Cover

Das Glöckchen des Grauens

 

Mirka wäscht die weißen Lederstiefel ihres Herrn mit einem feuchten Tuch. Der Latexmantel hängt schon gereinigt am großen Eisenhaken in der Wand der Waschküche. Das zweite Mal innerhalb von drei Tagen ist ihr Herr maßlos erbost und verhältnismäßig groß verschmutzt von seiner Produktionsstätte heimgekommen. Das sechzehnjährige Dienstmädchen weiß, es hat mit dem Lieferanten von Buchenholz zu tun. Der Lieferant hat seine Preise verdoppelt, weil Buchenholz immer schwieriger zu beziehen ist. Es wird förmlich gejagt von den Köhlern, da die aus ihm gewonnene Holzkohle einen Glühwert von 1500 Grad Celsius erreicht. Es kommt damit fast an die Steinkohle heran und wird von den Schmelzhütten bevorzugt geordert.

Will ihr Herr die Verluste in Zaum halten, muss er irgendwann dem Lieferanten nachgeben. Noch hofft er auf Umsatzsteigerung mit minderwertiger Kohle. Währenddessen orientieren sich die Hütten und Eisenwerke schon um. Die Aufträge gehen zurück, Schmiede und Bäcker, die die kleinere Ziehkohle abnehmen, wachsen nicht wie Pilze aus dem Boden.
Das Meer an Unzufriedenheit, das dadurch in ihrem Herrn brodelt, bricht wie eine Sturmflut über die Arbeiter herein.

Den Stiefel auf einen Arm aufgezogen poliert Mirka das Leder. Da hört sie das Teeglöckchen klingeln. Der Klang lässt sie zusammenfahren, als hätte ein böser Ritter ihr eine Lanze in den Bauch gestoßen. Ihre Muskeln verkrampfen sich, der Mund wird trocken, ihr ganzer Körper erfüllt sich mit Schmerz.
Sie bewegt sich nicht von der Stelle. Kann nicht, obwohl sie muss. Wieder ruft das Glöckchen des Herren nach ihr. Wieder und wieder.

Das Dienstmädchen macht einen Schritt, bleibt stehen. Seine Hände kneten in seiner Kittelschürze. Tränen rollen ihm aus den Augen. Mirka hat keine Chance. Das Glöckchen wird nicht verstummen, bevor sie nicht bei ihrem Herren ist. Sie öffnet die Tür der Waschküche. Ihr Atem stockt. Sie steht vor der Tür. Will nicht. Möchte fliehen. Steht. Und steht. Das Herz klopft. Pocht gegen ihre Brust. Erzeugt fast kein Geräusch.
Draußen im Hof die zwei Doggen, eine Schulterhöhe von ein Meter und zehn, von der Schnauze bis zur Schwanzspitze zweihundert Zentimeter – das Dienstmädchen weiß, eine Flucht nicht überleben zu können.

Und selbst wenn, was würde Mirka im Dorf ihrer Eltern erwarten. Sie hätte Schande über ihre Eltern gebracht. Das Gesicht hätten sie verloren, weil sie als Dienstmagd ihrem Herren weggelaufen ist. Ein Makel, der die Tochter unbrauchbar machen würde. Niemand würde sich mehr finden, die Abtrünnige in seine Dienste zu nehmen. Bloß ist das nicht ihr größtes Vergehen.
Mirka würde ihre Eltern auf ewig kompromittieren. Sie hat sich entehren lassen, der Verlust des Ansehens würde auf Vater und Mutter überwechseln, beträte sie mit dem Kind in ihrem Bauch ihr Elternhaus. Ein Skandal, den der Vater nicht zu dulden habe. Wie eine flohbesetzte Katze würde er sie, Mirka, ersäufen. Im Fluss hinter dem Haus. Zur besten Tageszeit.

„Nun komm endlich“, hört sie den Weißen Köhler rufen.
Sie geht bis zur Treppe. Bleibt stehen. Ihre Hand, auf dem Knauf des Geländers, sie zittert extrem.
„Beweg deinen Hintern die Stufen hinauf!“ Der Ton des Herren wird ungehaltener. Das Dienstmädchen muss. Will nicht. Zwei Schritte. Stehenbleiben. Atem schöpfen. Zwei Schritte . . .
Tränen. Verzweiflung. Unglück. Die Versuchung, Gott zu lästern.

„Komm rein, ich weiß, du stehst vor der Tür.“
Tür auf. Eintreten. Knicks. Tür zu. Absperren. Stehen bleiben. Hände an Kittelschürze. Kneten. Bluten. Innerlich.
Der Mann im Sessel winkt sie heran.
Zögernde Schritte. So unsagbar schwer. Magnete, die ihre Füße am Boden halten. Mitten im Zimmer. Unter dem funkelnden Kronleuchter. Sein Licht so kalt.
Der Mann erhebt sich.
Ihre Hände lösen den Knoten auf ihrem Rücken. Mechanisch. Das Herz pocht. Die Seele blutet. Blutet. Blutet.

Mirka streift das Halsband der Schürze über ihren Kopf. Wirft das Kleidungsstück weit weg. Ihr Herr mag es nicht an ihr, wenn er auf sie zukommt, wie er jetzt auf sie zukommt.
Fliehen. Hunde. Fluss. Es ist zum Verzweifeln.

„Komm näher! Komm näher! Mein Schatz.“
Mirka hört Schritte. Ihre Schritte. Will es nicht glauben. Es ist nicht sie, die gerade spürt, wie sich eine Hand auf ihren Bauch legt.
Bauch. Oberschenkel. Unterm Kleid.
Schweißperlen auf der Stirn des Mannes. Röchelnder Atem. Gestank nach Nikotin und Teer. Ekel. Verderben. Eine Zunge, die in ihrem Mund kreist. Kreist und kreist. Zunge. Hand. Zunge. Hand. Dann ist er in ihr. Schande über sie. Entehrt. Wertlos. Zur Sünde gezwungen.
Kein Licht. Schwärze. Nichts.
Nichts außer Tränen.

 

 

Die Flut



Das Grauen erwacht



Blaulicht und Martinshörner allüberall. Die blinkenden Lichter reflektieren auf der klatschnassen Straße, zusammen mit den Reflektionen der Scheinwerfer der entgegenkommenden Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr, THW, DRK und der Polizei blenden sie Pascal Brockhaus extrem. Die Augen zusammengekniffen, stiert er auf die Fahrbahn. Obwohl die Scheibenwischer auf der zweiten Stufe über die Frontscheibe huschen, bringen sie das vom Himmel fallende Wasser nicht weg. Ein Grund, langsam zu fahren. Außerdem ist es für diesen Sommertag sehr früh dunkel geworden. Es ist gerade einmal neun Uhr am Abend und schon ist das Umland nicht mehr zu sehen. Bloß die Straße, die Lichter und der Regen.

Regen. Regen. Regen. Den ganzen Tag schon, das Ahrtal wird nicht mehr hell.

Alle paar Minuten hält sich der einsame Autofahrer das Smartphone vor die Nase. Gleich muss er Jasmin erreicht haben. Zumindest den Platz, wo ihr Handy liegt. Möge Gott ihm beistehen, dass dem Mädchen nichts passiert ist.

Aufmerksam mustert Pascal Brockhaus den Straßenrand. Den Wagen einfach hier abzustellen, wäre fahrlässig. Zu schlecht ist die Sicht, zu viele große Einsatzfahrzeuge donnern über die Straße, im letzten Moment sieht er rechts einen Waldweg abgehen. Weil er unter fünfzig Stundenkilometer gefahren ist, schafft er es noch rechtzeitig, das Lenkrad herumzureißen.

Der Waldweg ist ein sehr flacher Bach geworden. Er trägt das Wasser aus dem Wald zur Ahr, beschwert aber nicht das Autofahren. Im Scheinwerferlicht sieht der Fahrer wenige Meter vor sich den Weg gabeln. Dort wendet er das Auto, dann tuckert er bis fast an die Straße heran. So kann er nachher gleich losfahren, wenn hoffentlich Jasmin neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat.

Die Regenjacke hat er beim Fahren angelassen, noch im Auto zieht er die Kapuze auf und schließt den Reißverschluss bis zum Kinn. Als er den ersten Fuß nach draußen setzt, schwappt sofort Wasser in seinen Halbschuh – doch Gummistiefel hat er für seinen Wandertrip wirklich nicht mitgenommen. Mit beiden Füßen in dem „Ersatzbach“ stehend und das Wasser in seinen Schuhen fühlend, drückt er den Knopf für die automatische Türverriegelung. Den Blick nach vorne gerichtet, über die Straße und in das Schwarz hinein, das eine Wiese sein müsste, die bis zur Ahr reicht, stellen sich plötzlich seine Nackenhaare auf. Und das nicht, weil er Angst hat vor dem, was vor ihm liegt. Eine Wiese im Kampf mit der Flut, ein Mädchen in hoffnungsloser Not. Nein, das Grauen liegt hinter ihm. Es hat den Mann mit seiner eisigen Klaue im Nacken gepackt. Langsam, als würde Pascal Brockhaus gleich den Leibhaftigen sehen, dreht er sich um. Verflucht, warum muss es jetzt schon so finster sein wie in tiefster Nacht. Nichts, aber wirklich nichts vermögen seine Augen im Schatten der Bäume erkennen. Trotzdem wird er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Von jemanden, von dem größte Gefahr ausgeht. Von einer verlorenen Seele, die auf Raubzug ist. Und das in diesem von der Flut so bedrohten Tal. Ödnis und Zerstörung liegen vor ihm, was werden die Augen morgen für ein Horrorszenario sehen? Er mag es sich nicht vorstellen.

Sein Körper beginnt vor Furcht zu zittern, nichtsdestotrotz geht der Fahrer, der schon den Rettungsring aus dem Kofferraum genommen hat, ein paar Schritte zum Wald. Zu der dunkelsten Stelle, aus der er das Unheil spürt. Mit der Taschenlampe leuchtet er in das Schwarz hinein. Schatten bewegen sich. Oder etwas, das in dem Schatten haust. Aber es ist partout nichts zu erkennen. Die jungen Fichten stehen mit ihren nassen, glänzenden Kleidern im Regen. Gerade will der blonde Mann das Licht löschen, da sieht er das lange Waldgras sich hin und her wiegen. Entgegen den Gesetzen der Natur. So pitschnass, wie es ist, müsste es platt am Boden liegen. Außerdem fehlt jeglicher Wind. Und sei das nicht genug, wallt jetzt eine Woge durch die Fichten. Obwohl keine Böe zu spüren ist.

Dem Mann mit dem unter den Arm eingeklemmten Schwimmring stockt der Atem. Das ganze Waldstück vor ihm ist in Bewegung; ist ein undefinierbares Geschwanke und Gewoge, nein . . . es lebt. Es ist beseelt von einer uralten Macht, die tief aus dem Schlund der Erde gekommen ist.

Panik platzt in Pascal Brockhaus Geist, als wäre dort eine Splitterbombe explodiert. Auf dem Absatz macht er kehrt. Wie ein Verrückter hastet er über die Bundesstraße, durcheilt das Gehölz am Wegesrand, erreicht die moorastige Wiese. Bei jedem Schritt quatscht es unter seinen Füßen. Der Boden ist gesättigt, kann kein Wasser mehr aufnehmen. Den Screen des Smartphones vor die Nase gehalten, orientiert er sich. Vielleicht noch hundert Meter. Aus der Art, wie der Mann rennt, kann man nicht erkennen, ob er vor dem Teufel türmt oder um das Leben einer fremden Person kämpft.

Endlich sieht er das Zelt. Aber das darf nicht wahr sein. Es steht genau an der Abbruchkannte zur Ahr. Wie konnte Jasmin so unaufmerksam sein!

Das Zelt bewegt sich, scheint zu atmen. Es beult sich an den Seiten aus, wenn es einatmet, fällt in sich zusammen, wenn es die Luft hinausbläst und der regennassen Stoff nach innen drückt. Fünfzig Meter noch, laut brüllt der Mann Jasmins Namen. Aber in dem Tosen des Wassers geht jegliches Geräusch unter. Dreißig Meter, Pascal erkennt, das Zelt atmet, weil sich darin eine Person bewegt. Zwanzig Meter, alles in dem Zelt schiebt sich nach vorne. Zehn Meter, die Erde bebt. Neun, Acht, Sieben, Sechs, Fünf – das Zelt stürzt kopfüber in die Fluten, für eine Sekunde ist dem Mann, als hätte er einen spitzen Schrei gehört. Wie von Sinnen rennt er am Ufer hinterher. Aber die Strömung ist schneller. Sie teilt das Zelt. Eine große Fläche Stoff tobt in den Wellen, ein kleiner Punkt treibt ihr voran, es scheint, als wolle dieser sich zum Ufer vorkämpfen. Manchmal reckt ein Arm in die Höhe, als wolle er in der Luft Halt suchen. Ach du lieber Gott, Jasmin muss elendig ertrinken.

Pascal verdoppelt seine Anstrengung, aber in dem sumpfigen Untergrund bleibt er langsamer als die Ahr. Jasmins Kopf gewinnt einen immer größeren Abstand zu ihm. Sie ist verloren. So jung und schon vorbei. Das Leben kann grausam sein.

Gerade will der Mittvierziger verzagen, da kippt viele Meter vor ihm eine große Erle in den Fluss. Seine Krone reicht weit in das tobende Wasser hinaus, der Wurzelballen ist noch etwas mit der Erde verfangen. Wie lange? Wie lange?

Vielleicht nur Sekunden, dann wird das Wasser die Erle losreißen und mit sich ziehen. Jeder Augenblick ist jetzt die allerletzte Chance. Pascal legt einen Spurt ein, hält den Schwimmring ganz fest. Jetzt darf nichts dazwischenkommen.

Jasmins Kopf schnellt auf die im Wasser liegende Baumkrone zu, ein Arm ragt nach außen, sie rauscht hinein und kann sich festhalten. Ein paar Wimpernschläge später ist Pascal am Baumstamm angelangt. Ihre Blicke kreuzen sich, der Schwimmring segelt durch die Luft und klatscht genau vor der Kajakfahrerin auf. Mit der freien Hand angelt sie sich den weiß-roten Reif. Als sie ihn sicher hat, lässt sie das Gezweig los und krallt sich mit beiden Armen am Rettungsring fest. Pascal bietet übermenschliche Kräfte auf, ihm ist, als würde eine fremde Macht ihm helfen. Wie geht das zu? Egal, am Ende zerrt er sein Mädchen aus den mörderischen Fluten.

Beide torkeln aufeinander zu, fallen sich in die Arme. Die junge Frau an seinem Körper spürend wird dem älteren Mann der unsagbare Schmerz bewusst, den er erlitten hätte, wäre Jasmin in den Fluten umgekommen.

Jasmin kann nicht glauben, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Das Wasser trieft in ihrer Kleidung, ihr sonst so lockiges Haar klebt platt am Kopf, nie zuvor hat sie einen Menschen mit einer größeren Dankbarkeit umarmt. Ihr Herz rast aufgrund der Panik noch bedrohlich schnell, ganz langsam nur kommt sie zu Atem, da ist ihr, als würde sie in der Schwärze der Nacht einen Schatten sehen. Mehr eine Ahnung als eine Realität. Und dennoch, dieses Etwas beobachtet sie.

Jasmin wird mulmig. Sie bekommt ein schlechtes Gewissen. Ihr ist, als sei sie in ein verbotenes Reich eingedrungen – aus reiner Selbstsucht. Sie hätte die Hochwasserwarnung ernst nehmen sollen, dann wäre sie jetzt nicht hier. In einem Landstrich des Horrors, wo irgendetwas erwacht ist. Ein böser Zauber, der Ansprüche an diesen gruseligen Ort stellt. Ein Platz, der den Dämonen gehört, wo Menschen nie hätten einen Fuß draufsetzen dürfen.

„Lass uns gehen, Jasmin, ehe die Ahr sich den Flecken holt, auf dem wir stehen.“

Die Worte sind keuchend gesprochen, auch Pascal hat noch Schnappatmung. Trotzdem tut es der jungen Frau gut, wie er ihr eine klamme Strähne aus dem Gesicht streicht, sie zum Losgehen ermuntert und sie aus den trübsinnigen Gedanken reißt.

Hinter ihnen gurgelt und dröhnt die Flut, mit einem Knirschen und Ächzen wird die Erle endgültig aus dem Erdreich gerissen. Die beiden drehen sich um und schauen dem im Strom dahineilenden Baum hinterher. Mittlerweile ist es so dunkel, dass es nur noch den fahlen Schimmer des Wassers gibt und das Schwarz der Nacht.

Nass wie die Fische erreichen sie das Auto. Mit einem Seufzer der Erleichterung lassen sich beide auf die Sitze plumpsen, die Türen schlagen laut zu, der Zündschlüssel dreht sich um und der Motor gibt keinen Mucks von sich.

„Das gibt es doch gar nicht, die Batterie habe ich erst vor dem Urlaub aufgeladen.“ Verzweifelt dreht Pascal den Schlüssel hin und her, intuitiv pumpt sein Fuß auf dem Gaspedal, aber es tut sich nichts.

„Null Chance, wir müssen zu Fuß weiter, Pascal“, gibt sich die junge Frau gefasst, bringt die Hand zum Türgriff, zieht ihn zu sich heran, schaut aus dem Seitenfenster und schreit urplötzlich in einer Intensität auf, als würde ein Starfighter die Schallmauer durchbrechen.

„Da waren zwei Augen im Schatten, ehrlich“, erklärt Jasmin fassungslos und starrt ihren Retter ungläubig an.

Dieser steigt aus und leuchtet mit der Taschenlampe seines Smartphones zu der von seiner Begleitung gewiesenen Stelle. „Hier ist niemand, Jasmin“, ruft er erleichtert der im Auto sitzen Gebliebenen zu.

Wenn du wüsstest, grummelt das Wesen im Schatten in sich hinein.

Weil jeder Ort auf dem Erdball besser wäre als dieser verwunschene Flecken, steigt die Wasserwanderin aus. Dass der umso viele Jahre ältere Mann ungefragt ihre Hand nimmt, stört sie nicht. Ganz im Gegenteil, dadurch fühlt sie sich mit dem attraktiven Kerl verbunden. Mehr als nur in der Not. Als hätte sich ein Netz um ihr Herz gelegt. Eines, das durch die Nacht geworfen worden ist, wie vor kurzem der Schwimmreif, der jetzt wieder im Kofferraum liegt.

Immer wieder müssen sie sich am Straßenrand ganz schmal machen, um die Einsatzfahrzeuge vorbeidonnern zu lassen. Das nächste Dorf erkennen sie erst, als sie mit der Nase fast gegen ein Haus laufen. Die Flut hat Stromleitungen mitgerissen, der Ort Ahrbrücke liegt im Dunkeln. Keine Straßenlaternen leuchten, in den Häusern fehlt der Strom, nur vereinzelt flackert hinter einem Fenster Kerzenschein. Folglich sind fast alle Zimmer der Häuser unbeleuchtet. Dafür huschen Schatten durch die paar Straßen des östlich von der Ahr gelegenen Ortsteiles. Menschen, die Sandsäcke schleppen, helfen wollen.

Den ersten Schrecken über die Geister verwunden, spricht Pascal einen der grauen Spukgestalten an. „Etwas bergan hätte die alte Luise bestimmt Gästezimmer frei“, schnarrt der bis zur Unkenntlichkeit in einem Regenmantel verhüllte Geselle und zeigt mit seinem knochigen Arm bergan. „Das letzte Haus links, am Ende des Katzbergs“, brummt er noch, dann macht er sich vom Acker.

Jasmin und Pascal ist es nur recht, bergan gehen zu müssen. Je höher das Haus liegt, umso sicherer wird es in dieser höllischen Nacht sein. Nach längerem Bollern gegen die Haustür öffnet sich dieselbe. Luise Buszekowsky ist steinalt und hält eine Petroleumlaterne in der Hand. Die müden Augen blinzeln, als sie die späten Gäste in dieser unsäglichen Nacht anschaut. Augenblicklich erkennt sie die Not, bittet die klitschnassen Menschen herein, schließt die Tür, befiehlt mit krächzender Stimme, die Diele nicht zu verlassen und schlurft weg. Wenig später kommt sie mit legerer Hauskleidung und Handtüchern übern Arm zurück. „Dieses ist für den Vater, jenes für die Tochter. Eure nasse Wäsche lässt auf den Fliesen liegen, ich hänge sie auf, nachdem ich euch die Zimmer gezeigt habe“, entscheidet das Mütterchen resolut, bevor es in gebückter Haltung den Flur wieder nach hinten geht und um eine Ecke verschwindet.

Jasmin und Pascal lächeln sich verschwörerisch an. Vater und Tochter, wenn die wüsste, sollen ihre glücklichen Augen sagen. Glücklich, weil sie dem Unwetter und dem Unheil einigermaßen glimpflich entkommen sind. Die Rücken zueinander gekehrt entkleiden sie sich im Licht der auf der Kommode abgestellten Petroleumlampe, rubbeln sich mit den Handtüchern trocken und steigen in die Leggings und Pullover aus Frottee. Nicht gerade der Hit, aber besser als nichts.

Gerade amüsieren sie sich über die sonderbare Freizeitkleidung, da biegt die Alte um die Ecke. Mit ihren dürren Fingern winkt sie die notleidenden Fremden zu sich heran. Wie diese um die Ecke biegen, sehen sie neben sich die steile Treppe. Luise Buszekowsky steigt mit ihrer nach Petroleum riechenden Laterne die Stufen hinan, artig folgen erst Jasmin, dann Pascal.

Oben erstreckt sich ein langer Flur. In das erste Zimmer rechts will die Hausdame die Tochter einquartieren. Es ist ein gemütliches Zimmer, sofern das im Flackerlicht zu erkennen ist, hat aber einen Nachteil: In ihm steht nur ein Bett. Unter normalen Umständen wäre das für Jasmin Schlüter gerade richtig gewesen. Vor allem, wenn sie in Begleitung eines reifen Herren ist, den sie kaum kennt. Nur leider sind die Umstände heute nicht normal. Und damit meint die junge Frau nicht die Flutkatastrophe, sondern das Grauen im Schatten. Nie und nimmer will sie diese Nacht alleine in einem Zimmer verbringen. Aus Furcht, die Dämonen könnten sie holen.

Pascal Brockhaus nimmt das Zögern seiner Begleitung wahr, wie er sich diese an den Schultern gefasst zu sich herdreht und das Flackern in den grauen Augen der großen Frau wahrnimmt, versteht er.

„Meine Tochter und ich sind in den Fluten gekentert und fast ertrunken. Die Todesangst steckt uns noch in den Knochen, haben sie vielleicht ein Zimmer mit zwei getrennt stehenden Betten, Frau Buszekowsky?“ Mit Augen, die selbst einen Stein hätten erweichen können, blickt der attraktive Mann die Frau mit den unzähligen Falten im Gesicht an. Diese setzt ein gespieltes Lächeln auf, schließlich muss sie die Wünsche ihrer Kunden bedienen – trotzdem ist ihr nicht wohl, dass der Vater mit der Tochter . . .

Letztendlich führt sie aber die beiden in ein größeres Zimmer, wo sie mit gebieterischer Miene im Türrahmen stehen bleibt und mit Argusaugen verfolgt, wie Vater und Tochter die beiden zusammenstehenden Betten auseinanderrücken, bis sie an gegenüberliegenden Wänden stehen.

„Gerne hätte ich ihnen einen Tee gemacht, aber meinen Gasherd tauschte ich schon vor zwanzig Jahren gegen ein Elektrogerät aus. Mineralwasser und Bier jedoch könnte ich anbieten, was darf es sein“, gluckst die Alte, als sie in das Zimmer schlürft, die Nachtischkommode aufzieht und ein Teelicht sowie eine Streichholzschachtel hervorzieht. „Für den Notfall“, erklärt sie mit leichtem Stolz, „obwohl ich nie geglaubt hätte, dass der einmal eintreffen könnte.“

Als die kleine Kerze brennt, huscht die alte Dame mit ihrer Petroleumlampe aus dem Zimmer. Jasmin lässt sich in ihr Bett plumpsen, Pascal nimmt in seinem Platz. Beide sitzen sie quer auf der Matratze, haben die Rücken an der Wand angelehnt und wackeln mit ihren unbekleideten, über die Bettkannte hinausragenden Zehen.

„Vielen Dank, dass du dich Sorgen um mich nicht hören wollende Göre gemacht hast, Pascal“, hebt Jasmin leise an und stiert unablässig auf ihre Zehen. „Ohne dich wäre ich jämmerlich ertrunken. Ich wachte einfach zu spät auf. Spürte zwar das Beben, wenn ein Erdbrocken sich löste und in den Fluss stürzte, deutete das aber in meinem Traum anders. Im letzten Sommer machte ich in Italien eine Vulkan-Tour. Erst besuchte ich die Inseln Stromboli und Vulcano, dann den Vesuv und Pompeji, am Ende den Ätna. Im Traum schlief ich im Hochplateau des riesigen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Mats Hoeppner
Bildmaterialien: © 168393312, https://de.despositphotos.com
Cover: Mats Hoeppner
Tag der Veröffentlichung: 07.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3488-7

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /