer darzustellen als es ohnehin schon war. Alles nur, damit die eigenen Vorstellungen von „Abartig und Grausamkeit“ befriedigt wurde.

 

Ich erinnerte mich an eine Schülerin aus dem letzten Jahr. Leni, 13. Klasse. Sie war schön, klug und wenige Monate vor ihrem Abschluss gewesen. In dieser Zeit machte ein Gerücht die Runde...und zwar das Leni schwanger war von ihrem Freund, den sie aus dem Sandkasten kannte. Anstatt alles totzuschweigen oder überhaupt zu versuchen, es irgendwie abzustreiten hatte sie es zugegeben. Mal davon abgesehen wirkte sie wirklich jeden Tag frisch und überglücklich.

 

Bis zu einem – mir – banalem Ereignis das noch Folgen nach sich ziehen würde. Sie und ihr Freund hatten sich an einem verregneten Tag in der großen Pause gestritten – auch ich hatte es mitbekommen ohne die Einzelheiten wirklich herausfiltern zu können. Doch die Mitschüler hatten sich das gemerkt. Auch dann, als Leni plötzlich am nächsten Tag nicht mehr in die Schule kam. Und drei weitere Wochen nicht. Erneuert machten irgendwelche Gerüchte die Runde...ihre ach so guten Freunde teilten einigen Leuten mit, dass Leni ihr Baby verloren hatte, ohne auf weitere Details einzugehen oder überhaupt Leni selbst die Chance zu geben um zu entscheiden, ob sie das irgendwem erwählen wollte oder nicht.

 

Irgendwann hieß es sie hätte ihr Kind abgetrieben. Wenige Tage danach setzte sich ein hartnäckiges Gerücht fest, das sich nie wieder vertreiben ließ. Und zwar dass von ihrem Freund geschlagen wurde und die folgende Fehlgeburt daher resultierte. Das alles schlussfolgerten sie daraus, dass Leni an ihrem letzten Schultag vor ihrer mehrwöchigen Abwesenheit einen heftigen Streit mit ihrem Freund hatte. Doch auch nachdem sie alles aufgeklärt hatte und meinte, dass sie einen Unfall gehabt hatte und die Fehlgeburt daher resultierte, war das Gerücht für die meisten nach wie vor die Wahrheit gewesen und die Wahrheit ein Gerücht.

 

Menschen waren seltsame Wesen...

 

 

Doch im Moment rückte das in den Hintergrund. Nur Adrian war da und er versteckte sich nicht so wie die anderen. Er musterte mich offenkundig und hielt sogar meinem Blick stand als ich absichtlich in seine Richtung schaute um zu signalisieren „Hey, ich sehe dass du mich anstarrst“. Doch er ließ sich davon überhaupt nicht beirren und ich musste überlegen, wann er sich denn jemals an gesellschaftliche Gepflogenheiten gehalten hatte und es nun nicht tat.

 

 

Nach einer Weile blendete ich auch ihn aus und gab mich dem ellenlangen Tag hin.

 

 

Kurz vor der dritten Stunde erteilte uns Lestat die Ehre und beglückte die Schülerschaft mit seiner Anwesenheit. Genau genommen war es in der großen Pause gewesen und ich saß mit zwei anderen Schülerinnen wortlos im Saal und starrte aus dem Fenster in den trüben Himmel, weil ich die frische Luft im Moment nicht ertragen hätte.

Bevor er überhaupt den Klassensaal betreten hatte, hörte ich ihn – und er klang absolut nicht glücklich. Genau genommen stritt er sich lauthals mit jemandem, doch die Tür war nicht weit genug offen, damit ich sehen konnte wer der Glückliche denn war, dem gerade ans Bein gepinkelt wurde. Die Stimme konnte ich ebenfalls nicht zuordnen, nur dass es sich um einen Kerl handelte.

 

Zwei Minuten später riss er die Tür beinahe aus den Angeln und stürmte hinein – er wirkte äußerst angespannt und wütend, doch als er mich auf meinem Sitzplatz erblickte wich sein Gesichtsausdruck purem Erstaunen und er stockte einen kurzen Moment.

«What the fuck are you doing here?»

Unter anderen Umständen hätte er mir damit vielleicht sogar eine ironische Antwort entlocken können, doch nach dem Vorfall und der Tatsache, dass ich gestern die Schule nicht besucht hatte, war seine Frage demnach durchaus berechtigt.

«Es geht mir gut...», sagte ich nach einer kurzen Denkpause und zuckte die Achseln.

Nur langsam streifte er seine Tasche von der Schulter und schlurfte auf seinen Sitzplatz zu. Er drehte den Stuhl nach hinten, damit er mir gegenüber saß.

«Dafür dass es dir gut geht, sieht das echt übel aus, Blauauge.» Er setzte sich hin und lehnte sich zurück, deutete mit einem Nicken auf mein Gesicht – auf das offensichtliche. Ja, die Verfärbung sah in der Tat mittlerweile viel schlimmer aus und in zwei Tagen würde es vermutlich noch viel schlimmer aussehen. Aber spätestens in zehn Tagen würde die eigentliche Heilung auch optisch langsam erkennbar werden und das üble dunkle blau würde sich langsam rötlich verfärben, nach einigen Tagen zu einem rosa übergehen und bald darauf ein gelbliches grün werden.

 

Diese Prozedur hatte ich schon oft genug bei Adrian beobachten können.

 

Und wenn sich das äußerliche wieder eingependelt hatte, würden sich die Erinnerungen an diese überaus...beschissene Nacht auch viel leichter verdrängen lassen.

«Du hast meine Jacke zurückgebracht?», fragte ich, ohne ihn dabei anzusehen. Das Leder fühlte sich wunderbar kühl an und leuchtete in einem tiefen schwarz.

«Ich konnte es nicht riskieren, dass du mich wegen einer Jacke umbringst.» Normale Menschen hätten so etwas mit einem leicht ironischen Unterton gesagt, doch bei ihm klang das so unfassbar ernst und berechnend – als wäre ich wirklich dazu im Stande ihn wegen einer Jacke umzubringen. Dämlicher Idiot. Nun gut, umbringen, ja...aber doch nicht wegen einer Jacke.

Ich grinste und schüttelte ungläubig den Kopf. «Es findet sich sicher noch ein anderer Grund», meinte ich und konnte dabei nicht einmal halb so ernst klingen wie er.

 

Es war merkwürdig wie ruhig wir miteinander sprachen – immerhin hätten wir uns gestern noch beinahe die Köpfe eingeschlagen und manchmal übertrieb er es mit seiner Schelte maßlos; was zum Beispiel den Kuss anbelangte. Das hatte ich selbstverständlich auch nicht vergessen, aber im Moment war das alles so weit in den Hintergrund gerückt, dass ich nicht wirklich an Rache oder derartiges denken konnte.

 

 

 

«Und deshalb fällt auch der morgige Unterricht aus.» Ein Jubeln ging lauthals durch die Klasse und mein Kinn rutschte von meiner Hand ab – ich blickte verständnislos durch die euphorische Menge, da ich auch die letzten beiden Stunde in meiner eigenen Welt versunken gewesen war.

«Was?», sagte ich verblüfft und kurz darauf spürte die Hand meiner Sitznachbarin an meinem Unterarm.

«Der Unterricht heute Nachmittag fällt aus und morgen der ganze Schultag.» Jessys Augen strahlten

und sie klatschte sich in kindlicher Manier in die Hände, lachte im nächsten Moment jedoch auf als sie meinen verständnislosen Blick traf. Es dauerte halt einen Moment bis ich wieder im Hier und Jetzt war.

Aber ihre Worte sickerten allmählich zu mir hindurch und ich nickte mechanisch.

«Achso», sagte ich leise und blickte angestrengt nach vorne zu unserem Lehrer, der die Schüler noch davon abhalten wollte gleich aus dem Gebäude zu stürmen. Er erzählte noch etwas über eine wichtige Arbeit die uns vor dem Notenschluss noch bevorstand und dass wir diesen freien Tag unter der Woche natürlich dafür nutzen sollten um zu lernen.

Aber wer würde das schon tun? Vielleicht nur eine Handvoll Schüler; wenn überhaupt.

 

 

Als das Läuten den Unterricht endgültig beendete taten sich die meisten Leute in kleine Grüppchen zusammen und machten Pläne für den morgigen Tag. Manchmal überraschte es mich wie verbunden und abhängig die meisten Schüler mit- und voneinander waren. Ich war niemals so unbeschwert gewesen und ich tat es mir schwer neue Freundschaften zu schließen. Besonders meine Schulkameraden einfach als Freunde zu bezeichnen, denn die meisten solcher Freundschaften würden doch niemals die Schulzeit überdauern. Wir waren alle in derselben Klasse, sahen und sprachen miteinander zwangsläufig jeden Tag, aber wenn wir das nicht mehr müssten, wie viele Freunde würden dann noch übrig bleiben?

 

«Nessa, wollen wir später noch was trinken gehen?»

«Blake, was hast du heute oder morgen vor?»

Ich verdrehte die Augen als das Stimmengewirr von verschiedenen Leuten zu mir durchdrang. Ohne dem wirklich weiter Beachtung zu schenken klaubte ich meine Sachen zusammen und drängte mich durch die Schüler, raus aus dem Klassensaal. Ich entschied mich noch kurzerhand einen Halt an meinem Spind zu machen, damit ich meine Tasche etwas erleichtern konnte. Einige der Bücher konnte ich hier lassen und meinen lästigen Ordner auch, den ich immer in meiner Hand mitschleppen musste.

 

Ich fand den Spind natürlich praktisch und konnte unserem Rektor dafür sogar anerkennend auf die Schulter klopfen, denn der hatte sich letztes Jahr dafür eingesetzt. Kurz nach dem Halbjahr hatte dann jeder einzelne Schüler einen Spind gekommen – sie waren nicht so groß wie die, die an amerikanischen Schulen üblich waren. Es waren eher kleine, kastenförmige Schränke, jedoch geräumig genug damit man viele Dinge darin verstauen konnte.

Als ich meinen Schlüssel in den Zylinder beförderte und meinen Schrank aufschloss, flog mir eine pechschwarze Karte entgegen, was mich die Stirn runzeln ließ. Meine Bücher verschwanden schnell in dem Spind und ich bückte mich runter, um das Kärtchen, das auf den ersten Blick wie eine Einladungskarte aussah, aufzuheben.

 

Weiße, elegant verschnörkelte Schrift auf rabenschwarzem Hintergrund – computergeschrieben. Meine Finger wurden steif als ich die wenigen Worte darauf gelesen hatte. Mit einem Mal kam die unterdrückte Übelkeit zurück und die Apathie, die mich in Watte gepackt hatte verschwand ebenfalls.

 

 

Ein blaues Auge kommt selten allein, denn die Nacht kennt alle Geheimnisse.

 

 

Meine nächsten Bewegungen waren mechanisch, beinahe puppenhaft und ich nahm nur am Rande wahr, wie ich aus einem Impuls heraus meine Tasche aufhob und mich auf den Weg in die unteren Stockwerke machte. Ich wusste anfangs nicht zuerst, wonach oder nach wem ich überhaupt suchte, bis ich sie endlich fand.

 

Sie stand mit dem Rücken zu mir. Ihre Spindtür war offen und sie unterhielt sich rege mit einem Jungen – Jenna. Mit schnellen Schritten überquerte ich die Distanz zwischen uns und meine Hand schnellte nach vorne. Mit einem Lauten Knall schlug ich die Tür ihres Schließfaches zu was sie fürchterlich zusammen zucken ließ. Sie wirbelte erschrocken herum und starrte mich mit aufgerissen Augen an, doch alles was in meinem Kopf gerade herrschte war das Echo des Knalls. Es war wie ein Startschuss und mit einem Mal war die ganze Wut wieder da.

 

«Findest du das witzig?» Ich hielt das Kärtchen hoch um meine Worte zu unterstreichen.

Sie wirkte plötzlich so klein und unschuldig. «Lana...ich weiß nicht was du...»

«Hör auf zu lügen, Jenna. Findest du das wirklich witzig?» Meine Stimme zitterte. Ich kannte sie im Grunde kaum und sie hatte nicht das Recht solche Scherze mit mir zu treiben. Und was diesen Vorfall betraf...nur weil wir etwas Schlimmes miteinander erlebt hatten, bedeutete das noch lange nicht, dass wir nun Freunde waren.

Ihr Hand schnellte nach vorne und sie schnappte sich die Karte. Die gefühlten Tausend Armbänder und Kettchen an ihrem Handgelenk klirrten und funkelten. Wie in jener Nacht.

«Lana...» Ihre Stimme war nun etwas lauter, nicht mehr so eingeschüchtert und leise wie vorhin. «Ich habe damit nichts zu tun.» Ihre blauen Augen huschten abermals von der Karte zu mir und ich schmeckte etwas Bitteres auf meiner Zunge, als ich ihre riesigen Pupillen sah.

Ich schnaubte. Die Wut war so präsent und die Bilder so grausam real, dass ich beinahe die Beherrschung verlor. Alles kam hoch...einfach alles. Ihr Leichtsinn, dass sie mich überredet hatte auf eine Party zu gehen, dass wir überfallen worden waren, dass ich verdammt noch einmal ihretwegen gelogen und sie mich einfach sitzen gelassen hatte. Einfach alles.

 

Ich riss ihr die Karte aus der Hand was sie vor Schreck zwei Schritte nach hinten machen ließ.

«Genauso wenig wie du den Zettel an meine Tür geklebt hattest?»

«Das war ein Witz. Lana. Das war wirklich nicht ernst gemeint.»

«Ich habe für dich gelogen und du bist einfach abgehauen.»

Sie wirkte jämmerlich, hilflos. «Das habe ich doch schon erklärt.»

Noch mehr ausreden. Ich wollte und konnte sie nicht mehr hören. Ich beugte mich leicht nach vorne, meine Stimme war leise und doch bedrohlich. Einfach nur endgültig.

«Halt dich einfach von mir fernr, du Freak

 

 

 

x X x

 

 

 

Ich saß im Schneidersitz auf dem Boden – mitten im organisierten Chaos von einem Zimmer. Der komplette Inhalt aus meinem zwei Wandschränken in denen ich alte Dinge aufbewahrte, von denen ich mich aus irgendwelchen Gründen nicht trennen konnte, war in kleinen Häufchen überall im Raum zerstreut. Alle alten Freundschaftshefte, Karten, Briefe und derartiges, die ich zusammen mit Julia geführt hatte, lagen zu einem kleinen Turm gestapelt links von mir. Den elektronischen Kram aus den Tüten hatte ich vor mich ausgebreitet, die aus den Kartons hatte ich noch nicht gecheckt.

 

Seit einer geschlagenen Stunde war ich auf der verzweifelten Suche nach meinem Backstein von Nokia Handy. Das unzerstörbare 3310 Chuck Norris Modell. Auf dem Nachhauseweg hatte ich mir eine PrePaid Karte gekauft, nur leider konnte ich mein altes Telefon nirgends finden, obwohl ich mir relativ sicher war, dass ich es in diesem Schrank verstaut hatte. Es hatte mir auch die letzten beiden Male als Übergangshandy gedient, denn die Telefone von heute waren ein Witz in Sachen Überlebensdauer und auf dieses Modell war stets Verlass gewesen, bis ich ein neues Smartphone bekommen hatte.

 

Eigentlich war ich recht organisiert was meine Schränke, Schubladen oder derartiges betraf, doch das Chaos bedankte ich einer Kurschlussreaktion, nachdem ich das Telefon nicht bei den Tüten und Kartons voll mit elektronischen Sachen gefunden hatte.

 

Ich seufzte laut und anhaltend, streckte meine Arme genüsslich aus um ihnen wieder etwas Leben einzuhauchen. Dutzende Kopfhörer die sich im Laufe meines Lebens angesammelt hatten lagen in einem fürchterlichen Schlangenknoten vor mir auf dem Boden und waren vermutlich nicht mehr zu retten. Ich nahm mir vor den Müll irgendwann endlich mal wegzuwerfen, denn benutzen tat ich das meiste sowieso nicht.

 

«Lana?» Ich erstarrte einen Moment und blickte danach auf meine Wanduhr. Ich war ehrlich überrascht, denn so früh war Nate noch nie unter der Woche von der Arbeit gekommen.

«Bist du da?» Als ich das förmliche Klopfen, das mir bereits so vertraut war, an meiner geschlossenen Tür hörte, stand ich auf und sprang zwischen die leeren Stellen zwischen all dem Chaos, um mich an die Tür zu kämpfen.

«Ja, ich bin hier.» Sein Kopf lugte als erstes herein, bevor der die Tür ganz öffnete. In seiner Hand erblickte ich meine Schultasche die ich im Flur abgestreift und neben den Schuhschrank geschmissen hatte. Ich kratzte mich verlegen am Kopf und nahm ihn dankend an. Er wusste genauso wie ich, dass meine Mutter es nicht sonderlich mochte, wenn wir unseren Kram achtlos in irgendeine Ecke warfen.

«Wow, hast du endlich den Eingang in das verwunschene Zauberreich von Narnia gefunden?» Mit gespieltem Erstaunen deutete er zuerst auf das Chaos auf meinem Zimmerboden und dann auf den leeren Schrank. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen und schüttelte den Kopf.

«War leider ein Fehlschlag», sagte ich grinsend und bot ihm meinen Schreibtischstuhl an, damit er nicht noch über irgendwas stolperte und sich womöglich das Genick brach.

«Du bist aber früh da», stellte ich fest, hing meine Tasche am Haken auf und blickte ihn an. Er trug heute den grauen Pullover mit einem leichten V-Ausschnitt den meine Mutter sehr an ihm mochte. Dazu dunkle Jeans und schwarze Schuhe. Seine Haare waren wieder etwas länger geworden und der drei-Tage-Bart stand ihm ebenfalls sehr gut. Er erinnerte mich unwillkürlich an die etwas älteren Männermodels aus den Katalogen. Älter aber nicht alt – schließlich war er gerade mal Anfang 40.

Aber Himmel, Blake sah seinem Vater wirklich ähnlich. Und wenn das Blakes Zukunft war, dann hatte er wirklich verdammt großes Glück.

«Ich muss nochmal ins Büro. Blake hat mir gesagt, dass ihr heute früher Schulschluss gehabt habt und du bereits Zuhause bist. Ich wollte mit dir reden.» Ich runzelte instinktiv die Stirn. Gut, bei dem ersten Teil hatte Blake nicht gelogen, aber woher wusste er denn dass ich bereits Zuhause war? Schließlich war ich vor ihm aus dem Schulgebäude gegangen und war seither auch alleine hier – er war noch gar nicht heimgekommen. Ach, ja. Vermutlich hatte er ihm sogar noch erzählt, dass er mich höchstpersönlich nach Hause gefahren hätte und ein so lieber, fürsorglicher Stiefbruder war.

 

Trotzdem genügte das nicht um mich auch nur ansatzweise sauer zu machen. Schließlich war er heute wirklich in Ordnung zu mir gewesen. Gestern auch. Na ja, wenn man außer Acht ließ, dass er mir geworfen hatte, ich würde etwas hinter seinem Rücken drehen.

«Hm. Über was bestimmtes?», fragte ich nachdenklich und setzte mich ihm gegenüber auf mein Bett. Seine blauen Augen musterten mich aufmerksam und ich hielt einen Moment den Atem an. Ja, natürlich über was bestimmtes. Nämlich über mein blaues Auge.

In den letzten beiden Tagen hatte ich ihn kaum zu Gesicht bekommen. Denn immer wenn er spät von der Arbeit gekommen war, hatte ich bereits im Bett gelegen. Er hatte mich vorerst nicht gestört, obwohl ich mir sicher war, dass ihn meine Mutter dazu gedrängt hatte mit mir zu reden um herauszufinden, ob da nicht viel mehr dahinter steckte, als das, was ich ihr erzählt hatte.

«Deine Mutter hat sich am Sonntag sehr aufgeregt, Lana. Oder besser gesagt: Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht.»

Ich nickte zustimmend. «Ich weiß. Gestern hat sie bestimmt zehnmal Zuhause angerufen und nach mir gefragt, weil ich ja nicht in der Schule gewesen bin. Aber es geht mir gut, wirklich.»
Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich etwas zurück. Trotzdem hatte diese Haltung nichts herrisches oder kühles an sich. Er wirkte unvoreingenommen und ehrlich interessiert.

«Was ist denn genau passiert? Deine Mutter meinte, dass du in der Bahn zwischen eine Schlägerei geraten bist. Wolltest du schlichten?»

Mir wurde schlecht bei dem Gedanken Nathaniel jetzt anlügen zu müssen. Ein Teil von mir wollte mit diesem Theater aufhören und reinen Tisch machen, aber ein anderer, viel größerer Teil zwang mich regelrecht dazu dicht zu halten. Ich wusste in diesem Moment ehrlich gesagt noch nicht einmal, ob das nur etwas mit Jenna zu tun hatte. Ich könnte sie schließlich ins offene Messer laufen lassen – nach der Aktion mit dem geschmacklosen Scherz hätte sie es verdient. Schließlich würde meine Mutter ohne Wenn und Aber auch die Eltern von Jenna kontaktieren und sicherstellen, dass sie wussten was ihrer Tochter zugestoßen war und sie weitere Maßnahmen einleiten konnten. Immerhin war auch ihr Geldbeutel und alles andere persönliche abhandengekommen.

 

«Nein, es war ein Unfall», log ich dennoch und blickte ihn angestrengt an. «Der Schlag hat nicht mir gegolten. Ich war nur im Weg.» Ich zuckte unschlüssig die Schultern und sah ihn abwartend an, versuchte in seinem Gesicht herauszulesen, ob er mir glauben schenkte oder nicht.

«Du weißt aber, dass du trotzdem Anzeige erstatten kannst, oder?» Er wollte sichergehen, dass ich mir meiner Rechte bewusst war und das war ich. Aber wenn er nur wüsste, dass ich mit einem Messer bedroht, überfallen und dann auch noch K.o geschlagen worden war, dann würde er mich höchstpersönlich zur Polizeiwache schleppen. Hier war das Delikt sehr viel größer als ein versehentlicher Schlag ins Gesicht.

«Ich weiß. Aber das würde doch nichts bringen. Ich kenne ihn nicht und ehrlich gesagt, kann ich mich noch nicht einmal an sein Gesicht erinnern. Und auch wenn ich es irgendwie könnte...vermutlich werde ich ihm nie wieder in meinem Leben begegnen.» Auch das war teilweise gelogen, denn ich erinnerte mich sehr wohl an diesen abartigen Kerl, der mir ohne zu zögern ins Gesicht geschlagen hatte. Die Gesichter der anderen Männer waren nur noch verschwommene Geister – sogar der Kerl mit dem Messer. Aber er...diese abartigen, teuflischen, giftigen Augen...

Dieser Ausdruck hatte sich wie glühendes Eisen in mein Gedächtnis gebrannt.

 

Nathaniel überlegte einen langen Moment. Ich konnte seinen inneren Konflikt erkennen, Fragen die er gerade vermutlich in seinem Kopf formulierte und wieder umformulierte, damit er ja nicht das richtige irgendwie falsch aussprechen konnte und ich deshalb irgendwie komplett dicht machte. Doch ich bezweifelte ehrlich gesagt, dass er jemals etwas falsch machen oder sagen könnte. Er war ein wundervoller und ehrlich fürsorglicher Mensch.
«Deine Mutter hat gesagt, dass du auch deine Tasche verloren hast. Weißt du noch mit welcher Bahn du gefahren bist? Vielleicht haben sie sich ja noch im Fundbüro gemeldet.» Auch wenn ich meine Tasche wirklich in der Bahn vergessen hätte – niemand war hier so ehrlich, oder würde sich die Mühe machen die Tasche im örtlichen Fundbüro abzugeben. Ich hatte Geld, mein Smartphone und wichtige Karten bei mir gehabt. Aber zum Glück nicht die Hausschlüssel. Die hatte ich an dem Abend in der Schüssel vergessen. Denn damit hätten die Diebe nicht nur alles persönliche von mir, sondern auch noch die Schlüssel zu unserem verdammten Haus. Allein bei dem Gedanken schüttelte es mich.

«Ja, ich habe die Tasche in der Bahn vergessen. Mum wollte heute dort mal anrufen und nachfragen, ob sie irgendwas von mir haben.»

Er nickte und atmete hörbar aus. «Gut, das ist nämlich wichtig.» Seine Stimme nahm einen ernsteren Tonfall an. «Aber Lana...Zuerst will ich dir sagen, dass ich dir glaube», ich schluckte bei seinen Worten, lauschte dennoch weiter, «falls da etwas ist das du niemanden erzählen kannst oder möchtest...du weißt, dass ich immer für dich da bin. Egal was es ist. Du kannst mir alles anvertrauen. Ich bin mir sicher, dass es für alles eine Lösung gibt.» Die Sanftheit und Fürsorge seiner Stimme war die eines Vaters zu seinem Kind. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, weil ich so etwas noch nie von einem Mann gehört oder so großes Interesse an meinem Wohlbefinden gespürt hatte. Abgesehen von meiner Mutter selbstverständlich.

Ich überspielte meine Gefühle mit einem schiefen Lächeln und nickte dankend. «Das weiß ich doch. Und dafür bin ich dir auch dankbar. Es geht mir gut.»

Irgendwie schien er sich viel mehr erhofft zu haben, etwas an seiner Haltung ließ mich auf diese Vermutung schließen. Dennoch sagte er nichts mehr zu diesem Thema und raffte sich auf. Ein aufmunterndes Lächeln in seinem Gesicht. «Wenn das dann geklärt ist. Falls du doch noch den Weg zu Narnia findest», er deutete mit einem Kopfnicken wieder auf meinen Schrank, machte sich fast schon über mich lustig, was mich grinsen ließ, «dann schick mir eine Postkarte.»

Ich lachte auf und er tätschelte mir den Kopf. «Ich muss nun wirklich wieder los. Bis später.»

«Ja, bis dann. Ah, warte Nate.» Er hielt inne und blickte mich über die Schulter an. «Hast du mein altes Nokia Handy irgendwo gesehen?»
«Steigst du nun wieder auf die Old-Timer um? Ich habe es ja schon immer gesagt: Old but gold.»

«Sagt Mister Bänker der ohne sein Smartphone nicht überleben könnte?»

Er lachte ehrlich auf was mich breit grinsen ließ. «Nun, da hast du wirklich recht. Ohne die Technologie von heute könnte ich niemals an Konferenzen mit Geschäftsleuten am anderen Ende der Welt teilnehmen. Nein, ich habe es leider nicht gesehen. Was willst du damit?»

«Mein Handy ist auch weg.» Ich sah mich in meinem Zimmer um und beschloss das Chaos zu beseitigen. Irgendwie hatte ich kaum noch Lust nach dem Ding zu suchen.

«Hattest du eine Vertragskarte?»

«Nein. PrePaid.»
«Ah, gut. Sonst hätte man die Karte sperren lassen müssen.»

Er winkte mir zu und rief mir noch ein „Viel Glück“ über die Schulter, bevor er durch die Tür verschwand. Ja, etwas Glück konnte in dem Fall nicht schaden.

 

 

Mit knurrendem Magen und meinen Chuck Norris Handy saß ich auf der Arbeitsplatte der Einbauküche und wartete bis meine Instant Nudel in dem Becher gar wurde. Eigentlich hatte ich die Hoffnung aufgegeben, doch aus irgendeinem Impuls heraus hatte ich mir noch die Schubladen im Wohnzimmer angesehen. Und Bingo – es war wirklich dort gewesen und das Ding hatte sogar noch einen Balken Akku. Nun musste ich nur noch warten bis die Karte entsperrt wurde. Die wichtigsten Kontakte hatte ich in einem kleinen Büchlein festgehalten, denn nachdem mein voriges Handy den Geist aufgegeben hatte und nichts mehr zu retten gewesen war, war ich auf Nummer sicher gegangen und mir lediglich die wichtigsten Nummern notiert.

«Mhm, du machst mir was zu essen?» Ich hatte überhaupt nicht gehört wie er nach Hause gekommen war. Dennoch machte ich mir nicht die Mühe aufzusehen. Mein Blick galt nach wie vor meinem Handy. Es stand immer noch nur „Notruf“. Sicherlich würde es noch dauern bis die Karte entsperrt wurde.

«Bedien dich», murmelte ich leise und musste bei seinen nächsten Worten unwillkürlich grinsen.

«Mhmm, Instant Nudeln. Mein Leibgericht. Was hast du denn da?»

Er nahm mir das Telefon ungefragt aus der Hand und nickte gespielt anerkennend. «Das Spitzenmodell, ein Klassiker. Du hast wirklich Geschmack, Cherry.»

Ich versuchte ihn zu treten doch er wich zurück. «Gib es her.»

«Hast du dein Handy etwa auch verloren?» Er hob eine Braue in die Höhe und blickte mich ungläubig an. Der winzige Piercing an seiner Unterlippe glänzte einen Moment und es stand ihm so unglaublich gut. Gutaussehendes Arschloch.

«Jep.» Ich konnte ihm mein Handy aus der Hand reißen, als er einige Schritte nach vorne tat – dabei musste ich noch nicht einmal von der Arbeitsplatte springen. «So etwas kann halt mal passieren», sagte ich laut mit vielen Pausen dazwischen, als wäre er schwer von Begriff. Diese seltsame unbeschwerte Stimmung war scheinbar nun vorbei. Es ging wieder los.

«Scheinbar nur dir, du Gurke.» Ich hatte nachdem „du“ etwas anderes erwartet. „Zicke, Psychobitch, vielleicht sogar Cherry oder so etwas“ aber Gurke? War das sein ernst? Ich weiß nicht weshalb, aber ich brach in schallendem Gelächter aus. Aus irgendeinem Grund fand ich dieses Wort in jenem Moment so verdammt komisch, dass ich mich kaum noch einkriegte.

«Hör auf so dämlich zu lachen. Was ist denn so lustig?»

Sein Aufruf dass ich aufhören sollte zu lachen verursachte das komplette Gegenteil. Ich konnte kaum noch atmen, als ich seinen unfassbar dämlichen, langsam schon wütenden Gesichtsausdruck sah.

«Du Gurke...», wiederholte ich erstickt und Blake warf mir einen Blick zu, als wäre ich völlig übergeschnappt und verrückt geworden. Vielleicht war ich das in diesem Moment, denn es war nicht lustig. Dennoch musste ich lachen.

«Ah, was machst du da!», brüllte ich lachend, als er mein Bein zu fassen bekam und mich von der Platte zog. Mein Hintern hing plötzlich in der Luft, doch ich versuchte mich mit letzter Kraft, die mir der Lachanfall noch nicht geraubt hatte, mit meinem Oberkörper und den Armen an Ort und Stellen zu halten.

«Aua du Arschloch. Mein Rücken!», rief ich erschrocken, als ich einen stechenden Schmerz spürte.

Er machte einen großen Schritt nach vorne und aus einem Impuls heraus schlang ich meine Beine um seine Hüften; ich brauchte Halt. Sein linker Arm schlang sich um meinen Rücken, während er seine rechte Hand schamlos auf meinen Hintern legte und mich zu sich zog.

Und mit einem Mal kippte die Stimmung. Da war überhaupt nichts Lustiges mehr. Meine Beine um seine Hüften, die Arme um seinen Hals und seine Hände auf meinem Hintern, damit er mich an Ort und Stelle halten konnte. Die Gefühle in meinem Bauch änderten sich so schlagartig, dass mir einen Moment davon schlecht wurde. Und mein Herz...dieser bescheuerte Muskel in meiner Brust...

«Siehst du...» Sein Gesicht war so nah an meinem. Als ich seinen warmen Atem an meiner Lippe spürte, zitterte mein Körper unwillkürlich, weil es sich an den Kuss erinnerte. «So schnell kann ich dich zum Schweigen bringen.» Der Griff seiner Hände wurde stärker. Er kniff mir tatsächlich in den Hintern und ich verlor den Halt. Meine Beine gaben den Geist auf...die Kraft war einfach weg.

 

Ich befürchtete, dass auch meine Knie mein Gewicht nicht halten würden, wenn meine Füße den Boden berührten, doch ich täuschte mich. Selbstverständlich war ich unglaublich froh darüber, denn er sollte nicht auch noch diese Genugtuung bekommen – dass ich ihm schamlos unterlegen war.

«Das ist nicht witzig...», sagte ich leise. Seine Hand lag in meinem Rücken, presste meinen Körper unbarmherzig an seinen. Doch ich konnte ihm nicht in die Augen sehen...aus Angst er könnte verstehen, was sie gerade erzählten.

Seine Hand wanderte meinen Rücken hinauf, hinterließ ein leichtes Prickeln auf meiner schlagartig überhitzten Haut, als er meinen Nacken berührte.

«Wer sagt, dass das witzig sein sollte?» Ich blickte auf – in meinem Kopf drehte sich alles. Seine Augen lagen für einen Moment auf meinen Lippen und ich kam nicht umhin als darauf zu beißen, was ihn sämtliche Muskeln unwillkürlich anspannen ließ.

Ein schwacher Versuch mich aus seinem eisernen Griff zu befreien scheiterte und als er meine halbherzigen Befreiungsversuche spürte, kerbte sich ein wölfisches Lächeln in seine Mundwinkel, zwang mich beinahe in die Knie.

«Du hast keine Chance...», sagte er leise - es klang wie ein sicheres Versprechen. In diesem Moment änderte sich irgendetwas zwischen uns, etwas woran ich mich später womöglich noch sehr gut erinnern würde. Etwas, das noch nicht einmal der Kuss geschafft hatte... Und es hatte dafür lediglich Sekunden gebraucht die absolut nicht erwartet hätte...

 

 

Und als ich die brennenden Augen des personifizierten Teufels blickte, schlichen sich seine vorigen Worte tiefer in mein Geist und saugten sich dort fest. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht hatte ich wirklich nicht die geringste Chance gegen ihn und er würde mein Untergang werden...

Chapter 09 - Der Traum ein Straßenstaubheld zu sein

~Geh nicht über Los und ziehe keine 4.000 Dollar ein~

 

aus: Ace Ventura

 

 

-9-

 

 

 

Warmer Dampf stieg von meiner feuchten und leicht gereizten Haut, als ich mit einem knappen Handtuch bekleidet, aus der brütenden Hitze des Badezimmers in den angenehm kühlen Flur trat. So heiß wie ich mir die Dusche wieder einmal gegönnt hatte, war es schier ein Wunder, dass ich mir nicht den kompletten Körper verbrannt hatte. Aber ich mochte das – die Temperatur immer ein wenig höher drehen, wenn man man sich an die Wärme der Wasserstrahlen gewöhnt hatte.

 

Die Stille im ganzen Haus war merkwürdig, noch merkwürdiger war es jedoch, unter der Woche freizuhaben und Zuhause zu sein. Meine Mutter und Nate waren arbeiten und nach Blakes gestrigem Session zu urteilen – die eindeutig zu lang für einen Mann gedauert hatte – würde er heute recht spät den Weg nach Hause finden. Zumindest nahm ich das an; wer wusste schon, wo und vor allem bei wem er war.

 

Gestern. Meine Hand verkrampfte sich unwillkürlich um die kühle Türklinke meines Zimmer als die verdrängten Gedanken ein weiteres Mal problemlos an die Oberfläche schwammen.

Die merkwürdig seltsamen Blicke, mit denen er mich angesehen hatte, seine Hände an meinem Körper die mich unverhohlen berührt hatten...einfach alles. Er hatte nur einen winzigen Augenblick gebraucht, um mich so dermaßen aus dem Konzept zu bringen, dass ich die Auswirkungen auch jetzt, einen Tag später zu spüren bekam. Ich wusste nicht welche Absichten er gehegt hatte, noch weniger wusste ich, was wirklich passiert wäre, wenn wir nicht von meiner Mutter unterbrochen wären, die nichtsahnend von der Arbeit gekommen war.

 

Er hatte mich lange festgehalten, beinahe schon zu lange. Denn erst als ich die Schlüssel meiner Mutter in der Schüssel im Flur klirren gehört hatte, waren seine Hände um meinen Körper verschwunden, zwei Sekunden später auch er selbst. Mein Herz wäre mir in jenem Moment beinahe aus der Brust gesprungen und obwohl ich den drängenden Drang dazu verspürt hatte, ihn von mir zu stoßen, so hatte mein Körper gar nicht darauf reagiert. Schließlich hätte meine Mutter das definitiv falsch gedeutet und zu viel dahinein interpretiert, wenn sie uns so gesehen hätte. Sie wusste wie Blake und ich zueinander standen und das hätte sie allemal aus dem Konzept gebracht.

 

Seufzend verschwand ich in meinem Zimmer und versuchte mich auf alles zu konzentrieren, außer an das was gestern geschehen war.

 

Ob er wieder nur spielte? Das mit Sicherheit.

 

Warum ich es dennoch so widerstandslos hatte geschehen lassen? Nun, das war eine gute Frage...

 

 

~   x  X  x   ~

 

 

«Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar. Wenn Sie...» Seufzend legte ich auf und warf mein Chuck Norris Handy mit einem gezielten und erfolgreichen Wurf auf die Couch. Ich konnte weder Julia noch David erreichen. Bei David klingelte es zumindest, doch er nahm nicht ab. Julias Handy dagegen war ganz ausgeschaltet. Ich wollte diesen freien Tag eigentlich mit ihr verbringen, weil ich sie seit einigen Tagen nicht mehr gesehen hatte und mich um ihr Wohlbefinden sorgte, aber irgendwie wurde ich das dumpfe Gefühl nicht los, dass sie im Moment ganz einfach nicht erreichbar sein wollte.

 

Ich zappte lustlos durch die eindeutig viel zu vielen Sender und erinnerte mich bei den faden Sendungen unwillkürlich an meine Kindheit zurück. Damals, als es nichts schöneres gab wegen einer Erkältung Zuhause bleiben zu dürfen und unter der Woche die wunderbarsten Cartoons und Animes zu schauen, während alle anderen ihre Nase in die Schulbücher stecken und lernen mussten. Auch an den Wochenenden hatte ich mir nie Pausen gegönnt, denn ich war meistens sehr früh wach geworden um mir Cartoons anzuschauen. Oder wenn man ganz hart besonnen war, traute man sich natürlich auch die gruseligste Zeichentrickserie aller Zeichentrickserien anzuschauen – Geschichten aus der Gruft. Man, waren das schöne Gruselstunden gewesen. Besonders wenn meine Cousine an den Wochenenden bei uns übernachtet und wir uns den Spaß gemeinsam angetan hatten.

 

Die Auswahl der heutigen Cartoons, Animes und etwaiges fand ich ziemlich mager und beinahe schon ernüchternd. Es gab keinen Vergleich zu meiner Kindheit; wir waren mit schönen Sendungen groß geworden, wie mir gerade auffiel.

 

 

«Was machst du denn da?» Meine Augen weiteten sich, aber ich zuckte nicht wie gewohnt zusammen. Vielleicht, weil sich mein Unterbewusstsein allmählich an sein Katzenhaftes Auftreten gewöhnte.

«Fernsehen», sagte ich knapp, ohne aufzusehen.

Einen kurzen Moment wurde es still und ich spürte, wie die Couch neben mir nachgab und er sich theatralisch seufzend darauf niederließ.

Sein Duft wehte mir entgegen. Er roch nach einer langen Nacht.

«Wieso bist du denn so früh wach? Du hättest ausschlafen können.»

«Ich weiß.»

«Und wieso bist du dann wach?»

Ich legte die Stirn in Falten. «Weil ich nicht mehr müde war? Du bist doch auch wach.»

Es war merkwürdig das zu behaupten, aber ich glaubte, ihn lächeln zu spüren. «Das liegt daran, dass ich in fremden Betten nicht so gut schlafen kann.»

Und in diesem Moment sah ich auf. Er wirkte so unfassbar erschöpft und müde, doch das erwartete, beinahe schön hämische Lächeln war an Ort und Stelle, brachte mich einen Augenblick aus dem Konzept.

«Das tut mir aber leid», sagte ich mit gleichgültiger Stimme, doch die Ironie wollte mir nicht auf Anhieb gelingen. Etwas zog sich in mir zusammen und es fühlte sich absolut nicht gut an.

Er ging nicht drauf ein – worüber ich merkwürdigerweise relativ froh war – und streckte sich stattdessen langsam, genüsslich, betete seinen rechten Arm hinter mir auf die Lehne. Seine schlanken Finger verfingen sich in meinen feuchten Haaren und er zupfte einige Strähnen zurecht, spielte mit ihnen.

«Mhm, du riechst gut. Warst du duschen?»

Genau diese merkwürdig verdrehte und flatterhafte Art von ihm verlangte mir in gewissen Situationen alles ab, trieb mich vor und zurück, ließ mich verunsichern und wütend werden – obwohl mein Verstand bereits alle Antworten parat hatte. Er spielte. Das hatte er auch gestern getan, seine Berührungen, die Blicke, oder aber der Kuss. Ich wusste dass er mich nur ärgern wollte, vielleicht sogar mehr als das. Vielleicht wollte er mich richtig verletzten. Einfach so, weil ihm danach war. Oder weil er glaubte es zu können.

Und ich wusste das. Dennoch verblüffte es mich, dass er mich mit dieser Taktik jedes verdammte Mal so durcheinander bringen konnte. Mal für kurze Zeit, aber manchmal auch über Tage.

 

«Ja, war ich. Kann ich dir auch empfehlen.» Ich verscheuchte die Gedanken an gestern, denn er tat es schließlich auch. Sprach mit keiner Silbe darüber, obwohl er mir seinen Triumph für gewöhnlich gerne unter die Nase rieb.

«Da hast du vermutlich recht.» Sein rechter Mundwinkel hob sich und ich spannte mich an, wusste instinktiv, dass er nun etwas unschönes sagen würde.

«Es war eine ziemlich heiße Nacht.»

Ich verzog angeekelt das Gesicht und versuchte mich von ihm zu stoßen, doch sein Arm um meine Schulter hielt mich an Ort und Stelle.

Darauf hatte ich eigentlich gar nicht abgezielt. Ich wollte so etwas nicht hören und ganz ehrlich, er roch überhaupt nicht unangenehm. Nur etwas verschwitzt, nach Rauch und nach einer...langen Nacht eben. Und nicht nach einer Frau.

«Würdest du mich bitte loslassen?», meinte ich schnippisch und blickte in seine blauen Augen. Sein dunkles Haar war das perfektionierte Chaos und das winzige, beinahe schon unscheinbare Piercing an seiner Unterlippe unterstrich sich unwiderstehliches Lächeln nur noch mehr. Wenn man nicht genauer hinsah, würde man das winzige Schmuckstück gar nicht bemerken – nur im Licht glitzerte der winzige Stein auffällig.

 

«Sie hat bitte gesagt», erwiderte er durchaus erstaunt und schüttelte ungläubig den Kopf. «Hast du Fieber?» Er wollte mir an die Stirn fassen, doch als ich versuchte ihn genervt abzuschütteln, berührte er versehentlich meine verletzte Wange und ich zuckte heftig zusammen.

Blake erstarrte augenblicklich in seiner Bewegung, als hätte er es vergessen. Das vergessen was in meinem Gesicht stand.

«Halb so wild...», sagte ich schließlich, weil mir der undefinierbare Ausdruck in seinem Gesicht Unbehagen bereitete.

Mit einem Mal wirkte er merkwürdig leer, als hätte ihn jemand ausgeknipst – seinen Geist vertrieben.

Ich wusste nicht was es war, das seinen Gliedern wieder Leben einhauchte, doch er löste sich im nächsten Moment von mir, völlig abrupt und übergangslos. Er wirkte plötzlich so hart...vollkommen defensiv und beinahe schon aggressiv. Irgendetwas tobte in seinen Augen und wenn ich nicht bereits sitzen würde, hätte mich sein wilder Blick vermutlich in die Knie gezwungen.

Er brach das Schweigen und ich spannte mich an.

«Ich sag dir nur eines Lana. Wenn du mich darüber belogen hast», er deutete auf mein Auge, «und ich später herausfinde, dass da etwas völlig dahinter steckt», er machte eine bedeutungsvolle Pause, hatte in keinem Moment so ernst geklungen. «Dann...»

«Was dann?», fiel ich ihm ins Wort und war überrascht darüber, woher ich den Mut und meinen schnippischen Tonfall wiedergefunden hatte, obwohl er mir gerade eine Scheißangst machte. Sogar meine Nackenhaare hatten sich aufgestellt.

 

«Dann könnte ich für nichts mehr garantieren.»

 

 

~   x  X  x   ~

 

 

Am Freitagmorgen fühlte ich mich herrlich ausgeschlafen und vollkommen ausgeglichen. Ich hatte Schwierigkeiten mich daran zu erinnern, wann ich unter der Woche das letzte Mal so gut gelaunt und erfrischt aufgestanden war – ohne ersichtlichen Grund, versteht sich – deshalb hieß ich diese Abwechslung willkommen. Vielleicht lag es daran, dass ich Julia gestern noch erreicht hatte und wir uns für am Samstag verabredet hatten. David würde uns ebenfalls Gesellschaft leisten und ehrlich gesagt freute ich mich darüber endlich mit ihr reden zu können, obwohl der bittere Beigeschmack an dieses Treffen nicht zu verleugnen war.

 

Blake war mir gestern ebenfalls den ganzen Tag aus dem Weg gegangen. Nach seiner...merkwürdigen Drohung, beziehungsweise seinem Versprechen, was auch immer, hatte er mich nicht einmal angesehen. Und ich hatte danach noch Stunden überlegt, was genau er mit seinen Worten gemeint hatte. Würde er mich fertig machen, wenn er die Wahrheit erfuhr – eben weil ich ihn belogen hatte – oder die Kerle, die mir das angetan hatten?

 

Letztere waren schwer aufzufinden, schließlich waren diese Kerle in jener Nacht spurlos verschwunden, deshalb nahm ich an, dass er seine Wut an mir auslassen würde, eben weil ich greifbarer und anwesend war.

Ich runzelte die Stirn. Falls er sich Sorgen machte, war das eine merkwürdige Art mir das zu zeigen. Er zeigte es mir, in dem er mir Angst machte und ehrlich gesagt fragte ich mich, ob er im Kopf noch ganz richtig war. Davon abgesehen hatte ihn das ganze doch überhaupt nicht zu interessieren. Bisher hatte er sich aus so...privaten Dingen rausgehalten. Zumindest was mich betraf, aber in letzter Zeit...

 

Was hatte sich geändert?

 

 

 

Ich fischte meinen Schlüsselbund aus der Schüssel im Flur und schulterte meine Tasche. Das würde ein guter Tag werden – ich hatte es im Gefühl.

Als ich die Haustür öffnete, entglitten mir beinahe alle Gesichtszüge, denn ich blickte geradewegs in die eisigen Augen von Natalia. Es schien ihr nicht entgangen zu sein, denn sie hob eine ihrer dünnen, fein säuberlich gezupften Braue in die Höhe.

«Ist Blake noch nicht fertig?» Da ich keine Anstalten machte irgendetwas zu sagen, ergriff sie das Wort und verwirrte mich damit nur noch mehr.

«Ist er denn nicht schon weg?», stellte ich die Gegenfrage und überlegte einen zähen Moment. Tatsächlich hatte ich ihn den ganzen Morgen kein einziges Mal gehört. Weder im Bad, noch in der Küche, oder sonst wo im Haus. Ich hatte angenommen, er wäre in aller Frühe bereits aus dem Haus gegangen, um sich mit besagte Person vor mir zu treffen. Auf ein Frühstücksdate...oder so was.

«Weg?», wiederholte sie in ihrer altbekannten, monotonen Stimmlage, aber das erste Mal konnte ich so etwas wie eine emotionale Regung aus ihrem Gesicht herauslesen. Sie runzelte ihre Stirn und schien verwirrt...leicht ungläubig.

«Hm, scheint so.» Ich deutete mit einem Kopfnicken auf unsere Einfahrt. «Sein Auto ist auch nicht da.» Mit einem Klacken fiel das Schloss hinter mir zu und ich überlegte kurz, ob ich nun tatsächlich mit Prinzessin Eiszapfen in die Schule laufen musste. Immerhin war es unausweichlich, wir mussten denselben Weg nehmen.

«Wart ihr verabredet?» Kaum hatte ich diesen Worte gesagt, biss ich mir auch schon schmerzlichst auf die Zunge. Das ging mich eigentlich nichts an.

«Ja, wir wollten zusammen in die Schule fahren.» Ihre schwarzen langen Haare wehten im Wind und ich fluchte über so viel Perfektion. Sie war schlank, etwas größer als ich und hatte dünne, aber dennoch schön definierte Lippen, die in Kombination mit den blauen Augen und der Stupsnase jedwede Konkurrenz zunichte machte.

 

Na gut, ich war auch schlank und hatte sogar mehr Brust als sie...aber dennoch...ich verstand im Grunde warum Blake sie sooft um sich hatte.

Im gleichen Atemzug schüttelte ich den Kopf und hätte am liebsten über mich selbst gelacht. Was hatte meine Brust nun mit alldem zu tun?

«Vielleicht ist er noch kurz unterwegs oder so. Ich muss los, werde mich noch mit einer Freundin treffen», log ich, weil ich mich so schnell wie möglich von ihr entfernen wollte.

Beinahe zeitgleich zog sie ihr Handy aus der Tasche – scheinbar wollte sie Blake sicherheitshalber noch mal anrufen. Dennoch durchströmte mich ein Gefühl, das sich zum Glück nicht sooft zeigte.

Schadenfreude. Er hatte sie hierher bestellt und dann tatsächlich stehengelassen.

Mein Mundwinkel schob sich verdächtig nach oben, doch ihre nächsten Worte erstickten das angedeutete, diabolische Grinsen im Keim.

«Bis später, Kätzchen», hörte ich sie sagen, monoton und kein bisschen zu laut. Dennoch hatte ich sie problemlos verstanden. Ich blickte nicht zurück und lief zügig weiter, doch die Gänsehaut konnte ich nicht mehr unterdrücken.

 

 

 

Ich stellte den Lautstärkeregler meines iPods auf „Trommelfell zerfetzen" und schlurfte genüsslich an meiner kalten Capri Sonne Kirsche, während ich versuchte zwischen all dem regen Getümmel im Schulgebäude einen Weg nach draußen zu finden.

Es war ein herrlicher Schultag gewesen, denn ich hatte weder Natalia, noch Jenna oder Blake zu Gesicht bekommen. Obwohl ich mich bei Blake ernsthaft fragte, was ihm denn so wichtiges dazwischen gekommen war, dass er dafür die Schule schwänzte.

Schulterzuckend verwarf ich den Gedanken und hüpfte immer zwei Stufen nehmend die Treppe hinunter, erblickte einige Grüppchen Schüler die sich an die mehreren Bushaltestellen - die wenige Meter von unserem Schulgebäude entfernt waren - begaben. Andere wiederum waren hektischer, wollten scheinbar noch die frühere Bahn bekommen.

Mir war das egal, ich könnte heute sogar laufen. So gut ging es mir nämlich – und das lag gar nicht mal daran, dass Freitag war.

 

Es war ein guter Tag.

 

Der laute Motor des Wagens vibrierte in meiner Brust, ich blinzelte der Sonne entgegen, als ich die Straße überqueren wollte. Irgendwie hatte ich das Gefühl Menschen rufen zu hören, gedämpft durch die Kopfhörer, weit entfernt, wie in einem Traum.

Diese berüchtigte Zeitlupe in extremen Situationen schien wirklich zu existieren, alles war langsamer, schwerfälliger - ich drehte meinen Kopf nach links, meine Beine trugen mich dennoch weiter. Ich sah den Wagen, doch mein Körper wollte mir nicht gehorchen, mich in Sicherheit bringen. Es war ein guter Tag.

Ich spürte eine flache Hand in meinem Rücken, die sich sofort zusammenballte und meine Lederjacke in die Faust nahm; scheinbar hatte derjenige nicht mehr von mir zu fassen bekommen.

Der heftige Zug nach hinten übte auf meiner Brust viel mehr Druck aus, da ich die Jacke zugemacht hatte – mir wurde beinahe die ganze Luft aus der Lunge gepresst und ich stolperte nach hinten.

 

Der Wagen rauschte nur weniger Zentimeter an mir vorbei, wirbelte Straßenstaub und Entsetzen auf, doch der Seitenspiegel traf meinen Arm, bevor ich den Versuch, mein Gleichgewicht wiederherzustellen aufgab und schmerzhaft auf meinem Hintern landete.

 

Ich war erstarrt. Mein Körper fühlte sich merkwürdig taub an und ich überlegte zähe Minuten, ob ich vielleicht tot war. Der leichte Windzug neben mir befreite mich unwillkürlich aus meiner Starre und ich wandte meinen Kopf zur Seite, wollte sehen, wer sich zu mir hinunter gekniet hatte.

«Adrian», sagte ich atemlos, meine Augen wurden groß.

Er beugte sich zu mir runter, sah mir prüfend ins Gesicht. Mit der Hand nahm er mir den rechten Kopfhörer aus dem Ohr und das laute Getümmel der Außenwelt brach über mich herein.

«Lana, oh mein Gott. Ist alles in Ordnung bei dir?» Ich erkannte zwei weibliche Stimmen die abwechselnd auf mich einsprachen und später erkannte ich sie auch. Sie waren beide in meiner Klasse.

Ich versuchte zu nicken, doch mein Geist war scheinbar noch nicht an seinen Ort gekehrt.

«Ist vermutlich nur der Schock», hörte ich Adrian sagen, während er mich am Arm packte und mit einem Ruck hochhob. Viel Feingefühl hatte er scheinbar nicht, aber durch diese Geste, die völlig abrupt und übergangslos war, überwand ich den ersten Schock.

Ich fand meine Stimme wieder und sah mich um. Einige Leute sahen zu uns hinüber, andere liefen desinteressiert weiter und ich...ich wusste einfach nicht was ich sagen sollte.

«Geht es dir gut?», fragte Jenny zittrig und ich sah ihr einen Augenblick in die Augen, als würde ich erst überlegen müssen, um ihr eine ehrliche Antwort geben zu können. Doch das tat ich nicht, ich fühlte rein gar nichts, dennoch nickte ich.

«Du solltest viel vorsichtiger sein», hörte ich nun Melanie sagen.

«Ja, aber hast du nicht gesehen, wie schnell der Vollidiot gefahren ist?»

«Du hast recht. Er war eindeutig zu schnell.»

 

Ich hatte das Gefühl, als müsste ich mich jeden Moment übergeben. Der Lärm, die Menschen, das alles waren in diesem Augenblick zu viel. Zu viele Eindrücke um sie alle zu verarbeiten, nachdem was gerade geschehen war.

 

«Komm schon, lauf. Das hilft dagegen.» Als hätte Adrian meine Gedanken gelesen. Dennoch sah er mich mit dieser Ruhe an, die mir fast schon unheimlich war.

«Es hilft wirklich», sagte er mit mehr Nachdruck und ich setzte meinen Gang fort. Wie, das weiß ich auch nicht. Ich hatte das Gefühl, als würden meine Beine jeden Moment nachgeben, doch das taten sie nicht. Ich lief einfach, weiter und weiter, bis ich die ganze Schülerschaft hinter mir ließ und die frische Luft das engegefühl in meiner Brust ein wenig dämmte.

Es dauerte gefühlte Ewigkeiten bis ich endlich realisierte was da gerade eben geschehen war. So unvorsichtig war ich schon lange nicht mehr gewesen und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass mir das irgendwann noch zum Verhängnis werden würde. Immerhin hatte mich noch letztens erst beinahe ein Radfahrer erwischt und diesmal...ein Auto.

Ich stieß die Luft zittrig aus und verkrampfte mich. Man, das hätte echt übel enden können. Wenn mich Ad...

Meine Augen wurden groß und ich blieb abrupt stehen. Der leichte Windzug hinter mir ließ meine Vermutung bestätigen. Er war noch immer hinter mir und war nun ebenfalls stehen geblieben.

Als ich mich umdrehte, blickte er gerade auf sein Handy und ich hatte plötzlich ein Déjà-vu-Erlebnis. Die Geister im Nacken.

«Rufst du jetzt Blake an, oder was?» Ich weiß nicht, woher dieser harsche Unterton herkam – schließlich hatte er mir noch vor wenigen Minuten das Leben gerettet. Dennoch missfiel mir der Gedanke, dass er Arschloch irgendwie Bericht erstatten könnte, was mich betraf. Das hatte er nämlich auch getan, als er mich vor Johannas Haustür gesehen hatte.

«Und wenn es so wäre?» Er klang unbeeindruckt, dennoch schien ihm mein Ton nicht gefallen zu haben - plötzlich hatte er wieder etwas erschreckendes an sich. Oder mir fiel es erst jetzt wieder auf.

Groß, breit, kurzgeschorenes Haar, die Narbe in seinem Gesicht, die dunklen Augen die manchmal irre dreinschauten. Es fröstelte mich.

«Es geht ihn doch nichts an, was mit mir ist.»

«Wer hat gesagt, dass es dabei um dich geht?» Er beantwortete all meine Fragen mit einer Gegenfrage und am liebsten hätte ich ihn Lügner geschimpft. Schließlich hatte er Blake an dem Tag gesagt, dass ich vor Johannas Haus herumlungerte. Aber ich ließ es darauf beruhen, seufzte und setzte meinen Gang genervt fort.

Er folgte mir stillschweigend und ich war geneigt zu sagen, dass ich das letzte bisschen Weg auch alleine laufen könnte, ohne über meine eigenen Beine zu stolpern und mich selbst dabei zu töten, aber wieder einmal hielt ich die Klappe.

 

«Du scheinst ein Talent dafür zu haben, dich in Scheiße zu geraten, oder?», hörte ich ihn irgendwann hinter mir sagen, als wir endlich in meine Straße einbogen.

Ich legte die Stirn in Falten und wurde absichtlich langsamer, damit er schließlich neben mir und nicht hinter mir herlief.

«Du aber auch.» Wenn ich an seine etlichen Gesichtsverschönerungen der vergangenen Monate dachte, hatte er eindeutig ein viel größeres Talent dafür.

Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich deutlich erkennen wie er lächelte und genau in diesem Moment wich die Anspannung von mir. Die Stimmung lockerte sich ein wenig auf; ich hatte gar nicht bemerkt wie furchtbar verspannt ich doch gewesen war.

«Dann haben wir ja was gemeinsam.» Der Sarkasmus in seiner Stimme war kaum zu überhören, dennoch konnte ich mich nicht davon abbringen, leicht zu lächeln.

«Ob das jetzt wirklich so gut ist...» Ich ließ den Satz unbestimmt in der Luft hängen und kramte meine Schlüssel aus der Tasche, spürte, wie er kurz vor unserer Einfahrt stehen blieb.

 

«Du musst dich übrigens nicht bedanken.» Ich drehte mich verwirrt um. Adrian hatte die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben, eine Braue nach oben gezogen.

«Was?», fragte ich unsicher.

Er zuckte die Schultern. «Es war mir eine Freude deinen kleinen Hintern zu retten.»

Das berühmte Kopfnicken von ihm folgte darauf als Abschiedsgruß und ich spürte im selben Moment ein heißes Prickeln in meinem Gesicht. Ich wollte irgendetwas erwidern, aber er gab mir nach dem Spruch noch nicht einmal wirklich Gelegenheit dazu.

Mein Mund stand offen und obwohl mir die Hitze in die Wangen gestiegen war, fröstelte es mich wieder einmal.

 

 

Seltsamer Kerl...

 

Chapter 10 - Farben der Kindheit

 

~   x  X  x   ~

 

 

~ Du findest mich unsympathisch, oder?~

~Absolut zum Kotzen!~

 

Kagome & InuYasha aus: InuYasha

 

 

 

Im Haus war es ruhig. Scheinbar war Arschloch noch immer nicht Zuhause. Allmählich fragte ich mich, wo zum Teufel er steckte.

Ich warf meine Tasche auf mein Bett und zog meine Jacke aus. Vielleicht hatte Adrian ihm ja gar nicht vorhin geschrieben oder angerufen. Sonst wäre Blake wie ein Wirbelwind hier rein gefegt und hätte einen unnötigen Aufstand veranstaltet, in dem es unerklärlicher weise wieder um ihn gehen würde – dessen war ich mir sicher.

Du musst dich übrigens nicht bedanken.

Ich stockte. Adrians Worte hallten in meinem Kopf wieder.

Es war mir eine Freude deinen kleinen Hintern zu retten

Ganz egal, wie merkwürdig er auch war – er hatte mich wirklich gerettet. Und ich hatte ihm tatsächlich noch nicht einmal dafür gedankt. Kein „Hey, du machst mir Angst und bist ein ziemlich verschrobener Kerl, aber danke, dass du mich noch rechtzeitig gepackt und von der Straße gezogen hast; sonst wäre aus mir sicherlich Lana Kuvertüre geworden. Echt cool von dir.“

Nun gut, ein einfaches Danke hätte es sicherlich auch getan, aber noch nicht einmal das hatte ich Zustande gebracht. Na ja, ich würde es bei Gelegenheit sicher mal nachholen. Vielleicht.

 

Als mein Handy klingelte, schob ich die Gedanken an Adrian beiseite und wühlte in den Taschen meiner Lederjacke herum – es war Chris. Noch gestern hatte ich meine neue Telefonnummer einigen wichtigen Kontakten aus meinem Telefonbuch geschickt und ich war gerade froh darüber, dass ich mir damit nicht so viel Zeit gelassen hatte.

«Hey, Chris.» Ich hing meine Jacke auf und suchte nach einem Haargummi, damit ich mir wieder einen Vogelnest auf meinem Kopf zaubern konnte.

«Hey, Lana. Was treibst du denn so?»

Ich grinste. «Nicht viel, und du? Ist was passiert?»

Er schnaubte. «Musst denn etwas passiert sein, nur weil ich dich anrufe?»

«Ja, schon. Nun spucks schon aus: Hast du jemanden umgebracht und brauchst nun meine Hilfe, um die Leiche zu verscharren?»

Ich hörte wie er scharf die Luft einsog, was mich zum Lachen brachte.

«Du bist doch irre, Mädchen. So etwas kannst du doch nicht am Telefon sagen. Noch nicht einmal im Scherz. Man kann nie wissen, wer einem zuhört.»

Ich verdrehte die Augen.

«Aber, ja. Du hast Recht. Ich habe Maria umgelegt. Oder vielleicht werde ich das noch. Sie treibt mich in den Wahnsinn.»

«Ach, komm schon. Du könntest ihr niemals etwas antun.»

«Sehr gut. Genau diese Worte möchte ich dann von dir vor dem Richter hören.»

 

Ich fing so laut an zu lachen, dass mein Gesicht schmerzte. «Spinner.»

«Jetzt mal im ernst. Sie klebt wie eine Klette an uns und redet ununterbrochen von ihren ach so fantastischen Abenteuern. Darian und ich haben nach der Arbeit kaum noch Zeit für uns, weil sie jedes Mal hinter uns steht, wenn wir uns umdrehen.»

«Hm, und was kann ich für dich tun?»

«Also...», ich hörte bereits den Anklang einer Bitte die in seinen nächsten Worten lauern würde.

«Ich will ihr nicht sagen, dass Darian und ich mal alleine, ohne sie, etwas unternehmen wollen. Das würde sie sicher verletzten und ich will nicht, dass sie sich Hals über Kopf ins nächste Abenteuer stürzt, nur weil sie sich hier unwillkommen fühlen könnte.»

«Verstehe ich.»

«Wie wäre es, wenn wir morgen Abend zu viert etwas unternehmen?»

«Damit ihr beide trotz ihrer Anwesenheit etwas Zeit füreinander habt, weil sie mich in den Wahnsinn treiben wird?»

Wir lachten beide auf, doch ich erschrak mich im nächsten Moment, als es an meiner Tür klopfte.

«Warte mal kurz, Chris.»

 

Ich öffnete stirnrunzelnd die Tür und es war...Blake. Wow, scheinbar lebte der Kerl noch.

Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch als er das Handy an meinem Ohr sah, hielt er inne.

«Und, was sagst du Lana?»

Ich würde Chris selbstverständlich zusagen und war auch drauf und dran das zu tun, bis mir einfiel, dass der Tag morgen einzig und allein Julia, David und mir gehörte.

«Tut mir leid, ich bin für morgen schon verabredet.»

Bei diesen Worten hob Blake eine Braue hoch und ich tat es ihm gleich.

«Wirklich?» Chris klang bitter enttäuscht, doch meine Aufmerksamkeit galt nur Blake.

«Was willst du?», formte ich also mit den Lippen, doch er reagierte nicht darauf. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich ganz lässig an meinen Türrahmen.

Ich verdrehte die Augen. «Ja, tut mir leid», sagte ich zu Chris. «Heute hätte ich Zeit. Oder am Sonntag.»

Es würde etwas ruhig und ich drehte Blake den Rücken zu, weil es mich nervte wie er mich ansah. Dennoch machte er mich neugierig – was wollte er schon wieder?

«Heute geht es nicht, aber am Sonntag könnten wir doch was unternehmen. Essen und Kino?»

«Klingt gut. Schreib mir später noch eine Nachricht, wann und wo wir uns treffen, ja?»

Chris klang nun wieder heiter. Scheinbar freute er sich, dass ich Maria etwas ablenken würde und er etwas Zeit mit seinem Freund verbringen konnte – obwohl er mit Sicherheit ganz gerne allein etwas mit ihm unternommen hätte, aber auch hierüber freute er sich.

«Danke. Du hast was gut bei mir!»

Ich lachte. «Gut zu wissen. Bis Sonntag.»

«Bis dann, Kleines.»

 

Ich hörte ihn räuspern, aber ich drehte mich nicht um.

«Dass ich das noch erleben darf. Miss Stubenhocker ist für das ganze Wochenende ausgebucht.»

Ich verdrehte die Augen und warf mein Handy aufs Bett. «Was willst du?»

«Mit wem bist du denn verabredet? Zwei Dates, an zwei verschiedenen Tagen, mit zwei verschieden Typen?» Er versuchte diese Worte mit Stolz auszusprechen, es wie ein Lob klingen zu lassen, doch etwas an seinem Gesichtsausdruck sagte was anderes – irgendwie wirkte er angespannt, lauernd.

«Tja», ich straffte die Schultern und versuchte ihn nachzuahmen, wenn er mit seinen Eroberungen prahlte. «Ich bin scheinbar unwiderstehlich – alle wollen ein Stück von mir abhaben.» Seine Worte; ich hatte sie ihm lediglich geklaut.

Er hob beide Brauen und nickte langsam, theatralisch. «Nicht schlecht, Cherry. Nicht schlecht. Pass aber nur darauf auf, dass das richtige Stück wieder nach Hause kommt.»

Ich blickte ihn an, ein „Wovon zur Hölle sprichst du?“ in meinem Gesicht. Manchmal ergaben seine Worte überhaupt keinen Sinn. Schwachkopf.

 

Blake machte keine Anstalten etwas vernünftiges zu erwidern, deshalb beschloss ich das Thema zu wechseln. «Also, wie kann ich dir behilflich sein?», fragte ich in einem widerlich süßen Tonfall, was er lediglich mit einem genervten Schnauben quittierte.

Mir war das Recht. Ich dreht mich zu ihm um und versuchte ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, doch seine flache Hand landete geräuschvoll auf dem schweren Holz und ich stolperte zurück.

«Du spinnst doch...», sagte ich keuchend. Ernsthaft: Ich hätte mein Leben gerne mal durch die Augen einer dritten Person beobachtet – so ganz neural und unvoreingenommen von außen, damit ich mir absolut sicher sein konnte, dass er der Verrückte von uns beiden war und nicht ich.

«Wieso ist dein Handy aus? Ich habe dich heute vielleicht zwanzig Mal angerufen.»

Er sprach vollkommen ruhig, als hätte er eben nicht beinahe seine Hand durch meine Tür gedonnert. Verrückt! Sagte ich doch.

«Ich habe eine neue Nummer», erwiderte ich genervt und verschränkte die Arme vor der Brust. «Was willst du überhaupt von mir?»

 

«Dann gib mir verflucht nochmal deine neue Nummer. Du musst erreichbar sein, wenn ich dich brauche.»

Mir entglitten die Gesichtszüge. «Erreichbar...wenn du mich brauchst...», wiederholte ich ungläubig und starrte in anschließend finster an. «Und weiter? Soll ich springen, wenn du es sagst? Betteln, wenn du es verlangst? Wie genau sehe ich eigentlich für dich aus, Blake? Trage ich ein Halsband und höre ich verdammt noch mal auf den Namen Leslie?»

«Meinst du in den Klamotten? Willst du das wirklich wissen?»

Das war es! Ich trat zwei Schritte vor und meine Hände legten sich auf seine Brust; ich versuchte ihn nach hinten zu schubsen, damit ich meine Tür zumachen und abschließen konnte, aber er packte mich blitzschnell an den Handgelenken und hielt mich fest.

«Wie schaffst du es», ich machte hektische Bewegungen, damit sich sein Griff ein wenig lockerte und ich ihm meine Handgelenke entreißen konnte, «dass du binnen von Sekunden meinen ganzen Tag ruinierst.» Ich fluchte über so viel Kraft, er musste eindeutig etwas weniger Zeit im Fitnessstudio verbringen.

«Das Gleiche gilt übrigens auch für dich.» Und mit einem Mal stand ich mit dem Rücken zu ihm, er umklammerte mich von hinten wie ein Schraubstock. Meine Hände erreichten seine Kopfhöhe nicht, sonst hätte ich ihm wohl ein paar Haare rausgerissen, denn seine Arme hatten sich um meine Oberarme geschlungen und so machtlos zu sein, machte mich in dem Augenblick rasend.

 

«Du bist doch in mein Zimmer gekommen», sagte ich wild zappelnd, doch sein Griff blieb eisern.

«Ich wollte dich nur etwas fragen – wer von uns beiden rastet denn hier gerade wie eine hysterische Kuh aus?», sagte er mir völlig nüchtern ins Ohr; so viel Gleichgültigkeit machte mich lediglich wütender, als das es irgendwie der Rage einen Abbruch tat.

«Du hast mir ja auch deine Frage gestellt, aber der Ton macht die Musik, Freundchen. Ich bin nicht dein Hund!» Ich krümmte mich nach vorne und stieß mit meinem Hintern gegen seinen Schritt, in der Hoffnung, ihn wegzustoßen oder mich irgendwie aus seinem Griff befreien zu können, aber als mein Plan nicht so aufging, wie ich es mir erhofft hatte, steckte ich in einer...äußerst heiklen Position fest.

 

Ich hatte das Gefühl, als würde jemand warmes Wasser über mich gießen, denn er machte keine Anstalten sich von mir lösen – mir war ganz plötzlich heiß. Sehr sehr heiß.

«Wieso sagst du eigentlich nicht gleich, dass es hierbei eigentlich nur um das eine geht?» Sein Körper presste sich so hart gegen meinen, dass ich ihn ziemlich deutlich an meinem Hintern spüren konnte. Ich hatte das Gefühl, dass ich gleich zusammensacken würde, weil ich gebückter Haltung vor ihm stand, seine Vorderseite an meine Po gepresst.

«Du kranker...Mistkerl», entfloh es mir, doch sein amüsiertes Lachen an meinem Ohr ließ sich mich abermals erschaudern.

Seine Arme um meinen Oberkörper zogen mich hoch, ich entkam dieser peinlichen Position, doch sein Körper drängte mich unweigerlich gegen die Wand. «Weißt du...» Seine Arme verschwanden, doch ich stand nach wie vor mit dem Rücken zu ihm, war nun zwischen der Wand und seiner Gestalt gefangen.

«Wenn du mich willst, dann musst du es nur sagen.»

 

Damit löste er sich von mir, doch er verschwand nicht, wie er es üblicherweise nach solchen Terroraktionen stets tat. Mein ganzer Körper zitterte und meine Nase brannte auffällig, als müsste ich jeden Moment anfangen zu heulen – so etwas war mir bei ihm bisher noch nie passiert.

Dennoch drehte ich mich zu ihm um, wütend, fassungslos, beschämt. «Unfassbar dass Adrian der erträglichere von euch beiden ist!», entkam es mir und das selbstgefällige, süffisante Lächeln in seinem Gesicht wich einem verwirrten Gesichtsausdruck.

«Ich hasse dich, Blake.» Noch bevor er mir noch irgendetwas sagen konnte, stürmte ich in mein Zimmer und schlug die Tür geräuschvoll zu, schloss sie sicherheitshalber sogar noch ab.

Mir war heiß und kalt zugleich und der dicke Kloß in meinem Hals wollte auch Minuten danach nicht verschwinden. «Ich hasse dich, Blake», murmelte ich abermals und schniefte die Tränen fort, noch bevor sie überhaupt geflossen waren.

 

 

~   x  X  x   ~

 

 

«Und du bleibst heute Abend weg?», fragte mich meine Mutter, während ich zwei Chipstüten in den Einkaufswegen legte. Der gestrige Tag war ohne weitere Vorkommnisse verlaufen – Blake hatte mich wieder einmal komplett ignoriert; was mir selbstverständlich mehr als recht gewesen war. Dennoch war die Wut auf ihn kein bisschen abgeebbt. Ganz im Gegenteil, sie wuchs mit jeder Stunde beständig, obwohl ich eine Steigerung kaum für möglich gehalten hatte.

«Ja, Mama. Wir machen uns einen Filmabend und Julia würde mich um die Uhrzeit dann sowieso nicht gehen lassen.» Die Ausrede war äußerst schlecht, schließlich hatte Julia ein Auto, trotzdem hoffte ich, sie würde es dabei beruhen lassen.

«Hm, kommt David denn auch?»

«Ja, Mum. Das wird schön, so wie früher.» Ich überlegte was ich noch alles an Knabberzeug holen konnte – Julia und David waren für die Getränke verantwortlich.

«Lana?» Meine Mutter berührte mich an der Schulter und ich wandte mich von den ganzen Gummibären und anderen Süßigkeiten ab, blickte ihr fragend in die blauen Augen.

«Geht es Julia gut?»

Ich schüttelte den Kopf. «Nein. Aber das wird bestimmt wieder», sagte ich, aber es klang nicht halb so ehrlich wie ich es mir erhofft hatte.

«Ich weiß, dass du für sie da sein möchtest, aber versprichst du mir was?»

Nun wurde ich nervös. «Was denn?»

Sie seufzte leise und strich mir eine braune Strähne aus dem Gesicht. «Versprich mir dass du nichts trinken wirst. Ich weiß, so etwas gehört bei euch jungen Leuten immer dazu, aber Lana», sie blickte mich nun streng an, «erstens bist du nicht volljährig und zweitens: die Lösungen für die Probleme die uns im Laufe unseres Lebens begegnen, liegen nicht am Grund einer Flasche. Ich hoffe du wirst das Julia auch vermitteln, hm?»

Ich hatte keine Ahnung wie das binnen von Sekunden zu einer Predigt über das Leben ausarten konnte. Streng genommen durfte ich Alkohol trinken, zwar nur Wein und Bier, aber immerhin. Doch meine Mutter war da etwas altmodisch. Zum trinken musste es einen Grund geben, etwas schönes zu feiern, Geburtstage, Hochzeiten etc. Oder mal zwei Gläser Wein, wenn sie nach einer schlechten Nachricht runterkommen musste...

Aber letzteres galt natürlich nicht für mich. Ich hatte in ihren Augen noch gar nicht solche Probleme die für den Moment mit Alkohol ein wenig abgedämmt werden mussten. Auch wenn...sie würde es mir dennoch verbieten.

Ich lächelte. «Ich glaube da brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen. Julia gehört nicht zu diesen Menschen die ihre Probleme in Alkohol ertränken.» Mein Lächeln wurde bitter. Nein, sie nahm lieber Drogen und diesbezüglich hatte ich ein ernsthaftes Wörtchen mit David zu rupfen. Hoffentlich würde ich das bis heute Abend nicht wieder vergessen.

 

Sie tätschelte mich an der Schulter, scheinbar erleichtert darüber, dass sie das ausgesprochen hatte was ihr auf der Seele lag. Meine Mutter war nicht wirklich streng, zumindest konnte ich mich nie an etwas erinnern, dass nur sie mir verboten hätte und andere Mütter ihren Kindern nicht. Es waren klassische Dinge wie Rauchen, zu lange wegbleiben, oder eben Alkohol. Vermutlich würde das auch bleiben. Zumindest so lange, wie ich mit ihr unter einem Dach lebte.

Da spielte es für sie sicherlich keine große Rolle, dass ich bald 18 wurde...

 

 

 

Als wir nach einer geschlagenen Stunde zu Hause ankamen, stopfte ich das wichtigste für den Abend in meine pinke Nike Sporttasche, die ich bis dato noch nie für Sport benutzt hatte – alles andere wäre zu klein, oder zu umständlich zum tragen gewesen.

Zahnbürste, Schlafsachen und der ganze Knabberkram passten problemlos rein und waren auch angenehm zu tragen.

«So...», murmelte ich leise und stellte die gepackte Tasche im Flur ab. Ich hätte mich eigentlich heute, also am Samstag, problemlos mit Chris treffen können, schließlich war es bereits halb sechs, aber ich hatte ihm absichtlich gesagt, dass ich bereits für den ganzen Tag ausgebucht war – ich hätte unmöglich den Tag noch genießen können, wenn ich vorher eine ganze Portion Maria für mich alleine gehabt hätte.

Davon abgesehen...so ganz gelogen hatte ich ja nicht, immerhin hatte ich noch mein Zimmer auf Vordermann gebracht, geduscht, war einkaufen gewesen...und das ohne Hektik, weil ich vorher nichts anderes zu tun gehabt hatte. Nein, nein. Das war schon richtig, ich würde mich morgen mit ihnen treffen.

 

«In Ordnung, ich bin gleich da.»

Ich hielt inne, als ich seine Stimme hörte. Das war Arschloch. Zwei Sekunden später erschien er auch schon in der Küche, doch ich gab mein bestmögliches um ihn zu ignorieren, damit ich nicht auf die Idee kam, ihm seine Augen auszukratzen – wegen der gestrigen Aktion, versteht sich.

Stattdessen wandte ich mich zum Kühlschrank und nahm die Eisteeflasche raus, goss mir ein Glas ein.

«Du bist immer noch hier?», hörte ich ihn sagen. Ich spannte mich unwillkürlich an. Ernsthaft, er war ein so...merkwürdiger Kerl. Er sprach mit mir nur dann, wenn er Lust drauf hatte, ignorierte mich an anderen Tagen, als wäre ich Luft. Machte Scherze oder trieb mich zur Weißglut. Das war in meinen Augen nicht normal. Ehrlich nicht.

«Hm», machte ich unbeeindruckt und nahm einen Schluck von meinem Getränk, den Rücken nach wie vor zu ihm gewandt. Tief durchatmen, was auch immer er nun von sich geben würde – nichts könnte meine Laune ruinieren.

 

«Ich bin in fünf Minuten da, Lana», hörte ich meine Mutter von oben rufen und ein leises, kaum vernehmbares „Verdammt“ verließ meine Lippen. 3...2...1

«Fährt dich etwa Mama zu deinem Date?», sagte er in einem sarkastisch, triumphierenden Tonfall und ich schloss die Augen, versuchte normal weiter zu atmen. Egal was ich nun auf diese Worte erwidern würde: Blake hätte eine passende Antwort parat um mich weiter zu reizen, deshalb versuchte ich eine andere Taktik.

Ich ignorierte ihn.

«Abgesehen davon...so willst du zu einem Date gehen? Kleines, die Verabredung wird keine fünf Minuten andauern», reizte er mich weiter und ich konnte schwer ein Augenzucken unterdrücken. Ich hatte eine dunkle Jeans und meine schwarzen Nikes an, meine Lederjacke gab von meinem schönen Oberteil natürlich nicht viel Preis.

Ich ignorierte ihn weiter und öffnete den Reißverschluss meiner Jacke: Untendrunter trug ich ein schwarzes Spitzenoberteil. Ein wirklich hübsches Stück das ich bis dato noch nie getragen hatte, also würde er sicher auf den Gedanken kommen, dass ich es mir extra für diesen Tag gekauft hatte.

 

Der komplette Rücken war mit schwarzer Spitze besetzt und ich hatte extra ein schwarzes BH drunter gezogen, damit es farblich passte. Der schwarze Stoff bedeckte meine komplette Vorderseite, aber die Ärmel, die mir knapp bis zum Ellenbogen gingen, waren ebenfalls aus Spitze und nicht blickdicht; genauso wenig wie mein Rücken.

Ich legte meine Jacke auf den Stuhl am Küchentisch und riskierte einen Blick zu Blake. Seine Augen lösten sich nur schwer von dem schönen Stoff und ich konnte gerade noch so ein schelmisches Grinsen unterdrücken.

 

Ich war nicht blöd, sicher wusste ich, dass ich ihm vor dem Treffen mit Julia eventuell noch über den Weg laufen würde und da sollte er nicht denken, ich würde in Schlabberklamotten zu einem Date gehen. Denn zu diesen hatte ich zuerst tendiert – eine Jogginghose und ein Kuschelpulli.

Diese trug ich meistens an unseren Filmabenden und nun war ich froh, dass ich weiter dieses Spiel spielte.

Und was meine Mutter betraf: Blakes Stolz würde es ihm nicht erlauben meine Mutter nach meinem Verbleib zu fragen und ich freut mich schon darauf, wenn er später oder morgen früh nach Hause kam und ich nicht da war. Ich grinste bei dem Gedanken.

«Etwas frisch dafür, meinst du nicht?», sagte er schließlich und es überraschte mich, dass er nichts anderes dazu zu sagen hatte. Etwas gemeines vielleicht.

Ich stellte mein Glas in die Spüle, als ich meine Mutter die Treppen runterkommen hörte, aber auf seine Worte erwiderte ich nichts. Zumindest nicht mit meinem Mund. Stattdessen schnappte ich mir meine Jacke, warf mein Haar zurück und lächelte überheblich, arrogant. Genauso wie er es oftmals tat.

«Hoffen wir mal, dass ich etwas zum anheizen haben werde», sagte ich gerade noch so, dass es meine Mutter nicht hörte und verschwand aus seinem Blickfeld, trat in den Flur.

 

Der dämliche Ausdruck in seinem Gesicht, die leicht anbahnende Wut in seinen Augen – all das war wie Balsam für meine Seele und ich war froh, dass ich es geschafft hatte, es durchzuziehen.

 

 

So spielte man, du Arschloch.

 

 

 

 

Die Fahrt zu Julia dauerte eigentlich nicht lang, aber ich hatte derweil das Gefühl, dass meine Mutter absichtlich langsam fuhr, damit sie noch einige Augenblicke mit mir allein sein konnte – um mir vielleicht noch eine Predigt über irgendetwas zu halten, das ihr in den nächsten zwanzig Sekunden in den Sinn kam.

«Hast du dein Handy mitgenommen?»

Ich berührte meine Lederjacke und nickte anschließend.

Meine Hände zitterten noch etwas und ich hatte das Gefühl, als wäre da noch viel mehr Energie in mir, das freigelassen werden musste, aber da ich mich in einem Fahrzeug befand, konnte ich nichts tun, um dagegen etwas zu unternehmen. So überheblich und arrogant hatte ich bisher noch nie getan; vielleicht weil mir bisher immer der Mut gefehlt hatte. Aber irgendwie war es aus mir rausgeplatzt und die Wut auf ihn, für seine dämlichen Aktionen hatten sicherlich eine Rolle dabei gespielt.

Aber auch das Oberteil an sich: Vielleicht stimmte es, vielleicht machten Kleider Leute. Immerhin hatte ich mich darin schön gefühlt und mir dieses arrogante Getue erlaubt; was ich in einem Schlabberlook sicher nicht getan hätte.

Ich seufzte.

«Ist alles in Ordnung?»

Ich war zuerst verwirrt, denn ich hatte derweil vollkommen vergessen, dass meine Mutter neben mir saß.

«Ja, alles gut.»

«Weshalb dann das tiefe, klägliche Seufzen?»

Ich grinste. «Kläglich? Nein, wohl eher zufrieden.»

Meine Mutter lächelte, sagte jedoch nichts mehr dazu. «Lass dein Telefon an, ja?»

«Mum, ich gehe nur zu Julia. Wie oft habe ich schon bei ihr übernachtet.» Ich wusste nicht aus welchem Grund meine Mutter so...hm, besorgt würde ich es sagen, war. Bisher hatte sie sich nie Sorgen gemacht, wenn ich bei Julia schlief. Zumindest war mir das noch nie aufgefallen.

Vielleicht hatte es aber auch was mit Julias Vater zu tun und dass sie vielleicht auf dumme Ideen kam und mich mitzog. Aber so war das noch nie gewesen, das wusste meine Mutter doch auch.

Julia hatte keinen schlechten Einfluss auf mich.

«Trotzdem möchte ich, dass du erreichbar bleibst. Falls du später doch nach Hause kommen möchtest, dann ruf mich an. Komm bloß nicht auf die Idee alleine so spät noch zu laufen.»

Ein Licht ging mir auf – vermutlich ging es hier gar nicht um Julia, zumindest nicht ganz. Viel eher darum, was mir letztens erst noch passiert war. Der Unfall.

Mensch, vielleicht hatte ich doch das richtige getan, indem ich die Wahrheit verheimlicht hatte. Wie hätte sie bloß reagiert, wenn ich ihr das mit dem Überfall erzählt hätte?

 

Der Wagen hielt vor Julias Haus an und ich lächelte, beugte mich zu ihr, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. «Keine Sorge, Mum. Falls etwas ist, rufe ich dich an, ja?»

Sie nickte, aber die Besorgnis aus ihren Augen verschwand nicht ganz. «Ist gut, bis morgen.»

 

 

~   x  X  x   ~

 

 

 

Mir war in den letzten Tagen kaum bewusst gewesen, wie viel in so kurzer Zeit geschehen war. Erst jetzt, nachdem mein Redeschwall bereits eine geschlagene halbe Stunde andauerte, wurde es mir klar. Weder Julia noch David unterbrachen mich in meinen Erzählungen und ich hatte das Gefühl, als würde mir der Kiefer gleich abfallen. Sie lauschten unentwegt; einzig und allein die Veränderungen in ihren Gesichtern ließ mich ihre Gefühle erahnen. Fassungslosigkeit, Wut, Unglauben, Entsetzen. Sie alle lösten sich alle paar Minuten ab und ich erriet stets aufs neue ihre Gefühle.

 

Ich hatte nicht vorgehabt gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, aber nachdem ich vor exakt dreißig Minuten Julias Zimmer betreten und sie mein Gesicht gesehen hatte, war mir keine andere Wahl geblieben. Sie hatte mich im gleichen Moment auf die Couch gezogen und ich war überrascht gewesen, wie schnell die ganze Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war – wirklich, einen Moment lang hatte ich geglaubt, sie würde umkippen.

Nun saßen wir hier, auf der Couch und ich erzählte all den Mist, der mir widerfahren war. Der rote Faden existierte jedoch nicht, meine Erzählungen waren wir und durcheinander, dennoch hatte ich das Gefühl, sie würden mich schon verstehen und mitkommen.

«Tja, dann habe ich ihr gesagt, dass sie sich von mir fernhalten soll. Ich meine, im Grunde ist es doch auch irgendwie ihre Schuld. Wäre ich mit ihr nicht auf diese Party gegangen...», ich ließ den Satz unbestimmt in der Luft hängen und atmete tief aus, legte meine unterkühlten Hände auf mein überhitztes Gesicht um den Schmerz ein wenig zu lindern, der mir wieder in die Gesichtsknochen gekrochen war.

David nutzte meine kleine Pause und holte die Getränke aus dem Minikühlschrank neben dem Fernseher. Den hatte ich Julia letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt. So ein Retroding mit der alten Coca Cola Schrift drauf.

«Lana, ich kann das einfach nicht glauben...», sagte Julia.

Ich seufzte. «Ich auch nicht.»

David war aufgeregt, ich merkte es an seinen hektischen, unkoordinierten Bewegungen. Er drehte sich abermals im Kreis, öffnete den Kühlschrank genau dreimal, bis er endlich die Getränke rausnahm und sie auf dem Tisch vor uns platzierte. Cocktails, Schnaps, und auch nicht alkoholische Getränke.

«Nein, du verstehst nicht.»

Ich wandte meinen Blick von David ab und blickte ihr fragend ins Gesicht. «Was meinst du?»

«Ich kann es einfach nicht glauben, dass du mir nichts davon erzählt hast. Der Überfall, die Karte mit der Drohung, dass du beinahe von einem Auto angefahren wurdest. Wieso hast du nichts gesagt?`»

«Das tue ich doch gerade», wagte ich einen kleinen Witz, um die Stimmung ein wenig zu lockern, doch er gelang mir leider nicht.

Julia war wütend, ihre Wangen gerötet. Doch die Besorgnis in ihren Augen war so viel größer. «Du hättest mir davon erzählen müssen. Ich wäre für dich dagewesen, das weißt du.»

Etwas zog sich in mir zusammen, doch ich winkte es ab. «Du hattest doch selbst genug Probleme. Ich wollte dir nicht zur Last fallen. Es geht mir doch gut.»

«Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ja, ich habe auch einige Probleme, aber das würde mich nicht daran hindern für dich da zu sein. Immerhin wurdest du ausgeraubt und mit einem Messer bedroht, Lana! Ich kann das einfach nicht glauben.»

Ich wog einen kurzen Moment ab, was angenehmer gewesen war. Die Ruhe oder der Sturm.

«Julia, beruhige dich mal.»

Sie stand auf und lief auf und ab. «Nein, ernsthaft. Und was bitte läuft bei dieser Jenna falsch? Nach dieser Sache besitzt sie auch noch die Frechheit dir zu drohen? Ich glaube ich spinne.»

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, schenkte sie sich auch schon Wodka ein und mischte es mit Orangensaft.

«Ich glaube nicht, dass sie mir drohen wollte. Ich denke, dass ist nur ihre Art Scherze zu machen. Ich habe ihr schon gesagt, was ich davon halte. Sie wird mich in Zukunft sicher in Ruhe lassen.»

 

 

Ich wünschte David würde etwas sagen, um die angespannten Stimmung ein wenig zu lockern, aber er tigerte immer noch im Zimmer rum. «David, kannst du dich mal hinsetzen? Davon wird mir ja ganz schwindelig», sagte ich lächelnd. «Oh, Moment. In der Tasche ist noch Knabberzeug. Kannst du es rausholen?»

Er tat es ohne ein Wort zu sagen, füllte das Chips und anderen Knabberzeug in kleine Schalen, auch die Süßigkeiten fanden ihren Platz und gleich darauf war unser Tisch prächtig gedeckt. Nur die richtige Stimmung fehlte.

«Was willst du trinken?» Ich runzelte die Stirn, denn David wartete gar nicht meine Antwort ab. Er schenkte uns beiden ebenfalls Wodka O-Saft ein, doch ich trank vorerst nichts davon, schließlich hatte meine Mutter mich darum gebeten nichts zu trinken, obwohl ich ihr nichts direktes versprochen hatte.

«Und deine Mutter hat nichts bemerkt?» Es stellte sich heraus, dass Julia lediglich drei große Schlücke von ihrem Wodka Gemisch benötigte, um etwas runterzukommen und normal zu sprechen, denn nun saß sie wieder neben mir und hielt meine Hand, blickte mir besorgt ins Gesicht.

Auch David hatte seine Stimme wieder gefunden – nach einem halben Glas, versteht sich.

«Ich denke du hast Mist gebaut, Prinzessin.» Das waren seine ersten, richtigen Worte an mich und ich runzelte die Stirn.

«Wieso habe ich Mist gebaut?»

Er lehnte sich zurück und legte seine Hand auf meinen Hinterkopf. «Du hättest die Polizei rufen sollen.»

Ich seufzte und richtete meinen Blick auf den flimmernden Fernseher, ohne mir die Bilder einzuprägen. «Aber dann wäre die Sache viel größer geworden, als es überhaupt war.»

David lachte, es war ein wütendes, entnervtes Lachen. «Größer geworden als es überhaupt war? Spinnst du eigentlich, Lana?»

«David!», rief Julia dazwischen, doch ich hielt sie zurück.

«Nein, ernsthaft», er strich sich eine Strähne zurück und blickte mich finster an. «Dir ist doch klar, dass du mit einem Messer bedroht, ausgeraubt und niedergeschlagen worden bist, oder? Gewöhnliche Menschen hätten die Polizei gerufen.»

Julia hielt die Luft an und ich sah ihn ernst an. «Gewöhnliche Menschen? Was bin ich? Ein Alien?»

Er verdrehte die Augen und nahm einen Schluck von seinem Getränk. «Lana, wer weiß wie oft diese Typen das bereits getan haben. Vielleicht sind sie bei der Polizei schon aktenkundig oder waren schon vorher an einem Raubüberfall mit Körperverletzung beteiligt gewesen. Nur jemand, der etwas zu verbergen hat, würde nach so einem Vorfall einfach nach Hause gehen und jeden belügen.»

 

Das war der Moment, an dem ich mein Nicht-Versprechen brach und einen riesigen Schluck nahm – meine Kehle brannte bestialisch und mir würde einen Moment lang übel, aber das legte sich genauso schnell wieder.

David hatte Recht. Ich hätte die Bedürfnisse von Jenna und mir, hinten anstellen und die Polizei verständigen müssen. Immerhin gab es keine Garantie dafür, dass diese Kerle auch nicht andere Leute ausrauben würden – so wäre die Polizei immerhin auf sie aufmerksam geworden, trotz fehlender Namen. Wir hätten sie beschreiben können.

«Alles in Ordnung?» Die Wut von Julia war scheinbar abgeebbt, nun war da nur noch Sorge.

Ich nickte. «Ja, alles gut. Ich fürchte nur, dass es jetzt zu spät ist. Ich kann nicht mehr zur Polizei gehen und den Überfall melden», mein Blick streifte Davids. «Meine Mutter würde mir das nie verzeihen.»

Es war eine ganze Weile ruhig, einzig und allein die Gläser machten Geräusche, die alle paar Minuten zurück auf den Tisch gestellt wurden.

«Kann ich verstehen», sagte David und ich atmete erleichtert aus. Wenn er mir noch weiter ein schlechtes Gewissen einreden würde, würde ich womöglich irgendwann noch nachgeben und diese Kerle anzeigen. Und dann wäre die Hölle los.

«Nur...pass in Zukunft besser auf dich auf. Und halt dich von diesem Mädchen fern, Jenna.» Ich nickte und nahm einen kleinen Schluck, die Worte meiner Mutter verblassten jedes Mal ein bisschen mehr, wenn das Glas meine Lippen berührte.

Und es fühlte sich gut an.

 

 

 

Der Alkohol floss, die Stimmung war spektakulär und unsere Probleme lediglich nur noch ein mikroskopisch kleiner Staubpartikel im riesigen Kosmos des Lebens. Die Nacht war noch jung – aber wir waren jünger, deshalb stießen wir die Pappbecher abermals an und lachten über Nichts. Nachdem wir zwei Gläser zerdeppert hatten, waren weniger zerbrechliche Dinge im Moment vorteilhafter, weshalb David uns den gefallen getan und ein paar Becher aus der Küche geholt hatte.

 

«Weißt du noch das Rennen mit den Scootern, die wir als Kinder gehabt hatten, Lana?» Julias Mähne war wild durcheinander gewirbelt, weil sie ständig die Fingern darin hatte.

Der Wodka verbannte mir beinahe die Kehle, als ich beim Runterschlucken lachen musste, ein kleines Tröpfchen stahl sich vermutlich in meine Luftröhre.

«Ach du Scheiße, ja! Und wie du in die Pfütze geflogen bist!» Ich lachte Tränen. Diesen Anblick hätte man auf der Kamera festhalten müssen, denn Julia hatte beim Rennen versucht zu schummeln und durch eine riesige Pfütze zu fahren, um mich schön nass zu spritzen, doch scheinbar war der Asphalt dort ein ganzes Stück weit aufgeplatzt. Ihr Scooter blieb darin stecken, aber sie flog wie ein Flummi drüber und landete mit einem ordentlichen Bauchklatscher in der dreckigen Pfütze.

«Und ich hatte Angst mit den dreckigen Klamotten nach Hause zu gehen, aber deine Mutter hatte sie vorher gewaschen und getrocknet», brabbelte Julia und ich nickte lachend.

 

«Aber nichts übertrifft meine Heldentat als junger Knecht im tödlichen Turm, wo der verrückte König die Prinzessin gefangen gehalten hatte.»

Es war wie eine Berührungen, nur mit einem Metallhandschuh; Julia und ich zuckte beinahe zeitgleich zusammen, als David diese Worte von sich gab. Die Leichtigkeit mit dem er sprach, schien die ernsthafte Gefahr, der wir nur knapp entkommen waren, gar nicht erahnen.

Vielleicht hatte er es vergessen, wie knapp ich dem Tod damals entkommen war, aber mir hatte es sich in die Seele gebrannt.

«David. Wir hatten uns geschworen nie wieder darüber zu reden.» Julias Augen waren groß und einen Moment lang war sie genauso nüchtern wie noch vor drei Gläsern.

David war überrascht über ihre Worte und sein Blick flog über mein Gesicht. «Prinzessin, tut mir leid. Ich war in Gedanken.»

Ich nickte und trank einen weiteren Schluck. Die Stimmung war drauf und dran zu kippen, aber Julia reagierte schnell.

«Sag mal, wieso hast du dich heute so zurecht gemacht?» Sie zupfte an meinem Oberteil und bei dem Gedanken an Blakes dämlichen Gesichtsausdruck müsste ich dümmlich grinsen.

«Ach, nur so. Mir war danach.»

Julias Augenbrauen schossen in die Höhe. «Dir ist aber nie danach dich irgendwie zurechtzumachen.»

«Was soll das denn nun heißen?» Ich boxte ihr leicht auf die Schulter. «Ich mache mich oft zurecht und das einfach nur so, weil ich Lust drauf habe.»

David lachte an meinem Ohr und ich zuckte zusammen. «Vermutlich ist dir entfallen, wie du rumgelaufen bist, als ich dich das letzte Mal gesehen habe.»

Ich überlegte einen Moment. Das konnte man doch nicht zählen, immerhin hatte man mir einen Tag vorher ins Gesicht geschlagen und ich hatte am morgen nicht die Laune gehabt, mich irgendwie hübsch zu machen.

«Ihr könnt mich mal», rief ich gespielt wütend und Julia legte mir ihren Arm um die Schulter.

«Nicht wütend sein, Lana. Ich meine, du bist immer gut angezogen, das meine ich auch gar nicht. Aber heute bist du irgendwie...», sie tippte sich theatralisch ans Kinn und grinste mich frech an, «hübsch. Ja, fast schon sexy.»

Ich verdrehte die Augen und stieß sie von mir.

«Das stimmt», stimmte David ihr zu. «Wer hätte gedacht, dass man aus dir noch so viel rausholen kann.»

Ich legte die Stirn in Falten. «Alkohol macht euch echt zu miesen Arschlöchern.»

 

Und dann stießen wir ein weiteres Mal lachend mit den Pappbechern an.

 

 

 

 

Ich hatte das Gefühl zwischen Julia und David zu ersticken. Vor einer halben Stunde hatten wir uns den Weg zum Bett – der nur einen Meter von der Couch entfernt war – mühsam erkämpft und trotz meiner lauthalsen Proteste, war ich dennoch in der Mitte gelandet.

Julias linkes Bein lag quer über meinem Körper, wohingegen David mich mit seinen Armen auf meinem Oberkörper beinahe erdrückte. Seine Hand legte sich abermals auf meine Wange, vermutlich hatte er in seinem benebelten Zustand das Gefühl, ich wäre Julia.

Ich musste hier dringend raus, sonst würde ich noch explodieren. «Jetzt bewegt mal eure Ärsche. Ich ersticke hier noch», sagte ich erstickt, während ich abermals versuchte mich aus diesem chaotischen Dreier zu hieven.

Julia brabbelte irgendetwas unverständlich, wohingegen Davids „Halt die Klappe, Prinzessin“ sehr deutlich zu verstehen war.

«Ich meine es ernst. Ich kriege keine Luft», sagte ich mühsam. Davids Hand lag auf meinem Gesicht und als er sich dagegen wehrte, mich aus der Umarmung zu lassen, biss ich ihn ins Handgelenk.

Er verzog das Gesicht und stieß irgendetwas von sich, drehte sich schließlich mit dem Rücken zu mir. Ich hatte das Gefühl als hätte jemand einen Panzer von mir genommen – ich konnte endlich wieder atmen!

Dennoch war die Hitze unerträglich. «Julia», murmelte ich und versuchte ihr Bein von meinem Unterkörper wegzukicken. Sie schien ebenfalls genervt zu sein, dass ich ständig ihren Schlaf unterbrach, deshalb drehte sie sich ebenfalls mit Schwung um – etwas zu schwungvoll, wie sich kurz darauf herausstellte, denn sie flog rauschend vom Bett und das bemerkenswert weit.

«Ach du Scheiße», rief ich schockiert. War ich froh, dass der Fernseher noch an war, denn ohne Licht wäre ich vermutlich neben ihr gelandet.

«Aua. Das hat wehgetan», murmelte Julia und ich packte sie an den Armen und zog sich mühselig hoch.

«Was macht ihr denn da? Ich versuche zu schlafen», brabbelte David, machte aber keine Anstalten sich zu uns umzudrehen.

Ich half Julia zurück ins Bett und sie kuschelte sich ohne weiteres Beklagen an David, die Schmerzen spürte sie vermutlich gar nicht mehr – Alkohol sei Dank.

 

 

Ich stahl mich ins Badezimmer, leise, denn ich hatte keine Ahnung ob Julias Mutter Zuhause war. Vermutlich nicht, denn nachdem Krach den wir in den letzten Stunden verursacht hatten, hätte sie sicherlich mal besorgt an die Tür geklopft. Dennoch ging ich auf Nummer sicher und bewegte mich wie ein Dieb im Schatten.

Das Bad war frisch, kühl und genau das brauchte in diesem Moment, schließlich wollte die Hitze nicht nachgeben. Meine Hände standen gefühlte Minuten unter dem kalten Wasserstrahl und ich tupfte mir mit den nassen Händen abermals ins Dekolletee, gurgelte anschließend mit dem Mundwasser um den Geschmack in meinem Mund zu neutralisieren.

 

 

Julia und David schliefen seelenruhig und als ich mein halbvolles Glas auf dem Tisch entdeckte, setzte ich mich leise seufzend auf die Couch und nahm einen Schluck. Eigentlich war ich fast ein meiner Grenze angelangt was den Alkohol betraf, aber ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte – der Schlaf war mir im Moment nicht gegönnt.

 

Das dümmliche Grinsen schlich sich erneuert auf mein Gesicht als ich Julias Worte in meinem Kopf widerhallen hörte. Blake war ein dreckiges Arschloch und würde mir noch vieles einfallen lassen, um ihn fertig zu machen. Die Aktion die er gestern noch gebracht hatte, wollte mir nämlich gar nicht mehr aus dem Sinn, die demütigende Position in der er mich festgehalten hatte, noch weniger.

Stirnrunzelnd nahm ich einen großes Schluck von meinem Glas und leerte es in einem Zug, suchte anschließend nach meinem Handy.

Eigentlich wusste ich, dass es eine dumme Idee war, denn irgendwo hinter all dem Nebel und dem trügerischen Mut, hatte sich ein kleines Fünkchen gesunder Menschenverstand versteckt. Doch er machte keine Anstalten sich mir zu zeigen, deshalb hörte ich auf den Alkohol und fischte mein Handy aus meiner Jacke, stellte mich zügig auf.

Etwas zu schnell wie mir auffiel, denn wie sich das Zimmer plötzlich vor meinen Augen drehte war schwindelerregend – die Hitze schoss mir so schnell durch den Körper, dass sich eine fürchterliche Übelkeit aufmachte.

 

Meine Hand schoss wie selbstverständlich zur der Tür und ich eilte zu einer weiteren. Noch bevor mein Hirn realisiert hatte, wohin die zweite Tür überhaupt führte, peitschte mir die frische Nachtluft wie ein Fausthieb ins Gesicht; ich keuchte erstickt und stolperte über meine eigenen Beine, versuchte halt am Treppengeländer zu finden.

Vermutlich hätte ich mich nicht so schnell aufrichten sollen, aber vielleicht hätte ich das halbe Glas nicht exen sollen. Es drehte sich alles fürchterlich und meine Beine zitterten, als ich mich auf die Stufen setzte.

Die erste Dosis von der frischen Luft hätte mich beinahe umgehauen, aber die zweite tat höllisch gut, vertrieb die Hitze und damit auch die Übelkeit.

Die Nacht war stockdüster und die Straße leergefegt, kein einziges Licht brannte in der Nachbarschaft und ich fragte mich, wie viel Uhr wir eigentlich hatten...

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit spürte ich die frische Mailuft auf meiner Haut und fröstelte etwas, hievte mich auf, um zurück ins Haus zu gehen. Als der Windstoß mir die Haare aus dem Gesicht wehte, hörte ich einen lauten Knall und starrte entsetzt auf die Haustür, die mir der liebe Gott, oder vielleicht aber auch nur der Wind, vor der Nase zugeknallt hatte.

Ich war fassungslos und konnte mich kein bisschen rühren. Natürlich könnte ich jetzt Sturmklingeln, bis einer von den beiden Alkoholleichen die Tür öffnete, aber ich wusste nicht ob Julias Mutter zu Hause war. Stattdessen machte ich von dem Handy Gebrauch, das nach wie vor in meiner Hand war und rief zuerst Julia an. Es klingelte unendlich Mal, vielleicht sogar länger. Und dann rief ich sie noch einmal an. Wieder und wieder.

Als sie nicht ran ging, versuchte ich es bei David, ging dabei die drei Stufen runter und lief in der Einfahrt auf und ab. So langsam fror ich, denn meine Jacke war noch drinnen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, Blake hätte mir einen Streich gespielt. Immerhin hatte er behauptet das Oberteil wäre viel zu kalt für dieses Wetter.

 

 

Und irgendwann fing ich an zu lachen. Das alles war so beschissen, dass es fast schon wieder lustig war. Ich hatte mich ausgesperrt und traute mich nicht zu klingeln. Irgendwann kam ich sogar noch auf die hirnrissige Idee etwas spazieren zu gehen, während ich die Beiden abwechselnd anrief, denn von dem Ausflug mit Jenna hatte ich selbstverständlich nichts gelernt.

«Jetzt geht doch mal dran», murmelte ich genervt und lehnte mich an eine Straßenlaterne. Nachdem erneuert niemand ran ging, stöberte ich nachdenklich durch mein Telefonbuch. Hätte ich mehr Freunde als ich an drei Fingern abzählen konnte, dann wäre mir sicher nun jemand zur Hilfe gekommen. Denn nach Hause konnte ich jetzt auch nicht – mein Hausschlüssel war ebenfalls in der Tasche bei Julia.

Blake. Als ich abermals seinen Namen in dicken, schwarzen Buchstaben in meinem Telefon gespeichert sah – ich wusste ehrlich gesagt nicht, warum ich seine Nummer erneuert eingetragen hatte – grinste ich dümmlich. Ich drückte ohne groß nachzudenken auf SMS schreiben und tippte flink eine Nachricht ein.

[style type="bold"]Hey, du Arschloch. Du wirst es noch bereuen dich mit mir angelegt zu haben.

 

Nachdem ich die Nachricht abgeschickt hatte, setzte ich meinen Spaziergang fort, rief abermals Julia an. Heute Mittag wäre ich beinahe vor Wut explodiert, als ich an Blakes Spiele dachte, aber im Moment fand ich alles lediglich urkomisch. So komisch, dass ich ihm wohl zwischen die Beine treten würde, wenn ich ihm über den Weg laufen würde.

 

Als ich auflegte, war ich überrascht, dass mir bereits eine Nachricht entgegenblinkte. Grinsend öffnete ich die SMS und fand auch prompt eine Antwort von Lestat.

 

Wer bist du?

 

Lachend warf ich den Kopf zurück und überlegte einen Moment.

[style type="bold"]Wie oft bekommst du denn solche Nachrichten, dass du zuerst fragen musst, wer ich bin?

 

Es dauerte wieder nicht lang bis er antwortete. Interessant. Ich hätte geschworen, dass er wohl erst morgen auf die Nachricht reagieren würde, schließlich hatten wir gerade ein Uhr Nachts – war er nicht auf einer seiner spektakulären Partys, von denen er gelegentlich sprach?

 

Wer bist du?

 

Die Frage war dieselbe, aber ich musste dennoch lachen.

 

[style type="bold"]Dein größer Alptraum, du Arschloch.

 

Mir war klar, dass er nach dieser Nachricht und der wiederholten Erwähnung seines Zweitnamens – der übrigens Arschloch lautete – auf mich kommen würde, und mit dieser Vermutung behielt ich auch recht.

 

Lana? Was zum Teufel ist dein Problem?

 

 

Meine Finger huschten über die Tastatur, meine Beine trugen mich weiter.

 

[style type="bold"]Du bist mein Problem, du Penner. Glaubst du eigentlich, dass du dir alles erlauben kannst ohne die Konsequenzen dafür zu tragen? Nicht mit mir. Ich werde dich fertigmachen, Blake. Und du wirst betteln, dass ich dich endlich erlöse.

 

Wow, so große Worte hätte ich nüchtern vermutlich nicht gespuckt. Aber plötzlich war nichts mehr lustig, irgendwie war alles nur noch falsch und ungerecht. Ich war wütend, meine Hände zitterten.

 

 

Wo zum Teufel steckst du?

 

 

Dass er nicht auf meine Drohung reagierte machte mich lediglich rasender. Ich versuchte eine Antwort zu tippen, aber meine Finger waren steif vor Kälte. Sie wollten keine sinnvollen Worte bilden.

 

«Scheißeverflucht, was treibst du denn hier?»

Ich kreischte wie eine Irre als ich eine merkwürdig vertraute Stimme und eine Hand auf meiner Schulter spürte. Wie eine Verrückte schlug ich die Hand von mir und drehte mich dabei erschrocken um.

Adrian. Meine Augen waren groß, seine vermutlich größer. Ich wusste nicht, wer von uns überraschter war. Ich, weil er mir eine Scheißangst eingejagt hatte, oder er, weil ich ihn gerade geschlagen hatte.

Eine gefühlte Ewigkeit starrten wir uns an und dann lachte ich los. «Bist du verrückt geworden, dich so an einen Menschen heranzuschleichen?»

Adrian legte die Stirn in Falten und sah so furchtbar mächtig aus wie eh und je, aber das alles prallte irgendwie an meiner Alkoholmauer ab.

«Angeschlichen? Ich rufe dir doch schon die ganze Zeit hinterher. Ich dachte schon, du bist es gar nicht, weil du nicht reagiert hast.»

«Wieso rufst du mir denn hinterher? Was machst du hier eigentlich?» Ich blickte um mich, damit ich wusste, wo dieses „hier“ eigentlich war. Vermutlich war ich zehn Minuten von Julias Haus entfernt.

Er vergrub die Hände in seinen Hosentaschen und blickte mich finster an. «Ich hatte einiges zu erledigen.»

«Was denn?», fragte ich interessiert.

«Das geht dich nichts an», sagte er scharf und ich zuckte zusammen.

«Also gut. Zweimal nenne ich es Zufall, aber beim dritten Mal ist es Stalking, Freundchen», wagte ich einen kleinen Witz, immerhin war er mir nun zum zweiten Mal per Zufall über den Weg gelaufen. Und das zu ziemlich ungelegenen Momenten.

Er verzog keine Miene, also zuckte ich die Schultern und wandte ihm den Rücken zu, setzte meinen Gang fort. Aber irgendwie standen mir meine eigenen Füße im Weg und ich stolperte, fiel aber eleganter als erwartet lediglich auf die Knie.

«Scheiße, das war jetzt unnötig», murmelte ich erstickt.

«Bist du besoffen oder was ist mir dir los?», hörte ich seine Stimme und kurz darauf seine Finger um mein Handgelenk. Er zog mich hoch und legte erneuert die Stirn in Falten. «Und wie läufst du hier überhaupt rum? Deine Hand ist ja eiskalt.»

 

 

Scheinbar hatte ich die Kälte vollkommen vergessen, aber bei seinen Worten fröstelte es mich unwillkürlich. Adrian hob belustigt eine Braue hoch und zog daraufhin seine Lederjacke aus, hing sie mir über die Schultern. Ich war zu perplex um ihn irgendwie davon abzuhalten und als ich die Wärme auf meinem Körper spürte, verwarf ich die Einwände sofort wieder.

«Also, wo zum Teufel gehst du eigentlich hin?»

Ich zuckte lediglich die Schultern. «Ich hab mich ausgesperrt und meine Freundin geht nicht ans Telefon.»

«Wieso klingelst du nicht?», fragte er verständnislos und ich zuckte erneuert die Schultern.

«Ihre Mutter ist wahrscheinlich Zuhause und ich will nicht, dass sie mich so sieht.»

«Dich wie sieht?»

«Irgendwie betrunken.»

Es war das erste Mal das Adrian irgendwie auf meine Worte reagierte. Und zwar legte sich ein Lächeln über seine Züge und mir war plötzlich ganz unbehaglich.

«Vielleicht sollte ich doch klingeln», sagte ich schnell. Aber wenn mich Sandra so sah, würde sie meiner Mutter alles erzählen. Schließlich war mir sehr wohl bewusst, dass ich hin und wieder leicht schwankte und etwa lallte. Meine Mutter würde mir die Hölle heißmachen.

«Du kannst aber auch bei mir knacken.»

Ich schauderte bei seinen Worten und wäre am liebsten schreiend davon gelaufen, obwohl ich nicht einmal den Hauch einer Zweideutigkeit in seiner Stimme gehört hatte.

«Bei dir knacken? Ist das ein Codewort für etwas anderes?», fragte ich scharf und blickte ihn misstrauisch an.

Bei seinem Blick bereute ich das Gesagte. «Mach dir mal keine Sorgen. Du bist absolut nicht mein Typ, obwohl dein kleiner Hintern sicher nicht verachtenswert ist.»

Mein Gesicht stand in Flammen und ich starrte ihn fassungslos, was ihm lediglich ein genervtes Schnauben entlockte. «Reg dich mal ab, ich werde dich schon nicht fressen.»

«Mhm, ja, nein. Also, danke. Aber ich denke ich warte bis meine Freundin ans Telefon geht.»

Er zuckte die Schultern. «Wie du willst. Also dann, man sieht sich.»

 

Ich blickte ihm sprachlos hinterher, aber aus einem unerfindlichen Grund sträubten sich mir sämtliche Nackenhaare – und kurz darauf wurde mir auch klar, weshalb mein Körper so reagierte. Lautes Gelächter und ein Brüllen drang zu mir hindurch, scheinbar hatte ich das unterbewusst viel schneller aufgeschnappt als ich es über geahnt hatte.

Ich konnte sie nicht zuordnen, wusste nicht woher genau die Stimmen herkamen, aber die nackte Panik packte mich – die Luft wurde um gefühlte zehn Grad kälter und das Pochen auf meinem wunden Gesicht meldetet sich, als würde es sich an die tragische Nacht erinnern.

«Adrian», rief ich schrill, meine Beine trugen mich flink zu ihm. Er war noch gar nicht so weit entfernt.

Mit seiner Jacke um meine Schultern erreichte ich ihn in wenigen Schritten, verlangsamte mein Tempo, um neben ihm herzulaufen, da er keine Anstalten machte stehen zu bleiben. Die Angst die ich eben verspürt hatte ließ mich verstehen, wie kindisch ich mich verhalten hatte.

Von wegen: Sandra würde mich so vielleicht sehen. Das war im Moment vollkommen irrelevant, immerhin hätte mir wieder was passieren können.

Ich versuchte abermals die Worte „Kannst du mich zu meiner Freundin begleiten?“ rauszuwürgen, denn für kein Geld der Welt würde ich den ganzen Weg alleine zurücklaufen, aber ich konnte es einfach nicht über mich bringen. Stattdessen sagte ich etwas, worüber ich keine Sekunde nachgedacht hatte und das ich vermutlich später noch verdammt bereuen würde...

«Kann ich bei dir warten, bis meine Freundin ans Telefon geht?»

 

 

 

 

Ich musste von allen guten Geistern verlassen sein dieses Angebot in Betracht gezogen zu haben. Oder besser gesagt: Sein Angebot abgelehnt und anschließend heuchlerisch gefragt zu haben, ob ich bei ihm warten durfte. Immerhin kannte ich Adrian nicht wirklich, aber dennoch so gut um zu wissen, dass man von ihm fernbleiben musste. Sicher hatte er mir bisher niemals etwas getan, oder mir gedroht, ganz im Gegenteil, aber es gab auch die Kehrseite der Medaille. Nicht er würde einen ruinieren – nicht wenn man es nicht drauf anlag – sondern seine „Geschäfte“, die Leute mit denen er unterwegs war, sein Umfeld. Auch diesbezüglich hatte ich zwar keine klaren Beweise, es waren lediglich Schreckensgeschichten aus den Mündern anderer Menschen, aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich daran glauben sollte.

 

Nun saß ich hier, in seinem spärlich beleuchteten Wohnzimmer und wählte unentwegt Julias Nummer, damit sie endlich aufwachen und mich abholen kommen sollte. Der Alkohol verlor langsam aber stetig die Wirkung und eine unangenehme Nervosität machte sich breit.

Ich war keine Spielerin, ging auch nie ein Risiko ein, weil ich die Konsequenzen vermutlich niemals ertragen könnte, wenn mal was schiefgehen würde. Deshalb war das hier schon, mit einem Typen nach Hause zu gehen den ich praktisch kaum kannte eigentlich schon zu viel für mich; nur konnte ich die Tragweite dieser Gedanken noch nicht gänzlich erfassen.

Vielleicht dann, wenn ich endlich mal nüchtern war, denn ich hatte ziemlich viel getrunken.

«Geh endlich ran, Julia.» Die Nervosität wurde von einem hysterischen Lachen abgelöst und ich war im Moment auch dankbar dafür. Mein unruhiges Herzklopfen war selbstverständlich noch spürbar, aber leicht gedämmt, wurde verdrängt.

Grinsend sah ich mich um und seufzte anschließend kopfschüttelnd, weil Adrian noch immer nicht da war. Vor fünfzehn Minuten hatte er gemeint, dass er oben, also im zweiten Stockwerk des Hauses etwas erledigen musste, aber so klug wie ich war, hatte ich natürlich nicht genauer nachgefragt.

 

Was ich nicht wusste, konnte mich auch nicht zu einer Mittäterin machen. Bei dem Gedanken lachte ich abermals schockierend schrill auf, denn ich konnte kaum glauben, welche absurden und wirren Dinge ich mir stets ausmalte.

Das Läuten der Hausklingel erstickte mein Lachen genauso schnell wie ein Hand auf meinem Mund, ich blickte hektisch um mich, konnte Adrian jedoch nirgends ausmachen. Schließlich wartete ich ab, denn ich würde niemals an die Tür gehen; wer wusste schon, welchen Typen da gerade an der Tür standen.

Als es zum zweiten und drittem Mal läutete packte mich die Nervosität, ich war dazu geneigt Adrians Namen zu rufen, damit er endlich an die Tür ging. Doch als es danach mehrmals an der Tür klopfte sprang ich auf und fasste blitzschnell einen Gedanken.

Ich würde sofort zurück zu Julia laufen und keine Sekunde länger in diesem Haus warten.

Es war ein Wunder, dass ich durch die Stimmungsschwankungen und meine stetig wechselnden absurden Gedanken keinen Schleudertrauma erlitt. Immerhin fand ich das ganze in der ersten Sekunde ganz lustig und in der nächsten hatte ich beinahe schon eine Panikattacke.

 

Ich wartete nicht mehr auf Adrian, um ihm zu sagen, dass ich ging. Stattdessen stolperte ich hektisch zur Haustür und riss sie wie eine Irre auf, wollte an, wer auch immer dastand, vorbeistürmen und schleunigst von hier abhauen, aber ich kam nicht dazu...

 

Denn vor mir stand Blake.

 

Ich hatte das Gefühl aus abertausenden Wolken zu fallen; das mulmige Gefühl im Bauch, das durch die Schwerelosigkeit verursacht wurde, kurz bevor man auf dem harten Asphalt aufschlug.

Als ich in Blakes Gesicht blickte, hatte ich das Gefühl, er würde an mir vorbeischauen und erst dann dämmerte es mir.

Ich blickte hinter mich und das war der Moment, an dem ich das Gefühl hatte hart auf dem Boden aufzuschlagen. Meine Augen wurden riesig, mein Herz zersprang.

 

Adrian stand mit feuchtem Oberkörper und lediglich mit einem Handtuch um die Hüften, halbnackt hinter mir...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.03.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Copyright Texte: Liegen bei mir

Nächste Seite
Seite 1 /