Cover

Lucille, der verlorene Engel

 

(Diese Geschichte ist ein Auszug aus dem Roman „Schwarzer Engel – Verlorene Seele)

 

Höllenqualen

 

Sie haben ihren eigenen Tod heraufbeschworen. Unbeabsichtigt. Aber mit uns spielt man nicht. Lucille wusste, dieser kleine Mann würde gleich sterben. Und es war ihre Schuld.

Sie ging etwas in die Hocke, setzte ihre Hände wie Astgabeln unter beide Schultern des Mannes und schob ihn hoch. Der Körper des an den Pfahl Gefesselten verhielt sich physikalisch, als würde er gezogen. Deshalb gab er der Kraft der mysteriösen Frau nach, bis sie ihn auf ihre Augenhöhe gebracht hatte. Sowie ihr Schieben nachgelassen hatte, wollte der Körper des Mannes wieder nach unten rutschen. Doch die um den Holzstamm gelegten Stahlfesseln verkanteten sich bei Druck. Ähnlich wie bei Bergsteigern der Prusik-Knoten, den sie anwenden, wenn sie in eine Gletscherspalte gestürzt sind. Ein kleines Seil mit Schlaufe wird jeweils an dem beiden herabgelassenen Fixseilen in der Art angebunden, dass der Knoten bei Druck zuzieht, bei Entlastung sich aber bewegen lässt. Steht der Verunglückte zum Beispiel mit dem Fuß in der Schlaufe des linken Rettungsseiles, zieht der Knoten dicht, die Schlaufe rutscht nicht nach unten. Das Gewicht jetzt auf diesen Fuß gebracht, lässt der Druck in der Schlaufe des rechten Fixseiles nach, der Verunglückte kann diese Schlinge ein Stück nach oben schieben. Nun bringt er sein Gewicht auf den rechten Fuß, somit entspannt die linke Schlaufe, die er nun seinerseits nach oben schiebt. Peu à peu steigt der Verunglückte auf diese Weise nach oben, der Rettung entgegen.

Für das Opfer, das Lucille gerade hochgeschoben hatte, gab es indessen keine Bergung. Es wurde hinabgestürzt in die Hölle, auf ihm warteten nun Folter, Qual und Tod. Dieser Mann, der die schöne Frau auf eigentümlicher Art bewegte, hatte sein Leben verwirkt. Definitiv.

Zärtlich und tief in Gedanken versunken strich Lucilles Zeigefinger über die aufgeplatzten Lippen des Verlorenen. Sie waren so breit, so schwulstig; luden zum Küssen ein und erinnerten sie an etwas, was sie jetzt nicht bestimmen konnte. Oder nicht wollte. Gefühle der Zärtlichkeit hatten keinen Platz in der Stunde des Hinüberführens. Das Schicksal dieses jungen Mannes war bestimmt. Satanel war in Quedlinburg auf Menschenjagd gegangen. Brauchte dringend frische Seelen in seinen ewigen Feuern; Spielbälle für seine tobende Anhängerschaft.

Und sie, Lucille, hatte diesen Nachschub organisiert. Über zweitausend Jahre schon war sie die rechte Hand Satanels. Niemals hatte sie seit dem Sturz aus dem Himmel ihren Anführer in Frage gestellt. Und leider auch nicht davor. So wie viele andere Cherubim mit ihr.

Aber genau zu dieser Stunde, wo sie den todgeweihten, jungen Mann am Pfahl nach oben schob, setzte ein Wandel ein. Bisher nur in ihrem Unterbewusstsein gefangen. Doch es sollte sie in den nächsten Wochen in ihren größten inneren Konflikt seit Menschengedenken führen.

Vorerst fing alles ganz klein an, sie schenkte dem ersten Zittern in ihrem Gemüt keine Achtung. Alles war wie immer – sollte wie immer sein.; musst wie immer sein.

Zwei Pärchen brachten sie und ihr Herr der Unterwelt zu Mitternacht in ihre Gewalt, nachdem Lucille die Aktivitäten der Opfer in deren sozialen Netzwerken tagelang mit verfolgt hatte. Sofort schleppten sie diese überraschten und vor Schreck wehrunfähigen Menschen in einen ihrer vielen unterirdischen Folterkeller. Für Satanel eine Spielwiese, wo er seine bestialischen Triebe ausleben durfte; für Lucille ein sehr spezieller Garten der Lust. Stets empfand sie eine immens große Erregung, Satanel bei seiner Arbeit zuzusehen, oder selber ein Folterinstrument in die Hand zu nehmen, um sich an der Angst und Hoffnungslosigkeit der Gefangenen zu weiden. Aufkommende Gewissensbisse wusste sie immer perfekt zu verdrängen.

Bis jetzt.

Bis zu diesem Augenblick, wo der an den Holzpfahl gefesselte, kleine, junge Mann mit den wulstigen Lippen zuzusehen hatte, wie Satanel seine Freunde der Reihe nach abschlachtete. Satanel. Der schwarzgekleidete Mann mit seinen langen, schwarzen Haaren und dem altmodischen Zylinder auf dem Kopf.

Laut dröhnte aus versteckten Boxen das Lied „Gothic“ von Paradise Lost. Für Satanel ein Ritual. Der Startschuss für eine teuflische Stunde. Ein Mechanismus brachte das große, hölzerne Wagenrad zum Drehen, worauf er den langen, nackten Mann geflochten hatte. Vor Schmerzen schreiend aufgrund der vielen gebrochenen Gliedmaßen, peitschte er ihn vor den Augen der Mitgefangenen; wie ein Rasender fein dosiert immer mehr Kraft in seine Schläge legend, bis mit dem letzten Akkord des Liedes der Todesschrei des Gemarterten den Keller erschütterte.

Seine Freundin hatte auf einem spanischen Pferd sitzend zusehen müssen. Der Kamm war spitz, aber nicht schneidend. Sterben sollte sie hier nicht. Aber die ganze Zeit mit der Angst kämpfen. Bis fast zur Erschöpfung klammerte sie sich mit ihren Beinen an den Rumpf es Pferdes, um nicht zu tief zu rutschen.

Lucille tat die große Frau mit dem rostroten Haar leid. Wieder ein neues Gefühl. Die Hoffnungslosigkeit in den Augen des Opfers, früher war es ein Moment des Entzückens gewesen. Das Jammern und Betteln um Freilassung, einst löste es in Lucille eine Wut auf die Verlorene aus. Die Todgeweihte verdiente zu sterben, denn sie hatte von dem Nektar gekostet, der Lucille auf alle Ewigkeit verwehrt wurde: Liebe.

Neid und Hass waren somit die Antriebsfedern der Gefährtin Satanels. Mit der Entscheidung, ihm zu folgen, hatte Lucille vor mehr als zweitausend Jahren über ihr eigenes Liebesleben das Urteil gesprochen. Es lautete versagen, verdrängen, verlieren. Den bitteren Geschmack der Niederlage, sie überdeckte ihn fortan mit der Süße der Rache.

Früher hätte sie ihre Hände heiß geklatscht, wenn sie zugesehen hätte, wie Satanel die junge Frau vom Spanischen Pferd nahm, über einen Bock legte, die Neunschwänzige Katze brüllen ließ, die Geschändete anschließend vergewaltigte und als Belohnung – wie er sich sarkastisch ausdrückte – mit den Füßen an einen weit über das Wasserbecken hinausreichenden Stahlkran fesselte. Kopfüber wurde die rothaarige Frau ins Wasser gelassen. Weil ihr die Hände nicht gefesselt wurden, konnte sie mit etwas körperlichem Geschick mit ihren Händen das Seil über ihren Füßen greifen und sich an die Oberfläche ziehen.

Für den Unhold der Unterwelt war das kein Grund zur Besorgnis. Er zündete sich einen Zigarillo an, blies genüsslich Ringe in die Luft und wartete in aller Seelenruhe darauf, dass der Frau die Kraft in den Armmuskeln schwinden würde. Diesem letzten Kampf des Opfers zuzusehen, war für Satanel stets ein sehr bewegender Moment. Am meisten ergötzte er sich an dem Punkt, wenn die zum Tode Verurteilte die absolute Aussichtslosigkeit erkannte. Wenn sie die aus ihren Augen herausgeschossenen Dolche einfuhr und sich ihrem Schicksal ergab, was dem Schwarzhaarigen gleichbedeutend war mit einem Huldigen seiner Allmacht. Das baute ihn auf, daraus zog er für sich einen sehr großen Wert – andere mochten das anders sehen.

Als die Frau mit einem Seufzer der Verzweiflung und Selbstaufgabe ihre Hände von dem Seil an ihren Füßen löste und mit dem Kopf unter Wasser tauchte, huschte ein befriedigtes Lächeln über Satanels Gesicht, das seine Augen nicht erreichte. Diese blickten starr und kalt auf den über Kopf hängenden Frauenkörper, der in seinem Todeskampf noch ein paar Mal zuckte. Als die Frau keine Minute später schlaff wie ein Mehlsack am Kranhaken hing, schnippte er seinen Zigarillo zur Toten in das Becken. Danach wandte er sich mit einem schiefen Grinsen an seine Begleitung. „Nun bist du an der Reihe, liebste Cheruba. Spiel mit dem Burschen, bis er zerbricht.“

„Mir ist heute nicht danach“, konterte Lucille mit einem abwertenden Lachen, als sei der dritte der vier Gefangenen so hässlich, dass sie sich nicht an ihm vergehen wollte. Wieso sie intuitiv die Chance zurückwies, durch das Ermorden eines Wehrlosen ihr Selbstwertgefühl aufzubauen, konnte sie gar nicht sagen. Wieder spürte sie für die Zeit, die ein Auge benötigt, um zuzuschlagen, dieses befremdliche Gefühl, dass es nicht so ganz richtig wäre, was sie hier täte. Jetzt, wo die Widerworte ausgesprochen waren, bereute sie diese sofort. Denn Satanel war ein extrem scharfsichtiger Geselle, besonders wenn man seinen Wünschen – die stets nichts Anderes als Befehle waren – nicht nachkam, fühlte er sich gleich auf den Schlips getreten. Auf keinem Fall durfte diese Ausgeburt der Hölle in Lucilles Seele lesen und möglicherweise einen Wandlungsprozess bemerken, den die Betroffene beharrlich untern Teppich zu kehren hoffte. Noch.

Lucille konnte sich dieses Phänomen selber nicht erklären. Über zweitausend Jahre hatte sie nicht eine einzige Sekunde Reue gezeigt. Nun, wo sie kurz in sich hineinhorchte, meinte sie, eine Macht zu spüren, viel älter als die Satanels. Und diese fremde Macht wollte in ihre Seele eindringen. Davor musste sie sich unbedingt wappnen. Denn diese neue Kraft könnte Veränderung bedeuten, könnte direkt Einfluss auf ihre Persönlichkeit nehmen. Etwas, was Satanel bei seinen Untertanen überhaupt nicht akzeptierte. Diese mussten uneingeschränkt seinem Willen folgen. Das bedeutete, Mord und Unglück über die Menschen bringen. Um diese Bedrohung nicht unnötig an die Wand zu malen, schaute sich die schwarzhaarige, schöne Frau um.

Die kleinen Feuer in den vielen eisernen Feuerkörben sowie die unzähligen Fackeln an den Wänden erzeugten ein gelb-rot flackerndes Licht. Im schwarzen Stein der Höhle mit seinen vielen Findlingen und Feldnasen erzeugte es ein beängstigendes Schattenspiel. Dazu die Foltermöbel und die Todesschreie.

Der kleine Mann, der ihr zum Schlachten zugewiesen wurde, zitterte am ganzen Körper, als Lucille, von Satanel geschoben, zu ihm kam. Er wusste, er würde jetzt ermordet werden. Trotz aller Aussichtslosigkeit riss er wie wild an seinen Fesseln.

„Eigentlich solltest du der letzte sein.“ Sanft und warmherzig klangen die Worte, während Lucille dem Opfer mit ihren Fingerrücken die Wangs strich. Jetzt war sie wieder ganz die Alte; der „Gefallene Engel“, der den Tod brachte. Gerade noch rechtzeitig hatte sie in ihre Rolle zurückfinden können, um keinen Verdacht auf sich zu ziehen. „Mein Meister nötigt mich zu einer Planänderung. Für dich zum Vorteil. Du musst nicht mehr mit ansehen, wie qualvoll wir deine Freundin in unser ewiges Feuerreich führen.“

Satanel lachte blechern.

Dann schauten alle drei auf die leicht pummelige Frau mit dem asiatischen Gesicht und dem schwarzen Haar. Sie lag in ihrem schönen, schwarzen Kleid mit dem Rücken auf einem Tisch, die Füße aufgestellt. Am anderen Ende waren ihr Kopf und ihre Hände durch eine breite Prangerschere gesteckt. Sie konnte ihren Körper nicht mehr sehen. Auch nicht das, was in Kürze mit ihr geschehen sollte.

Ihren Kopf ließ sie resigniert hängen. Das Gesicht ihrem Freund zugedreht. Mit Tränen in den Augen nahm sie Abschied von ihm.

Lucille hatte ihr pechschwarzes Haar hochgesteckt. Drei stricknadellange Stäbchen hielten es in Form. Sie knöpfte das schwarze Seidenhemd des kleinen Mannes auf, zog eine erste Haarnadel, Strähnen fielen ihr lang über die rechte Schulter, gaben ihr ein unwiderstehlich verwegenes Aussehen, als sie die Nadel unterhalb des rechten Schlüsselbeins bis zum Anschlag in sein Fleisch versenkte.

Der Mann schrie nicht. Sah sie nur fassungslos an und begann kürzer zu atmen. Allem Anschein nach hatte die Nadel seine Lunge getroffen.

Ihre zweite Nadel führte Lucille auf der linken Seite in den Körper, wohlbedacht, nicht das Herz zu schädigen.

Satanel war zufrieden mit seiner Dienerin. Unzweifelhaft musste er sich vorhin getäuscht haben, als er vermutete, seine Lucille könnte sich auf Abwege begeben wollen. „Nimm ihn dir jetzt, meine Süße“, forderte er sensationslustig.

„Großer Meister, ich bin dazu heute etwas unpässlich“, suchte der Schwarze Engel erneut nach einem Ausweg.

„In deinem Alter?“ Sofort war das Misstrauen beim Mann mit Zylinder wieder da.

„Immerhin wirke ich noch immer wie Mitte Dreißig. Mit all den dazugehörigen biologischen Funktionen. Mein Körper will nicht, wo mein Geist so sehr danach lechzt.“ Still hoffte die Cheruba, Satanel würde ihre Ausflüchte akzeptieren. Lucille wollte, nein konnte sich nicht beim Sterben des Mannes sexuell beglücken. Als hätte sie sich die beiden Haarnadeln selber in ihre Luftröhre gestochen, stieß sie unter Röcheln hervor: „Satanel, heute nicht. Bitte akzeptiere es.“

„Hm“, war alles, was der Fürst der Finsternis sprach. Darauf schob er von hinten Lucille gegen den Körper des Gefesselten und begann, sie zu wiegen. „Ich helfe dir“, sagte er lakonisch, nahm die letzte Haarnadel heraus, so dass Lucilles schwarze Pracht ihr über Schulter und Brust flossen und schob sie am Kopf gepackt gebieterisch zum Gefesselten, bis ihre Lippen auf den Mund des Opfers drückten. Während dieses erzwungenen Todeskusses – eine winzige Entschädigung für die entgangene Sex-Show – stieß Satanel dem jungen Mann die dritte Haarnadel in die Halsschlagader.

Erst als kein Blut mehr aus der Wunde gepumpt wurde, gaben seine starken Hände Lucille frei: „Geht doch“, stellte er lapidar fest. „Jetzt habe ich Lust auf den Nachtisch.“

Lucille kniete sich vor den Kopf der jungen, auf den Tisch gefesselten Frau, stützte ihn mit ihren Händen, strich ihr wie eine Mutter über die tränenbenetzte Wange. „Ich bin bei dir, Mädchen, und führe dich.“

„Ich will nicht sterben“, stammelte die junge Frau mit den asiatischen Augen. Dann brach sie in heftiges Weinen aus.

„Ich bleibe bei dir, halte dich ganz stark fest. Wir werden es schaffen.“

„Warum tust du das?“ Die auf dem Rücken Liegende und mit dem Kopf durch eine Prangerschere Gesteckte, sah Lucille in einer Mischung aus Wut und Anklage an. Wut über die Art der Beschwichtigung der reifen Frau, als würde es sich hier lediglich um ein Fieber handeln und wenn sie den bitteren Kräutertee tränke, würde alles gut werden; Anklage wegen der Mittäterschaft.

„Was tue ich?“, stellte sich die Gerügte dumm.

„Den Todesengel spielen.“ Unnachgiebiges Feuer loderte in den Augen der Abgelegten. Es war der Hass auf ihre Mörder.

„Ich gäbe alles, ich wäre ein anderer Engel, Kleines“, sprach Lucille mehr zu sich selber als zum Opfer und schaute tiefsinnig in die Ferne.

Plötzlich machte die junge Frau dicke Backen. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Verwunderung und Erlösung. Lucille kannte diesen Gesichtsausdruck. Demnach hatte ihr Satanel den großen Holzpflock in den Bauch gerammt. Sicherlich wird er seinem Opfer zu Füßen stehen, sich die Hose geöffnet haben und seinen Prügel reiben, während er mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck der jungen Frau beim Sterben zusieht, schlussfolgerte die Cheruba ohne zu ihrem Herrn und Gebieter aufzuschauen.

Lucille kamen die Tränen. Verzweifelt hielt sie in ihren Händen das Gesicht des Opfers. Streichelte ratlos mit ihren Daumen der Kleinen die letzten Tränen von der Wange, bis sich deren Augen brachen.

Lucille blieb knien. Erstmals seit undenklichen Zeiten spürte sie Mitleid, ja, sogar Reue. Denn sie war sich ihrer Verantwortung am Tod dieser vier Menschen vollauf bewusst. Warum aber fühlte es sich ausgerechnet heute so an, als hätte sie eine Niederlage erlitten? Wieso gab es plötzlich in ihrem Wesen Stimmen, die sie aus diesem Grauen herauszuführen trachteten? Das war nicht fair. Es gab für die Gefallenen Engel keine Chance, sich gegen den despotischen Fürsten der Unterwelt aufzulehnen. Jeder Versuch der Renitenz wäre ein Todesurteil.

 

 

Die Feier zum Herbst-Äquinoktium

 

Satanel hatte zur Feier des Herbst-Äquinoktiums geladen. Erst wollte ich nicht hingehen. Wäre ich nur der Stimme meines Herzens gefolgt, vielleicht wäre dann mein Leben völlig anders verlaufen.

Aber was hilft alles Lamentieren? Was geschehen ist, ist vergangen. Es ist nicht rückgängig zu machen.

Es war früher Vormittag. Gegen neun Uhr. Die Sonne stand schon grell am Himmel. Wir alle strahlten in unseren weißen Gewändern. Jeder Frauenkopf glitzerte golden.

Ich bewunderte die langen, dunkelbraunen Locken meines Sandkastenfreundes Micha. Sofort war meine Wut wieder da, dass wir Frauen unser Haar nur lang, nur offen, nur blond und nur gelockt tragen durften.

Meine Augen funkelten wie der Knauf des Schwertes, das Micha an seiner Seite trug. Da gab es eine Bewegung im Rücken meines Freundes. Die Menge wogte hin und her und wich dabei jemandem zur Seite.

Dann stand er plötzlich da. Glänzend im Sonnenlicht. Ein Schwert, doppelt so strahlend wie Michas. Und Augen . . . verdammt, mit einem Schlag waren meine Knie ganz weich.

Und diese Augen hatten nur ein Ziel: Mich.

Ich glotze ihn mit offenem Mund an.

Wahrscheinlich hatte ich für einen Augenblick ein sehr dämliches Bild abgegeben. Zum Glück hatte ich mich ganz schnell wieder im Griff. Meine Überraschung schlug um in verhaltene Freude. Aus dieser gebar sich ein begehrliches Interesse. Schnell musterte ich ihn, wie er mich. Mein forsches Auftreten ließ ihn die Lider senken.

Oder war er verärgert wegen meines Äußeren?

Sofort waren die Zweifel wieder da. War es richtig gewesen, mir die Haare mit einem heißen Kamm geglättet zu haben? Dass ich sie mir zu einem Dutt aufgesteckt und nur links eine lange Strähne an meinem Gesicht vorbei fallen gelassen hatte? Fast wirkte es, als trüge ich kurzes Haar. Dazu hatte ich um mein rechtes Auge einen Ring aus Blattgold aufgetragen. Ebenfalls flossen diese kleinen Blättchen von meiner rechten Wange über meinen Hals bis zu meinem Dekolleté.

Unverschämt, hörte ich so manchen Engel hinter mir schimpfen, ohne Anstand und ohne Moral.

Ja, ich gestehe, das war die Art, Rache zu zeigen.

Ich wollte kein Engel sein.

Niemand hatte mich gefragt. Es war einfach über mich bestimmt worden. Wer hier im Himmel geboren wurde, musste sich diesen Etiketten unterwerfen. Und ich fand das grausam. Die Etiketten, der Zwang zum Freundlichsein, der Zwang zur Hilfsbereitschaft und Selbstaufgabe, die permanente Selbstverleugnung.

Dieser Zwiespalt war der Hauptgrund meiner leichten Melancholie. Obwohl ich wunderhübsch war und wahnsinnig blaue Augen hatte, konnte ich den Schatten einer leichten Traurigkeit nie ganz ablegen. Die Traurigkeit über das Schicksal meines bis dahin noch relativ jungen Lebens.

Wie ich aus meinen Gedanken aufblickte, sah ich erneut in die Augen des wahnsinnig attraktiven Engels. Später sollte ich seinen Namen erfahren: Raphael. Er musste mich die ganze Zeit beobachtet haben. Und tatsächlich huschte ein freundliches Lächeln über sein Gesicht. Ihm gefiel, was er sah. Kein Tadel lag in seinem Blick, nur Neugier. Und fast meinte ich, Verständnis zu erkennen. Sollte das möglich sein?

So musste auch ich schmunzeln. Nicht über ihn oder über die Situation, sondern über meinen Spitznamen „Antika“, betont auf der letzten Silbe wie bei Annika. Aber meine Eltern hatten diesen Namen nicht von Antik abgeleitet. Das wäre ja noch etwas Schönes, Traditionelles, Wertvolles gewesen. Nein, es war ihr Spott über mein ständiges Dagegensein, meine Anti-Haltung gegen alle Werte und Normen.

Mein Lächeln musste den großen Erzengel ermutigt haben. Schon hatte er sich auf den Weg zu mir aufgemacht, da fasste mich Satanel bei der Hand und zog mich in eine neue Engeltraube. Er hätte viele neue Weggefährten gefunden, die ich unbedingt kennen lernen musste, hatte er mir ins Ohr geraunt. Hoffnung und Zuversicht lagen in seiner Stimme. Ich sollte jetzt prüfen, ob sie es wert wären, an unserer Verschwörung teilzunehmen.

So hatte mich der Alltag ganz schnell wieder eingeholt.

Verweht waren die Gedanken an Liebe, Zärtlichkeit und dem Dahinschmelzen in starken Männerarmen. Zerreitet der Wunschtraum nach stundenlangen Küssen.

Ein letztes Mal fuhr ich wehmutsvoll mit den Fingerspitzen über meine goldenen Lippen. Anstelle von Hasstriaden hätten sie heute Morgen gerne etwas Anderes gegeben.

Satanel, der oberste Engel Gottes, führte mich in die Gruft eines nahegelegenen Tempels. Drinnen saßen über fünfzig männliche Engel der Cherubim. Anhand der breiten Schultern und kräftigen Oberarme war unschwer der Krieger zu erkennen. Schwert und Schild wussten diese Engel zu führen. War ihr Geist aber auch auf unserer, oder besser Satanels Seite? Das zu ergründen war meine Aufgabe.

Und hierbei war Vorsicht angebracht.

Der Spitzel gab es zuhauf.

Zu unserem Vorteil war unsere Bewegung noch relativ jung und unsere umstürzlerischen Absichten kannte bisher nur unser Führungsstab. Hingegen ging der Großteil unserer Gefolgschaft - ob weibliche oder männliche Engel – davon aus, dass wir lediglich gewisse Bereiche der Gesellschaftsordnung reformieren wollten.

Uns war das nur recht.

Solange die Masse an eine Reformation glaubte, unterstützte sie uns. Nur unsere Krieger mussten zur rechten Stunde unsere wahren Ziele wissen. Sofern es sie denn wirklich interessierte.

Selbst mich interessierten Satanels Beweggründe nur am Rande. Mir war wichtig, den Muff der letzten tausend Jahre endlich beiseite zu fegen und für ein klein wenig mehr Freiheit einzutreten. In Satanel sah ich den Führer, dem dieses gelingen könnte. Deshalb gehörte ihm meine absolute Loyalität.

Nach einer Stunde Diskutierens gab ich ihm das Zeichen, sich auf diese neuen Krieger verlassen zu können.

Mit einer förmlichen Umarmung entließ er mich in die Sonne.

Mittlerweile war sie sehr heiß geworden.

Überall waren große, weiße Leinwände als Schattenspender aufgespannt. Sie waren aus dünnem Tuch, dämpften nur schwach das Licht, hielten die Wärme aber draußen. Zusätzlich wehte eine sanfte Brise die aufgestaute Hitze fort.

Ich steckte die Haarnadeln in meinem Dutt neu, zog wieder die verwegene Haarsträhne hervor und tastete mit meinen Fingern an meiner Wange entlang abwärts, ob alle Goldblättchen noch festsaßen. Gerne würde ich mich jetzt im Wasser sehen. Wollte kontrollieren, ob ich wirklich so hübsch war, dass ein fremder Engel Gefallen an mir finden könnte.

Kurzentschlossen schlenderte ich über die tuchbespannte Festwiese. Wie bei allen öffentlichen Plätzen gingen die kleinen Gassen der Stadt strahlenförmig weg. Die Architekten mussten Kinder gewesen sein, die einen Kreis in den Sand zeichneten, ihn mit einem Kranz aus geraden Linien versahen und behaupteten, es sei das Abbild der Sonne.

Ich wiederhole mich gerne, Individualität war in unserer Gesellschaft nicht gerne gesehen. So waren unsere Städte ein Mosaik aus vielen kleinen Kindersonnen, in denen man sich wunderbar verlaufen konnte.

Den Weg zum Waschbrunnen jedoch kannte ich als Frau auswendig.

Das Kopfsteinpflaster drückte sich durch meine dünnen Ledersandalen. Meine Fußsohlen genossen es. Förderten die Durchblutung, weckten meinen von der Hitze ermüdeten Körper wieder auf. Dazu der kühle Schatten in den Gassen. Sofort kondensierte der dünne Schweißfilm auf meiner Haut. Unzählige kleine Tröpfchen waren Labsal für meine Hautporen.

Unsere Gassen waren immer zwei Meter breit, die Häuser immer dreistöckig, mit einem Flachdach, auf dem in kleinen, tuchbeschatteten Beeten Obst, Gemüse und Kräuter gezüchtet wurden. Getreide und Wein wurde außerhalb der Stadt angebaut. Dort waren auch die großen Kuh- und Ziegenweiden.

Der Waschbrunnen war das Erdgeschoss dreier aneinander liegender Häuser. Es war ein breites, langes Becken, u-förmig umschlossen von einer Steinbank. Auf ihr wurden die Waschkörbe gestellt, ausgewrungene Wäscherollen abgelegt oder sich zu einer Verschnaufpause hingesetzt. An der bergwärts liegenden Stirnseite floss durch eine armdicke Rinne neues Wasser zu, am gegenüberliegenden Ende gab es knapp überm Boden drei kleine Abflusslöcher sowie oberhalb der Wasserfläche einen Überlauf. Diese Konstruktion ermöglichte ein kontrolliertes Abfließen des Brauchwassers.

Doch ich war nicht hierhergekommen, um über unser Wasserleitungssystem zu referieren. Ich wollte mein Bild im Wasser sehen. Am Rand zur Gasse drang noch so viel Licht auf das Wasser, dass Frauen wie Männer gerne auf kleinen Holzstühlen saßen, um ihr Haar zu richten oder ihr Ebenbild zu bewundern. Und mir wurden auf einmal die Knie weich. Nicht, weil das Schleppen des Stuhls meine Kraftreserven verbraucht hätten. Nein. Ich musste schon wieder an Raphael denken.

Würde er mich wirklich leiden?

Ängstlich schaute ich ins Wasser. Eine wunderhübsche Frau blickte mir entgegen. Jeder halbwegs moderne Mann musste mich einfach gernhaben.

Ich richtete erneut mein Haar, kontrollierte meine Schmuckplättchen, zupfte ein paar lange Augenbrauen aus, stärkte mit einer winzigen Bürste meine Wimpern.

Zufrieden bummelte ich zurück zum Fest.

Dort angekommen, verspürte ich großen Durst.

Ich füllte mir ein Glas mit Fruchtbowle.

Gedankenverloren fischte ich mit einem kleinen Holzspieß die Früchte. Vor meinen Augen sah ich nur einen: Raphael. Es hatte mich auf dem ersten Blick erwischt. Ich zitterte sogar in diesem Moment, wo ich an ihn dachte. Nervös wie ein kleines Schulmädchen legte ich mir Worte zurecht, wie ich ihn in ein Gespräch verwickeln könnte. Sollte ich ihn auf sein tolles Schwert ansprechen? So ein Blödsinn. Auf seine breiten Schultern, die ein kleines Mädchen beschützen könnten? Vollkommener Quatsch. Ihn nach dem Befinden seiner Mutter fragen? Wie unglaubwürdig.

Wieder einmal war ich so mit mir selber beschäftigt gewesen, dass ich die Schritte nicht gehört hatte und vor Schreck das Glas fallen ließ, als seine Stimme hinter mir ertönte: „Du bist wunderhübsch, Mädchen. Magst du mir nicht deinen Namen verraten?“

L-Lu-Lucille“, brachte ich mit Mühe und Not heraus.

Ich wollte dich nicht erschrecken, liebste Lucille. Darf ich dich auf ein neues Glas Bowle einladen?“

Nein . . . ja . . . weiß nicht“, stammelte ich weiter.

Fürwahr, von meiner Seite aus begann unsere Liebschaft sehr holprig.

 

 

Satanels Revolte wird entlarvt

 

Eine Woche war vergangen seit Satanels Fest. Sieben Tage, in denen ich von morgens bis abends nur an den hochattraktiven Erzengel Raphael hatte denken können. Aber so sehr ich mich auch bemüht hatte, ihn aufzufinden, stets war ich erfolglos geblieben.

Selbst der Engel Micha konnte bei seinem Gefährten Gabriel nur sehr wenig über diesen geheimnisvollen schönen Mann in Erfahrung bringen. Was jedoch eher daran lag, dass Gabriel nichts preisgeben wollte. Anscheinend führten er und Raphael irgendetwas im Schilde, meinte Micha. Von weit her sollte dieser neue, kriegerische Erzengel hergerufen worden sein, munkelte man bei uns. Gott wollte ihn unbedingt neben Satanel und Gabriel an seiner Seite wissen. Aber warum? Und warum versteckte er sich? Vor allem vor mir!

Micha meinte, er sei überaus schüchtern und zurückhaltend.

Na, das konnte ja was werden. Da hatten sich die zwei Richtigen gefunden. Als Kind hatte ich immer wahnsinnig Angst, zu fremden Leuten zu gehen. Und war es nur, um ein Hochzeitsgeschenk abzugeben.

Ein Anflug von Panik überkam mich bei diesen Erinnerungen: Sollte ich „meinen“ Raphael nie wieder sehen? Denn heute, als junge Frau, war ich kaum reifer als das Kind von damals.

Mir war zum Weinen zumute.

Nackt saß ich etwas später alleine auf einem kleinen Felsen am Born, die Füße im warmen Wasser plantschend und mit meinen Fingern durch mein langes, nasses, glattes Haar fahrend.

Sehnsuchtsvoll glitt mein Blick nach oben. Durch das kleine Blätterdach der Birken. Hellblau strahlte darüber der Himmel. Grell erleuchtet von der Sonne. „Bitte lass ihn mich wiedersehen“, betete ich laut in den Äther.

Licht war der Schatten, in dem ich saß.

Der kleine Teich der Quelle glitzerte und funkelte, als wollte er mir ein Hochzeitskleid überwerfen wollen.

Aber im Spiegelbild sah

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Mats Hoeppner
Bildmaterialien: Iordani, 60123514, https://de.fotolia.com
Cover: Mats Hoeppner
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4393-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /