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1917 Flandern

-Leben in fremder Haut-

 

 

 

 

 

 

 

 

 


W.S. Gogolin
Papyrus Autoren-Club
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10247 Berlin

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ROMAN

 

 

1. Ostpreußen 1914

»Werner! Wo steckt der Kerl wieder?«, ruft Oberleutnant von Rebelkow übellaunig. Der Gerufene kommt atemlos ins Zimmer gelaufen. Hörbar nach Luft schnappend bleibt er vor dem Oberleutnant stehen. Laut knallen die Haken seiner Stiefel zusammen.
»Zur Stelle. Melde gehorsamst. Ich war vor der Tür, die Stiefel von Herrn Oberleutnant putzen.«
»Gut, gut. Hat er meine neuen Stiefel eingetragen?« Der Oberleutnant schaut zweifelnd an seinem Burschen herunter.
»Jawohl. Ich habe die Stiefel jetzt seit drei Wochen an. Sie sind bestens eingelaufen.« Werner Zittlau, der Bursche des Oberleutnants Hasso von Rebelkow, zieht die feinen rindsledernen Stiefel aus.
Der Oberleutnant rutscht in die noch warmen Stiefel. Zufrieden geht er einige Schritte im Zimmer umher.
»Tadellos. Passen prächtig. Hoffentlich hast du keine Stinkmauken? Nicht, dass du mir die Stiefel eingestunken hast.« Zittau schüttelt verhalten seinen Kopf.
»Keinesfalls, ich habe alle 2 Stunden die Socken gewechselt.«

Zittau hatte den Teufel getan. Er besitzt nur zwei paar Socken. Die Socken, die er in den Stiefeln des Oberleutnants getragen hat, sind drei Wochen im Dauereinsatz gewesen, denkt mit deutlicher Schadenfreude.
Hasso von Rebelkow ist zufrieden, hatte er sich doch mit Bedacht Zittlau, als seinen Offiziersburschen ausgesucht. Sein Bursche besitzt die gleiche Körpergröße, die gleiche Schuhgröße wie er selbst. Er hatte sich für Zittlau entschieden, weil der ihm äußerlich ähnlich ist. Für Außenstehende könnten sie Brüder sein, beide tragen dieselbe Frisur sogar den gleichen Schnauzbart. Für Rebelkow hat es den kolossalen Vorteil, dass neue Kleider und Schuhe zuvor von seinem Burschen eingetragen, was wichtiger ist, eingelaufen werden. Rebelkow hasst es, steife neue Kleidung, neue Stiefel einzulaufen.
»Gut mein Bester. Ich werde einstweilen ausgehen. Falls nach mir gefragt wird, weiß du, was du zu sagen hast?«
Das weiß Zittlau sehr genau.
»Jawohl. Der Herr Oberleutnant ist dienstlich außer Haus.« Rebelkow lächelt zufrieden.
»Also räume derweilen auf und sauf mir nicht den ganzen Cognac weg.«
Zittlau schlägt seine Haken laut krachend zusammen, als Zeichen, das er verstanden hat.
An der Haustür bürstet Zittlau, mit der extra angefertigten Rosshaarbürste, den Uniformrock des Oberleutnants ab, während Rebelkow sich im matten Garderobenspiegel zufrieden betrachtet.
Kaum das der Oberleutnant die Haustür geschlossen hat, sitzt Zittlau im Ohrensessel. Gemütlich lehnt er sich zurück, schaut aus dem Fenster, sieht den Oberleutnant die Straße entlang schlendern. Eigentlich hat er es gut erwischt, sinniert er. Statt in der Kaserne schikaniert zu werden, wohnt er hier bei Hasso von Rebelkow, als sein zugeteilter Offiziersbursche. Noch ein knappes Jahr braucht er es aushalten, dann ist seine Militärzeit vorbei. Im Frühjahr 1915 wird seine dreijährige Dienstzeit beendet sein. Er ist jetzt seit 18 Monaten Bursche beim Oberleutnant. Zumeist kommt Zittlau prächtig mit seinem Offizier aus. Die Wohnung und die Kleider in Ordnung halten, Botendienst erledigen, das sind im groben seine Aufgaben. In der Kaserne ist er nur selten, worüber er nicht böse ist. Hier hat er ein geruhsames Soldatenleben. Insbesondere weil der Oberleutnant wöchentlich, von seinem Gut in Ostpreußen, ein großes Paket mit Lebensmittel bekommt. Für dieses Lebensmittelpaket interessiert sich der Oberleutnant überhaupt nicht. Notgedrungen mehr noch hochwillkommen bessert das Fresspaket Zittlaus karge Kommiskost auf. Der Oberleutnant kehrt meistens zum Essen ins Offizierskasino ein, hier in seinem Stadthaus hatte er noch nie gegessen. Nicht einmal Frühstück, wenn er eine Damen mitbringt. Einige Sachen aus dem Fresspaket gibt er weiter an die Hauswartsfrau, für deren Kinder.
Werner legt sich wieder zurück in sein Bett. Vor Mitternacht wird sein Oberleutnant nicht nach Hause zurückkehren. Zufrieden mit sich und sein Leben als Offiziersbursche schläft er sofort ein.
Um 12 mittags wird er durch die Schläge der nahen Kirchturmuhr geweckt, benommen steht er auf. Schnell ist die Wohnung aufgeräumt. Heute wird er sich einen Erbseneintopf kochen, die Zutaten stammen aus den Fresspaketen. Als er am Herd steht, die sämige Erbsenmasse im Kochtopf umrührt, schlägt die Glocke an. Flink zieht er den Kochtopf zum Rand des Kohleofens. Vor der Haustür steht der alte, missmutige Postbote. Mit wichtigtuerischer Miene hält er ihm einen gesiegelten Brief entgegen.
»Eilbrief. Vom Kriegsministerium«, erklärt er die Briefübergabe. »Scheint ein wichtiger Brief zu sein. Ist der Herr Oberleutnant im Haus?« Zittlau schüttelt den Kopf.
»Nein. Wichtige Dienstgeschäfte. Ist abwesend«, erklärt er kurz angebunden. Ihn interessiert seinen Eintopf auf dem Kohleherd mehr als dieser Brief. Schnell eilt er in die Küche zurück, rührt weiter in seinem Erbseneintopf. Den Brief hatte er achtlos auf die Anrichte im Flur gelegt. In den sämigen Eintopf schneidet er zwei dicke Würste aus dem letzten Fresspaket hinein.

Am nächsten Morgen liegt der Brief nicht mehr auf der Anrichte. Aber das hätte Zittlau auch nicht bemerkt, weil er den Brief komplett vergessen hatte. Der Oberleutnant sitzt in der Küche am Küchentisch.
»Soll ich Frühstück machen?« Zittlau weiß, dass Rebelkow niemals zu Hause frühstückt, als Morgeneinstieg findet er die Frage passend.
»Mhm, was? Nein. Du kannst heute Packen, wir brechen unsere Zelte hier ab. Wir fahren morgen früh 7 Uhr nach Metz«, erklärt Rebelkow. Seine Stimme klingt niedergeschlagen.
»Metz? Wo liegt das. Was machen wir dort?« Werner hatte niemals zuvor etwas von Metz gehört.
»Wir sind zum Schleswig-Holsteinisches Dragoner-Regiment Nr. 13 versetzt worden, deren Garnison ist nun einmal Metz. Metz in Lothringen.«

Mittags muss Zittlau seine Versetzungspapiere aus der Schreibstube abholen. Als Bursche des Oberleutnants gilt die Versetzung zugleich auch für ihn. Der Schreibstubenbulle, ein feister Unteroffizier, schaut aus kleinen Schweinsaugen unwillig hoch, als Werner, ohne anzuklopfen, in die Schreibstube tritt. Ohne ein Wort zu sagen, deutet der Unteroffizier mit einem trägen Kopfnicken auf seinen Schreibtisch. Ein dickes braunes Kuvert liegt am Rand des Schreibtisches.
Zittlau nimmt den Umschlag vom Schreibtisch. In dicker Tintenschrift liest er seinen Namen, direkt darunter steht unterstrichen VERSETZT und die neue Einheit.
Aus seiner Manteltasche nimmt Zittlau einen Kringel grobe ostpreußische Mettwurst. Die in Fettpapier eingeschlagene Mettwurst glänzt speckig, er legt die Wurst wortlos auf den Schreibtisch. Die Schweinsäuglein des Schreibstubenbullen beobachten jede seiner Bewegungen. Ohne ein Wort gesprochen zu haben, verlässt er die Kaserne.
Schade denkt er, seine Abmachung mit dem Schreibstubenbullen, hatte ihm manche Vorteile eingebracht.
Der Schreibstubenunteroffizier bekam regelmäßig Wurstwaren aus dem Fresspaket, im Gegenzug hatte Zittlau das volle Wohlwollen der Schwadronschreibstube des Dragoners Regiment von Wedel Nr. 11.

Der Eisenbahnwaggon steht im Dampf der abblasenden Lokomotive im Bahnhof von Stallupönen. Die Koffer hatte Zittlau im Gepäckwagen abgegeben. Rebelkow sitzt im Abteil der ersten Klasse, schaut missvergnügt aus dem Abteilfenster. Zittlau sitzt ihm gegenüber. Einer der sympathischen Marotten des Oberleutnants ist, seine Fürsorge für seinen Burschen. Zittlaus Militärfahrkarte gilt nur für die 3. Klasse, den Aufpreis für die erste Klasse beglich Rebelkow aus eigener Tasche. Die Fahrt führt von Stallupönen über Insterburg, Allenstein, Thorn, Bromberg, Schneidmühl weiter über Landsberg nach Berlin. In Berlin steigen weitere Personen in ihr Abteil. Nach kurzem Aufenthalt geht die Reise mit der Eisenbahn weiter nach Leipzig. In Leipzig müssen sie umsteigen. Von Leipzig geht die Fahrt weiter über Frankfurt, Saarbrücken zum Hauptbahnhof Metz. Vom Hauptbahnhof Metz nehmen sie eine Droschke zur Kavalleriekaserne am Französischen Platz. Oberleutnant Hasso von Rebelkow und sein Bursche Werner Zittlau, beziehen eine Offizierswohnung in der Kaserne. Bisher hatten sie außerhalb der Kaserne logiert, deshalb sind beide nicht angetan von der neuen Situation. Derweilen sortiert Zittlau die Kleider und Leibwäsche des Oberleutnants in die Schränke der spärlich möblierten Militärwohnung ein. Seine eigene kleine Kammer ist nur mit Bett und einen schmalen Schrank ausgestattet. Erfreut stellt Zittlau fest, dass sie wenigsten ein eigenes Innenklo besitzen, wenn es etwas gibt, was er nicht leiden kann, dann sind es Gemeinschaftsklos und die dort vorherrschende Lufthoheit. Der Gedanke morgens ein Klo aufzusuchen, wo sich schon eine halbe Schwadron ausgemistet hatte, lässt ihn nach Luft schnappen.

Rebelkow muss sich bei seinem neuen Regimentskommandeur melden. Aus Erfahrung weiß Zittlau, dass es lange dauern wird, bis der Oberleutnant zurückkehrt. Deshalb übertreibt er seinen Tagesfleiß nicht, wagt es aber nicht sich hinzulegen. Erst einmal will er schauen, wie der Dienstbetrieb sich hier entwickelt. Der Flur, auf dem sich die Offizierswohnungen befinden, endet in einem großen Badezimmer. Für vier Offizierswohnungen gibt es ein Badezimmer. Vorsicht schaut Zittlau durch die Tür ins Badezimmer. Das Badezimmer ist leer, es besteht aus zwei Duschen und eine gusseiserne Wanne. An der linken Seite des Badezimmers befinden sich vier Waschbecken mit Spiegel und Ablage. Auf drei Ablagen liegen Rasierutensilien. Das freie Waschbecken scheint ihrer Wohnung zugehörig zu sein. Zufrieden bemerkt Werner zwei Wasserhähne an jedes Waschbecken also gibt es hier Warm-und Kaltwasser. Das mühsame Wasserkochen zum Rasieren hat damit für ihn ein Ende. Jetzt erst fällt ihm der Heizkörper unter dem Fenster auf. Zurück in der Wohnung sieht er gleichfalls unter jedem Fenster einen Heizkörper. Zittlau hat schon von Zentralheizungen gehört, aber bisher noch keine dieser modernen Heizungen gesehen. In Stallupönen gab es nur einen Kohleofen im Wohnraum, den er im Winter zusammen mit dem Küchenofen einheizen müsste.
Zufrieden sieht Zittlau ein behagliches Leben auf sich zukommen. Keine Kohlen mehr schleppen, kein Kleinholz hacken und keine Asche ausräumt, dies alles gehört für ihn der Vergangenheit an.
Um sich selbst zu belohnen, greift er in die Zigarrenkiste des Oberleutnants, nimmt sich eine Manoli-Zigarre heraus. Am offenen Fenster sitzend, raucht er genüsslich die Zigarre, achtet aber penibel darauf, dass der Rauch aus dem Fenster entweicht.
Vor sich her stierend überlegt er, wann er ihre neue Adresse den Gutsverwalter des Rebelkowschen Gutes mitteilen soll. Es darf keine Unterbrechung in der Übersendung des Fresspaketes eintreten, zu sehr hat er sich an die Verpflegung aus dem Paket gewöhnt, was bei der Verpflegung beim Militär nicht verwunderlich ist.
Gegen früh abends kommt Rebelkow vom Regimentskommandeur zurück. Schwer stöhnend lässt er sich in den einzigen Sessel fallen. Sofort ist Zittlau bei ihm, hilft beim Stiefelausziehen.
»Kerl. Jetzt wird es bald Zunder geben, wir sind hier an der vordersten Linie.« Zittlau weiß nicht, was der Oberleutnant genau meint. Macht aber vorauseilend ein besorgtes Gesicht.
»Liest er keine Zeitung? Kriegt er überhaupt mit, was in der Welt vorgeht?« Was interessiert Zittlau die Welt draußen, er hat genug mit seiner kleinen Welt zu tun, denkt Zittlau nicht weiter interessiert.
»Nein. Zeitung lesen kann ich mir nicht leisten. Von meiner Löhnung ist eine Zeitungslektüre nicht möglich.« Rebelkow nickt.
»Recht hat er. Indes es schaut aus, als ob es bald Krieg gibt. Im Übrigen, wenn er kommt, sind wir hier im Metz an vorderster Front. In jeden Fall geht es gegen Frankreich.« Jetzt erst versteht Zittlau, worum es geht. Krieg. Davon hatte er gehört, seit einiger Zeit wird darüber geredet. Bisher ist aber nichts passiert.
»Es kommt, wie es kommt«, erwidert er knapp. Er holt den guten Weinbrand aus dem Schrank, stellt ein pieksauberes Glas dazu. Durch Kopfnicken erteilt Rebelkow die Erlaubnis, einzuschenken. Zittlau schiebt das Glas zu Rebelkow herüber.
»Wir kommen bald ins Feldlager. Mithin richte Dich nicht zu häuslich ein. Nimm Dir auch einen Schluck aber nur einen nicht, dass Du ans Saufen kommst.«

Der nächste Morgen ist regnerisch. Der Oberleutnant ist frühmorgens zur Offiziersbesprechung gerufen worden. An der Tür wird geklopft. Zittlau geht zur Tür. Vor der Tür steht ein Soldat in grauer Felduniform, die bis dato nicht häufig zu sehen war.
»10 Uhr zum Mottenkönig. Block 3.« Der Soldat dreht sich um, will weiter gehen. Zittlau kann mit dem Gesagtem nichts anfangen.
»Was ist los?« Der Soldat bleibt stehen, schaut unwillig zurück.
»Bist Du taub oder blöd oder gleich beides?«
»Nichts von beiden. Drück Dich klarer aus. Was willst Du von mir?«
»Du sollst um 10 Uhr zum Mottenkönig kommen. Zum Empfang der Felduniform. Hast Du Dämlack das jetzt verstanden. Idiot Du Dämlicher?«
»Ich trete Dir gleich in deinen feisten Arsch. Hast eine recht freche Klappe am Balg. Dir juckt wohl das Fell?«
»Was ist hier los?« Die scharfe Stimme des Oberleutnants schwingt durch die Luft. Die beiden haben das Kommen, des Oberleutnants nicht bemerkt. Beide Soldaten knallen ihre Haken zusammen.
»Melde gehorsamst, keine Vorkommnisse«, beantwortete Zittlau die Frage.
»Was will der Kerl?«
»Er hat Bescheid gegeben wegen der Ausgabe der Felduniform um 10 Uhr.« Rebelkow beachtet die beiden Soldaten nicht weiter, eilt an den beiden vorbei in die Wohnung. Zittlau trottet hinterher.
»Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Serbien. Wir machen mobil. Vorbei das schöne Soldatenleben jetzt geht es um die Wurst«, sagt Rebelkow deprimiert.
Schönes Soldatenleben? Wo? Für dich vermutlich, denkt Zittlau böse.

Um 10 Uhr steht er, in einer langen Schlange Soldaten, vor der Kleiderkammer. Hier erhält er für den Felddienst, die feldgraue Uniform M 1910. In der Waffenkammer empfängt Zittlau den Karabiner 98, Kavalleriedegen M 98, sowie Bajonett, Brotbeutel, Feldflasche, Zeltbahn, kurzem Spaten und Gasmaske. Beladen mit seiner Ausstattung kommt er atemlos in die Wohnung an, wo Rebelkow schon in feldgrauer Uniform wartet. Zittlau sieht Rebelkow zum ersten Mal in Feldgrau. Erst in diesem Moment wird ihm bewusst, dass er Abschied von Leben nehmen muss, dass er bisher geführt hat.

2. August 1914

Die Schwadron des Oberleutnants nimmt Quartier in einem armseligen Dorf an der Grenze zu Frankreich. Rebelkows Schwadron nimmt an der Schlacht bei Longwy im August 1914, sowie beim Vorstoß über den Rhein-Marne-Kanal bis an die Maas teil. Nach der Schlacht an der Marne und dem erfolgten Rückzug wurde die Schwadron zunächst in Flandern zur Sicherung des Hinterlandes eingesetzt. Im November 1914 verlegte die Schwadron an die Ostfront, kämpfte im Dezember in der Schlacht um Lodz. Im Jahr 1915 erfolgte der Einsatz teils kavalleristisch, teils im Stellungskampf in Nordpolen. Im November 1916 ging es zum zweiten Mal an die Westfront, wo die Schwadron Patrouillen-und Sicherungsdienst in Belgien und Luxemburg ausführte. Im Februar 1917 erfolgten die Abgabe der Pferde und die Ausbildung im infanteristischen Stellungskampf. Anschließend wurde der Regimentsverband aufgelöst, die einzelnen Schwadronen auf verschiedene Divisionen aufgeteilt. Rebelkows Schwadron kam zur 238. Division.

Hört das denn nimmermehr auf? Zittlau schaut vorsichtig durch den Spalt zweier Sandsäcke ins Niemandsland zwischen den deutschen und englischen Schützengräben. Wo sich einstmals Rapsfelder oder Kornfelder sanft im Wind wiegten, liegt jetzt ein Todesacker, wie er nur vom leibhaftigen Teufel höchstpersönlich ausgedacht worden sein kann. Von dem kleinen Dorf, das hier bis vor einem Jahr stand, ist nur eine Mauer aus Feldsteinen übrig geblieben. Bäume gibt es schon lange keine mehr, der letzte kahle Baumstumpf, wurde vor Wochen durch eine Sprenggranate pulverisiert. Die Landschaft besteht nur noch aus Granatlöcher und Erdhaufen, die jeden Tag ihren Standort verändern. Wo gestern ein riesiger wassergefüllter Granattrichter lag, ist heute ein Erdhaufen. Wie oft ist diese Landschaft von Granaten umgepflügt worden? Niemand hat die Millionen von Granaten gezählt, wozu auch, selbst die zerrissenen, zerfetzten und pulverisierten Soldaten können nicht gezählt werden. In dieser Hölle haben selbst die Toten keine Ruhe, bei jedem Artillerieangriff werden die Toten aus der Erde gerissen, fliegen durch die Luft, werden wieder verschüttet oder lösen sich im Pulverdampf endgültig auf.
Das alles sieht Zittlau, als er ins Niemandsland schaut.

Stumpf ist er geworden aber nicht abgestumpft. Wie so viele seiner Kameraden, die sich in ihr grausames Schicksal ergeben, nur noch, wie Automaten funktionieren, wie willenloses Vieh, das zur Schlachtbank geführt wird.
Wenig genug hatte Zittlau bisher vom Leben. Ohne Eltern aufgewachsen, seine Lehrzeit war durchgängig eine Leidenszeit, ist er seit drei Jahren im Krieg, mit der ständigen Aussicht elendig zu verrecken. Jeden Tag denkt er über die Möglichkeiten nach, wie er es schaffen kann, aus diesem Dreck herauszukommen. Langsam fürchtet er sich davor, verrückt zu werden, jeder Tag ist eine neue Qual, ein Ende ist nicht in Sicht. Sich selbst zu verstümmeln, dazu besitzt er nicht den Mut. Mutlos rutscht er langsam von den Sandsäcken, lehnt sich gegen eine Munitionskiste. Um ihn herum sieht er starre Gesichter, leere Augen in tief liegenden Augäpfeln. Vorsichtig drängt Zittlau sich durch die Soldaten, den Sack mit Verpflegung dabei immer mit angewinkeltem Arm schützend. Mühsam watet er durch brackiges Wasser, tritt in den zähen Schlamm, der sich am Boden der Schützengräben abgesetzt hatte. Sein Ziel ist der vordere Graben, dort wo seine Kameraden liegen, ihnen will er den Sack mit den geklauten Fressalien bringen.

»Verdammt Scheiße. Wann gibt es endlich was zu fressen?« Der Soldat bewegt kaum die Lippen beim Sprechen, geduckt kauert er in einer Nische des Schützengrabens. Die einschlagenden Granaten werfen Dreckfontänen über die dumpf vor sich hinstierenden Soldaten. Mühsam schüttelt Zittlau die Erde von seinem verschließenden Mantel. Der Graben ist gefüllt mit stumpfsinnig wartenden Soldaten. An der Brustwehr steht ein Unteroffizier an einem Scherenfernrohr, er beobachtet die gegenüberliegenden feindlichen Schützengräben. Die Soldaten warten auf den Befehl zum Angriff. Jeder der Soldaten weiß, dass die Hälfte von ihnen heute Abend Tod oder verwundet sein wird. Jeder der Soldaten hofft, nicht bei dieser Hälfte zu sein. Seit Tagen erwarten sie nun schon den Angriff. Die Artillerie beschießt mit schweren Geschützen die englischen Schützengräben. Die 21-cm-Geschosse der deutschen Artillerie wälzen sich auf die englischen Schützengräben zu, lassen von den Schützengräben nur noch Sprengtrichter übrig. Die deutsche Feuerwalze wandert weiter über die englischen Verbindungsgräben in das Hinterland zu den englischen Reservestellungen. Jetzt schießt die deutsche Artillerie ihre 42-cm-Mörser ein. Die Explosionen der 42-cm-Granaten werfen mächtige Erdfontänen in den trüben Himmel, lassen den Erdboden erzittern.
»Immer das gleiche Spiel. Erst stundenlanges Artilleriefeuer, danach sollen wir raus nach vorne. Der Tommy weiß doch genau, dass wir kommen, wenn der Zirkus da draußen aufhört. Wir müssen anschließend durch das Sperrfeuer ihrer Artillerie«, sagt ein dreckverschmierter Soldat. Der Soldat kaut störrisch an seinen Prim Kautabak.
»Mensch Willi, deine ewige Nörgelei geht mir mächtig gegen den Strich.« Der angesprochene dreht sich zu dem Sprecher um.
»Du Rotarsch. Wie lange bist Du dabei? Vier Monate? Ich mache den Scheiß schon seit drei Jahren mit. Immer das Gleiche, raus aus dem Graben, wieder zurück in den Graben. Der einzige Unterschied ist, man geht mit viel mehr Männer aus dem Graben, als wie man später wieder zurück in den Graben springt. Wofür das alles? Für den Kaiser. Der Kaiser kann mir höchstpersönlich am Arsche lecken. Wenn er möchte, auch mehrfach.« Der Soldat hat sich in Rage geredet. Mit hochrotem Gesicht schaut er sich um. Keiner der Soldaten entgegnet etwas, zu oft hatten sie die gleichen Gedanken über den Krieg.
Die umstehenden Soldaten werden plötzlich still, erstarren. Die deutsche Artillerie hat ihren Beschuss eingestellt. Normalerweise ein untrügliches Zeichen, dass sie bald aus den Schützengräben heraus müssen.
Einer der jungen frisch eingetroffenen Soldaten schaut voller Neugier über den Sandsäcken zu den englischen Gräben hinüber.
»Da wächst kein Gras mehr. Die sind alle hin«, sagt er mehr zu sich selbst.
Hein zieht den jungen Soldaten in den Graben zurück.
»Komm weg da, sonst erwischt dich der Scharfschütze.« Der junge Soldat schaut ihn verwundert an.
»Meinst du. Glaubst du, dass es dort drüben noch Überlebende gibt?« Hein schüttelt grimmig den Kopf.
»Junge, du wirst noch viel lernen müssen, hoffentlich hast du die Zeit dazu. Wenn wir raus gehen, ist der englische Schützengraben voll. Darauf gebe ich dir mein Wort.« In den Augen des jungen Soldaten glimmt Angst auf.
»Hier nimm einen Schluck. Aber nur einen Schluck, nicht das du dich ans Saufen gewöhnst.« Hein reicht den jungen Soldaten seine mit Schnaps gefüllte Feldflasche, ein seltener Beweis seiner Zuneigung. Hein nimmt auch einen kräftigen Schluck, hängt die Feldflasche sorgfältig an seinen abgeschabten Gürtel zurück.

»Hein, du altes Frontschwein, hast du immer noch nicht gelernt, korrekt zu grüßen. An der Front haben die Unteroffiziere die Gefreiten als Erstes zu grüßen. Das ist eine neue Vorschrift. Also wo ist deine Ehrenbezeugung?« Zittlau schlägt den angesprochenen Soldaten freundlich auf die Schulter.
»Ach du Scheiße, der Offizierspudel ist im vordersten Graben, das kann nichts Gutes bedeuten«, sagt Hein leutselig zu Zittlau.
»Na ja, zumindest bedeutet das eine leckere Flasche Cognac, bestes französisches Offizierswasser.« Zittlau reicht Hein eine Flasche Cognac. Eine weitere Flasche hält er einem der wartenden Soldaten hin, der nach einem satten Schluck, die Flasche weiterreicht.
»Hennessy Cognac, du Made lebst nicht schlecht«, sagt Hein nach einem kritischen Blick auf das Etikett.
»Hast Du auch was zu Futtern mitgebracht.«
Zittlau nickt, deutet zu seinem grauen Jutesack, den er am Grabenrand abgestellt hatte.
»Alles feinstes Franzosenfutter. Nur erste Wahl.« Hein öffnet den Jutesack, schaut prüfend in den Sack hinein, schüttet den Inhalt auf eine lehmverkrustete Holzkiste. Zum Vorschein kommen lang vermisste Leckereien: Ölsardinen, Gänseschmalz, Pökelfleisch alles in Konserven, sogar eine weißbestaubte Salami landet scheppernd auf der Holzkiste. Dazu einige pappige Weißbrote. Die umstehenden Soldaten schauen mit großen Augen auf die Fressalien.
»Finger weg.« Hein stippt eine gierige Hand von den Konserven.
»Wenn ihr die Sachen in euch hinein schlingt, kommt ihr nicht mehr vom Balken weg. Eure Mägen vertragen so viel Fett auf einmal nicht mehr. Also seid vernünftig. Jeder bekommt seinen gerechten Anteil aber nicht auf einmal.« Mürrisch treten die Männer zurück.
»Wo hast du Wurzelsau die Leckereien organisiert?« Zittlau, der sich an einem MG gelehnt hat, lächelt geschmeichelt.
»Dein Offizierspudel denkt eben an euch. Habe ja selbst drei Jahre Dreck gefressen. Jetzt wo Hasso im Lazarett liegt, bin ich nah an der Etappe. Und in der Etappe lebt es sich nicht schlecht.«
»Was ist mit dem Oberleutnant? Wird er wieder? Das war aber auch eine Schweinerei. Wenn Du ihn nicht aus dem Trichter gezogen hättest, wäre der Oberleutnant hin. Wäre schade um ihn, einer der wenigen guten Offiziere.« Hein schaut in die Runde, sieht in zustimmend nickende Gesichter.
Die Meinung über Oberleutnant Rebelkow ist in der Einheit ungewohnt positiv.
»Gut. Hasso geht es gut. Die Wunden heilen. Bald werde ich ihm ein Nuttchen aufs Zimmer schmuggeln.« Mehrstimmiges dreckiges, aber wohlwollendes Lachen aus den Kehlen der umstehenden Männer bricht durch die Stille.
»Was treibt dich in den Schützengraben, doch wohl kein Heimweh?«
»Bestimmt nicht. Ich wollte euch die Sachen vorbei bringen. Euch Bescheid sagen, dass wenn Hasso wieder auf dem Damm ist, wir abgezogen werden.« Die Soldaten spitzen ihre Ohren. Leben kommt in ihren ausgezehrten Gesichtern.
»Aber haltet ja eure Schnauzen. Kein Ton nach außen.« Die Soldaten nicken zustimmend, etwas Hoffnung glimmt in ihren Augen auf.
»Woher weißt du das?« Die Frage beinhaltet kein Misstrauen über den Wahrheitsgehalt seiner Mitteilung.
»Ich habe meine erstklassigen Quellen.« Mehr wurde nicht nachgefragt. Zittlaus Quellen sind in der Einheit bestens bekannt.
Hein verteilt die Verpflegung, darauf bedacht, dass jeder seinen gerechten Anteil bekommt. Die Männer ziehen sich in ihre Löcher-und Grabennischen zurück. Öffnen mit ihren Seitengewehren die Konservendosen. Die gleichen Seitengewehre, die sie beim letzten Angriff den Gegner in den Leib gestoßen hatten. Niemand macht sich deshalb Gedanken. Zu selbstverständlich ist das tägliche gegenseitige Abschlachten geworden.
Hein geht mit Zittlau in den Bunker. Im fahlen Licht einer Hindenburgkerze sitzen sie auf alte Munitionskisten.
Zittlau zieht eine Kiste Guliver-Zigarren unter seinem Mantel hervor, legt die Zigarrenkiste auf den kleinen selbstgezimmerten Holztisch.
»Als Belohnungshappen für die Kerle«, sagt Zittlau, ahmt dabei die Sprechweise des Regimentsobersten nach.
»Danke. Mich wundert immer wieder, wie Du dich gemacht hast. Als ich dich damals zum ersten Male traf, dachte ich, wieder einer dieser Offizierspudel, die in jeden Offiziersarsch kriechen. Aber weit gefehlt, einen loyaleren Kameraden wie dich gibt es nicht.«
»Hör schon auf. Ich weiß noch, wie du damals in Metz an die Tür geklopft hattest. Mit deiner großen Fresse hast du mich zum Mottenkönig geschickt. Eigentlich wollte ich dir eins in deine freche Klappe geben.« Beide müssen lachen. Sie erinnern sich an ihre erste Begegnung kurz vor der Mobilmachung im Herbst 1914.
»Ja das war damals. Heute wühlen wir hier im Flanderndreck, warten auf den Tod. Haben nichts zu fressen, bekommen kaum noch Nachschub. In der Etappe fressen die Stabsoffiziere Kaviar und so einen Dreck. Wird Zeit das wir gegen die hinter uns kämpfen statt gegen die armen Schweine vor uns. Ich sage dir, bald rappelt es hier mächtig. In der Heimat wird auch schon gegen den Krieg gestreikt.« Hein hatte sich in Rage geredet. Zittlau erwidert nichts. Was kann er schon erwidern, alles, was Hein ausspricht, findet seine Zustimmung. Zu lange sind sie wie Schlachtvieh zur Schlachtbank geführt worden, irgendwann muss dieser Wahnsinn doch ein Ende haben.
»Stimmt die Geschichte mit der Verlegung oder wolltest du die Jungs ein wenig Hoffnung geben?«
»Beides. Wir sollen die Sicherung der Paris-Geschütze übernehmen, die direkte Sicherung der Geschütze wird von einem Infanteriebataillon übernommen. Jetzt haben die Herren im Stab den Gedanken, dass eine Schwadron Dragoner, die weitläufige Sicherung übernehmen sollte. Das heißt für uns, auf die Pferde mithin raus aus dem Dreck.«
»Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Endlich wieder auf einem Pferd den Sonnenaufgang sehen, nicht wie ein Erdkäfer in der Erde hocken«, erwidert Hein träumerisch.

Die Bäume im Park des Schlosses, in dem das Lazarett untergebracht war, stehen in voller Blüte. Die weißen zarten Blüten der Apfelbäume erinnern von Rebelkow an seine Kinderjahre. Die Bauerngärten im Dorf, das zu den Ländereien seines Vaters gehörten, blühten im Mai mit verschwendender Fülle. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwachte, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Seine Erinnerung setzt erst wieder in Krankenbett ein. Das Erste, was er sieht, ist ein Mann, der in einer Ecke des Zimmers auf einem Stuhl sitzend schläft. Der Kopf des Mannes auf dem Stuhl ist seitlich verdreht, lehnt gegen die Zimmerwand. Stöhnend richtet Rebelkow sich auf, sein Kopf dröhnt wie eine Kesselpauke. Vorsichtig befühlt er seinem Kopf, seine Hände berühren etwas raues faseriges. Benommen schaut er sich im Zimmer um. Ein Fensterflügel steht auf, ein Bett, Tisch mit zwei Stühlen. Kein Schrank, kein Bild an der Wand. Ein schwarzes, hölzernes Kreuz hängt über die Zimmertür. Ohne darüber nachgedacht zu haben, weiß er, dass er in einem Krankenhaus liegt. Ist es der Geruch, der das Zimmer ausfüllt, kaum gemildert durch das offene Fenster? Er kann es nicht sagen. Der schlafende Mann auf dem Stuhl bewegt sich, sein Kopf rutscht an der Wand entlang, ruckartig wird der Mann wach.
Der Mann tritt an sein Bett, schaut ihn aufmerksam an.
»Bist du endlich wach. Ich dachte schon, du willst bis Kriegsende weiter schlafen.«
»Wo bin ich? Wer sind sie?« Der Mann schaut ihn jetzt verdutzt an.
»Im Lazarett. Ich bin es Werner Zittlau, wir sind seit über vier Jahren zusammen. Das heißt, ich bin dein Bursche. Schon vor dem Krieg. Sag bloß du, kannst dich nicht mehr an mich erinnern?«
»Bursche? Seit vier Jahren. Nein ich erinnere mich nicht. Was ist passiert?« Der Mann, der sich Zittlau nennt, greift sich den Stuhl, setzt sich zu ihm ans Krankenbett.
»Beim letzten Angriff hatte der Tommy Sperrfeuer geschossen, eine Granate ist neben dir eingeschlagen, hat dich verschüttet. Wir haben dich aus dem Granattrichter freigegraben. Kurz danach bekam der Granattrichter einen Volltreffer.« Zittlau verschweigt, dass er allein ohne jede Hilfe Rebelkow freigebudelt hatte.
Ein kleiner Mann mit Nickelbrille und weißen Kittel kommt in den Raum, in einer Hand hält er eine Holzkladde. Zittlau steht vom Stuhl auf, greift den Stuhl, geht zurück zum Tisch. Der Mann mit dem weißen Kittel tritt neben das Bett von Rebelkow, aufmerksam beobachtet er den Patienten.
»Wie ich sehe, sind sie bei Bewusstsein. Brav. Mein Name ist Oberstabsarzt Reichwein, ich bin ihr behandelnder Arzt. Sie haben sich eine Gehirnerschütterung, Schnitt-und Schürfwunden am Kopf, sowie ein paar Prellungen am Körper zugezogen. Alles in einem sind sie gut davon gekommen.«
»Danke. Herr Oberstabsarzt warum kann ich mich an rein gar nichts mehr erinnern?« Der Arzt lächelt milde.
»Das wird noch, machen sie sich keine Sorge. Derweilen haben sie ja noch ihren Kerl«, er zeigt verächtlich auf Zittlau.
»Der hatte sie hier hergeschleppt. Lassen sie sich alles von ihm erzählen.«
Der Oberstabsarzt schaut böse zu Zittlau herüber, was Rebelkow auffällt. Nach dem der Oberstabsarzt das Zimmer verlassen hat, tritt Zittlau an das Krankenbett.
»Kann es sein, dass der Oberstabsarzt etwas gegen dich hat?«, fragt Rebelkow.
»Klar. Der Knilch glaubt, dass ich seinen Vorratsraum geplündert habe.«
»Vorratsraum? Welchen Vorratsraum?«
»Seinen ganz Privaten im Keller. Der Lorbass hat den ganzen Keller mit Fressalien, Waren und Saufereien aufgefüllt. Alles abgepresst von den Lazarettinsassen. Fressalien gegen späte Entlassung oder Zettel, dass sie nicht mehr KV sind, also ab danach in die Heimat. Ein richtiger kleiner Erdwutz ist der Kerl.«
Rebelkow schaut überrascht, auch missbilligend.
»Du hast mit der Sache doch nichts zu tun. Oder?«
»Oder. Klar habe ich den Keller ausgedünnt. Die Kameraden an der Front brauchen es dringender als der korrupte Pillendreher. Ich mache halbe-halbe mit einem Munitionsfahrer, der nimmt mich und die Sachen mit an die Front. Unsere Einheit lässt danken.« Jetzt strahlt Zittlau über das ganze Gesicht.
»Was hast du Kerl gemacht? Hast du Hundsfott gesagt, die gestohlenen Sachen wären von mir?« Rebelkow lässt sich stöhnen in die Kissen zurückfallen.
»Keine Angst der Arzt kann den Verlust nicht anzeigen, dann ist er selber dran. Für ihn wäre die Angelegenheit weitaus gefährlicher als für mich. Das weiß er genau. Deshalb will der Kerl mich auch loswerden. Er hat versucht, mich zurück an die Front zu schicken. Aber unser Regimentskommandeur hat ihn was gepfiffen. Deswegen hasst der Lump mich. Ich bin ihm auf den Fersen, mal schauen was der Pillendreher noch für Sauereien im Lazarett veranstaltet«, erwidert Zittlau grimmig.

Rebelkow hört, wie sein Bursche erzählt. Hört die Geschichte seiner Verwundung,allmählich tauchen aus dem Nebel seines Unterbewusstseins, erste düstere Erinnerungsfetzen auf. Nur undeutlich und wage, wie Morgennebel, der sich langsam verzieht, den Blick frei gibt. In seiner aufkommenden Erinnerung hört er Schreie, sieht Menschen durch die Luft fliegen, sieht Feuer und Rauch. Er sieht die Dunkelheit, die von einem grauen Himmel aufgelöst wird, in diesem Blick zum grauen Himmel erscheint ein Gesicht. Das Gesicht spricht zu ihm, er hört nichts, er merkt, wie an ihm gezogen und gezerrt wird, wie er getragen wird. Rebelkow schließt seine Augen, möchte schlafen, nur weg von der Erinnerung, die ihm angst macht. Angst das große schwarze unheimliche Gebilde, das einen einfängt, nicht mehr loslässt. Dass in jede Pore seines Körpers kriecht, ihn starr werden lässt. Seit drei Jahren kämpft er gegen diese Angst an, ein Kampf, der ihn zermürbt, sprachlos werden lässt. Jetzt wird ihn bewusst, dass er nach seiner Genesung wieder zurückmuss in den Schützengraben, in diese dunkle böse Angst. Der Einzige der von seiner Angst weiß ist sein treuer Bursche Zittau, nur ihm hat er von seiner Angststarre erzählt. Wem auch anders als Zittlau? Seine Mutter ist gestorben, als er 7 Jahre alt war, mit 10 Jahren stand er, an der Hand seines Vaters, vor der Kadettenanstalt. Diese Kadettenanstalt, die acht Jahre sein zuhause war, später als sein Vater starb, wurde die Kadettenanstalt seine Heimat.
Seine Besitzungen in Ostpreußen hatte er seit Jahren nicht mehr besucht. Ein Verwalter kümmert sich um seine Güter, dort werden Pferde gezüchtet, Schweinemast betrieben, Merinoschafherden ziehen über sein Land, Kartoffel und Getreide wird angebaut. Rebelkow verfügt über mehr als ausreichende Einnahmen aus seinen Gütern deshalb interessiert er sich nicht weiter für seine Besitztümer. Verwandtschaft besitzt er nur entfernt, sie sind ihm meist unbekannt. Die einzige persönliche Beziehung hat er zu seinen Burschen. Die drei gemeinsam durchlittenen Kriegsjahre haben ein vertrautes Band zwischen ihnen entstehen lassen. Seit einiger Zeit duzen sie sich, was in seinen Kreisen eigentlich undenkbar ist. Rebelkow schert sich um solche überkommenen Gesellschaftsattitüden nicht mehr. Der Krieg hatte viel zerschlagen, nicht nur in den Köpfen auch im Umgang miteinander. Rebelkow wusste, dass seine neurotischen Angstanfälle, einer Behandlung bedurften, er vermag aber nicht über seinen Schatten springen. Einen Seelenarzt aufzusuchen, bedeutet in seinen Kreisen, verrückt zu sein. Dazu kann er sich nicht überwinden.
Zwei Wochen verbrachte Rebelkow noch bettlägerig im Lazarett anschließend erholte er sich zwei Wochen in Hinterland. Der Tag, an dem Rebelkow und sein Bursche Zittlau, zurück in die Hölle der Schützengräben müssen, fing mit einer Enttäuschung an. Die Hoffnung, auf Herauslösung aus der Front und Bewachung der Parisgeschütze, hatte sich für die Männer nicht erfüllt. Irgendein Stabsoffizier hatte mit einem einzigen Tintenstrich, den Hoffnungsfunken der Männer zerstört.

 

3. Flandern 1917

 Die Granaten zerfetzen die Erde, wühlen zum ungezählten Mal das Gelände vor den deutschen Stellungen um. Leichen und Leichenteile von Soldaten, die vor Monaten gefallen und verschüttet wurden, werden erneut durch die Luft geschleudert. Scharfkantige Knochenfragmente surren wie Schrapnellgeschosse durch die Luft, verursachen die gleichen grausigen Verletzungen. Schwerfällig wühlen die Granatenkasskaden sich auf die deutschen Stellungen zu. Der Lärm der explodierenden Granaten lässt die Soldaten taub werden. Die Soldaten in den offenen Gräben stolpern in die Unterstände, die mehrere Meter tief in die flandrische Erde gegraben sind. Zusammengedrängt stehen, sitzen oder auf den wenigen Schlafkoyen liegend, warten die Soldaten auf den Angriff der Engländer. Jeder Soldat weiß, wenn das höllische Artilleriefeuer aufhört, werden die Engländer kommen. Jeder im Unterstand hofft und betet, dass ihr Unterstand keinen Volltreffer bekommt. Verschüttet zu werden ist bei den Soldaten, in der nach oben offenen Horrorskala, ganz weit oben angesiedelt.
Im Befehlsunterstand kauern eng zusammen Oberleutnant von Rebelkow, sein Bursche Zittlau, Unteroffizier Hein sowie das Maskottchen der Einheit, der Soldat Kind, der in der Einheit nur »Das Kind« genannt wird.
Das Kind, eigentlich Richard Kind, duckt sich in einer Ecke des tief in der Erde gegrabenen Unterstands zusammen. Seine großen hellen Augen schauen ängstlich auf das herunter rieselte Erdreich. Bei jedem Granateneinschlag rieseln, von der durch dicke Holzstempel abgestützten Decke, kleine Erdrinnsale, die auf den festgetrampelten Boden kleine Erdhäufchen zurücklassen.

Seit Stunden setzt die englische Artillerie ihre schweren Geschütze ein. Die vordersten deutschen Schützengräben sind durch unzählige Artillerietreffer zermalmt. Die Geschütze feuern jetzt in die zweite Schützengrabenlinie. Die zweite Grabenlinie ist nur durch vereinzelte Stutzpunkte besetzt. Das Gros der deutschen Regimenter hatte sich nach hinten verlegt, in die gut ausgebauten Grabenstellungen. Beim Angriff wehren die Stützpunkte den ersten Angriff ab, während die Regimenter, die zurückgezogen wurden, dann die verlassenen und zerschossenen Gräben besetzen.

»Werner kannst Du nach hinten zum Regiment gehen, die neuen Männer abholen? Wer weiß, wie lange das Trommelfeuer noch andauert. Wenn der Ersatz erst einmal hier ist, kann Hein die Leute einweisen.« Zittlau ist von dieser Aufgabe nicht begeistert, sein Mantel ist noch immer tropfnass vom Sturz in einem wassergefüllten Granattrichter.
»Nimm das Kind mit, seine Versetzung zur Flugabteilung ist stattgegeben worden. Schön, dass er aus dieser Scheiße heraus kommt.«
Als ob Rebelkow Gedanken lesen kann, beschwichtigt er Zittlaus Unwilligkeit.
»Nimm mein zweites Paar Stiefel, meinen Mantel kannst Du auch nehmen, der ist knochentrocken.«
Mühsam stampft Zittlau durch den zähen Schlamm. Richard Kind, das Maskottchen der Einheit, trottet mit seinem Rucksack hinter ihm her. Zittlau blickt zurück, helle Blitze der englischen Geschütze, weit hinten am Horizont, leuchten schemenhaft auf. Nach einem halbstündlichen Fußmarsch erreichen die beiden Soldaten die kleine Schmalspurbahn. Die Schmalspurbahn endet in Frontnähe, versorgt die Schützengräben mit Material. Zittlau hatte gehofft, dass sie mit der Schmalspurbahn zum Regiment fahren können, leider ist von der Schmalspurbahn nichts zu sehen. Die Gleise als Wegweiser nutzend, erreichen die beiden nach einer Stunde Fußmarsch, den Regimentsgefechtsstand. Der Regimentsstab liegt in einem alten halb zerschossenen, aus grauen Sandsteinquadern erbauten Bauernhof. Hier weit hinter der Hauptkampflinie sind die Granateneinschläge nur noch als tiefes Brummen zu hören. Trotzdem liegt der Bauernhof, theoretisch noch innerhalb der Reichweite der gegnerischen Artillerie. Der Posten im Innenhof des Bauernhofes hatte sich in einer Ecke des Schuppens gedrückt. Zittlau beachtet den Posten nicht, er geht über den Innenhof an dem zerstörten Wohnhaus vorbei zum Erdkeller. Der von Sandsäcken geschützte Eingang wird von einem zweiten Posten gesichert. Fast erschreckt Zittlau, als der Posten ihn vorschriftsmäßig grüßt. Ihm wird bewusst, dass er den Mantel des Oberleutnants anhat, die silbern geflochtenen Schnüre mit dem Stern, kennzeichnen ihn als Oberleutnant. Lächelnd schlägt er die schmuddelige Pferdedecke, die den Eingang zum Regimentsstab verdeckt, zurück. Ein muffiger Geruch nach Fäulnis schlägt den Männern entgegen. Der typische Mief von nasser, langgetragener Bekleidung. Der Gestank wird stärker, desto tiefer sie in den Keller vordringen.
»Was willst du denn hier? Wieder Stunk machen?« Eine laute Fistelstimme durchbricht die Ruhe im Keller. An einem rohgezimmerten Tisch gelehnt, steht ein dicklicher Mann mit ausgeprägter Glatze. Sein rotes, pausbackiges Gesicht zittert leicht.
»Heinrich alter Kastrat. Du feiste Stabsratte kommst wohl niemals aus deinem Kellerloch heraus gekrochen«, erwidert Zittlau gehässig. Der Angesprochene dreht sich empört um.
Heinrich Karst, der Vizefeldwebel hatte sich beim Regimentsstab unabkömmlich gemacht. Karst ist bekannt dafür, dass er nur ungern den gutgesicherten Keller verlässt, insbesondere wenn die Luft mit Granaten gesättigt ist. Es geht das Gerücht um, dass Heinrich noch nie im vorderen Graben gesehen wurde. Diese Hemmung gilt nur an der Front, in der Etappe ist er als stolzierender Hahnrei bekannt.

»Wo ist der Ersatz?« Zittlau schaut sich um, tastet mit den Augen den Keller nach essbaren ab.
»Im Schuppen. Die pennen dort seit zwei Tagen. Noch ganz junge Burschen, fast noch Kinder«, bei dem letzten Wort schüttelt Heinrich seinen Kopf.
»Hast du was zum Aufwärmen?« Der Angesprochene zieht aus einer Holzkiste, die in der Ecke auf dem Boden steht, widerwillig eine unetikettierte Flasche.
Zittlau zieht mit den Zähnen den Korken heraus, spuckt den Korken in die andere Hand, nimmt einen langen tiefen Schluck. Der Schnaps brennt höllisch in seiner Kehle. Angewidert steckt er wie selbstverständlich die Flasche in seinem Mantel. »Das ist Richard Kind, abkommandiert zur Flugtruppe.« Verdammt jetzt hat die Einheit kein Maskottchen mehr. »Hoffentlich geht das gut«, sagt Zittlau seine düstere Ahnung aussprechend. Der Vizefeldwebel macht eine wegwerfende Handbewegung.
»Bist Du mittlerweile Oberleutnant geworden?«, fragt Heinrich, deutet mit seinen kleinen Wurstfingern auf seine Achselklappen.
»Vorne in der ersten Reihe teilen wir alles Miteinander auch die Mäntel. Aber das kannst Du ja nicht wissen.« Der Vizefeldwebel verzieht gequält sein Gesicht.
»Nimm die Post mit«, der Vizefeldwebel zeigt auf einem grauen Postsack. »Du brauchst nicht suchen, für dich ist keine Post dabei. Wenn ich recht überlege, hast Du noch nie Post bekommen. Weshalb wohl? Hast dich bestimmt mit allen überworfen. Als Quertreiber bist du ja bestens bekannt.« Das Speckgesicht des Vizefeldwebels grinst frech.

Karst hat recht, überlegt Zittlau, niemals hatte er Post erhalten. Wer sollte ihm auch schreiben? Seinen Vater hatte er mit 5 Jahren verloren, seine Mutter hatte er nie kennengelernt, sie ist bei seiner Geburt gestorben. Aufgewachsen ist er bei seiner Großmutter, die lange schon verstorben ist. Verwandte hatte er keine mehr, aus dem Dorf, wo er aufgewachsen ist, ist er mit 13 Jahren fortgegangen. Seine Lehrzeit bei einem Kaufmann hat er mehr schlecht als recht verbracht. Bis zum Ende der Lehrzeit hatte er in einer kleinen ungeheizten Kammer im Lagerhaus geschlafen. Nach seiner Lehrzeit hatte er, bis zu seinem Einrücken ins Heer, in einem kleinen Kaufhaus gearbeitet. Trotz der längeren Dienstzeit, statt 2 Jahren bei der Infanterie, hatte er die 3 Jahre bei der Kavallerie gewählt. Wäre der Krieg nicht dazwischen gekommen, würde er jetzt als Kaufmannsgehilfe arbeiten. Einzig den Oberleutnant hatte er seine trostlose Lebensgeschichte einmal, während der unendlichen Stunden im Unterstand, erzählt. Damals sind der Oberleutnant und er sich näher gekommen. Auch der Oberleutnant hatte seine Eltern verloren, eine Gemeinsamkeit die verbindet. Der Oberleutnant ist der letzte noch lebende von Rebelkow, so wie er der letzte Zittlau aus seiner Familienlinie ist.

»Heinrich hast du gehört? Der Tommy soll einen Minenstollen bis zum Regimentsgefechtsstand graben. Bald wird hier alles in die Luft gehen.« Die Farbe im Gesicht des Vizefeldwebels wechselt von Rot zu Dunkelrot.
»Das erzählst du doch nur, um mir Angst zu machen. Du elender Hundsfott.« Zittlau lacht.
»Klar doch. War nur ein Spaß. Falls, aber doch der ganze Stab in die Luft fliegt, dann siehst Du wenigsten noch einmal den Himmel. Zum letzten Mal allerdings.«
Zittlau lacht boshaft.
Der Vizefeldwebel schaut ihm forschend ins Gesicht. Er versucht zu ergründen, ob etwas an der Geschichte dran ist. Innerlich lachend verlässt Zittlau den Keller. Er weiß, dass der Vizefeldwebel heute eine unruhige Nacht haben wird.
Latrinenparolen über Minensprengungen machen täglich die Runde durch die Schützengräben. Dass die Engländer einen kilometerlangen Tunnel graben, bis zum Regimentsstab, ist aber mehr als unwahrscheinlich. Warum soll der feige Etappenbulle nicht einmal richtig Angst bekommen, geschieht dem Drückeberger recht, denkt er zufrieden. Zittlau verabschiedet sich vom Maskottchen Richard Kind. Trübsinnig schaut er Kind nach, wie er in Richtung des Bahnhofs davon geht. Zittlau dreht sich abrupt um, geht zu der großen halb zerschossenen Scheune.

Im Inneren der Scheune sieht er im halbdunklen mehrere Soldaten im Stroh liegen. Die Soldaten schauen ihn mit großen Augen an. Als die Soldaten ihn als vermeintlichen Oberleutnant erkennen, springen sie auf nehmen Haltung an.
Eindringlich schaut Zittlau sich die jungen Soldaten an. Kinder keine Soldaten, denkt er. Immer jünger wird der Ersatz. Der Krieg fegt die alten Soldaten hinweg, spült diese Kinder hervor.
»So ihr Lieben macht euch fertig, wir gehen nach vorne.« Die Soldaten schauen ihn erstaunt an. Ein kleiner rothaariger Soldat fragt aus der Gruppe heraus.
»Was heißt nach vorne Herr Oberleutnant?«
»Vorne heißt an die Front, in die Schützengräben, dort wo die Musik spielt.« Ängstlich schauen die Soldaten sich an.
»Packt euren Kram. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.« Seit einiger Zeit lässt das Artilleriefeuer an der Front nach. Der Angriff wird bald beginnen, bis dahin will er mit den Männern zurück sein. Während eines Angriffs wird das Hinterland mit Sperrfeuer belegt, um das Heranführen der Reservekräfte zu verhindern, wenn das geschieht, können sie nicht zurück zur Einheit.
Kurze Zeit später sind sie unterwegs zur Front. Unter einer zerschossenen Eiche lässt er anhalten.
»Setzt euch einen Moment. Was ich euch jetzt sage, merkt euch gut, es kann euer Leben retten.« Die jungen Soldaten lassen sich auf die Erde fallen.
»Also zu vorderst macht mir alles nach, das heißt, wenn ich in Deckung gehe, geht ihr auch in Deckung, keiner bleibt stehen, schaut sich wie ein Waschweib um. Wenn ich geduckt gehe, geht ihr auch geduckt. Merkt euch das Pfeifen der Granaten. Ihr müsst lernen die Kaliber zu unterscheiden. Die dicken Koffer hören sich anders an wie die kleinen Zischer, aber auch die kleinen Zischer sind tödlich. Bei den dicken Koffern müsst ihr so tief wie möglich Deckung suchen, bei den kleinen Zischer reicht eine Mulde. Bei Gasalarm sofort die Gasmaske aufsetzen, nicht lange zögern. Die Gasmaske unbedingt aufbehalten, bis der Alarm vorbei ist. Ich will keinen sehen, der Blindgänger anfingert, einfach liegen lassen. Und das Wichtigste, spielt hier nicht den Helden. Tut eure Pflicht mehr nicht. Achtet auf eure Kameraden. Habt ihr das verstanden?« Die jungen Soldaten Nicken angestrengt.

An der Feldbahn steht eine Lok mit angehängten Flachwaggons. Die Waggons werden entladen. Entsetzt sehen die jungen Soldaten, wie von den flachen Waggons tote Soldaten abgeladen werden. Mitunter sind einzelne Körperteile darunter. Die toten Soldaten werden an den Armen und Beinen gepackt über den Waggonboden gezogen, achtlos neben den Gleisen aufgeschichtet. Bei einer der Leichen löste sich der Kopf vom Rumpf, langsam kullert der Kopf über den staubigen Lehmboden. Die Augen des toten Soldaten sind offen, es sieht aus, als starren seine Augen sie höhnisch an.
Einer der jungen Soldaten übergibt sich auf einem Baumstumpf. Die anderen schauen wie hypnotisiert den kullernden Kopf hinterher. Schließlich kommt der Kopf an einem Holzstapel zum Stehen. Einer der Männer, die die toten Soldaten entladen, fasst den Kopf an den Haarschopf, wirft den Kopf achtlos auf den Leichenhaufen zurück.

Zittlau geht zu dem Lokführer, spricht leise mit ihm. Nach einem kurzen Schluck aus der Flasche des Vizefeldwebels winkt er die jungen Soldaten zu sich.
»Gute Nachricht wir können mit der Schmalspurbahn mitfahren. Das erspart uns gut acht Kilometer Fußmarsch.«
»Herr Oberleutnant.« Der kleine rothaarige Soldat nimmt Haltung an.
»Was gibt es?« Der Soldat zeigt angeekelt auf einem Waggonboden.
»Wo sollen wir sitzen? Die Waggons sind voller Blut und anderes, von dem ich gar nicht wissen möchte, was es ist.«
»Bald werdet ihr essen neben Leichen, schlafen neben Leichen. Irgendwann haltet ihr das für normal. Aber keine Angst, die Bahn fährt nur zurück mit Leichen, auf der Fahrt zur Front werden Munitionskisten und Verpflegung aufgeladen. Ihr werdet also nicht im Blut eurer Kameraden sitzen müssen. Wir haben Zeit, bis die Waggons beladen sind.« Zittlau schaut sich um, in einiger Entfernung sieht er neben einem gemauerten Brunnen eine Bodensenke.
»Dort drüben neben dem Brunnen machen wir Rast.« Er zeigt in die Richtung. Die jungen Soldaten trotten wie Lämmer mit hängenden Köpfen in die gezeigte Richtung.
Zittlau bleibt noch einige Zeit bei den Waggons, blickt sich suchend um, vielleicht ist hier etwas abzustauben. Unter Planen lagern Kisten mit Munition. Etwas abseits sind Granaten aufgestapelt. Sein Interesse gilt Fressalien und Schnaps, von beiden ist nichts zu sehen. Missmutig geht er zu den Ersatzsoldaten. Gegen den Brunnen gelehnt schaut er sich die Soldaten an. Hohlwangige, schmale Jungengesichter schauen ihn an. In Friedenszeiten würde jeder dieser Jünglinge durch die Musterung fallen. Mittlerweile hatte der Krieg so viele Opfer gekostet, dass kaum mehr volltaugliche Soldaten zu finden sind.
»Herr Oberleutnant.« Zittlau wird aus seinen Überlegungen gerissen. Ein schmaler blonder Soldat mit ausgeprägter Hasenscharte schaut ihn fragend an.
»Was ist mit dir?« Der junge Soldat zuckt zusammen.
»Bitte lassen sie mich nach Hause gehen.« Jetzt zuckt Zittlau zusammen. »Was hast du gesagt? Du willst nach Hause? Mensch das wollen wir alle nur interessiert es keinen, was wir wollen. Ich kann dich nicht nach Hause schicken. Das ist unmöglich.« Der blonde Soldat weint in seine vor das Gesicht gehaltenen Hände.
»Herr Oberleutnant, darf ich Fragen, wie lange sie schon dabei sind?«
Die Frage kommt von dem rothaarigen Soldaten.
»Vom ersten Tag an. Ich bin vom ersten verfluchten Tag in diesem Schlamassel. Es gibt keinen einzigen Tag, den ich nicht verflucht habe.« Hier lügt Zittlau, jede einzelne Sekunde hat er verflucht, jede Sekunde, die dieser gottlose Krieg bisher dauert.

Später sitzen sie auf Kisten und Säcken, fahren mit mäßiger Geschwindigkeit der Front entgegen. Vor ihnen am Horizont sehen sie die Blitze, die Feuerscheine der explodierten Granaten. Der Kanonenlärm wird immer lauter. Die jungen frontunerfahrenen Soldaten schauen ängstlich in Richtung der Blitze und Detonationen.
Zittlau selbst schaut in den Himmel, die Blitze, die Einschläge sind für ihn keine Aufmerksamkeit wert, interessieren ihn nur wenig.

Die Fahrt mit der Schmalspurbahn dauerte eine viertel Stunde. Gedeckt hinter einem Erdhügel enden die Schienen. Vorbei an einem Leichenberg, der für den Transport nach hinten, längst der Schienen aufgestapelt ist, gehen sie zu Fuß weiter. Die Front liegt einige Kilometer vor ihnen. Das Dröhnen der Granateinschläge wird immer lauter. Zittlau geht vorneweg, die jungen Soldaten drängen sich dicht hinter ihm. Er kann die Furcht, das Entsetzen, der Soldaten hinter sich spüren. Er weiß, dass sie kaum eine Chance haben, die ersten Tage zu überleben. Eigentlich führt er lebende Leichen nach vorn, denkt er resigniert.
Der Gedanke, dass er es ist, der diese jungen Soldaten in den Tod führt, lässt ihn je anhalten. Der dicht hinter ihm gehende Soldat stößt ihn unsanft an. Der kleine Trupp Soldaten bleibt wie angewurzelt stehen. Irgendetwas reißt ihn aus den dunklen Gedanken. Einige Sekunden dauert es, bis Zittlau begreift, was es ist. Die Stille. Eine unheimliche Stille ist eingetreten, das Trommelfeuer hat aufgehört. Kein Geschützlärm, nichts, nur eine immer bedrohlichere Stille hüllt die Landschaft ein. Schnell springt er in einen alten Granattrichter, die jungen Soldaten folgen ihm nach, liegen dicht am Boden gepresst neben ihm im Granattrichter.
»Was ist los? Warum ist es jetzt so still?« Irgendeiner aus der Gruppe fragt mit angstschwingender Stimme.
»Das gefällt mir nicht«, sagt Zittlau mehr zu sich als zu den jungen Soldaten.
Vorsichtig lugt er über den Granattrichterrand. Die Front ist ruhig. Sehen kann er nichts. Rückwärts rutscht er den Granattrichterrand hinunter.
»Irgendeine Sauerei geht da vor. Ich weiß nicht, was es ist, so etwas habe ich noch nicht erlebt. Nach einem Trommelfeuer wird beim Angriff immer das Artilleriefeuer nach hinten verlegt, um die Reserven nicht nach vorne kommen zu lassen. Dass ein Trommelfeuer so abrupt endet, habe ich noch nicht erlebt. Das stinkt mir gewaltig.«
Zittlau sieht in verängstigte Jungengesichter.
»Jetzt genau aufpassen. Ich gehe mir die Sache einmal ansehen. Ihr bleibt hier in Deckung. Wenn etwas passiert, haut ihr nach hinten ab. Wenn Granaten einschlagen, die nicht explodieren, aber Qualmen, sofort die Gasmasken aufsetzen. Ich hole euch später nach.«
Vorsichtig klettert Zittlau über den Granattrichterrand, instinktiv tastet er nach seinem Gasmaskenbehälter. Vorsichtig geduckt läuft er zu einem zerschossenen Baumstumpf. Vom Baumstumpf aus kann er weit in das flache, von Granattrichter übersäte Land schauen. In ca. 1200 Meter Entfernung erkennt er die dritte deutsche Schützengrabenlinie, erkennt die zickzack Linie der Schützengräben. Sieht die hervorstechenden Betonbunker, die gut befestigten Stützpunkte.
Bei den englischen Gräben erkennt er keine Bewegung. Die Ruhe um ihn herum ist grauenhaft. Jede Faser seines Körpers ist angespannt, erwarten etwas, irgendetwas, nur nicht diese grausam laute Stille. Eine lauernde Stille, eine sich duckende Stille, die auf etwas Schreckliches zu warten scheint.
Mit zitternder Hand trinkt er aus der Schnapsflasche, die er noch von Vizefeldwebel bei sich trägt. Im selben Augenblick, als er den Korken zurück in die Schnapsflasche drückt, wird er wie von einer riesigen Geisterhand hochgehoben. Eine nie gehörte Explosion erschüttert die deutschen Stellungen. Zittlau merkt, wie sein Stahlhelm vom Kopf gerissen wird. Der riesige Rauchpilz, der über den deutschen Stellungen hängt, ist das Letzte, woran er sich erinnert, bevor er in ein tiefes, unendlich tiefes, schwarzes Loch fällt.

Als Zittlau wieder zur Besinnung kommt, spürt er ein Rumpeln und Schaukeln unter sich. Unter größter Kraftanstrengung öffnet er seine Augen, sieht über sich einen sich bewegenden Himmel. Mühsam erkennt er, dass er auf einer Trage liegt. Ich liege auf einer Trage, also bin ich nicht bei den Leichen auf der Schmalspurbahn. Dieser Gedanke bereitet ihm, aber keine Freude.

 

4. Die toten Soldaten von Flandern

Ich werde niemals den Tag vergessen, an dem der Anruf kam, der mein bisheriges Leben änderte.
Der Anruf kam genau um 15:55. Fünf Minuten vor Feierabend. Frank Bauer liebt Störungen seiner Feierabendvorbereitung überhaupt nicht. Nur widerwillig greift er zum Hörer.
»Bauer«. Im Telefon schnarrt es. Verdammte Leitung, immer diese schlechten Verbindungen, denkt Bauer, will auflegen.
»Frank? Frank bist du am Apparat?« Bauer zieht das Telefon näher zum Schreibtischrand, damit er sich bequemer zurücklehnen kann.
»Ja. Hier Frank Bauer. Mit wem spreche ich?« Das schnarren im Hörer wird schriller.
»Pieter van Broich hier. Frank kannst du mich verstehen?« Das hatte ihm noch gefehlt. Pieter an einem Freitag bedeutet nichts Gutes.
»Ja ich kann dich verstehen, aber nur eingeschränkt. Wo bist du? Das klingt, als ob du aus einer Höhle anrufst.«
»Da hast du nicht einmal unrecht«, erwidert Pieter. Jetzt ist die Verbindung klar, dass nervige schnarren ist weg.
»So ich glaube, dass die Verbindung jetzt besser ist. Ich war heute in einem eingestürzten Bunker.« Bauer zieht resignierend am Telefonkabel. Jetzt weiß er, dass sein Feierabend passe ist.
»Was für einen Bunker? Wo treibst du dich wieder herum?«
»Wir haben im Wytschaete-Bogen gegraben, dabei sind wir auf einen deutschen Bunker gestoßen. Vermutlich wurde der Bunker bei der 3. Flandernschlacht verschüttet. Wahrscheinlich ist er bei einer der großen Minensprengung zerstört worden. Der Bunker ist voller toter deutscher Soldaten. Also eine Sache, die dich betrifft.«
»Ich fahre Morgen früh los. Ich rufe dich an, wenn ich an der Grenze bin.«
Bauer stöhnt auf, legt den Hörer zurück auf die Gabel. Jetzt kann er sein Wochenende vergessen. Er muss heute noch seinen Koffer packen, damit er Morgen früh zügig losfahren kann.
Missmutig greift er nach seiner Ledertasche, schließt sein Büro ab. Zuhause angekommen füttert er seine Fische. Da er nicht abschätzen kann, wann er zurückkehrt, bekommen sie heute eine extra Portion Futter.
Der Koffer ist schnell gepackt und an die Haustür gestellt. Sein Abendessen besteht heute aus einer warm gemachten Dose Ravioli. Den Abend verbringt er lustlos vorm Fernseher. Ins Bett geht er, als die 22 Uhr Nachrichten im Fernseher beginnen.

Acht Uhr am Morgen, schon ist die Autobahn zu. Gelangweilt beobachtet Bauer die Arbeiter am Autobahnrand, die neue Leitplanken montieren. Hinter der deutschen Grenze ist die Autobahn leer. In Belgien kommt er zügig voran. Um 11.30 parkt er in Belgien am Straßenrand, telefoniert in einer Telefonzelle.
»Hallo Pieter ich bin in Belgien. Ich denke, in einer Stunde kann ich bei dir sein. Ja gut. Ich komme sofort zur Grabestelle«. Bauer notiert sich den Straßennamen, an denen die Grabungen stattfinden. Von weiten sieht er die Grabungsstelle. Ein gelber Bagger steht mitten auf freiem Feld. Die wulstigen Erdverwerfungen sind von der Landstraße aus deutlich zu erkennen. Bauer parkt neben Pieters Wagen. Aus dem Kofferraum greift er nach einem paar dunkle Regenstiefel, stellt sie vor sich auf den lehmigen Erdboden. Am Wagen sich festhaltend, zieht er seine Schuhe aus, steigt in die Regenstiefel. Sorgfältig legt er seine Schuhe in den Kofferraum seines Wagens. Bevor er den Kofferraum schließt, greift er nach einer alten Ledertasche. Mit der Ledertasche in der Hand stampft Bauer über das abgeerntete Feld.
Bauer wundert sich, dass er keine Personen am Grabungsort erkennt. Nicht den Baggerfahrer, keine Grabearbeiter mit gelber Signalweste und Bauhelm, sind zu sehen. Der Baucontainer ist abgeschlossen, die offene Tür der Bautoilette schlägt im Wind gegen die Türfassung.
Hinter den Bagger, neben einen lehmigen Erdhügel, erkennt Bauer eine Grube. Die Grube wird durch Metallplatten abgestützt, die von kreuzweise angebrachten Stahlverstrebungen gesichert werden. Eine lehmverdreckte Metallleiter führt in die Grube hinein. Bauer steht am Rand der Grube, schaut argwöhnen hinunter. Er schätzt die Grubentiefe auf 6-8 Meter, den Durchmesser 4 Mal 4 Meter. Ein Stromaggregat steht knatternd abseits, das Stromkabel wird über den Grubenrand in die Grube geleitet. Seufzend steigt Bauer auf die Metallleiter, hangelt sich vorsichtig Stufe für Stufe hinab in die Grube. Auf der Grubensohle sammelt sich Grundwasser, seine Stiefel sinken in den aufgeweichten Boden. Das Stromkabel führt in den Tunnel, der an einer Seite der Grube waagerecht in das Erdreich getrieben wurde. Misstrauisch beäugt Bauer die Tunnelabstützung. Der Tunnel ist mit Fertigabstützungen ausgekleidet. In etwa 15 Meter Entfernung erkennt er Licht im Tunnel. Bauer nimmt eine Taschenlampe aus seiner Ledertasche. Den Strahl der Taschenlampe auf den nassen schlammigen Boden gerichtet, geht er die Lichtquelle im Tunnel entgegen. Am Ende des Tunnels sieht er Pieter van Broich auf einen lehmverschmierten Styroporblock knien. Sein Oberkörper ist nach vorne gebogen. Mit einer kleinen Kelle entfernt er vorsichtig Erdreste von einer Schädeldecke. Bräunliche Masse schält er aus dem Schädel, verquirlte Haarbüschel kleben an der Masse fest. In einer Ecke, des annähernd vier Quadratmeter großen Endstollens, liegen auf

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.07.2019
ISBN: 978-3-7487-0910-7

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