Derimacheia: Amazone, politikermordende Racheengel mit politischen Ambitionen
Peisinoe: Sirene, politikermordende Racheengel ohne politische Ambitionen
Georgias Amantinidis: ermittelnder Kommissar in Athen
Panagiotis Eileithyia: hoher Kriminalbeamter in Athen
Kalomira-Kastania Niki: Sekretärin Amantinidis, die zum Träumen und zu anderen Dingen neigt
Aristeidis Pechlivanidis: Bürgermeister Athens
Spyridon Tsantidis: Finanzfachmann und 1. Mordopfer
Vasileios Kraikos: Wirtschaftssenator und 2. Mordopfer
Bao Tai Shu: Polizeiinspektor aus China für mysteriöse Spezialaufgaben
Li Shuang: außergewöhnliche Schwertkämpferin Chinas
Marc Höppner: Aikido-Kampfkünstler und Ehemann von Li Shuang
Das Verbrechen
Es kommt, was unausweichlich kommen muss. Resigniert und mit einem Anflug an unterdrücktem Ärger richtete sich die Ehefrau auf ihrem Stuhl wieder auf. Als hätte sie einen Stock verschluckt, saß sie am Tisch.
Die Augen des neunjährigen Mädchens zitterten kurz.
Der Hausvorstand hob an zur Rede.
„Lasst uns nun zum gemütlichen Teil des Abends übergehen. Wir haben während des Hauptgangs genügend über unsere Arbeit, Geld, Politik und Wirtschaft gesprochen. Besonders über Gewinn und wer für diesen Gewinn zu bluten hat. Meine Frau ist deswegen schon ganz schweigsam geworden.“
Sie spürte, wie sich das Gewitter über ihrem Haupt zusammenbraute. Ihre Haare elektrisierten. Vor Angst. In ihrem Wunschtraum wandelten sie sich zu Schlangen. Aber leider war sie nicht Medusa.
Verstohlen blickte das Kind zur Mutter. Am liebsten wäre es in sein Zimmer geflüchtet. Aber das war strengstens verboten. Bei Besuch. Wer würde als erstes sein Fett abkriegen? Eine andere Frage beschäftigte das Kind nicht mehr.
„Als erstes ein Hoch auf meine Gemahlin. Sie hat uns wie immer wundersam bewirtschaftet und fantastisch bekocht.“
„Hoch soll sie leben, den Göttern allzeit ein Stern.“ Wie aus einem Munde sprachen die vier Gäste. Zwei seiner wichtigsten Geschäftspartner mit ihren Ehefrauen. In eleganter Abendgarderobe saßen sie an der weiß gedeckten Tafel mit dem Silberbesteck und den Kerzenhaltern gleichen Metalls.
„Geh mal in Keller Wein holen, Schatz“, befahl der Gastgeber seiner Frau. Sie, die heute den ganzen Tag die Wohnung sauber gemacht und das Essen zubereitet hatte, während er im Internet angeblich nach neuen Geschäftsideen hatte suchen müssen. Sie, die sich am Nachmittag zwei Stunden Zeit genommen hatte, um mit ihrer Tochter für die anstehende Mathematikarbeit zu üben, obwohl ihr Mann als gelernter Informatiker dieses Metier viel besser unterrichten könnte. Sie, die gelernt hatte, für ihren Mann da sein zu müssen. Sie, die gelernt hatte, alle eigenen Wünsche an ihr Leben zu vergessen. Sie ging auch jetzt wieder mit einem Lächeln auf den Lippen, die Wünsche des Hausvorstands zu befriedigen.
Wie ein Gespenst huschte sie in den Flur.
„Na, meine Kleine, willst du uns Montag in Mathematik wieder eine Fünf bescheren? Dass du, Kind eines Rechengenies, immer noch Fehler bei einfachen Aufgaben wie 3x9 machst, ist wirklich ein Desaster. Du kommst ganz nach deiner Mutter.“ Dann lachte er mit verzerrtem Gesicht auf und alle seine Gäste lachten mit. Schließlich war er ihr Auftraggeber. Niemand wollte riskieren, in seiner Gunst zu fallen.
Und das Mädchen selber hatte die Wiederworte verlernt. Es blieb brav am Tisch sitzen und unterdrückte die Tränen. Als ihr Vater vor einiger Zeit sie das erste Mal vor allen Leuten so infam bloßgestellt hatte, hatte sie sich mit Worten gerechtfertigt, die belegen konnten, wie falsch ihr Vater über sie geurteilt hatte. Die heftigen Schläge am Abend, nachdem alle Gäste gegangen waren, hatten ihr gelehrt, fortan zu schweigen und sich nicht mehr zu verteidigen.
„Na Schätzchen, das hat aber lange gedauert.“ Ungeduldig wedelte der Haustyrann mit der Hand, dass seine Frau mit den zwei Flaschen im Arm nähertreten sollte. „Hat dich unser neuer und hoch attraktiver Nachbar im Keller aufgelauert. Er stromert mir zu oft in unserem Garten herum. Und wie ich dich kenne, bist du einer schnellen Nummer nicht abgeneigt.“
Das Gesicht der Frau wurde steinern. Tief in sich gekehrt. Wie fast schon den ganzen Abend.
„Stell die Flaschen erst einmal auf dem Tisch ab, bevor du sie öffnest. So ist es brav. Und nun trete ganz nah an deinen Gemahl heran!“
Als sie vor ihm stand, drehte er sie ins Profil zu sich. Ihr weißes Abendkleid war über ihrem rechten Bein weit ausgeschnitten. Langsam zog er den Stoff auseinander, bis der Ansatz ihrer Oberschenkel zum Vorschein kam. „Die Trophäe hast du ihm also nicht gegeben. Lass mal riechen, ob er in dich eingedrungen ist!“ Schon hatte der respektlose Ehemann sie wieder wie einen Kartoffelsack frontal zu sich gedreht und seine Nase in ihren Schoß gedrückt.
„Na, da hast du aber Glück gehabt, Liebling. Das riecht alles sauber. Ich hätte deinem Liebhaber heute wirklich ungern die Nase eingehauen, wo der Abend so schön begonnen hatte.“
Die Gäste kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus. Verwunderlich, dass auch die beiden Frauen diese Späße auf Kosten ihrer Gastgeberin mit machten und keinen Anflug an Solidarität erahnen ließen. Waren sie nur noch Spielbälle ihrer Männer?
Da schellte es an der Tür. „Geh Weib, sieh nach, wer uns da stört und wimmle die Person ab. In unserer Runde ist kein Platz für einen weiteren Besuch. Morgen um 17:00 Uhr habe ich Sprechstunde. Und beeile dich, sonst denke ich, es ist dein Liebhaber und du fingerst mit ihm herum. Das willst du doch nicht, dass ich das denke, oder?“
Im Treppenhaus sah man eine kräftige Frau die Stufen hoch gehen. Sie war in einem antiken Kostüm gekleidet. Schwarze lederne Stiefel reichten ihr bis über die Knie. Diese waren vom Spann an bis oben hin offen und mit einem langen ledernen Band gebunden. Ihre Waden und Oberschenkel wirkten extrem kräftig. Man sah ihnen an, dass sie gut durchtrainiert waren. Aber sie wirkten keineswegs gedrungen. Der Großteil ihrer Oberschenkel war unbedeckt, da sie einen relativ kurzen schwarzen Lederrock trug. Vom Bund her fielen einzelne, breite Streifen herab, die an ihren Rändern mit einem silbernen Faden verziert waren. Eine große Bewegungsfreiheit der Beine war somit gewährleistet.
Das Oberteil war ebenfalls aus schwarzem Leder. Es war ein kurzes, ärmelloses Hemd, das mittels schulterbreiter Träger gehalten wurde. Wie bei den Schuhen waren auch die beiden Seiten dieses Hemdes mit ledernen Riemen vor ihrer Brust verbunden. Ihr langes leicht gelocktes, dunkelbraunes Haar fiel bis auf ihre Brust herab. Die muskulösen und zugleich grazilen Oberarme zierten zwei buntgefärbte breite Armbänder.
Ihr Bauchnabel war frei. Kurz darunter schmückte eine große eiserne Gürtelschnalle in Form der Medusa ihren Körper. An diesem Gürtel hing ein breites, eisernes Schwert. Zum Knauf hin wurde es breiter und lief in Spitzen und Widerhaken aus. Darüber wölbte sich schützend der Griff.
Ihre Linke hielt den Knauf, als sie vor der Wohnungstür wartete. Dabei spannten sich die ledernen Manschetten an ihren Unterarmen.
In dem Moment, wo die Wohnungstür sich zu bewegen begann, trat sie mit voller Kraft dagegen. Hart schlug die Tür der Gastgeberin ins Gesicht. Sofort strömte Blut aus deren Nase.
Die Fremde stieß die schwankende Frau zur Seite, zog das Schwert und stürmte in den „Speisesaal“. Mit dem Satz einer Pantherin sprang sie auf den Tisch. Geschirr fiel scheppernd zu Boden, Gläser den Anwesenden aus den Händen. Sie kickte einen der brennenden Kerzenleuchter zum Gastgeber. Mühsam bekam er ihn zu fassen. Das Wachs bespritze sein nagelneues weißes Hemd. Verfluchte Zicke, die wird mich kennen lernen, dachte er, als sich die Kostümierte vor ihm platzierte. Wieselflink hob sie das Schwert über ihren Kopf. Dann teilte sie ihn von oben bis unten entzwei.
Gelähmt saßen die anderen Gäste am Tisch. Lediglich die Tochter war mit Lichtgeschwindigkeit unter den Tisch gerutscht.
Mit eiskalter Ruhe wandte sich die Mörderin dem nächsten Mann zu. Dieser bettelte mit zum Gebet gefalteten Händen um Gnade. Sie griff ihm mit der linken in den Kragen und zog ihn zu sich her, als hätte er nicht mehr Gewicht als ein Din-A4-Blatt. Mit einem Ruck hatte sie sein Hemd aufgerissen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, säuberte sie an seinem weißen Stoff ihr blutverschmiertes Schwert.
Anschließend sprang die Pantherin herab, steckte das Schwert wieder ein und schnellte aus dem Raum. Im Flur riss sie von einem an der Garderobe hängenden Hemd einen Ärmel ab, rollte den Stoff zusammen und presste es der Gastgeberin unter die blutende Nase.
„Verzeih“, bat sie, als sie die Hand der Gastgeberin nahm und auf die Stoffrolle legte. „Es wäre für dich besser, du würdest niemanden von mir erzählen.“ Dann rief sie in den Speisesaal zurück, dass jemand den Notarzt rufen sollte . . . und verschwand.
Der grausame Spuk hatte nicht mehr als eine Minute gedauert. Zurück war eine zu Tode geschockte Gesellschaft geblieben, ein bitterlich weinendes Kind und eine die Fassung vollständig verloren und stark verwirrte Witwe. Sie war sich in diesen Sekunden nicht sicher, ob sie über die blutende Nase weinte oder über die inneren Verletzungen, die ihr Ex-Mann ihr erneut zugefügt hatte. Nur eines wusste sie genau: Um ihn weinte sie nicht.
„Was mich am meisten verwundert, Kommissar“, hob der Assistent an, „ist, dass sich die Attentäterin überhaupt keine Gedanken um das Bekanntwerden ihrer Identität gemacht hat. Warum war sie nicht vermummt, als sie den Finanzfachmann Spyridon Tsantidis hingerichtet hat? So können wir uns von ihr ein sehr gutes Bild machen. Warum hat sie die Zeugen nicht ermordet, wenn sie schon nicht vermummt war?“
Kommissar Amantinidis von der Mordkommission Athen tupfte sich mit einem hellblauen Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn. Es war ein heißer Spätsommertag des Jahres 2014. Und da er als aufgeklärter Mensch den Wissenschaften glaubte und sich nicht von alternativen Fakten belügen ließ, werden die Sommer in den nächsten Jahren immer wärmer werden, sagte er sich im Stillen, als er mit ausdrucklosen Augen auf die Blutlache vor dem Tisch stierte.
So wie es jetzt diesen Mann dahingerafft hat, werden in ein paar Generationen Menschen, Tiere und Pflanzen von der Bildfläche Mutter Erde hinweggefegt sein. Die zukünftigen Opfer werden keine Chance haben, ihre Mörder anzuklagen. Die geld- und machtgierigen Narzissten der Jetztzeit werden sie schwerlich vor den Richtstuhl zerren können.
Er, Kommissar Amantinidis, hingegen wird die Mörderin dieses Mannes zur Rechenschaft ziehen können. Diese Frau mit dem Schwert kann sich nicht in ferne Zeiten flüchten, sie lebt im Hier und Jetzt, ist aus Fleisch und Blut und hat als ihren Gegner die geballte Kompetenz und Erfahrung der Athener Polizei.
„Den Frevel an der Umwelt können wir nicht aufhalten“, Herr Eileithyia, „diese Mordbrennerin hingegen schon.“
„Ähm?“ Der Kriminalbeamte fuhr mit Daumen und Zeigefinger von den Mundwinkeln bis zur Nase durch seinen dichten, schwarzen Oberlippenbart. Eine ins Blut übergegangene Geste, wenn er seine Unzufriedenheit auszudrücken beabsichtigte. Und wie ein Bär, der gerade Honig stibitzen will, jeden noch so kleinen Bienenstich verflucht, zürnte Herr Eileithyia dem lauten Denken seines Chefs. Jedoch nicht mit lauten Worten, sondern einem Rascheln seiner Barthaare, die nur er selber hören konnte.
Aber Nicht-Hören ist nicht gleichzusetzen mit Nicht-Wahrnehmen.
Kommissar Amantinidis wusste exakt, was dieses Bartkraulen aussagte. Deshalb hob er jetzt nicht zu einem Vortrag über das Ende der Welt an. Gewaltige Stürme, die die Küsten fressen würden, bis „Waterworld“ Wirklichkeit werden würde und Dürren, die zwischen den Sonnenwendekreisen alles zur Wüstenei wandeln täten.
Stattdessen beschränkte er sich, zu seiner Polizeiarbeit zurückzukehren: „Was ihre Frage betrifft, warum die Zeugen überleben durften, wird ein wichtiges Indiz unserer Ermittlungsarbeit sein. Unsere Mörderin hat sie lediglich einzuschüchtern versucht - was ihr nicht allzu gut gelungen ist, so aussagefreudig wie die Abendgesellschaft sich gibt. Wir müssen unbedingt geheim halten, eine aussagekräftige Täterinbeschreibung bekommen zu haben. Sonst bringen wir die Ehefrau des Ermordeten sowie seine Tischgäste in ernsthafte Schwierigkeiten.“
„Ihre hehren Absichten in alle Ehre, Herr Kommissar, aber bei den vielen Fotos und Videoclips, die die Teilnehmer der Tischgesellschaft gemacht haben, werden Sie sich heute Nacht schon die ersten Life-Mitschnitte anschauen können. Die Lämmer reißen selber den Stacheldrahtzaun ein, um den Wölfen das Hineinkommen zu erleichtern.“
„Ein Hoch auf die Sensationsgier und den Eifer, Likes zu sammeln. Somit hätten wir diesen Punkt besprochen. Kommen wir zu ihrer ersten Frage zurück, warum die holde Dame sich nicht vermummt hat.“ Mit einem Grinsen um die Mundwinkel fuhr der Kommissar fort: „Ich weiß es nicht, Herr Eileithyia.“
Wie er das erwartete verdutzte Gesicht seines Mitarbeiters sah, boxte er ihm leicht gegen die Schulter und hatte beim nächsten Satz noch viel Vergnügen in seiner Stimme mitschwingen: „Jedoch erachte ich eine Antwort auf diese Frage als äußerst wichtig.“
Innerhalb einer Minute hatte Kommissar Amantinidis alle Kriminalbeamten in das Büro der Ermordeten zusammengetrommelt und die Tür sorgfältig geschlossen.
Lediglich zwei Wachtmeister hatte er zurückgelassen, die Zeugen, Ärzte und den anrückenden Trupp der Spurensicherung unter Kontrolle zu halten.
„Werte Kollegen“, begann er das Meeting, „Sie haben alle die Frage von Herrn Eileithyia vernommen. Lassen sie uns ein kurzes Brainstorming machen. Jede Idee ist erlaubt und wird aufgeschrieben. Es wird über keinen Vorschlag in dieser Phase diskutiert. Haben Sie Stift und Papier parat, Herr Eileithyia? Dann los.“
Eine Reihe an Inspirationen sprudelten aus den Köpfen der Polizisten, von denen hier die wesentlichsten wiedergegeben werden: „Sie ist bisher polizeilich nicht aufgefallen und weiß, dass wir keine Fingerabdrücke oder DNA von ihr haben.“ - „Sie ist nicht von hier und braucht sich nicht zu verstecken; ist möglicher Weise schon wieder aus dem Land.“ - „Sie war doch antik gekleidet, wer sagt denn, dass sie nicht völlig verkleidet war. Vielleicht ist sie in Wirklichkeit blond, kurzhaarig und trägt eine Brille.“ - „Möglich, dass Sie eine Art Selbstmordattentäterin ist und so lange weiter macht, bis wir sie erschossen haben.“ - „Und wenn sie eine auferstandene antike Göttin ist? Dann wüsste sie auch, dass wir ihr nichts anhaben können.“
Nachdem alle auf den Kärtchen festgehaltenen Antworten an die provisorisch hergerichtete Pinnwand am Aktenordnerregal geheftet waren, rief der Kommissar den ermittelnden Beamten der Spurensicherung zu sich. Jeder Hinweis auf die Attentäterin sollte ihm sofort gemeldet werden. Sofort! Seien es Fußspuren oder Fingerabdrücke, Haare, Schweißtropfen, Fasern von Kleidungsstücken oder vom Schwert. Einfach alles.
In diesem Moment betrat seine neue Sekretärin Kalomira-Kastania Niki mit einem Tablett kleiner Saft- und Wasserflaschen den Raum. Sie machte ihrem Namen alle Ehre: Fünfundzwanzig Jahre alt, ein Meter neunzig groß, fuchsrotes Haar, das in leichten Wellen bis unter ihre Schulterblätter herab reichte. Ihr niedliches Gesicht mit den hohen Wangenknochen schmückten zwei smaragdgrüne Augen. Ihre Lippen waren füllig und weit geschwungen, dass sie förmlich zum Küssen einluden. Vor allem, wenn sie ganz nett lächelte, was sie sehr häufig tat. Sie war von Natur her ein fröhlicher Mensch, der seine Mitmenschen mochte und nicht mit misstrauisch verkniffenen Augen durch das Leben ging. Gerade ihre Offenheit und Natürlichkeit machten sie bei allen Kolleginnen und Kollegen sehr beliebt. Und das schon nach den ersten drei Wochen, die sie in diesem Kommissariat arbeitete.
Herrn Amantinidis Interesse allerdings hatte sie mit ihrem ersten Auftritt geweckt. Rüde hatte er am ersten Montag dieses Monats die Toilettentür aufgestoßen, wieder einmal in Gedanken verfangen, die ihm die Koordination seines Körpers beeinträchtigt hatten.
Die mit Wucht aufgestoßene Tür hatte Frau Niki den Kaffeebecher aus der Hand geschlagen, ihre weiße Bluse im Nu braun gefärbt.
Mit einem Gesicht, als hätte sie sich statt der runden Sonnenbrille die eckige aufgesetzt, hatte sie lapidar „Pech gehabt“ gesagt, in ihren Becher gestarrt, als könnte sie darin einen goldenen Ring finden, anschließend den Blick gehoben und in die erschrockenen Augen des attraktiven Mannes geschaut und sich still über seine vorwurfsvoll zerfurchte Stirn amüsiert.
„Na, dann schütte ich mir den Rest auch noch auf die Bluse.“
Ehe der vor Entsetzen mit dem Boden verwachsene Kommissar die Plastikwaffe greifen konnte, hatte diese schon ihr Unheil angerichtet und die linke Hälfte der Bluse ebenfalls in ein Schwarzbraun getaucht.
Kalomira-Kastania Niki lächelte spitzbübisch: „Jetzt gehen wir zu Ihnen ins Büro, Herr Unhold. Ihre Hemdgröße kommt der meinen gleich, da kann ich mich schon hineinzwängen und bei der Hose krempele ich einfach den Saum um, so sieht niemand, dass ich Hochwasser habe.“
Mit einem verkniffenen Gesicht und einem leisen Grummeln hatte er aus dem Fenster gesehen, während sich die Neue in seinem Rücken umgezogen hatte.
Froh, wieder unbekleckert zu sein, hatte sie ihm ein „Bis bald“ und hinter sich die Tür zugeworfen.
Georgias Amantinidis demgegenüber hatte weiterhin starr aus dem Fenster geblickt und sich gewünscht, dass das „Bis bald“ sogleich bedeuten würde.
Dieses kecke Wesen hatte sich tatkräftig in sein Herz geschlichen.
„Jetzt sollten Sie lieber nicht laut denken, Herr Kommissar“, riss Herrn Eileithyia Warnung den Kommissar aus seinen Erinnerungen. Beschämt wandte er den Blick ab von den Rundungen seiner attraktiven Mitarbeiterin und nörgelte vor sich hin, wie er den Kriminalbeamten sah, der sich gerade seinen Bart kraulte.
Kalomira-Kastania Niki schürzte kurz die Lippen wegen des intensiven Blickes des Kommissars und schenkte den Kollegen Getränke ein. Dabei spürte sie die Röte ihr Gesicht erobern. Sie mochte den feisten Kommissar. Sehr sogar. Eigentlich sogar noch mehr als sogar.
Still schmunzelte sie über dieses Wortspiel in sich hinein und fragte sich, ob dieser eifrige Ermittler seine privaten Anliegen mit gleichartigem Engagement sondieren würde. Wenn ja, müsste er mich in Kürze zum Essen einladen, schwärmte die große Frau verstohlen vor sich hin und heftete ihre Augen auf das Gesicht des sich auf seinen nächsten Vortrag vorbereitenden Mannes, wie Blütenstaub auf dem Panzer eines Käfers klebte, der von Blume zu Blume krabbelte.
Kommissar Amantinidis hatte die Daumen hinter seinen Gürtel gesteckt und forderte zum nächsten Gedankenaustausch auf.
Unerbittlich stand die Sonne am Himmel. Es war ein heißer Tag. Schweißperlen rollten den Archont Pechlivanidis von der Stirn, sammelten sich auf seiner Brust und seinem Bauch jeweils bei den zwei Gürteln seines Chitons. Weiß aus chinesischer Seide. Ein Kranzmuster als Verzierung am Halsausschnitt, am Saum und an der Ärmelöffnung. Der Überschlag hing ihm auf der rechten Schulter. Von einer Spange aus Elfenbein gehalten. Jeder in der Volksversammlung konnte sehen, er ist gut betucht. Ausdruck seines Reichtums. Kleon konnte sich nur assyrische Seide leisten, trug einen kürzeren Chiton, nur einfach gegürtelt. So benötigte er weniger Stoff. Je weniger Stoff, desto kürzer die Webzeit, desto geringer der Preis.
Pechlivanidis schritt über die Kopfsteinpflasterstraßen Athens. Noch waren sie in einem erbarmungslosen Zustand. Kaufleute und Militär zeterten schon seit Jahren. Heute hoffte er, endlich eine Entscheidung herbeiführen zu können. Der Missstand musste behoben werden. Eindeutig. Viel zu lange schon hatten sie in den letzten Monaten debattiert und beraten, alle Vor- und Nachteile abgewogen und viele Modelle zur Finanzierung erarbeitet. Am meisten hatte Pechlivanidis dabei gefallen, wie Händler, Handwerker, Adelige und Kleinbauern mit Herzblut und Elan zusammen an den politischen Prozessen gewirkt und sich zu Kompromissen zusammengefunden hatten. Der Vorteil darin war, sie würden die gemeinsam erarbeitete Lösung auch gemeinsam tragen.
Die Kleinbauern und Handwerker waren noch der Engpass. Doch genau das gefiel Pechlivanidis an dem neuen politischen System: Die gleichberechtigte Mitsprache der unteren Schichten.
Zwar stammte er aus der adeligen Kaste, war aber ein Idealist, der die Kraft der Gemeinschaft erkannt und die Stimmung bei den Untertanen richtig gedeutet hatte.
Zu sehr hatten gerade die Kleinbauern und Tagelöhner unter der jahrzehntelangen Ausbeutung durch die Großgrundbesitzer gelitten. Der Frieden in der Stadt war in Gefahr. In dieser Situation die machthabenden Kasten zu stützen, wäre das falsche Signal gewesen.
Schließlich waren diese Traditionalisten der Grund der derzeitigen Unzufriedenheit.
Sie hatten den Wert des Geldes für ihren Machterwerb und ihren Machtausbau erkannt. Woher es aber nehmen? Natürlich den Schwächsten in der Gesellschaft rauben. Hierin hatten sie sich über die Jahre bestens eingerichtet.
Da war Perikles auf den Plan getreten. Wollte er den Untergang Attikas verhindern, musste er die Ohnmacht der Schwachen brechen, hatte er folgerichtig erkannt. Seine Einführung der Diäten war zur rechten Zeit gekommen: Wer anstelle aufs Feld zu gehen lieber zur Volksversammlung geht, um die politische Gestaltung des Staates mitzutragen, muss gerechter Weise entschädigt werden. Sonst bliebe er lieber bei seiner erwerbsmäßigen Tätigkeit und die junge attische Demokratie würde schon in ihren Kinderschuhen stecken bleiben.
Natürlich hatten Pechlivanidis und seine Archontenkollegen sowie die ehemaligen Kollegen aus dem Areopag die Volksvertreter sehr stark beraten – man könnte auch sagen: Beeinflusst! Denn die Oberklassen, die Handwerker, die Händler oder das Militär würden sehr stark von den neuen Straßen profitieren. Doch letztendlich würde es auch den Bauern zu Gute kommen, dass sie schneller aufs Feld kommen, schneller ihre Ernte einbringen, schneller ihr Korn zum Müller bringen könnten. Diese Vorteile müsste Pechlivanidis heute allen Zweiflern plausibel aufzeigen. Dann hätten sie alle gewonnen.
Mit dem Klingeln des Weckers wurde der Bürgermeister Athens, Aristeidis Pechlivanidis aus seinen schönen Träumen gerissen, in denen er zu gerne abtauchte in die Antike, insbesondere zu der Geburtsstunde der Demokratie.
Da heute Samstag war, musste er an diesem Tag nicht in den Senat, sondern konnte sich der Familie und ein wenig dem Haushalt widmen. Doch die anstehende Woche sollte ihn bei seiner politischen Arbeit im selben Rahmen fordern, wie es der Hetzer Kleon in seinem Traum von ihm abverlangte. Nur ahnte der Kommunalpolitiker dieses zur Stunde noch nicht.
Vergnügt kämmte sich der kleine Mann - er maß gerade einmal ein Meter sechzig - nach dem Duschen das schütte Haar und raste mit einem elektrischen Bartschneider über Kinn, Wangen und Hals.
Frisch frisiert stapfte er in die Öffentlichkeit.
Nachdem er fürs Frühstück eingekauft hatte, bereitete er dasselbe vor und weckte seine Frau mit einem Begrüßungskuss und einer Tasse frisch aufgebrühtem Kaffee. Anschließend fuhr er mit dem Auto zum Supermarkt, den Wocheneinkauf zu tätigen, ließ in der Werkstatt schnell die Bremsen nachstellen, damit seine Frau wieder Zuversicht in ihr gemeinsames Auto bekommen konnte und kaufte im Spielwarengeschäft für seinen kleinen Sohn ein batteriebetriebenes Feuerwehrauto. Wieder zuhause, kümmerte er sich um den Müll sowie das Altglas und Altpapier, putzte das Badezimmer, hängte seine frisch gewaschene Wäsche auf und bügelte einige Hemden, die er in der nächsten Woche benötigen würde.
Wie der Haushalt getan war, setzte er sich vor seinen Laptop, um einige Stichpunkte für seine Rede am Montag auszuarbeiten. Er hatte noch gar nicht allzu lange im Arbeitszimmer gesessen, als seine Frau eintrat und ihn tadelte: „Was sitzt du schon wieder herum und kümmerst dich nur um dich selber. Ich hab dir schon so oft gesagt, dass ich es absolut nicht gut heiße, dass du dich überhaupt nicht um uns, deine Familie, kümmerst. Du wirst schon noch sehen, was du davon hast. Immer dreht sich alles nur um deine Welt.“ Dann schlug sie die Tür zu und setzte sich wieder vor den Fernseher. Dorthin, wo sie die letzten vier Stunden gesessen hatte.
Pechlivanidis war es mit der Zeit leid geworden, sich gegen diese ungeheuren und ungerechten Vorwürfe zu rechtfertigen. Er fand bei seiner Frau sowieso keine Bereitschaft, ihn objektiv zu beurteilen. Sie gehörte zu denjenigen Menschen, die von ihrem Leben abgrundtief enttäuscht und frustriert waren und jederzeit Ausschau hielten nach einem Ablassventil. Da der Partner derjenige war, der die meiste Zeit über greifbar war, wurde er verständlicher Weise dafür vornehmlich missbraucht. So schüttelte sich Pechlivanidis nach diesem frechen Auftritt seiner Frau nur kurz und flüchtete wieder ins Konzeptionieren seiner Reden.
„Kommen wir nun zu den Mordmotiven, was sicherlich eine sehr viel schwierigere Aufgabe sein wird, als das Erörtern der Gründe, weshalb sich die Attentäterin nicht verkleidet hat. Bitte legen Sie los“, forderte der Kommissar Amantinidis seine noch immer im Arbeitszimmer des Ermordeten verschanzte Truppe zum neuerlichen Gedankenaustausch auf. Mit glänzenden Augen nippte er dabei an seinem Orangensaft.
Abermals sprudelte die Fantasie seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
„Sie war die heimlich Geliebte des Opfers, und nachdem er sie abgeschoben hatte, hat sie ihn ermordet.“ - “Sie wurde als Killerin von seiner Frau angeheuert, nachdem diese erfahren hatte, dass sie betrogen worden ist.“ - „Oder sie ist angeworben worden von einer Person, die jetzt viel Geld erben wird.“ - „Möglich, dass sie von der konkurrierenden Partei angeheuert wurde, da demnächst Wahlkampf ist und Herr Tsantidis, der Finanzfachmann der Opposition, für vollkommen andere politische Prinzipien einsteht als die derzeitige Regierung.“ - „Auch sollten wir seine wirtschaftlichen Verflechtungen ansehen. Vielleicht wollte ihn da jemand aus dem Weg räumen, weil er sich zu sehr im Sumpf von Korruption verloren hat und einflussreiche Kräfte unruhig geworden sind“ - „Und in der Vergangenheit könnten wir suchen: Hat er ein uneheliches Kind und hat er dieses zudem vernachlässigt? Ist das Kind möglicher Weise das Resultat einer Vergewaltigung?“ - „Es könnten auch linke terroristische Gruppierungen ins Visier genommen werden.“ - „Ein Amoklauf fällt weg, da sonst alle Teilnehmer der Feier hätten ermordet werden müssen. Es war jedoch eine ganz gezielte Liquidierung.“ - „Wem hat er weh getan, und für wen war er eine ernsthafte Bedrohung? Das sollten wir ermitteln.“
Als auch diese Kärtchen an der provisorischen Pinnwand angebracht waren, wurde die standardisierten Aufgaben verteilt. Zu befragen waren Ehefrau, Familienangehörige, Geschwister, Kollegen und Kontrahenten in der Politik und in der Wirtschaft, Führer von radikalisierten Gruppen sowie Ärzte, Bankdirektoren und natürlich die gesamte Nachbarschaft.
Hierzu waren die notwendigen Genehmigungen von der Staatsanwaltschaft einzuholen, mussten die elektronischen Kommunikationsmittel ausgewertet und bei den Kollegen der kriminaltechnologischen Untersuchung Dampf gemacht werden, die Berichte zu schreiben und dem leitenden Kommissar vorzulegen.
Nachdem die polizeilichen Ermittlungen angestoßen waren, setzte sich Kommissar Amantinidis in seinem Stuhl zurück und begab sich in weitere Analysen: Die Killerin wusste genau, wen sie umzubringen hatte und war weder in Panik noch in Blutrausch verfallen, als das erste Opfer vor ihr lag. Das weist auf eine äußerst starke Disziplinierung hin, fast wie bei hoch ausgebildeten Soldaten oder Polizisten, die für Spezialaufgaben auserkoren werden.
Den rechten Ellenbogen auf den Tisch aufgestützt kratzte sich der Kommissar den Nacken, als er in seinem Notizblock „EDV instruieren - Datenbänke“ kritzelte.
Bei den weiteren Gedanken klackerte sein Kugelschreiber. Es schien, als wollte der Kommissar innerhalb von einer Stunde testen, wie viele Klicks pro Minute die kleine Stahlfeder auszuhalten hätte, bevor das Schreibgerät seinen Geist aufgeben würde.
Doch zum Glück verkrampften sich nach kurzer Zeit die Finger seiner linken Hand. Der hellrote Kugelschreiber war noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.
Nachdem im Raum eine Stille eingekehrt war, in der man das Atmen einer Kellerassel hätte hören können, richteten sich die Gehirnströme des Kommissars wieder auf ein Ziel hin aus.
Das Schwertschwingende Biest hatte die Örtlichkeiten gekannt. Irgendjemand muss sie gesehen haben, wie sie das Haus ausspioniert hat. „Anwohner - Auffälligkeiten“ kratzte sein Stift auf das Papier.
Des Weiteren hat sie ein sehr breites Schwert geführt und der Hieb ging lang durch den Körper des Opfers hindurch. Sie muss demnach von einer ungeheuren Kraft beseelt sein. „Fitnesscenter - Kampfsportschulen - Schwertverkauf“, ächzte der Kugelschreiber.
Plötzlich beseelte ihn eine völlig neue Sicht auf die Tat: Die Frau war nicht vermummt, weil sie sich sicher war, die Tat gefahrlos ausüben zu können und sich zusätzlich der Polizei überlegen wähnt, selbst wenn diese ihr Gesicht kennen würden. Woher nimmt sie sich diese Sicherheit, fragte sich der Kommissar. Die Antwort darauf kann ein Schlüssel sein.
Als erstes kreisten seine Gedanken um den Umstand, dass die Frau keinen Zweifel gehegt haben musste, ihren Anschlag vollstrecken zu können. Wie war sie demnach bis zu dem Haus vorgedrungen - in dieser auffälligen Aufmachung und mit einem Schwert in Mannsgröße? In einem Lieferwagen, wo sie sich umgezogen hatte? Oder gab es gar Helfer? Möglicher Weise einen ganzen Stab? Lag sie schon verkleidet im Lieferwagen, als der „Chauffeur“ vorfuhr? In welcher Wohnung müsste dann eine dritte Person mit Fernglas und Mobilphone gesessen haben, um die Attentäter zu lenken?
„Neuvermietungen - Appartements - gegenüber“, schrappte die Mine eifrig übers Papier.
Im Anschluss daran widmete sich Herrn Amantinidis Analyseverstand der besonderen Aufmachung: Wozu diese Verkleidung als antike Kriegerin? Ein dunkler, unauffälliger und sportlicher Dress sowie eine Pistole hätten es ebenfalls getan. Das wäre normal gewesen. Warum diese Unnormalität? Was soll mit dieser Folklore bezweckt werden? Will man im Besonderen die Fantasie der Öffentlichkeit ansprechen? Auf was aber soll die Öffentlichkeit hingewiesen werden?
Er schenkte sich ein weiteres Glas Orangensaft ein, trank es halb aus, schwenkte den Inhalt in seiner Hand und erfreute sich an das leise Blubbern, wenn er das Glas so schnell gedreht hatte, dass im Glas eine kleine Welle entstanden und zusammengebrochen war.
Erst nachdem er den Rest ausgetrunken hatte, wurde ihm wieder bewusst, wie heiß und stickig es in diesem kleinen Zimmer war. Die Zeit war reif, ins Revier zu fahren.
Kurzentschlossen erhob er sich vom Stuhl hinter dem rotbraunen Mahagonieschreibtisch, trat in den Flur, wie Herrn Eileithyia an, die Kärtchen der Pinnwand einzupacken, nickte der neuen Kollegin Kalomira-Kastania Niki kurz zu - viel zu kurz für sein Empfinden, aber zum einen wollte er als Junggeselle nicht ins Gerede kommen, zum anderen verbarg er hinter dieser Sachlichkeit seine Unsicherheit. Noch war er uneins mit seinen Gefühlen, ob hinter seinem Interesse an dieser Person mehr stand als sexuelle Neugier. Doch schwerer wirkte die Ungewissheit, ob sie seine Gefühle erwidern würde. Abweisungen und negative Kritiken konnte er nämlich nur sehr schwer verdauen. Nächtelang würden diese ihm seinen Schlaf rauben. In dieser Hinsicht waren sie noch schlimmer als ein Fall, der so verstrickt war, dass er keine Möglichkeit fand, den Knoten zu lösen.
Deshalb hielt er sich bei diesem hübschen Rothaar zurück; deshalb hielt er sich generell beim Umgang mit dem anderen Geschlecht zurück.
Dennoch sah er bei jedem entgegenkommenden Auto anstelle der Scheinwerfer nur ihre Augen, anstatt des Kühlergrills ihren Mund.
Ja, sie hatte es ihm angetan. Ebenso wie die Frage, warum der Finanzfachmann sterben musste.
„Jetzt hast du einen Doppel-Fall“, hörte er sich sein Spiegelbild ansprechen, „unterstehe dich, nur den beruflichen zu lösen.“
Angekommen in seinem klimatisierten Büro legte er die Füße auf den Tisch und warf die Gedankenmaschinerie erneut an. Er mochte es, wenn sich die Fragen um ihn türmten. Je mehr Fragen es gab, desto mehr Antworten würden sich einfinden. Es war wie bei einem Mosaik. Ein Stein alleine betrachtet lässt unmöglich darin das Gesamtkunstwerk erkennen. Erst im Verbund mit all den anderen Farbplättchen - vorausgesetzt, sie werden an der richtigen Stelle eingereiht - erkennt man das wahre Bild.
Das liebte der Kommissar an seinem Beruf.
„Am Anfang steht man vor einem schier unüberwindlich glaubenden Berg, doch mit jeder gewonnenen Erkenntnis wird das anfängliche Chaos übersichtlicher und handhabbarer. Auch diesen Mord werde ich aufklären, wie fast jeden in meiner bisherigen Laufbahn, und die Mörder hinter Gitter bringen.“
Wie er bei diesen Worten auf sein hellrotes Schreibgerät blickte, das er beflissentlich in seiner Hand drehte, war ihm kurz so, als wären dem Kugelschreiber ein Schnauzbart und zwei Finger gewachsen.
In der kleinen mit Strohmatten ausgelegten Halle, deren Wände weiß gekalkt waren und durch dessen Fenster man auf die in der Nähe stehenden Tannen blicken konnte, sah man drei junge Frauen zwischen 16 und 18 Jahren mit einem Holzschwert kämpfen. Eine von ihnen war immer für gut zehn Minuten in der Mitte und wurde von den anderen beiden permanent attackiert. Nach zehn Minuten wechselte die Person in der Mitte, bis alle drei je einmal als Verteidigerin rangekommen waren. Schweißgebadet und laut nach Luft japsend mühten sie sich, auch noch in der dritten Runde schnell und scharf zuzuschlagen.
An der Stirnseite der kleinen Halle saß auf einer erhöhten Stufe der Meister im doppelten Lotussitz und beobachtete mit flinken Augen seine fleißigen Schülerinnen.
Durch ein Händeklatschen gab er das Ende der Übung bekannt. Nachdem sich die drei jungen Frauen ihm gegenüber in eine Reihe niedergekniet hatten, begann er mit seiner Ansprache: „Lian, Xue und Li, ihr habt euch die Techniken des Schwertkampfes schon sehr gut angeeignet, seid reaktionsschnell und wisst auf fast jede Attacke eine Antwort. Es freut mich, zu sehen, wie viel ihr gelernt habt.“
Respektvoll blickten die drei jungen Schülerinnen den alten Meister an. Stolz richteten sich ihre Köpfe gen Himmel. Gebieterisch und ehrfurchtsvoll war ihre Körperhaltung.
„Ihr steht jetzt an der Schwelle, den nächsten wichtigen Schritt zu tun, das Eins werden mit dem Schwert.“
Fragend blickte sich die in der Mitte sitzende Lian um. Ein Schulterzucken war ihre Ernte. Auf beiden Seiten. Der Meister schmunzelte über ihre Ratlosigkeit.
„Wenn ich euch beobachte, sehe ich, dass ihr euch verändert, wenn ihr das Schwert ergriffen habt. Und diese Veränderung bleibt während des Kampfes bestehen. Ich gewahre, wie ihr dem Schwert eine überaus große Bedeutung beimisst, wenn ihr es in euren Händen haltet. Plötzlich scheinen sich eure Gedanken viel um diesen Gegenstand zu drehen. Plötzlich zergliedert ihr die Wirklichkeit in ein Schwert, eine Gegnerin und ein Ich. Doch dieses Zergliedern der Wirklichkeit raubt euch Kraft und Konzentration. Ich meine damit die Konzentration, die keine Konzentration mehr ist.“
„Ähm“, wagte Lian vorsichtig ihren Protest zu äußern.
„Wir können euch nicht folgen, lieber Meister“, sprang Xue der sich Vorgewagten an die Seite.
„Indem ihr das Schwert in den Händen haltet und eure Augen mehr oder weniger auf diesen Gegenstand stieren, verliert ihr den Überblick über den Raum. Das ist die Konzentration, wie wir sie im herkömmlichen Sinne verstehen: Wir haben ein großes Ganzes und konzentrieren uns nur auf einen klitzekleinen Teil davon; nämlich dem Schwert. Diese Art der Konzentration würde für euch im Ernstfall den Tod bedeuten.“
Li vollzog mit ihrer Handkante einen kurzen Schnitt über ihre Kehle. Mit raushängender Zunge fiel sie zu Boden. Lian und Xue kicherten hinter vorgehaltener Hand. Der alte Mönch lächelte gütig mit.
„Ich sehe, ihr habt das richtige Verständnis vom Tod“, scherzte er.
Jetzt lachte auch Li. Auferstanden von den Toten. Zurückgekehrt aus dem Zirkus, den Clown beiseitegelegt.
Ernst blickten die drei Mädchen den Meister an. Sie waren bereit, seiner Unterweisung wieder zu folgen.
„Die Konzentration, die keine Konzentration mehr ist, meint etwas Anderes. Sie entsteht in dem Moment, wo wir uns nicht mehr auf einen Teilaspekt der Wirklichkeit beschränken, sondern versuchen, die ganze Wirklichkeit wahrzunehmen. Ihr müsst das Fernrohr aus der Hand legen, um wirklich in die Ferne sehen zu können.“
„Wie werde ich eins mit dem Schwert?“, unterbrach Lian den Meister. Jetzt mit Eifer bei der Sache.
„Indem du das Schwert vergisst.“
„Wie soll ich es denn vergessen? Vor allem, wenn ich es in der Hand halte.“
„Siehst du, Lian. Dadurch, dass du daran denkst, ein Schwert in den Händen zu halten, konzentrierst du dich schon auf diesen einen Gegenstand. Dieser Gegenstand bekommt für dich mehr Bedeutung als alle anderen Dinge um dich herum. Genau von dieser Vorstellung musst du loslassen.“
„Das verstehe ich nicht, großer Meister.“
„Nun, mein Lehrmeister sagte immer, wir müssen verschmelzen mit der Leere des reinen Nichts. Erst wenn uns das gelänge, würden wir eine vollkommene Effektivität in den Kampfkünsten erreichen. Was ist das aber, diese Leere des reinen Nichts? Und was bedeutet es, Eins zu werden mit dem Schwert?
Wenn ihr beim Mittagsessen seid, nehmt ihr eure Schale in die eine Hand und in die andere eure Stäbchen. Und wie von selbst esst ihr. Zu keinem Zeitpunkt seid ihr beim Essen mit den Gedanken dabei, wie muss ich meine Finger halten, um die Stäbchen nicht zu verlieren.“
Als hätte es ein geheimes Zeichen gegeben, nahmen die drei Mädchen ihre Luftschale in die Hand und aßen mit ihren unsichtbaren Stäbchen die nichtexistente Speise. Neugierig blickte der Meister sich um. Aber es stand kein Puppenspieler hinter ihm, der mittels geheimer Fäden die drei Mädchen dirigierte.
Mit vor Vergnügen leuchtenden Augen fuhr er fort: „Ja, ja. Ihr wisst ganz genau, wie ihr die Stäbchen bewegen müsst, damit sie das Gemüse erfassen. Wie die Schale in eurer Hand liegen muss, damit die Stäbchen da hineingreifen können. Nein, ihr macht das alles vollkommen automatisch, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden. Ihr seid völlig eins mit den Stäbchen, der Schale, dem Essen und eurer Mitwelt.“
Xue stellte ihre leere Schale ab und streckte sich. Li fächelte sich Luft zu. Sonst würde sie gleich einschlafen, sollte die Provokation andeuten.
„Richtig. Wenn ihr im Sommer mit einem Fächer euch frische Luft zuwedelt, könnt ihr trotzdem nebenbei ein Buch lesen, euch mit eurer Freundin unterhalten oder spazieren gehen. Auch hier verschwendet ihr nicht einen einzigen Gedanken daran, wie man den Fächer halten oder bewegen muss. Weder die Stäbchen noch der Fächer werden von euch mit einer besonderen Bedeutung bedacht. Und dennoch funktioniert alles vortrefflich“, wandelte der alte Mann den versteckten Angriff auf seine Autorität in ein zweites Gleichnis seiner Lehre um.
Die Matte raschelte, als sich Li in den Kniesitz begab, die Hände vor ihre Brust verschränkte und ein Gesicht aufsetzte, als hätte man ihr erst einen knusprigen Entenbraten vorgesetzt, ihn aber genau in der Sekunde wieder weggezogen, als sich ihre Hand nach dem herzhaft duftenden Fleisch ausstreckte.
Der Mönch registrierte sehr wohl die Mischung aus Beleidigtsein und Zorn in Lis Gesicht und entschied sich, darüber hinwegzusehen. Unbeirrt setzte er seinen Vortrag fort: „Zu dieser Einstellung der Bedeutungslosigkeit müsst ihr kommen, wenn ihr das Schwert ergriffen habt und mit ihm kämpft. Es darf für euch keine Geltung haben. Ihr dürft nicht einen einzigen Gedanken an ihm verschwenden.“
Schwert war der Weckruf für Xue. Jetzt kam wieder Action ins Spiel. Eine Heldin war sie, die schwertschwingend die armen Bauern vor den Soldaten verteidigte. Zumindest in ihren Tagträumen. Jetzt roch die junge Frau sogar den Dung der Ställe, die nasse, frischgepflügte Erde der Äcker und das Birkenholzfeuer im Ofen des Wohnhauses. Alles Errungenschaften, die es zu verteidigen galt. Mit ihrem Geschick, ihrer Kraft - aber vor allem, ihrem Schwert.
Das Heft des Holzstocks fest umschließend trat sie dem alten Mann trotzig entgegen: „Mein Schwert gehört mir. Es hat sogar einen Namen. Nie könnte ich es vergessen. Immer ist es für mich von Bedeutung.“
„Das meine ich nicht, liebe Xue. Recht hast du! Dein Schwert sollte immer dein Partner sein. Aber im Kampf muss etwas Anderes geschehen. Hat euer Kopf sich vom Schwert losgelöst, wird das Schwert Teil eures Körpers. Genau so, wie es die Stäbchen und die Schale werden, wenn ihr esst.
Mein Meister sagte immer, wir müssten so tun, als hätten wir überhaupt kein Schwert in der Hand. Und wir müssten beim Kämpfen so tun, als gäbe es gar keinen Gegner. Wir dürften nicht einmal daran denken, dass es einen Gegner gäbe.
Wenn wir das geschafft haben, dass wir nicht mehr an einen Gegner denken, nicht mehr an ein Schwert und nicht mehr an unser Ich, dann sind wir Eins mit der Welt. Wenn wir nicht mehr denken, dann sind wir verschmolzen mit der Leere des reinen Nichts. Und in diesem Zustand fällt uns das Reagieren extrem leicht. In diesem Zustand ist unsere Wahrnehmung optimal. Diese Wahrnehmung lässt uns schon ganz früh erkennen, wohin der Gegner schlagen wird. Und sie lässt uns ganz früh erkennen, wo er verwundbar ist.“
„Das habe ich schon mal erlebt“, pflichtet Li dem Erzählenden mit großen Augen bei. „Wie von selbst stoße ich in die Öffnung hinein, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben. Das passiert, wenn wir den Dingen keine Bedeutung mehr beimessen, nicht wahr?“
„Ja, dann werdet ihr frei.“
Erneut saßen dem Kampfkunstmeister drei Fragezeichen gegenüber. Gerade noch hatten sie gedacht, den weisen Mann verstanden zu haben, da irritierte er sie aufs Neue. Machte er das absichtlich?
„Frei bin ich sowieso.“ Zickig verschränkte Lian ihre Hände vor der Brust, drehte den Kopf zu Li und lächelte. Nun waren sie schon zu zweit. Fehlte nur noch Xue, um den Widerstand gegen den alten Mann und seine eigentümlichen Aussagen perfekt zu machen.
„Deine Gedanken stellen dir nie ein Bein, mein Täubchen?“ Geschickt äffte Xue Gestik, Stimme und Wortwahl des Mönchs nach, als sie zu Lian sprach. Der Meister lachte still in sich hinein. Und beobachtete den Streit unter seinen Schülerinnen.
„Meine Gedanken drehen dir gleich eine lange Nase. Danach packe ich sie und werfe sie in den Abort. So wirst du dein Leben lang diesen Gestank nicht mehr los.“
„Tst, tst, tst“, drosselte der Lehrmeister die aufwallenden Emotionen.
Der Erfolg zeigte sich sogleich: Xue stieg auf Lians Angriff nicht ein: „Ich erinnere dich nur an letzte Woche. Wie sauer du warst, als dein Freund nicht mit dir zum Schwimmen kommen wollte.“
„Was hat das hiermit zu tun?“ Lian nahm die Arme von der Brust und zeichnete mit dem Zeigefinger imaginäre Kreise auf den Fußboden. Die Lider geschlossen konnte niemand sehen, wie ihre Augen glasig wurden bei den Gedanken an die von Xue angedeutete Situation.
Xue achtete die Gemütsbewegung ihrer Freundin nicht. Sie wollte jetzt protzen vor dem Lehrmeister, ihm zeigen, wie weit sie ihn verstanden hatte. Deshalb legte sie ihren Finger auf die Wunde und bohrte hinein: „Nun, erinnerst du dich nicht mehr? Oh, was hast du in meinen Armen geflucht auf diesen Hurensohn. Weinend fabuliertest du ihm eine neue Freundin an den Hals. Böse warst du geworden . . .“
„Und verzweifelt“, wagte Lian eine Abschwächung; ein verzweifelter Versuch, Xue zu stoppen, den ganzen Jaucheeimer über ihr Haupt auszuschütten.
Diese jedoch war längst unempfindlich geworden.
„Verzweifelt? Aus Verzweiflung hattest du ihm ein Krokodil an die Füße gewünscht? Und seiner angeblich neuen Flamme das Wasser aller Ozeane an den Hals geflucht?
Und was passierte danach, he?!
Einen Tag später stellte sich heraus, dass ihn nur Durchfall geplagt hatte.“
„Na und!“
„Nennst du dieses eine Freiheit, Lian? Diese Art des gefesselten Denkens, der geknebelten Wahrnehmung? Du hattest die Bedeutungslosigkeit verloren. Die Disharmonie zeigte ihre entfesselte Fratze. Gefangene deiner eigenen Ängste warst du geworden. Fast hättest du deshalb deinen Freund verloren.“
Lian steckte Xue die Zunge raus. Dann senkte sie ihre Augen erneut.
Die Zufriedenheit im Gesicht des weisen Mannes, die sah sie nicht. Schade, denn sie hätten ihre kleine Niedergeschlagenheit kuriert. Voller Glück schaute der alte Mönch auf seine drei Meisterschülerinnen.
„Ihr seht, wer nicht leer ist, erkennt auch in seinem Privatleben nicht die Wirklichkeit. Je leerer ihr werdet, je weniger ihr alle Sache und Dinge mit einer Wichtigkeit überfrachtet, desto ausgeglichener, friedlicher und toleranter werdet ihr. So findet ihr die wahre Freiheit. Das will uns der Weg der Schwertkunst aufzeigen.
Deshalb übt jetzt einmal einige Katas ohne Gegner und konzentriert euch bei der ganzen Bewegung nur auf euren Körper: Steht ihr tief und kraftvoll. Ist eure Hüfte entspannt, wenn ihr euch dreht und bewegt. Bleibt eure Schulter locker, wenn die Arme sich bewegen. Diese Konzentration auf den eigenen Körper lässt euch das Schwert vergessen. Und übt ihr im Anschluss daran Katas mit einem Gegner, so hilft es euch, den Gegner zu vergessen, wenn ihr eure Aufmerksamkeit auf euren Körper richtet.
Doch wisset, dieses Konzentrieren auf den eigenen Körper ist nur eine Brücke, die wir betreten auf dem Pfad von der Zergliederung der eigenen Person und der Welt um uns herum hin zu der großen, weiten Leere des reinen Nichts.“
Darauf gingen die drei jungen Frauen wieder auf die Matte und übten in den Katas, die ihnen am liebsten lagen, das Verschmelzen mit dem Schwert. Der Meister unterstütze sie bei ihrem Üben immer wieder mit knappen Zwischenrufen, wie „den Schwerpunkt nicht verlieren“, „die Hüfte lockerlassen“, „nicht an den Ablauf der Techniken denken, wenn ihr die Techniken verändert, ist das in Ordnung“ und so weiter. Zufrieden erkannte er die Veränderung in der Bewegung seiner drei Mädchen.
„Schönen guten Abend, Kolleginnen und Kollegen. Wir sind zusammengekommen, die neuesten Erkenntnisse zusammen zu tragen. Ich bitte Herrn Eileithyia damit anzufangen, was die Befragungen der Familie ergeben haben“, eröffnete Kommissar Amantinidis die Runde.
„Die Befragungen bei der Familie und im näheren Umkreis der Familie haben ergeben, dass Herr Tsantidis keine Geliebte hatte, nicht fremd gegangen war und auch von Bordellbesuchen abgesehen hatte. Nach Meinung der Befragten habe er seine Familie über alles geachtet und von ihr stets nur positiv gesprochen. Seine Tochter war für ihn die Allergrößte. Er war arbeitsam aber auch ein guter Familienvater, sagt die Bekanntschaft und Verwandtschaft.“
„Allerdings deckt sich das nicht mit den Zeugenaussagen vom Mordabend“, ergänzte eine Kollegin. „An diesem Tag soll er seine Frau und seine Tochter vor den Gästen sehr herabwürdigend behandelt haben.“
„Somit gibt es hier widersprüchliche Angaben. Ein Unschuldslamm wird er nicht gewesen sein. Weil er keine Frauengeschichten hatte, können wir nun das Motiv Eifersucht ausschließen, nicht aber die Verdächtigung gegen Familienangehörige. Also doch ein Rachefeldzug wegen seelischer Misshandlungen? Die Befreiung der Ohnmächtigen durch einen nicht zu legitimierenden Mord? Wir müssen dieser Spur weiter nach gehen. Eventuell finden wir so Indizien, die uns zur Täterin führen. Wenn nicht, können wir diesen Strang ebenfalls schließen“, schaltete sich Kommissar Amantinidis ein und gab sogleich das Gespräch an den Kriminalbeamten zurück, indem er ihn fragte, was die Ermittlungen bei Ärzten und Banken ergeben hätten.
„Er war kerngesund, trieb regelmäßig Fitnessport und in Therapien war er nicht aufzutreffen. Hier scheinen wir kein Motiv zu finden“, setzte Herr Eileithyia seinen Vortrag mit Begeisterung in der Stimme fort und sonnte sich unter den vielen Augen, die neugierig und entzückt zu ihm aufschauten und sehnsüchtig dem Ende seiner kleinen Kunstpause entgegenfieberten. Damit der Enthusiasmus nicht aufgrund von Enttäuschung in Zorn umschlagen konnte und er nicht gewillt war, von seinen Kolleginnen und Kollegen bis zum Kopf in Sand eingebuddelt und mit Steinen beworfen zu werden, besänftigte er die Meute, indem er die Katze aus dem Sack ließ: „Etwas anders sieht es bei den Banken aus. Seit zwei Jahren bekommt er regelmäßig Zahlungen aus den USA, und die Beträge haben sich im letzten halben Jahr deutlich erhöht. Wir sind dran, herauszufinden, wer diese Überweisungen tätigt.“
Georgias Amantinidis unterband das eingesetzte Beifallklatschen erst nach zwanzig Sekunden durch das Heben seiner linken Hand und wandte seine Aufmerksamkeit nun wieder der ganzen Gruppe zu: „Das ist eine sehr gute Spur. Weiter so. Bleiben Sie dran, werter Kollege. Was ergab die Befragung in der Nachbarschaft? Hat jemand irgendetwas Verdächtiges gesehen oder gehört?“
„Niemandem sind verdächtige Personen in den letzten Wochen aufgefallen“, berichtete die Kollegin, die sich vorhin schon einmal eingeschaltet hatte. „Keine fremden Autos, keine fremden Personen, auch Familie Tsantidis verhielt sich so, wie sie sich immer verhalten hatte. Nur ein etwas herunter gekommener Alkoholiker meinte, am späten Abend gesehen zu haben, wie ein riesiger Vogel vom Himmel herabgeschossen wäre und sich eine Person in einer langen schwarzen Kutte mit Kapuze ergriffen hätte. Als hätte ein Bussard eine Maus gefangen, sei der Vogel wieder in den schwarzen Nachthimmel davongestoben.“
Der Besprechungsraum bebte. In ihm hallte das Klatschen auf Oberschenkel, das Trampeln auf dem Fußboden und ein lautstarkes Lachen wie aus tausend Kehlen.
Erst nach einer Minute beruhigte sich der Tumult.
Trotz der um Ruhe mahnenden Hand des Kommissars.
Nicht immer schaffte er es, seine Meute zu leiten.
Aber ein wenig Freiraum an der richtigen Stelle, und schon wird er von seinen Mitarbeitern anstatt eines großen Demotivators als verantwortungsvoller Chef wahrgenommen, für den man durch das Feuer geht.
Diese Einstellung hatte er in Führungskraft-Seminaren nicht gelernt. Diese Einstellung war in Führungskraft-Seminaren nicht zu erwerben. Sie kam aus dem Inneren heraus. Entweder hatte man sie oder nicht. Leider saßen in den Führungsetagen von Wirtschaft und Politik Athens nicht viele Leute seines Schlages. Sein großes Vorbild war Bürgermeister Aristeidis Pechlivanidis.
Mit einem gütigen Lächeln schaute Herr Amantinidis in seine Zuhörerschaft, nachdem sich der Radau gelegt hatte, und hob an: „Nun gut, die Fantasien eines Betrunkenen bringen uns nicht weiter. Dennoch können wir aus den Erzählungen der Nachbarschaft vermuten, dass die Familie weder bedroht noch erpresst wurde, da sie sich so gewöhnlich wie immer verhalten hat. Kontrolliert trotzdem bitte noch mal die Konten, ob es in den letzten Wochen verhältnismäßig hohe Abhebungen gegeben hat. Noch können wir das Motiv Erpressung nicht ganz ausschließen.
Wie sind wir voran gekommen mit neuen Erkenntnissen im Bereich Politik und Wirtschaft?“
„Im Bereich Wirtschaft müssen wir noch mehr Zeit investieren – auch benötigen wir hierzu tiefere Einblicke zu seinem politischen Schaffen. Ersten Erkenntnisse zur Folge ist er in seiner Partei eine absolut anerkannte Führungskraft. Und die Basis hoffte, mit ihm den nächsten Wahlkampf zu gewinnen. Eine Gegnerschaft oder Intrigen, sagten seine Kollegen, könnte sich niemand vorstellen, da zu viele profitieren würden, wenn er die Wahl im nächsten Frühjahr gewänne. Sehr viele Parteimitglieder haben neue, besser dotierte Posten in Aussicht, einen Zuwachs an Ansehen und die Chance, in Aufsichtsräte der Wirtschaft zu rutschen. Ihr Flaggschiff zu morden käme einem Selbstmord gleich. Von daher scheinen die politischen Kontrahenten wichtiger zu sein, als Widersacher in den eigenen Reihen.“
„Haben wir schon neue Informationen?“, fragte Amantinidis mit neugierigen Augen nach.
„Radikalisierte Gruppen haben wir noch nicht ins Visier genommen, weil wir erst näher herausfinden möchten, mit welchen politischen Themen sich der Finanzfachmann explizit beschäftigt hat und ob die Zahlungseingänge aus den USA mit diesen Beschäftigungen im Zusammenhang stehen.
Fakt ist jedoch, dass die regierende Partei um Bürgermeister Pechlivanidis in den letzten zwölf Monaten stark an Zustimmung verloren hat und zu Recht befürchten muss, die nächste Wahl nicht mehr zu gewinnen. Viele Senatoren würden ihre gut bezahlten Arbeitsplätze verlieren, was leider die Anzahl an Personen erhöht, die ein Motiv hätten.“
„Da Klarheit hinein zu bringen, wird viel Fleiß kosten, ist aber notwendig“, fuhr Kommissar Amantinidis in die Ausführungen seines Mitarbeiters. „Wir sollten als allererstes mit dem Bürgermeister sprechen. Der wird sicherlich fast genauso gut Bescheid wissen, an welchen politischen Aufgaben der Finanzfachmann der Opposition gearbeitet hat. Und er wird eher bereit sein, uns darüber Auskunft zu geben, als die eigenen Parteigenossen.
Wie sieht es mit der Erbschaft aus? Gibt es ein Testament?“
„Es gibt ein Testament. Alleinerbin ist die Ehefrau. Somit gibt es keine Motive in der Verwandtschaft. Auch die Ehefrau hätte auf dem ersten Blick kein Motiv, da sie sowieso das Geld schon hatte.“
„Aber nur zu dem Preis sehr hoher Kränkungen und einer psychischen Misshandlung der gemeinsamen Tochter. Vielleicht hatte sie einen Liebhaber. Das sollten wir in Erfahrung bringen. Noch ist sie nicht raus aus dem Kreis der Verdächtigen.“ Wieder war es die junge Polizistin, die an diesem Fall ein ehrliches Interesse gefunden hatte. Kommissar Amantinidis nahm sich vor, ihr nach dem Meeting in einem Vier-Augen-Gespräch sein Lob auszusprechen.
Jetzt aber lauschte er weiter ihren konstruktiven Einwänden: „Sie vergessen, dass die Ehefrau ziemlich ramponiert wurde, Herr Kommissar. Das sieht nicht nach einer abgesprochenen Inszenierung zwischen Ehefrau und Killerin aus.“
„Da gebe ich Ihnen recht. Trotzdem dürfen wir den Punkt nicht abhaken, bevor wir nicht Gewissheit haben. Vermutungen - und seien sie noch so logisch - dürfen uns nicht zu schwerwiegenden Entscheidungen verleiten lassen.“ Galant zwinkerte er der Kollegin zu. Augenblicklich verstummte ihr gepresstes Ausatmen.
Der Kommissar strich sich mit seiner linken Hand durchs Haar, räusperte sich, als müsse er Gedanken abschütteln, die seinen Verstand zu Umgarnen versuchten und gab das Wort an die Mitarbeiter der Spurensicherung.
„Leider können wir Ihnen wenig Neues mitteilen, Herr Kommissar.“ Um seiner Rede Nachdruck zu verleihen, war ein dicker Mann mit großer Brille, leicht fettigen Haaren und einem unrasierten Hals unter seinem Doppelkinn aufgestanden.
„Die Mordwaffe war ein breites und scharfes Schwert, was vor dem Anschlag gut gesäubert worden sein muss. In den Hemden, in denen die Attentäterin ihr Schwert abgewischt hat, waren nur Spuren vom Blut des Opfers zu finden. Wir haben auf dem Tisch einen Stiefelabdruck der Mörderin sicherstellen können – fänden wir die Schuhe dazu, hätten wir ein Beweisstück. Und dann haben wir auf der Straße in unmittelbarer Nähe der Pforte ein kleines Stück schwarzen Stoffes gefunden. Dieses wird zurzeit noch näher untersucht.“
„Wenn das alles ist, ran an den Fußabdruck und der Analyse des Stofffetzens.“ Enttäuscht war Georgias Amantinidis nicht. Er gehörte zu den Menschen, für die ein Glas halbvoll war, die sich nicht durch eine negative Einstellung zur Wirklichkeit das Leben schwer machten.
Diese Einstellung verfolgte er umso konsequenter, nachdem er ein Zitat des Zen-Mönchs Thich Nhat Hanh gelesen hatte. Wir entscheiden jeden Augenblick aufs Neue, ob wir uns auf eine Lotusblüte setzen wollen oder auf glühende Kohlen.
Mit Überschwang in der Stimme entließ er seine Mitarbeiter aus der Runde: „Vielen Dank meine Damen und Herren für die viele Arbeit, die Sie so schnell in diesen Fall gesteckt haben. Mit diesem Einsatz werden wir die Mörderin bald haben.
Jetzt haben wir viele neue Erkenntnisse und ausreichend Spuren, denen wir nachgehen können. Ich bin mit ihrer Arbeit sehr zufrieden.“
Nachdem Kommissar Amantinidis wieder alleine in seinem Büro saß, begann er wie immer, dieses eben Gesagte und Erfahrene Revue passieren zu lassen. Sollte es sich wirklich um einen Rachefeldzug der Ehefrau handeln? Er wollte es nicht glauben. Auch wenn der Finanzexperte zwei Gesichter hatte und sicherlich sehr kränkend mit seiner Frau und seiner Tochter umgegangen war, musste es die anderen Situationen gegeben haben, in denen er sie gelobt und gutgeheißen hatte. Es passte nicht wirklich zusammen, in dieser Situation denjenigen zu ermorden.
Sein Gefühl sagte ihm, die Motive lägen im politischen Sektor. Die Überweisungen aus den USA, die sich erhöhten, nachdem seine Umfragewerte immer stärker gestiegen waren und die Wahrscheinlichkeit eines Regierungswechsels immer größer geworden war. Hier aber Licht ins Dunkle bringen zu können, würde ein ganz schön großer Brocken werden.
Was sollte er von der Aussage des Betrunkenen halten? Der Riesenvogel und die Person in der schwarzen Kutte?
Im ersten Moment war es für ihn vollkommener Quatsch gewesen. Der vermeintliche Zeuge war für ihn lediglich ein armer Tropf, der die Chance gewittert hatte, sich für kurze Zeit wichtig zu machen. Doch dann waren seine Kollegen mit den Stofffasern eines schwarzen Mantels gekommen. Hätte sich die Attentäterin unter so einer Kutte verhüllt, wäre das eine mögliche Erklärung, dass niemand eine folkloristische Kriegerin gesehen hatte. Auch könnte man unter so einer Kutte gut ein Schwert verstecken. Aber dass ein Vogel sie abgeholt haben sollte, ist nun wirklich nicht zu glauben. Vielleicht war es ein Drachenflieger; ein mit einem Motor angetriebenen Gleiter? Dann hätte jedoch jemand das Motorengeräusch hören müssen. Und es hätte nicht zu leise sein können, sollte der Motor so viel Kraft haben, zwei Personen in die Lüfte zu heben.
Auch diesbezüglich sollten seine Kollegen in der Nachbarschaft noch einmal genauer nachfragen. Er selber wollte sich zu späterer Stunde Gedanken machen, wie er den Bürgermeister ausfragen könnte. Hoffentlich zu viel späterer Stunde, sagte er sich, als seine Sekretärin Frau Niki ins Büro trat, den neuesten Bericht aus der Forensik unterm Arm.
Diese Frau war wirklich überaus schön anzuschauen. Ihre grünen Augen und ihr rotes Haar hatten es ihm angetan: „Ich bin wirklich erfreut, dass Sie den Weg zur Mordkommission gefunden haben, Frau Niki. Sie sind eine wundervolle Bereicherung unserer Abteilung.“
Wieder zog sich über das Gesicht der Sekretärin eine leichte Röte der Verlegenheit. Georgias Amantinidis deutete diese Gefühlsregung dahingegen, dass die Sekretärin ihn mochte. Das verschaffte ihm Mut, einen eher privaten Vorschlag auszusprechen.
Hätte er geahnt, dass das Mögen Frau Nikis ein sehr eigenes war, er hätte sich in dieser Sekunde zurückgehalten. So aber fragte er frei heraus, ob er die nette Kollegin heute Abend zum Essen entführen dürfe.
Gebannt schaute er in ein Gesicht, das jetzt feuerrot leuchtete, hörte das Rascheln der Akte, die in ihren zitternden Händen hin und her wackelte sowie das Rasseln seiner Lunge, obwohl er aufgehört hatte zu atmen.
„Ja, sehr gerne, Herr Amantinidis“, antwortete die große, schlanke Frau und deutete einen kleinen Knicks an.
Habe ich mich nicht verhört? Hat sie wirklich zugesagt, jubilierte es im Kopf des Kommissars.
Als er die ihm dargereichte Akte am anderen Ende anfasste, spürte er das Vibrieren ihrer Hände in seine Arme übergehen. Ein kleiner Schauer lief ihm über den Rücken. Fast war ihm, als hätte er eine Frau zärtlich angefasst.
Ein Gefühl, das sich vor langer Zeit aus seinem Leben gestohlen hatte.
Doch noch eher er etwas sagen oder länger in dieser Fast-Berührung schwelgen konnte, ließ die rothaarige Frau die Unterlagen los, verschanzte ihre smaragdgrünen Augen hinter ihre Lider und hastete aus dem Zimmer.
Ihre Gedanken konnte er leider nicht lesen: Habe ich eben wirklich ja gesagt?
Wieder war es eine der lauen Sommernächte. Der Mond stand schon weit im Westen als zunehmende Sichel und tausende an Sternen waren am Himmel zu sehen. Dieses und andere Bilder um Marc Höppner herum erinnerten ihn viel an früher, wenn er mit seiner Schwester und seiner Großmutter singend Laterne gegangen war. Auch damals hatten sie viel in den Himmel geschaut und er hatte gelernt, den großen und den kleinen Wagen zu erkennen.
Den großen fand er immer noch auf Anhieb.
Dann wanderte sein Blick hinunter auf den Platz, an dessen Rand er geradestand.
In der Mitte des Gartens, zwischen den geschwungenen Sandwegen, war eine große Rasenfläche freigehalten worden. Vor den alten Klostergebäuden, die bis auf eines zu Ruinen zerfallen waren, plätscherte noch immer die kleine Fontäne, die den Wasserlauf am Rand des rechten Weges speiste.
Li hatte ihm berichtet, dass noch immer einige Geister dieses Anwesen pflegen und hier mehrmals im Jahr kleine Feste veranstalten würden.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Mikka Tornesch
Bildmaterialien: Andrey Kiselev
Cover: Mikka Tornesch
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2020
ISBN: 978-3-7487-3892-3
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