Sie haben ihren eigenen Tod heraufbeschworen. Unbeabsichtigt. Aber mit uns spielt man nicht. Lucille wusste, dieser kleine Mann würde gleich sterben. Und es war ihre Schuld.
Sie ging etwas in die Hocke, setzte ihre Hände wie Astgabeln unter beide Schultern des Mannes und schob ihn hoch. Der Körper des an den Pfahl Gefesselten verhielt sich physikalisch, als würde er gezogen. Deshalb gab er der Kraft der mysteriösen Frau nach, bis sie ihn auf ihre Augenhöhe gebracht hatte. Sowie ihr Schieben nachgelassen hatte, wollte der Körper des Mannes wieder nach unten rutschen. Doch die um den Holzstamm gelegten Stahlfesseln verkanteten sich bei Druck. Ähnlich wie bei Bergsteigern der Prusik-Knoten, den sie anwenden, wenn sie in eine Gletscherspalte gestürzt sind. Ein kleines Seil mit Schlaufe wird jeweils an dem beiden herabgelassenen Fixseilen in der Art angebunden, dass der Knoten bei Druck zuzieht, bei Entlastung sich aber bewegen lässt. Steht der Verunglückte zum Beispiel mit dem Fuß in der Schlaufe des linken Rettungsseiles, zieht der Knoten dicht, die Schlaufe rutscht nicht nach unten. Das Gewicht jetzt auf diesen Fuß gebracht, lässt der Druck in der Schlaufe des rechten Fixseiles nach, der Verunglückte kann diese Schlinge ein Stück nach oben schieben. Nun bringt er sein Gewicht auf den rechten Fuß, somit entspannt die linke Schlaufe, die er nun seinerseits nach oben schiebt. Peu à peu steigt der Verunglückte auf diese Weise nach oben, der Rettung entgegen.
Für das Opfer, das Lucille gerade hochgeschoben hatte, gab es indessen keine Bergung. Es wurde hinabgestürzt in die Hölle, auf ihm warteten nun Folter, Qual und Tod. Dieser Mann, der die schöne Frau auf eigentümlicher Art bewegte, hatte sein Leben verwirkt. Definitiv.
Zärtlich und tief in Gedanken versunken strich Lucilles Zeigefinger über die aufgeplatzten Lippen des Verlorenen. Sie waren so breit, so schwulstig; luden zum Küssen ein und erinnerten sie an etwas, was sie jetzt nicht bestimmen konnte. Oder nicht wollte. Gefühle der Zärtlichkeit hatten keinen Platz in der Stunde des Hinüberführens. Das Schicksal dieses jungen Mannes war bestimmt. Satanel war in Quedlinburg auf Menschenjagd gegangen. Brauchte dringend frische Seelen in seinen ewigen Feuern; Spielbälle für seine tobende Anhängerschaft.
Und sie, Lucille, hatte diesen Nachschub organisiert. Über zweitausend Jahre schon war sie die rechte Hand Satanels. Niemals hatte sie seit dem Sturz aus dem Himmel ihren Anführer in Frage gestellt. Und leider auch nicht davor. So wie viele andere Cherubim mit ihr.
Aber genau zu dieser Stunde, wo sie den todgeweihten, jungen Mann am Pfahl nach oben schob, setzte ein Wandel ein. Bisher nur in ihrem Unterbewusstsein gefangen. Doch es sollte sie in den nächsten Wochen in ihren größten inneren Konflikt seit Menschengedenken führen.
Vorerst fing alles ganz klein an, sie schenkte dem ersten Zittern in ihrem Gemüt keine Achtung. Alles war wie immer – sollte wie immer sein.; musst wie immer sein.
Zwei Pärchen brachten sie und ihr Herr der Unterwelt zu Mitternacht in ihre Gewalt, nachdem Lucille die Aktivitäten der Opfer in deren sozialen Netzwerken tagelang mit verfolgt hatte. Sofort schleppten sie diese überraschten und vor Schreck wehrunfähigen Menschen in einen ihrer vielen unterirdischen Folterkeller. Für Satanel eine Spielwiese, wo er seine bestialischen Triebe ausleben durfte; für Lucille ein sehr spezieller Garten der Lust. Stets empfand sie eine immens große Erregung, Satanel bei seiner Arbeit zuzusehen, oder selber ein Folterinstrument in die Hand zu nehmen, um sich an der Angst und Hoffnungslosigkeit der Gefangenen zu weiden. Aufkommende Gewissensbisse wusste sie immer perfekt zu verdrängen.
Bis jetzt.
Bis zu diesem Augenblick, wo der an den Holzpfahl gefesselte, kleine, junge Mann mit den wulstigen Lippen zuzusehen hatte, wie Satanel seine Freunde der Reihe nach abschlachtete. Satanel. Der schwarzgekleidete Mann mit seinen langen, schwarzen Haaren und dem altmodischen Zylinder auf dem Kopf.
Laut dröhnte aus versteckten Boxen das Lied „Gothic“ von Paradise Lost. Für Satanel ein Ritual. Der Startschuss für eine teuflische Stunde. Ein Mechanismus brachte das große, hölzerne Wagenrad zum Drehen, worauf er den langen, nackten Mann geflochten hatte. Vor Schmerzen schreiend aufgrund der vielen gebrochenen Gliedmaßen, peitschte er ihn vor den Augen der Mitgefangenen; wie ein Rasender fein dosiert immer mehr Kraft in seine Schläge legend, bis mit dem letzten Akkord des Liedes der Todesschrei des Gemarterten den Keller erschütterte.
Seine Freundin hatte auf einem spanischen Pferd sitzend zusehen müssen. Der Kamm war spitz, aber nicht schneidend. Sterben sollte sie hier nicht. Aber die ganze Zeit mit der Angst kämpfen. Bis fast zur Erschöpfung klammerte sie sich mit ihren Beinen an den Rumpf es Pferdes, um nicht zu tief zu rutschen.
Lucille tat die große Frau mit dem rostroten Haar leid. Wieder ein neues Gefühl. Die Hoffnungslosigkeit in den Augen des Opfers, früher war es ein Moment des Entzückens gewesen. Das Jammern und Betteln um Freilassung, einst löste es in Lucille eine Wut auf die Verlorene aus. Die Todgeweihte verdiente zu sterben, denn sie hatte von dem Nektar gekostet, der Lucille auf alle Ewigkeit verwehrt wurde: Liebe.
Neid und Hass waren somit die Antriebsfedern der Gefährtin Satanels. Mit der Entscheidung, ihm zu folgen, hatte Lucille vor mehr als zweitausend Jahren über ihr eigenes Liebesleben das Urteil gesprochen. Es lautete versagen, verdrängen, verlieren. Den bitteren Geschmack der Niederlage, sie überdeckte ihn fortan mit der Süße der Rache.
Früher hätte sie ihre Hände heiß geklatscht, wenn sie zugesehen hätte, wie Satanel die junge Frau vom Spanischen Pferd nahm, über einen Bock legte, die Neunschwänzige Katze brüllen ließ, die Geschändete anschließend vergewaltigte und als Belohnung – wie er sich sarkastisch ausdrückte – mit den Füßen an einen weit über das Wasserbecken hinausreichenden Stahlkran fesselte. Kopfüber wurde die rothaarige Frau ins Wasser gelassen. Weil ihr die Hände nicht gefesselt wurden, konnte sie mit etwas körperlichem Geschick mit ihren Händen das Seil über ihren Füßen greifen und sich an die Oberfläche ziehen.
Für den Unhold der Unterwelt war das kein Grund zur Besorgnis. Er zündete sich einen Zigarillo an, blies genüsslich Ringe in die Luft und wartete in aller Seelenruhe darauf, dass der Frau die Kraft in den Armmuskeln schwinden würde. Diesem letzten Kampf des Opfers zuzusehen, war für Satanel stets ein sehr bewegender Moment. Am meisten ergötzte er sich an dem Punkt, wenn die zum Tode Verurteilte die absolute Aussichtslosigkeit erkannte. Wenn sie die aus ihren Augen herausgeschossenen Dolche einfuhr und sich ihrem Schicksal ergab, was dem Schwarzhaarigen gleichbedeutend war mit einem Huldigen seiner Allmacht. Das baute ihn auf, daraus zog er für sich einen sehr großen Wert – andere mochten das anders sehen.
Als die Frau mit einem Seufzer der Verzweiflung und Selbstaufgabe ihre Hände von dem Seil an ihren Füßen löste und mit dem Kopf unter Wasser tauchte, huschte ein befriedigtes Lächeln über Satanels Gesicht, das seine Augen nicht erreichte. Diese blickten starr und kalt auf den über Kopf hängenden Frauenkörper, der in seinem Todeskampf noch ein paar Mal zuckte. Als die Frau keine Minute später schlaff wie ein Mehlsack am Kranhaken hing, schnippte er seinen Zigarillo zur Toten in das Becken. Danach wandte er sich mit einem schiefen Grinsen an seine Begleitung. „Nun bist du an der Reihe, liebste Cheruba. Spiel mit dem Burschen, bis er zerbricht.“
„Mir ist heute nicht danach“, konterte Lucille mit einem abwertenden Lachen, als sei der dritte der vier Gefangenen so hässlich, dass sie sich nicht an ihm vergehen wollte. Wieso sie intuitiv die Chance zurückwies, durch das Ermorden eines Wehrlosen ihr Selbstwertgefühl aufzubauen, konnte sie gar nicht sagen. Wieder spürte sie für die Zeit, die ein Auge benötigt, um zuzuschlagen, dieses befremdliche Gefühl, dass es nicht so ganz richtig wäre, was sie hier täte. Jetzt, wo die Widerworte ausgesprochen waren, bereute sie diese sofort. Denn Satanel war ein extrem scharfsichtiger Geselle, besonders wenn man seinen Wünschen – die stets nichts Anderes als Befehle waren – nicht nachkam, fühlte er sich gleich auf den Schlips getreten. Auf keinem Fall durfte diese Ausgeburt der Hölle in Lucilles Seele lesen und möglicherweise einen Wandlungsprozess bemerken, den die Betroffene beharrlich untern Teppich zu kehren hoffte. Noch.
Lucille konnte sich dieses Phänomen selber nicht erklären. Über zweitausend Jahre hatte sie nicht eine einzige Sekunde Reue gezeigt. Nun, wo sie kurz in sich hineinhorchte, meinte sie, eine Macht zu spüren, viel älter als die Satanels. Und diese fremde Macht wollte in ihre Seele eindringen. Davor musste sie sich unbedingt wappnen. Denn diese neue Kraft könnte Veränderung bedeuten, könnte direkt Einfluss auf ihre Persönlichkeit nehmen. Etwas, was Satanel bei seinen Untertanen überhaupt nicht akzeptierte. Diese mussten uneingeschränkt seinem Willen folgen. Das bedeutete, Mord und Unglück über die Menschen bringen. Um diese Bedrohung nicht unnötig an die Wand zu malen, schaute sich die schwarzhaarige, schöne Frau um.
Die kleinen Feuer in den vielen eisernen Feuerkörben sowie die unzähligen Fackeln an den Wänden erzeugten ein gelb-rot flackerndes Licht. Im schwarzen Stein der Höhle mit seinen vielen Findlingen und Feldnasen erzeugte es ein beängstigendes Schattenspiel. Dazu die Foltermöbel und die Todesschreie.
Der kleine Mann, der ihr zum Schlachten zugewiesen wurde, zitterte am ganzen Körper, als Lucille, von Satanel geschoben, zu ihm kam. Er wusste, er würde jetzt ermordet werden. Trotz aller Aussichtslosigkeit riss er wie wild an seinen Fesseln.
„Eigentlich solltest du der letzte sein.“ Sanft und warmherzig klangen die Worte, während Lucille dem Opfer mit ihren Fingerrücken die Wangs strich. Jetzt war sie wieder ganz die Alte; der „Gefallene Engel“, der den Tod brachte. Gerade noch rechtzeitig hatte sie in ihre Rolle zurückfinden können, um keinen Verdacht auf sich zu ziehen. „Mein Meister nötigt mich zu einer Planänderung. Für dich zum Vorteil. Du musst nicht mehr mit ansehen, wie qualvoll wir deine Freundin in unser ewiges Feuerreich führen.“
Satanel lachte blechern.
Dann schauten alle drei auf die leicht pummelige Frau mit dem asiatischen Gesicht und dem schwarzen Haar. Sie lag in ihrem schönen, schwarzen Kleid mit dem Rücken auf einem Tisch, die Füße aufgestellt. Am anderen Ende waren ihr Kopf und ihre Hände durch eine breite Prangerschere gesteckt. Sie konnte ihren Körper nicht mehr sehen. Auch nicht das, was in Kürze mit ihr geschehen sollte.
Ihren Kopf ließ sie resigniert hängen. Das Gesicht ihrem Freund zugedreht. Mit Tränen in den Augen nahm sie Abschied von ihm.
Lucille hatte ihr pechschwarzes Haar hochgesteckt. Drei stricknadellange Stäbchen hielten es in Form. Sie knöpfte das schwarze Seidenhemd des kleinen Mannes auf, zog eine erste Haarnadel, Strähnen fielen ihr lang über die rechte Schulter, gaben ihr ein unwiderstehlich verwegenes Aussehen, als sie die Nadel unterhalb des rechten Schlüsselbeins bis zum Anschlag in sein Fleisch versenkte.
Der Mann schrie nicht. Sah sie nur fassungslos an und begann kürzer zu atmen. Allem Anschein nach hatte die Nadel seine Lunge getroffen.
Ihre zweite Nadel führte Lucille auf der linken Seite in den Körper, wohlbedacht, nicht das Herz zu schädigen.
Satanel war zufrieden mit seiner Dienerin. Unzweifelhaft musste er sich vorhin getäuscht haben, als er vermutete, seine Lucille könnte sich auf Abwege begeben wollen. „Nimm ihn dir jetzt, meine Süße“, forderte er sensationslustig.
„Großer Meister, ich bin dazu heute etwas unpässlich“, suchte der Schwarze Engel erneut nach einem Ausweg.
„In deinem Alter?“ Sofort war das Misstrauen beim Mann mit Zylinder wieder da.
„Immerhin wirke ich noch immer wie Mitte Dreißig. Mit all den dazugehörigen biologischen Funktionen. Mein Körper will nicht, wo mein Geist so sehr danach lechzt.“ Still hoffte die Cheruba, Satanel würde ihre Ausflüchte akzeptieren. Lucille wollte, nein konnte sich nicht beim Sterben des Mannes sexuell beglücken. Als hätte sie sich die beiden Haarnadeln selber in ihre Luftröhre gestochen, stieß sie unter Röcheln hervor: „Satanel, heute nicht. Bitte akzeptiere es.“
„Hm“, war alles, was der Fürst der Finsternis sprach. Darauf schob er von hinten Lucille gegen den Körper des Gefesselten und begann, sie zu wiegen. „Ich helfe dir“, sagte er lakonisch, nahm die letzte Haarnadel heraus, so dass Lucilles schwarze Pracht ihr über Schulter und Brust flossen und schob sie am Kopf gepackt gebieterisch zum Gefesselten, bis ihre Lippen auf den Mund des Opfers drückten. Während dieses erzwungenen Todeskusses – eine winzige Entschädigung für die entgangene Sex-Show – stieß Satanel dem jungen Mann die dritte Haarnadel in die Halsschlagader.
Erst als kein Blut mehr aus der Wunde gepumpt wurde, gaben seine starken Hände Lucille frei: „Geht doch“, stellte er lapidar fest. „Jetzt habe ich Lust auf den Nachtisch.“
Lucille kniete sich vor den Kopf der jungen, auf den Tisch gefesselten Frau, stützte ihn mit ihren Händen, strich ihr wie eine Mutter über die tränenbenetzte Wange. „Ich bin bei dir, Mädchen, und führe dich.“
„Ich will nicht sterben“, stammelte die junge Frau mit den asiatischen Augen. Dann brach sie in heftiges Weinen aus.
„Ich bleibe bei dir, halte dich ganz stark fest. Wir werden es schaffen.“
„Warum tust du das?“ Die auf dem Rücken Liegende und mit dem Kopf durch eine Prangerschere Gesteckte, sah Lucille in einer Mischung aus Wut und Anklage an. Wut über die Art der Beschwichtigung der reifen Frau, als würde es sich hier lediglich um ein Fieber handeln und wenn sie den bitteren Kräutertee tränke, würde alles gut werden; Anklage wegen der Mittäterschaft.
„Was tue ich?“, stellte sich die Gerügte dumm.
„Den Todesengel spielen.“ Unnachgiebiges Feuer loderte in den Augen der Abgelegten. Es war der Hass auf ihre Mörder.
„Ich gäbe alles, ich wäre ein anderer Engel, Kleines“, sprach Lucille mehr zu sich selber als zum Opfer und schaute tiefsinnig in die Ferne.
Plötzlich machte die junge Frau dicke Backen. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Verwunderung und Erlösung. Lucille kannte diesen Gesichtsausdruck. Demnach hatte ihr Satanel den großen Holzpflock in den Bauch gerammt. Sicherlich wird er seinem Opfer zu Füßen stehen, sich die Hose geöffnet haben und seinen Prügel reiben, während er mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck der jungen Frau beim Sterben zusieht, schlussfolgerte die Cheruba ohne zu ihrem Herrn und Gebieter aufzuschauen.
Lucille kamen die Tränen. Verzweifelt hielt sie in ihren Händen das Gesicht des Opfers. Streichelte ratlos mit ihren Daumen der Kleinen die letzten Tränen von der Wange, bis sich deren Augen brachen.
Lucille blieb knien. Erstmals seit undenklichen Zeiten spürte sie Mitleid, ja, sogar Reue. Denn sie war sich ihrer Verantwortung am Tod dieser vier Menschen vollauf bewusst. Warum aber fühlte es sich ausgerechnet heute so an, als hätte sie eine Niederlage erlitten? Wieso gab es plötzlich in ihrem Wesen Stimmen, die sie aus diesem Grauen herauszuführen trachteten? Das war nicht fair. Es gab für die Gefallenen Engel keine Chance, sich gegen den despotischen Fürsten der Unterwelt aufzulehnen. Jeder Versuch der Renitenz wäre ein Todesurteil.
Am Nachmittag vor dem Alptraum in der Hölle.
„Wie gefällt dir der?“ Stolz drehte sich Bian Dang um sich selber. Ihr bis über ihre nackten Füße reichender, roter Nightingale-Satin-Rock mit schwarzer Spitze floss wie eine Glocke nach außen.
„Wow, steht der dir gut. Genau das Richtige für heute Abend.“ Anerkennend lehnte sich Elisabeth in ihrem Zuschauersessel zurück, um die kleine Modenschau ihrer Freundin zu bewundern. Dieses war das dritte Kleid, das Bian ihr vorführte. Und hierin kam sie am besten zur Geltung. Mit ihren 1,70 wirkte sie ein ganz klein wenig füllig. Dieses Kleid mit ihrem breiten Gummizugbund, auf der Hüfte sitzend, darüber eine Miederbluse, die den Bauch an den Seiten freilassen würde; und ihre herzallerliebste Freundin sähe wie eine Bauchtänzerin aus. Geheimnisvoll, orientalisch, erotisch. Besonders das ganz kleine Speckröllchen am Bauch.
„Zieh dazu deine rote Miederbluse mit den schwarzen Ärmeln an, die an den Händen in lange Schleppen auslaufen.“
„Meinst du die leicht spitz Zulaufende mit den vielen schwarzen Bändern, Lisa?“
„Jupp!“ Elisabeth Moureen, die in Anlehnung an Lisa Gerárd ihren Kurznahmen mit einem scharfen S aussprechen ließ, band die Vietnamesin die Miederbluse auf dem Rücken zu: „Du bist ein richtiges Sahneschnittchen, Bian.“
„Julian mag mich auch in normalen Kleidern. Noch lieber jedoch ohne“, kicherte die kleine Vietnamesin und funkelte mit ihren fast schwarzen Augen ihre große Freundin an.
„Ich dachte eben nicht an Julian“, antwortete Elisabeth, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre ein Hobbit hinter einem Busch auf eine Tür zur Anderswelt gestoßen und wüsste nicht so recht, diese Entdeckung in seinem Dorf publik machen zu dürfen.
„Du glaubst doch nicht im Ernst daran, dass ER kommen wird, Lisa?“ Leicht belächelte die schnieke Dame ihren Besuch. Für Bian war alles Hokuspokus, nichts weiter als europäische Folklore, was die beiden Männer heute Nacht vorhatten.
„Kemal und Julian sind seit langem intensiv dabei. Sie haben viele Bücher gelesen, einige schwarze Messen besucht und sich mit einer reifen Frau ausgetauscht. Diese Schwarzhaarige, Lucy heißt sie, glaube ich, soll sehr wissend und kompetent sein.“
„HU, HU!“, Bian hatte mit beiden Händen ihre Haare hochgeschoben und kam nun drohend auf Elisabeth zu. „Ich bin gekommen, dich zu fressen. Doch vorher will ich Spaß mit dir haben. HU, HU!“
Die große Freundin mit ihren rostroten, bis knapp über die Schulter reichenden, glatten Haaren, musste lauthals lachen. „Du bist unverbesserlich, Kleine. Wenn der Fürst der Finsternis so liebevoll ist, haben wir nichts zu befürchten.“
„Sonst auch nicht, du alte Pessimistin. Warum sollte er gleich der Mordbrenner werden, wenn wir ihn aus seinem Höllenkerker befreit haben. Er wäre uns zu Dank verpflichtet.“ Die Vietnamesin zupfte am Saum ihres Rockes und drehte sich vor dem großen Spiegel.
„Die gleichen Worte, die dein Julian seit Wochen säuselt.“ Die große Rothaarige stellte sich hinter ihre Freundin, legte dieser ihre Hände auf die Schulter und schaute sich im Spiegelbild an. „Hast du etwa keine Angst, Bian?“, schiebt sie mit leiser Stimme hinterher.
„Nicht im Mindestens. Wenn er mit einem Blitz und umhüllt von einer Wolke aus Pech und Schwefel vor uns steht, werde ich ihn zum Tanz bitten. Ich lerne nämlich gerade Tango.“ Bian stemmte sich die Hände in die Hüften und streckte den beiden Frauen im Spiegel die Zunge raus.
„Dann gib ja acht, dass du ihm nicht auf seinen Schwanz trittst.“
„Hat er so einen langen?“ Verwegen schielte Bian zu der jetzt zur Kommode gehenden Freundin. Ihre Backen waren prall mit Luft gefüllt.
„Im Ernstfall solltest du lieber ans Wegrennen denken, als zu hoffen, mit ihm im Bett zu landen.“ Die Große nahm ihr Rotweinglas von der Kommode und prostete der kleinen Freundin mit einem wissentlichen Gesicht zu.
„Lisa, was bist du prüde. Das wäre eine einmalige Gelegenheit. Nachts im Mondschein auf einem moosigen Grab, nie würdest du das vergessen.“ Um ihre Lüsternheit zu unterstreichen, hob die etwas füllige Frau vorne ihren Rock und präsentierte der Freundin ihren schicken Slip.
„Ein Höllenwesen wäre mir zu krass, Honey. Es mit Kemal auf einem Grab zu machen, wäre Friedhofromantik genug. Dem gehörnten Monster würde ich mich nie hingeben.“ Elisabeth stierte bei dieser Antwort ihre Freundin an, als sei diese dabei, einen Hochspannungsmast empor zu klettern und hätte keine Alternative zur Umkehr.
Jetzt platzten Bians Backen. Lisas permanente Ernsthaftigkeit und ihr Hang, sich um alles Sorgen zu machen, mussten endlich aus der Welt gefegt werden. Am besten mit einem ohrenbetäubenden Lachen.
Und wahrhaft, Bians Freude lockerte die Freundin auf. Unsicher fiel Elisabeth in das Lachen ein. Wie ein Schlagzeuger, der nach dem letzten Gig seine Schlagstöcke ins Publikum schmiss, legte sie ihr beklemmendes Gefühl ab.
Im gleichen Atemzug kam die kleine Freundin Lisa entgegen, da sie wegen ihrer soeben gezeigten Schadenfreude ein schlechtes Gewissen bekam: „Okay, vergessen wir meinen Tangopartner Luzifer. Meinst du, wir könnten unsere Männer überzeugen, nach der Zeremonie uns ein stilles Örtchen zu suchen?“
„Das ist ein Ritual, Liebste. Eine sakrale Handlung. Eine Zeremonie ist dagegen eine feierliche Handlung“, klugscheißerte die Große, „und um auf deine wollüstigen Fantasien zurückzukommen; auf dem Friedhof ist so etwas nicht gestattet.“
„Umso besser. Tun wir etwas Verbotenes. Sei nur ein einziges Mal nachtromantisch, Lisa. Im weichen Gras über den Grüften, nur der sternenfunkelnde Himmel über uns – die Lippen des Freundes auf unserem Mund, seine streichelnde Hand auf unserem Bauch.“ Den Kopf in den Nacken geworfen, schaute die Asiatin, deren Name verborgen oder geheimnisvoll bedeutete, mit verklärten Augen zur Decke, als könnte sie durch das Mauerwerk bis hinauf zu den Lichtern am Himmel sehen.
„Ein Versuch ist es wert, Bian.“ Überzeugung sprach nicht aus dem Gesicht der Frau mit dem glatten, roten Haar. Nachdenklich stellte sie ihr Weinglas zurück auf die Kommode.
„Na endlich. Komm schlag ein!“ Die Hand zum Abschlagen erhoben, schritt Bian Dang auf die große Freundin zu.
Elisabeth schlug mit einem unsicheren Schmunzeln gegen die kleine Hand ihrer Freundin. Diese schlüpfte darauf zum CD-Player. Laut schallte „Black Sun“ von Dead Can Dance ins Zimmer. Sofort bewegten sich die beiden in dem Zimmer wie Abbilder von Sharon den Adel, der Sängerin von Within Temptation in dem Video-Clip zu dem Song „Mother Earth.“ Die Phasen, wenn die hübsche Sängerin in ihrem weißen Kleid durch den Wald tanzte und die Bewegungen einer weißen Schleiereule nachmachte. Allerdings trug die Rothaarige nicht weiß.
Elisabeths langer schwarzer Glanzlederrock glitzerte im durch das Fenster hereinfallende, orange Licht der untergehenden Sonne. Darüber trug sie ein schwarzes Sweatshirt, die langen Ärmel von den Schultern bis zur Hand in Spitze, der Halsabschluss ein Lederbändchen, zu einer Schleife geflochten. Lang hingen die zwei Bänder zwischen ihrem gut proportionierten Busen. Die schwarze Gothic-Frau überragte mit ihren 1,88 Metern ihre Freundin um ein weites. Sie war weder schlank, noch dick. Einfach normal. Und wirkte in dieser Art unheimlich weiblich und erwachsen. Nichtsdestotrotz machte es ihr Spaß, zu der aufwühlenden und mystischen Musik von Dead Can Dance zu tanzen.
Diese traute Zweisamkeit brachen die beiden Frauen erst ab, als ihre Freunde Kemal Aslan und Julian Mayer klingelten. Diese wollten neuere, härtere Musik hören. Die CD „One Man Army“ von Ensiferum wurde aufgelegt, dazu Bierflaschen geköpft. Erst nach dem letzten Song legten auch die Männer ihre rituellen Gewänder an.
Im uralten, schwarzlackierten Wartburg 312 dröhnte „The Cohorts of Demons“ von Legenda. Die beste Einstimmung für diese Nacht. Es war mittlerweile 22:30 Uhr, als das klapprige Relikt die Wipertistraße hinunter röhrte. Hinten saßen Kemal und Lisa. Schmusend.
Auf dem Beifahrersitz zerknüllte Bian vor Aufregung ihren Rucksack. Jeder Pizzabecker hätte sie sofort als Gehilfin angestellt.
Die Nacht war sternenklar. Und sommerlich warm. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Was wäre, wenn es sich nicht als Spinnerei herausstellen würde? Ihrer Freundin gegenüber gab sie sich vorhin als die Unerschütterliche, aber jetzt, in der Dunkelheit, wo die gruselige Stunde immer näher rückte, konnte sie ihre angespannten Nerven nicht mehr verstecken. Allerdings war es jetzt viel zu spät, aus dem makabren Unternehmen auszusteigen. Dann würden die Anderen sie ab Morgen nur noch hänseln. Davor fürchtete sie sich mehr, als vor dem mächtigen Helfer aus der Unterwelt.
Angefangen hatte alles ganz belanglos. Im Politikkurs hatten sich mehrere Aktivisten zum Bündnis „SOS-Arbeitnehmerrechte“ zusammengefunden und Kontakte zur hiesigen IG-Metall geknüpft. Je weiter sie vorgedrungen waren in dem Sumpf der Korruption zwischen der Großindustrie und den Bundestagsabgeordneten, desto klarer wurde ihnen ihre Ohnmacht vor Augen geführt. Im Grunde funktionierte alles ganz einfach. Führende Kräfte der Großindustrie überlegten sich, inwiefern Gesetze zu ihren Gunsten verändert werden müssten. Anschließend bildeten sie eine Lobby zwischen Industrie und Regierungsvertretern. Im stillen Kämmerlein wurden die neuen Gesetze durchdacht und die Umsetzung sowie Promotion abgesprochen. Wurde die Gesetzesinitiative letztendlich beim Bundestag eingebracht, hatte die Lobbygruppe schon so viel Vorlauf, dass Opposition und Gewerkschaften den Gang des Gesetzes nicht mehr stoppen konnten.
Mittelstand, Kleinunternehmer und die gesamte Arbeitnehmerschaft guckten in die Röhre. Dieser menschlichen Macht könnte, so Julian, nur eine außermenschliche gegenübergestellt werden. Das war die Geburtsstunde des Projektes „Anrufung S“. Alsdann wurde recherchiert, fanden sich einige Gleichgesinnte zusammen, plötzlich war wie aus dem Nichts die mysteriöse Frau mit dem pechschwarzen Haar und den azur-blauen Augen aufgetaucht. Diese entfachte bei Kemal und Julian erst recht das Feuer, die Mächte der Unterwelt anzurufen und gab den beiden wie nebensächlich mit auf den Weg, dass hübsche Frauen beim Ritual nicht fehlen dürften.
Das war einige Wochen her, heute sollte der erste Versuch unternommen werden, mit der finsteren Macht in Kontakt zu treten.
Die vier jungen Leute parkten den alten Wartburg in einer Seitenstraße. Den kleinen Friedhofsparkplatz benutzten sie absichtlich nicht, da das bei einigen Passanten den Verdacht hätte erwecken können, jemand könnte des Nachts die Ruhe der Ahnen stören.
Mit Sack und Pack huschten die vier Wagemutigen nun über die Straße, durch das Tor, an den Gräbern vorbei zu der tags zuvor ausgewählten und gesäuberten Gruft. Eine von den vielen, die in einem schmalen und niedrigen Bergrücken am südlichen Ende des Friedhofs in den Stein gehauen waren.
Den Männern schlugen ihre schwarzen Ledermäntel um die Beine. Ihre langen, schwarzen, frisch gewaschenen Haare wehten im Nachtwind, die Augen hatten sie mit Mascara und Eyeliner hervorgehoben. Sie sahen wieder einmal umwerfend hübsch und unwiderstehlich aus, fand Bian.
Die Frauen selber hatten ihr Gesicht mit weißem Puder gebleicht, die Augen stark mit schwarzem Lidschatten geschminkt, Wimpern ebenfalls hervorgehoben, die Lippen in ein tiefes rot gefärbt, mit einem schwarzen Lipliner die Konturen abgegrenzt. Verführerische Prinzessinnen der Nacht.
An der Gruft angekommen, musste diese als allererstes gegen Nichteingeweihte gesichert und fremde Einflüsse gebannt werden. Hierzu hatte Kemal sich ein rituelles Schwert gekauft. Bann- und Schutzformeln leise vor sich hersagend, schlug er einmal mit dem Schwert in jede der vier Himmelsrichtungen. Danach fassten sich alle an den Händen und bildeten den magischen Kreis.
Erst nach dieser kurzen Meditation traten sie in die Gruft hinein. Sofort verhängten die Frauen die Fenster mit den mitgebrachten, schwarzen Stoffbahnen. Kein Licht durfte nach außen dringen. In dieser Zeit malte Julian auf dem Boden das Siegel des Baphomet. Es war ein Pentagramm, das mit einem doppelten Kreis umgeben wurde. Im Inneren, in dem Stern des Pentagramms war der Kopf eines Ziegenbocks aufgemalt, im äußeren lagen vor jeder Spitze des Fünfgezackten Sternes Symbole zu ausgewählten Elementen der Alchemie. Die obere Spitze war nach Süden ausgerichtet. Dort lag das Tor, durch das der Gerufene zu ihnen treten würde. Demnach müsste er durch die Wand hinter dem Altar kommen.
Dieser Altar, der in einer kleinen Nische eingelassen war, schmückten die Frauen jetzt mit auf Papier geschriebenen Bittgesuchen, stellten Kerzen in silbernen Kronleuchtern darauf und hängten an diese unterschiedliche, kleine Pentakel – Talismane aus Silber und zum Teil mit Perlen besetz, welche wiederum das Pentagramm in einem Kreis abbildeten.
Dieses vollbracht, musste die Luft durch Glockenschläge gereinigt werden. Julian, der als Zelebrant das Ritual leitete, schlug mit seinem Schwert vorsichtig neun Mal gegen die teekannengroße Glocke, die er in der anderen Hand hielt. Dabei drehte er sich einmal gegen den Uhrzeigersinn um sich selber.
Nun knieten sich die anderen in das auf dem Boden aufgemalte, große Siegel des Baphomet. Julian dagegen stand zwischen ihnen und dem Altar. In der Linken hielt er jetzt ein großes Pergament, in der rechten eine Kerze, die ihr Licht auf die mit Tinte geschriebenen Worte warf.
In Nomine Dei Nostri Satanas Luciferi exeelsi!
Im Namen Satans, dem Herrscher der Unterwelt, rufe ich die Kräfte der Finsternis herbei. Öffnet die Tore der Hölle und kommt heraus, um uns eure infernalische Macht zu verleihen. Öffnet die Tore und nehmt uns als eure Schwestern und Brüder auf; begrüßt uns als Freunde, nicht als Feinde.
Satan, wir unterwerfen uns deiner Macht, werden deine treuen Vasallen. Nehme unser Opfer an, öffne das Tor, zeige dich. Lass uns teilnehmen an deiner Wildheit, deinen fleischlichen Genüssen, erfreue dich an unserer Hingabe. Öffne das Tor, entlasse die Götter der Unterwelt, erfülle uns unsere Wünsche.
Gib unserer Rache eine mächtige Stimme, auf dass wir zerschmettern die Stille der Luft, um Zorn zu säen und sich windende Schlangen. Vor diesen sollen sich niederwerfen die Ungerechten, denen Gottes Strafe nicht ereilen wird, die die Zucht der Hölle brauchen. Ihre Schandtaten haben uns verbittert, erhöre unseren Hilfeschrei, um sich von diesem Gezücht zu befreien. Öffne das Tor, zeige dich, gebe uns Macht, sei Heilung all unserer Bitterkeit. Nehme die Heuchler als Opfer an, sorgfältig haben wir sie ausgewählt. Erhebe das Banner der Hölle über sie, spieße sie auf in unserer Rache!
Shemhamforash! Heil Satan!
Nach der Anrufung Satans nahm sich Julian die Bittgesuche vom Altar und verlas ein jedes laut, bevor er es in den Flammen der Kerze verbrannte. Jedes Manuskript beinhaltete den Namen und die Adresse eines korrupten Politikers oder Unternehmers mitsamt einer seiner Schandtaten.
Wie die ehemaligen Papierblätter nur noch als hauchdünne, schwarze Fetzen auf dem Boden lagen, läutete Julian wieder neun Mal die Glocke und drehte sich gegen den Uhrzeigersinn. Am Ende sprach er mit feierlicher Stimme „Es ist vollbracht.“
Angespannt lauschen alle Vier in die Nacht.
Was mag kommen?
Kommt überhaupt etwas? Oder war die ganze Aktion ein Hirngespinst, jedoch unsagbar spannend und unterhaltsam?
Da hörten sie draußen ein Schlürfen und Schaben, als riebe Sandstein auf Sandstein.
Bian begann vor Angst die Lippe zu beben, Elisabeths Arme überzogen sich mit einer Gänsehaut, den beiden Männern stellten sich die Nackenhaare auf.
Sie hörten Schritte. Kein langsames, dumpfes Rascheln wie bei Zombies. Nein, ganz im Gegenteil: Die Schritte kamen schnell und geradlinig auf die Gruft zu. Wie das? Drang Licht nach außen? Julian warf einen Blick auf die beiden Mädchen, als hätten die gerade den letzten Elfmeter im Endspiel um die Weltmeisterschaft verschossen.
Die Schritte stoppten.
Die Herzen der in der Gruft Eingeschlossenen ebenfalls.
Julian wusste, draußen vor der Tür stand jemand.
Als Anführer riss er sich zusammen und winkte den anderen zu, sich hinter ihn zu stellen.
Leise knarzte die Tür in ihren rostigen Angeln.
Gleich darauf schob sich ein Kopf durch den Schlitz in den zwei Vorhängen. Zwei unheimlich wirkende Augen fixierten die jungen Leute. Weil der Mann den Kopf leicht vorgebeugt hielt, waren seine Pupillen weit unter das Oberlid gerutscht, so dass hauptsächlich nur das silberweiß in seinen Augen glänzte. Das Gesicht war umrahmt von langen, schwarzen Haaren. Auf dem Kopf thronte ein großer Zylinder: „Ihr habt mich gerufen, Herr?“ Die Stimme klang wie ein verrostetes Sägeblatt, das mühselig durch einen Stamm gezogen wurde.
Julian war sprachlos aufgrund seines Erfolges. Zudem lähmte schiere Angst seine Stimme. Alle Sinne signalisierten höchste Gefahr. Ein Blick zu seinen Gefährtinnen und Gefährten; es ging denen nicht anders.
Sie hatten nur ein Problem, sie konnten nicht wie Geister durch Wände gehen. Und der einzige Weg nach draußen war versperrt.
Da wühlte sich unter dem Kopf des düsteren Mannes ein zweites Gesicht aus dem Vorhang. Eine Frau in ihren besten Jahren, durch ihre Aufmachung wie ein Twen wirkend. Ihr langes, schwarzgefärbtes Haar hing ihr im wetlook bis auf den Busen und gab ihr etwas maßlos Verwegenes. Die Augen waren intensiv mit schwarzem Lidschatten und Mascara geschminkt, die Lippen kirschrot hervorgehoben. Eine Gothic-Braut, wie Lisa und Bian.
Julian schöpfte etwas Hoffnung, als er tief in ihre azur-blauen Augen schaute und meinte, die reife Frau zu erkennen, die ihm so manch einen Wink gegeben hatte. Die Augen der Frau strömten eine Melancholie aus, die Julian kannte. Die er von sich selber kannte.
Bei ihm, weil er wusste, das, was er sich ersehnte, würde er nie erhalten. Und bei ihr? Wenn es ähnlich wäre? Verflucht noch mal, dann waren sie verloren.
„Wo der Meister ist, ist seine Assistentin nicht weit“, stellte sich der zweite Kopf vor. Singend wie eine Messingschale, die durch kreisförmiges Reiben mit einem hölzernen Stößel an ihrem Rand entlang ein helles, klares Summen ertönen ließ.
Diese schönen Töne waren Öl auf dem Sägeblatt des Fremden mit den gruseligen Augen. Flüssig und kalt rollten seine nächsten Worte in den Raum: „Euer Gesuch um Hilfe bedarf nur noch einer genaueren Erörterung. Diese sollten wir an meiner Festtafel mit Wein und Lammbraten besiegeln.“
Der Fremde schob den Vorhang beiseite. Gebieterisch stand er in voller Pracht vor den vier Anrufern. Sein langer, schwarzer Ledermantel reichte bis fast auf den Boden. Unten lugten schwere Doc Martens hervor. Zwischen den Fingern ließ er einen kleinen Gehstock kreisen.
„Vielen Dank für Eure Einladung, mein Herr und Meister“, Julian wusste auch nicht, was ihn ritt, zu dieser altmodischen, gestanzten Rede zu greifen, „macht Euch wegen uns bitte keine Umstände. Wir hatten ausreichend Speis und Trank, bevor wir Euch gerufen haben. Könnten Sie auch mit diesen Räumlichkeiten Vorlieb nehmen?“
Mit einer Geste wies Julian alle an, sich im Kreis zu setzen.
Satanel öffnete seinen Mantel, schlug die Enden beiseite und ging in den Schneidersitz. Seine Mimik verriet nicht die kleinste Gefühlsregung. Als hätte er den Barkeeper gefragt, ob er das rechte Glas Wasser nehmen dürfe und jener hätte geantwortet, das linke sei für ihn bestimmt.
Lucille blieb hinter ihm stehen, den Eingang bewachend.
Jetzt konnte Bian sich das erste Mal diese fremde Frau in aller Ruhe ansehen. In ihrer Kleidung wirkte sie wie die Unschuld vom Lande. Sie trug einen langärmeligen, schwarzen Wollpullover, der bis knapp auf die Hälfte ihrer Oberschenkel reichte. Die Beine zierten schwarze, wollene Gamaschen, bis kurz übers Knie. Zwischen Gamaschenende und Pulloveranfang lachte keck die nackte Haut. Es wirkte wahnsinnig erotisch. Ja lolitahaft. Die Füße steckten in schwarzen High Heels, fast den ganzen Spann zeigend.
Es wirkte wie bei einem Puppenspiel. Vor dem schwarzen Vorhang schimmerten vom Kerzenlicht erleuchtet die Füße, die Oberschenkel, die Hände und das Gesicht. Als wären es voneinander getrennte Gliedmaßen, die der Puppenspieler an seiner Garderobenwand aufgehängt hatte.
Bian wurde nicht schlau aus dieser Frau. Sie spürte, das Outfit sollte sie nur unachtsam werden lassen. Hinter dieser ganzen Unschuld lauerte etwas Satanisches. Grausames. Ja, fast schon Lüsternes, wie diese azur-blauen Augen die Verängstigte musterten. Als würde die Fremde Bians Angst riechen und sich daran still weiden.
Mit einem Schrei sprang Bian auf, rammte der Unheimlichen ihren Kopf in den Magen, riss gleichzeitig den Vorhang beiseite und wollte ins Freie stürmen.
Ein Zug in ihren Haaren ließ sie erstarren. Verdammt, was hatte diese Lolita für eine Kraft. Bian fasste sich in ihr eigenes Haar und begann ein Tauziehen. Die Fremde bewegte sich nicht einen Millimeter. Kein einziger Muskel zuckte. Als wäre sie eine Menschmaschine, halb Wesen, halb Ding; unbezwingbar für ein kleines Mädchen.
„Wann wir gehen, bestimme ich“, sagte Lucille mit einem rügenden Kopfschütteln. Eine kurze Bewegung aus ihrem Handgelenk und die Aufmüpfige flog zurück in den Raum. Hart krachte sie gegen die Wand. Wie durch ein Wunder schlug sie sich den Kopf nicht ein.
Sofort stürzen sich Julian und Kemal auf den Fremden. Erkannt, dass die Gerufenen nicht in friedlicher Absicht gekommen waren, blieb ihnen nur noch der Kampf.
Ein aussichtsloser.
Eine Minute später schleifte Satanel die beiden zu Boden Gegangenen an ihren langen Haaren gepackt aus der Gruft. Lucille kam in gleicher Art mit den zwei Frauen hinter ihm her geschritten. Weil sie ebenso wie ihr Gebieter schnell ausschritt, kamen die Gestürzten nicht auf ihre Beine. An den Haaren gefasst mussten sie sich über den Friedhof ziehen lassen. Als wären sie nichts anderes als volle Kartoffelsäcke.
Der kalte Nachtwind trieb dicke Nebelwolken vor sich her. Wie Arme gruseliger Gespenster griffen sie nach den Verlorenen. Diese schrien aus Leibeskräften, doch das blecherne Lachen des Zylinderträgers überdeckte alles.
Wo nur war der dichte Nebel hergekommen? Keine Menschenseele wurde somit Zeuge ihrer
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Mats Hoeppner
Bildmaterialien: 320254360 © https://de.despositphotos.com
Cover: Mats Hoeppner
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2603-5
Alle Rechte vorbehalten