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Teil 1:

 

Die Schlingen der Liebe

 

1.

 

„Mann, hast du eine scharfe Braut“. Unverschämt klatschte der Fremde mit seiner rechten Hand auf den Allerwertesten der jungen Frau. Dabei blickte er ihren Begleiter an, als wäre er eine Maus, die sich wähnte, ein Tiger zu sein.

Wie sich die Türen der S-Bahn wieder geschlossen hatten, wandte der Fremde sich direkt an sein Opfer, ohne seine Hand hinfort zu nehmen: „Ich hätte Lust, den die ganze Nacht zu streicheln. Willst du nicht mit zu mir kommen mein Schatz? Eine wunderbare Videothek französischer Liebesfilme wartet auf dich.“

 

„Gleich wird es knallen, Xue.“ Li Shuang war aufgeregt und verschlang ihre Finger zu einem unauflöslichen Knoten.

„Und wenn schon, der Besoffene hat es nicht anders verdient, Li.“ Xue Lu hatte dabei ein Gesicht aufgesetzt, dass sich kaum mehr von einer sauer gewordenen Milch unterschied. Die kleinere der beiden chinesischen Frauen machte keinen Hehl daraus, dieser sich auf dem Bahnsteig anbahnenden Auseinandersetzung auch nur einen Fingerhut an Aufmerksamkeit schenken zu wollen.

„Aber der Betrunkene hat keine Chance. Der Hüne wird ihn in Stücke reißen“, blieb Li gegenüber ihrer Genossin hartnäckig. „Wir müssen ihm helfen.“

„Gar nichts werden wir tun, meine Liebe“, zischte diese zurück. „Nicht auffallen ist unsere Devise, hast du das vergessen?“

Natürlich war der großen Chinesin bewusst, sich in Hannover dezent verhalten zu müssen. Doch die Etikette ihres Berufstandes rang in ihrer Brust oftmals mit dem Ehrenkodex, der ihr in ihrem langen Klosterleben eingeimpft worden war. Schreite ein gegen das Unrecht, verteidige diejenigen, die nicht gelernt haben, sich zu wehren, vernahm sie die Worte ihres alten Lehrmeisters in Gedanken und wunderte sich dabei, wieso sie in letzter Zeit immer häufiger an ihre Ausbildung dachte. Eine Lehrzeit, die Ewigkeiten zurück lag und sie seit vielen Jahrzehnten nicht behelligt hatte.

„Lass es bitte sein, Li. Deiner Nasenspitze sehe ich an, wie es dir in den Fingern juckt. Aber lass den Hünen in Ruhe. Der schmuddelige Trenchcoatmann mit seiner dreckigen Discountereinkaufstüte will es ja so haben.“ Energisch schritt Xue auf dem Bahnsteig voran und wollte auf der anderen Seite der Bänke das Trio überholen, das sich schon zum Kampf aufgestellt hatte.

Li zog ihre ineinander verschränkten Finger auseinander. Noch knirschten ihre Zähne. Ein Ausdruck des zähen Ringens in ihrem Verstand.

In diesem Moment riss sich der Bär von Mann von seiner blonden Freundin los und packte den Unverschämten am Kragen. Seine geballte Rechte hoch erhoben. Funkelnde Augen eines Stiers.

Instinktiv zog Li den Kopf ein. Gleich würden Knochen splittern.

„Halt ein, mein Freund! Was machst du da? Du hast zwar Recht, wütend zu sein. Niemand ist befugt, dich und deine Freundin kränken zu dürfen. Aber: Jeder auf dem Bahnsteig sieht, du bist bei weitem der Stärkere. Das brauchst du niemandem von uns zu beweisen. Der Mann in deinen Händen ist betrunken. Er weiß nicht, was er macht. Kaum kann er noch gerade gehen, geschweige denn seine Faust gegen dich erheben.“

Li steckte ihre Hände in ihre Hosentaschen und blickte über die Schulter. Ein etwa vierzigjähriger Mann, schlank und mittelgroß - keine Schultern wie ein Olympiaschwimmer, keine Bizeps wie die vielen Boys der Muckibuden - stellte sich an die Seite des Hünen, wobei seine rechte Hand lässig auf seiner braunen Umhängetasche ruhte. Fast wirkte es, als hätte der neu hinzu Getretene gar nichts mit der angespannten Situation auf dem Bahnsteig zu tun.

Fast.

Denn in den Augen des Schlanken sah Li eine Wachheit, die sie frösteln ließ.

Die Unterbrechung trug eine erste Wirkung. Zwar war die Faust des Beleidigten noch erhoben, suchte sich aber nicht mehr die Nase des Trunkenboldes. Vorerst.

Ohne den Schmuddelmantel loszulassen, drehte sich der Bär zu dem neuen Störenfried um. Sein Schnauben wurde nicht gerade leiser. Vor wenigen Sekunden war seine Welt noch in Ordnung gewesen, jetzt hatten ihm gleich zwei Idioten den Krieg erklärt.

Schon scharrte der Mann, der schlagenden Argumenten gegenüber nicht abgeneigt war, mit den Füßen. Schon flitzten die Gedanken durch sein Hirn, wen von diesen zwei Zauseln er zuerst erledigen sollte. Schon spien seine Augen Blitz und Galle, da wandelte sich plötzlich das Funkeln in seinem Blick. Erst war es ein kurzes Zittern, als wolle eine elektrische Maschine nicht so recht anspringen. Dann wurden sie glatt und weich.

Der Hüne setzte den Trenchcoatmann wieder ab, legte seinen Arm um seine Freundin und führte sie zur Treppe.

„Wow!“, flüsterte ein paar Meter weiter hinten am Bahnsteig die hochgewachsene und überaus hübsche Chinesin ihrer um einen Kopf kleineren Freundin zu. „Hast du seine Augen gesehen, Xue?“

„Was scheren mich die Augen eines Sterblichen! Zumal wenn er Europäer ist. Wir haben andere Aufgaben, als uns um solche Belanglosigkeiten zu kümmern.“ Ihren Unmut über diese Banalitäten wollte Xue nicht verbergen. „Steh nicht so blöd herum! Du glotzt dir noch die Augen aus und dann bist du zu nichts mehr zu gebrauchen“, fügte die Genervte hinzu.

Ihre Begleiterin hingegen fuhr in ihrer Betrachtung fort, als hätte sie die Misstöne ihrer Freundin überhaupt nicht wahrgenommen. „Diese Ruhe und Leere in seinen Augen, als er mit dem Bären sprach. Auf der einen Seite wartete er vollkommen gelassen ab, was passieren würde und auf der anderen Seite war er völlig entschlossen, zu agieren. Erinnern dich diese Augen nicht an jemanden, Frau Lu?“

Demonstrativ blieb Li auf dem Bahnsteig stehen und stopfte sich ihre Hände ganz tief in die Taschen.

Die Vorausschreitende blieb schnell stehen und drehte sich ganz langsam um. Auf ihrem Gesicht lag ein grauer Schleier des Misstrauens. Wenn Li sie bei ihrem Nachnamen nannte, stand meistens ein Streit bevor. Und die Erinnerungen, die Li jetzt herauf beschwor, erfüllten Xue mit großem Gram.

Doch zeigte die um einen Kopf kleinere Chinesin dieses nicht der Großen.

„Diese Augen rufen in mir unseren großen Lehrmeister wach. Wäre ich dieser Hüne gewesen, der gerade seine Freundin und seine Ehre hätte verteidigen wollen und hätte ich in diese Augen sehen müssen – ich hätte ebenfalls befolgt, was dieser Schönling gefordert hatte.“

„Rede keinen Quatsch!“, schnaubte Xue. „Es ist nur ein Westler, mehr nicht. Und zudem aus dem 21 Jahrhundert.“ Missmutig stapfte sie die steinernen Stufen am Haltepunkt „Linden/Fischerhof“ hinab.

„Nun sei doch nicht so garstig, Xue Lu! Du tust ja fast, als wären alle Europäer verachtenswerte Menschen. Auch wenn er nur ein Westler ist, so finde ich es dennoch bewundernswert, wie er diese brenzlige Situation gelenkt hat. Hast du das gar nicht wahrgenommen? Der alte, betrunkene Narr hatte nicht den Hauch einer Chance und läge jetzt sicherlich schon mit gebrochener Nase im Krankenwagen. Allein mit Worten hat der Smarte den Täter beschützt, indem er Anerkennung und Mitgefühl für das betroffene Pärchen ausgesprochen hatte.“ Li ereiferte sich von Satz zu Satz mehr für diesen Mann.

Xue beäugte sie mit einem Gesicht, als wäre sie ein Falke einer Raubvogelvorführung, der sich nicht sicher war, ob er nach der vom Vogelwart dargebotene Belohnung wirklich schon haschen dürfte. „Werde jetzt nur nicht sentimental, Große. Haben nur seine wasserblauen Augen dein Interesse geweckt, oder gar seine ansehnliche Erscheinung?“

„Du findest ihn also auch hübsch?“ Sichtliche Erleichterung machte sich auf Lis Gesicht breit, als sie intuitiv den Weg einschlug, den der Fremde vor ihr genommen hatte.

„Nun, ich kann nicht abstreiten, dass es ein gutaussehender Mann ist. Aber jetzt gaffe ihm bitte nicht mehr hinterher. . . . Übrigens, wir müssen in die andere Richtung“, schob Xue nach und fasste Li am Handgelenk.

„Nein warte, wir haben noch etwas Zeit, da kommt es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht an. Ich muss unbedingt wissen, wo er wohnt.“

Xue zog die Stirn in Falten und grummelte giftig vor sich hin. Um sie zu besänftigen, schob Li schnell hinterher: „Ich muss morgen noch was zum Jagen haben, sonst wird mir in dieser fremden und trostlosen Stadt richtig langweilig. Und dann muss ich dir wieder von morgens bis abends auf die Nerven gehen. Willst du das?“

Die Kleinere der beiden Chinesinnen grinste mit einem schiefen Mund.

„In Ordnung“, sagte Xue und schüttelte dabei ihr kinnlanges, glattes schwarzes Haar.

Aus dem Unterton hörte Li einen Missklang heraus, kümmerte sich aber nicht weiter darum, da sie nun wusste, Xue auf ihre Bahn gelenkt zu haben.

Heimlich amüsierte sie sich über den Trampel an ihrer Seite. Wie er seinen Kopf schnell in alle Richtungen drehte, ob jemand die beiden Frauen folgen oder beobachten könnte. Denn aufzufallen wäre das Letzte, was sie jetzt gebrauchen könnten. Es war schon spät und dunkel an diesem ungemütlichen Frühjahrsabend und weitere Angetrunkene konnten an jeder Straßenecke herumhängen und auf dumme Gedanken kommen. Vor allem, wenn sie zwei hübsche, allein reisende Frauen ausfindig machen würden.

Kaum hatte Xue das gedacht, löste sich von einem Kiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Viererclique. Die Flaschen des „Lindener Spezial“ in der Hand nahmen sie die Verfolgung auf.

Das war der Augenblick, wo sich Xue wieder sehr über ihre Partnerin ärgerte. Warum scherte Li sich einen Dreck um diese Typen? Sah nur noch ihren neuen Engel. Fehlte nur noch, dass sie die Zunge aus dem Mund hängen ließ, während sie ihrem Wild hinterher hechelte.

Und Xue ärgerte sich über sich selber. Warum hatte sie das alles zugelassen und sich nicht durchgesetzt? Wie viel Ärger würde es gleich geben? Welchen Einfluss hatte das auf ihre weiteren Unternehmungen?

„Li, wir haben einen Schatten“, versuchte sie die in Träume Entrückte in die Wirklichkeit zurückzuholen.

„Meinst du?“

„Ja, meine ich!“ Ein Comicautor hätte jetzt Totenköpfe, gekreuzte Knochen und Blitze um Xues Kopf gezeichnet.

„Dann entmaterialisieren wir uns“, antwortete Li beiläufig und machte sich nicht einmal die Mühe, über die Schulter zu blicken.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“ Energisch zog Xue an der Lederjacke Lis, um sie endlich zum Stehenbleiben zu bewegen. Ihr Atem ging heftig. „Stell dich zumindest der Situation“, schnaufte sie.

„Warum bist du auf einmal so ängstlich geworden?“, flüsterte Li, tat aber ihrer Genossin den Gefallen, die Lage zu sondieren.

„Ich habe keine Angst um diese Männer. Ich fürchte mich nur vor einem Reinfall. Wir können uns nicht leisten, in Hannover zu versagen.“

„Werden wir auch nicht. Du wirst schon sehen: Alles wird gut.“

Kam das Knirschen eben von den Schuhen der Verfolger, oder waren es Xues Zähne, die aneinander gerieben hatten?

Zwei Mal waren die Frauen abgebogen und nun in einer schmalen Nebenstraße gelandet. Zwischen den vielen Bäumen spendeten die auf Gaslaternen getrimmten Lampen nur spärlich Licht. Da verdoppelten die vier Verfolger ihren Schritt.

Den Männern kam es wie ein Wink des Schicksals vor, dass die beiden Wehrlosen jetzt in das „dunkle“ Viertel abgebogen waren. Noch mehr jubilierten sie, als die beiden Frauen nach links in die düstere Allee gingen. Auf halber Strecke gab es den kleinen, unbeleuchteten Park. Sofort teilten sie sich. Zwei blieben hinter den Frauen, die anderen beiden nahmen den gegenüber liegenden Trottoir. Diese beeilten sich jetzt, die beiden Frauen noch vor dem Park zu überholen. Der Plan war, am Ende dieses Parks die Straßenseite zu wechseln und von vorne den Frauen entgegen zu kommen. Auf Höhe des Parks würden dann ihre Kumpels aufgeschlossen haben und in Nullkommanichts hätten die vier die beiden Opfer in das finstere Gebüsch gezogen. So hatten sie es schon viele Male gemacht. Und immer hatte es hingehauen.

Vor Vorfreude waren die vier sehr erregt. Das in ihnen ausgebrochene Jagdfieber half ihnen, trotz der fortgeschrittenen Trunkenheit sehr konzentriert und koordiniert zu agieren.

Unterdessen schlenderte der fremde Schönling - das Objekt der Begierde Lis - nichtsahnend des Tumultes, der sich in seinem Rücken anbahnte, mit vor Kälte hochgezogenen Schultern und einem hängenden Kopf durch die nächtlichen Straßen. Hätte er sich einmal umgewendet, hätte er womöglich seine Jägerinnen gesehen. Vielleicht wäre er dann vorsichtiger geworden, wäre nicht zu sich nach Hause gegangen, um seinen Häscherinnen zu zeigen, wo sie ihn jederzeit erlegen könnten. Oder aber er hätte zwei Frauen erkannt, die in Not gewesen und seines Beistands bedurft hätten. So aber schien das Verhängnis seinen Lauf zu nehmen.

Da griff Xue ihre Partnerin unsanft am Arm und zog sie mit großer Kraft und viel Härte in eine Toreinfahrt hinein. Sogleich rannte sie bis in den Hinterhof.

„Entmaterialisiere dich! Sofort!“, fuhr sie scharf ihre Landsfrau an.

Kaum hatten sie das gemacht, kam wie von Geisterhand eine kleine, schwarzweiße Promenadenmischung wild bellend auf beide zugerannt. Zähnefletschend blieb der Hund vor ihnen stehen.

„Er ist irritiert, weil er uns riechen, aber nicht sehen kann“, schlussfolgerte Li.

„So können wir uns gleich ein Schild umhängen: Hier bin ich. Spreizt uns die Beine.“ Sarkastisch lachte Xue auf, legte ihren Unterarm auf Lis Niere und schob. „Geh mal einen Schritt zur Seite! Ich werde ihm den Hals umdrehen.“

„Bist du verrückt, Xue?“

Und schon hatte sich Li materialisiert. Der kleine Kläffer verstummte. Verwundert blickte er der sich bückenden Frau entgegen. Dann lag er auch schon auf ihren Armen und ließ sich den Nacken kraulen.

„Okay. Genug der Herzlichkeiten. Köter auf die Erde und ab in den Baum.“ Xue, ebenfalls materialisiert, um zum einen den Kläffer zu beruhigen und zum anderen Kraft zum Klettern zu haben, hangelte sich schnell in der alten Kastanie hoch.

Li verzog das Gesicht, als hätte man ihr eine verdorbene Fischsuppe vorgesetzt. Klettern. Ausgerechnet sie.

Umständlich erreichte sie den ersten breiten Querast.

Da hörten sie das Klackern der Schuhe in der Tordurchfahrt.

Xue stieg bis in die Krone hoch, Li balancierte vorsichtig auf ihrem dicken, waagerecht über den Boden verlaufenden Ast nach außen.

Noch bevor die Männer den Innenhof betraten, hatten sich die beiden Frauen wieder unsichtbar gemacht.

Das Knurren und Bellen des Hundes setzte wieder ein. Aufgeregt sprang er am Stamm des Baumes hoch.

„Oho, die Schlampen meinen, uns wie Primaten entkommen zu können“, sagte der Anführer der Gang mit einem gehässigen Lachen.

„Warte! Ich leuchte mal hoch“, sprang ihn ein kleiner Dicker zur Seite und leuchtete mit dem Display seines Handys in den Baum.

Der Anführer schüttelte mit mitleidsvollem Blick seinen Kopf.

„Einen Versuch war es Wert“, verteidigte sich der Dicke und steckte das iPhone wieder ein. Mit eingezogenem Kopf stellte er sich mit dem Rücken gegen den Baum und verschränkte die Hände vor seinem Unterleib. Sofort setzte sich der Stiefel des Anführers da hinein. Schnell schwang er sich mittels der Räuberleiter in den Baum.

Ein weiterer Mann folgte während der vierte den Hund am Halsband gepackt hatte und zu einer Müllcontainer trug.

Dumpf war das Bellen geworden, nachdem sich der Deckel über das Tier geschlossen hatte.

Li zuckte jedes Mal innerlich zusammen, wenn sie das gedämpften Rumpeln hörte, weil der Hund in seiner Verzweiflung immer wieder gegen den Deckel sprang.

„Morgen kaufst du dir als erstes eine Taschenlampe“, frotzelte der Hundebezwinger, als er neben seinem dicken Kumpanen stand und nach oben schaute.

Der Anführer war schon weit in der Krone verschwunden, sein Nachfolger tastete sich mit wackeligen Beinen auf dem ersten Querast nach außen, stets bedacht, mit seinen Händen in weiteres Geäst zu greifen.

„Kannst du die Straßendirnen sehen, Frank?“, rief er nach oben.

Ein missmutiges Murren war die Antwort.

„Die Weiber müssen in der Kastanie stecken“, versuchte der Hundefänger seinen Compagnons Mut zuzusprechen. „Ich kenne mich mit den Tölen aus. Keinen anderen Grund gibt es, dass sie so an einem Baum herumspringen.“

Unterdessen die Kerle an der Grenze zur Enttäuschung standen, wich Li Schritt für Schritt weiter nach außen.

Oh ihr Götter, lasst den Ast nicht brechen, flehte sie im Stillen.

 

 

2.

 

Fünf Monate zuvor

 

„Wo kommst du so spät her?“

Oh, dieser Vorwurf in seiner Stimme. Dieser engstirnige Blick. Ich verstehe gar nichts, wollte er ihr sagen. Schnell deutete sie es weiter: Ich will nichts verstehen.

Natürlich lag er falsch. Wieder würde der Abend in endlosen Diskussionen enden. Nur, weil er recht haben wollte. Weil sie ihm bestätigen sollte, die Schuld auf sich zu nehmen. Sie spürte die Galle in sich aufsteigen.

„Was für ein Problem hast du? Musst du mir schon wieder die Laune verhageln?“ Die Zeit, klein beizugeben, war schon lange vorbei. Nachgiebigkeit hätte sie nur noch weiter in die Ecke gedrängt. Das hatte sie in den letzten vier Jahren von Monat zu Monat immer besser erkennen können. Doch bis das Fass zum Rand gefüllt war, hatte es lange gedauert.

„Wir waren heute zum gemeinsamen Tatort verabredet.“ Oh dieser Vorwurf. Oh diese stechenden Augen. Respektlos. Ignorant. Die Augen eines autoritären Herrschers. Eines Narzisten.

Waren wir nicht, denkt die Frau. Nur weil es in den letzten Jahren zur Gewohnheit geworden ist, kann er daraus keinen Besitzanspruch ableiten. Meine Zeit teile ich mir immer noch selber ein.

„Träum´ schön weiter!“ schürte sie das Feuer an. Ihre Laune war hinüber nach diesem katastrophalen Empfang.

„Oho, jetzt kommt wieder das trotzige Kind zum Vorschein. Machst du dir überhaupt keine Gedanken, wie es mir geht?“, appellierte der Mann an ihr schlechtes Gewissen.

Schon lange nicht mehr, freut sich die Frau im Stillen darüber, einen Weg gefunden zu haben, die unbegründeten Anschuldigungen abzuwerfen.

„Ist das der Dank dafür, dass ich dich durchfüttere?“, poltert der Erboste.

Ich verdiene mein Geld seit langem alleine, sagt sich die unfair Behandelte und schnippt ihre Schuhe über den Flur.

„Unterstützt habe ich dich. All die Jahre. Habe ich dafür irgendetwas verlangt?“

Jede Nacht aufs Neue.

„Nein. Uneigennützig habe ich dich gefördert. Habe dir deine Weiterbildungen finanziert und war abends für dich da, dir Mut zuzusprechen.“

Ab zehn Uhr nachts. Wenn ich nach der Fachhochschule, dem Essen kochen, dem Abwasch und Hausputz noch ein wenig Zeit übrig gehabt hatte.

„Ist das der Dank. Kaum hast du eine feste Anstellung, trittst du mich mit Füßen. Als hätte ich jetzt ausgedient. Schau dich an! Ist das richtig, was du mit mir machst? Ist dir die Rendite zu gering, die es bei mir zu erwarten gibt? . . . Bist jetzt was Besseres, wa? Legst deine Aktien nun wo anders an. Ne ne, wenn ich das geahnt hätte?“

Als würdest du je etwas ahnen. Die Frau hängt ihre schnittige Goretexjacke an den Haken, rempelt sich den Weg ins Wohnzimmer frei und lässt sich in den Sessel fallen.

„Bist du fertig, mich zu beschimpfen? Dann kannst du ja mal wieder runter kommen. Unser Meeting hat sich erheblich in die Länge gezogen. Zu viele Dinge waren nicht zu erläutern. Sich darüber Klarheit zu verschaffen, war aber wichtig. Und du weißt, ich bin noch ganz neu im Team. Da muss ich Einsatz zeigen und kann mich nicht hinaus stehlen, weil mein Mann auf mich wartet.“ Die Arme vor der Brust verschränkt lehnte sich die Frau weit zurück und packte ihre Füße auf den Tisch.

„Eben weil du noch so neu und unerfahren bist, werden sie auf dich und auf deine Meinung am ehesten verzichten können.“

Danke für deine Wertschätzung. Sehr liebenswert von dir.

„Du benutzt das nur als Ausrede, um mit mir keine Zeit verbringen zu müssen. Alles ist Kalkül gegen deine Partnerschaft. Kalt bis aufs Blut bist du.“ Dabei tänzelte der Mann durch das Zimmer wie ein unwilliges Dressurpferd.

Schütte den Jauchekübel ruhig über mich aus. Trotzig schürzte die Frau ihre Lippen, bevor sie selber das Wort ergriff: „Wenn sie auch auf meine Meinung verzichten können, kann ich es nicht auf ihre. Ich muss lernen, wie sie denken. Wie sie kombinieren. Wie sie das Hin und Wieder annehmen oder verwerfen. Wie sie versuchen, die Spreu vom Weizen zu trennen, um in die richtige Richtung weiter zu denken.“

„Du bist aber wieder melodramatisch. Erkenne dich, Kind der falschen Richtung.“

„Arschloch! Was weißt du schon von richtig und falsch?! Ist es richtig, jungen Ehepaaren vorzugaukeln, den Kredit für ihr Häusle könnten sie innerhalb von 14 Jahren abbezahlen, nur weil du ihnen in deiner Beispielrechnung die nächste Zinserhöhung vorenthältst. Sie unterschreiben und du reibst dir die Hände, dass die Bank demnächst eine Immobilie mehr sein Eigen nennen kann.“

„Wer ein Haus baut, sollte auch rechnen können. Dein Vater sagte mir, du wärst nicht gerade ein Ass in Mathematik gewesen. Also halte dich da raus.“

„Ach ne, der feine Herr misst mal wieder mit zweierlei Maß. Ich soll mich aus deinen Geschäften heraus halten. Du jedoch mischst dich vollends in meine ein. Nennst du das Fairness?“

„Jetzt wird der kleine Terrier auch noch pathetisch. Du bist und bleibst engstirnig in deinem Denken, Frau. Um zu lernen, wie die alten Hasen vorgehen, hast du Jahre Zeit. Warum muss es genau an dem Tag sein, wo wir uns einen schönen Abend machen wollten?“

„Verzeih mir Schatz. Ich hatte dich einfach vergessen.“ Es sollte versöhnlich klingen, denn die Frau hatte genug, sich im Kreise zu drehen. Sie verspürte keinen Drang mehr, sich zu rechtfertigen. Sie wollte die Kränkungen abstellen, die über sie ausgegossen wurden.

„Vergessen? Sag ich doch, dass ich dir nichts mehr bedeute“, polterte der Mann und räumte die erste Lage des Bücherregals ab.

Wer hier wohl der Melodramatiker ist, dachte sich die Frau mit einem kleinen Lächeln. Ihr Amüsement brachte den Mann zum Äußersten.

„Warum bist du überhaupt zurück gekommen?“, keifte er.

Weil ich in dieser Wohnung wohne, du Idiot. Wo sollte ich denn sonst hingehen? Laut sprach die Frau: „Nur um mir vor den Kopf stoßen zu lassen und mir zu verstehen zu geben, was für ein ausgesprochener Nichtnutz ich bin.“

Der Satz saß. Abrupt blieb der Rasende stehen und schaute geistlos seine Partnerin an. Diese erkannte, wie der Mann in seinem Kopf eine Weiche nach der anderen umstellte, um den Zug nicht zum Abhang schlittern zu lassen.

„Schatz, jetzt lass aber mal gut sein. Wollten wir nicht noch ein Glas Wein zusammen trinken?“ Wie ausgewechselt ließ sich der vermeintlich Betrogene auf das Sofa fallen.

Die Frau stattdessen konnte das Häufchen Elend auf der Couch nicht mehr mit ansehen. Ein in Selbstmitleid zerfließendes Etwas, das immer nur sich selber sah. Und seine eigenen Bedürfnisse.

Ein wenig Alkohol könnte den Abend biegen. Zur Besänftigung führen, um die nächsten Stunden und Tage miteinander auskommen zu können.

Die Frau nagte auf ihrer Unterlippe. Was sollte sie tun?

Da geschah, was nicht von ihr beabsichtigt war. Aber ihr fehlte mittlerweile die Kraft, sich noch einmal zur Wehr zu setzen. Unvermittelt lag sie unter ihm auf der Couch. Ihre halbherzigen Abwehrversuche hatte er einfach hinweg gewischt.

Wie so oft.

Und wie so oft fing der Sex an, bei ihr wie eine Erlösung zu wirken. Woher kam diese eigenartige Verbindung bei ihr? Sollte die psychische Erniedrigung durch den Spaß am Sex ausgeglichen werden? Oder war es nur die physische Weiterführung ihrer seelischen Vergewaltigung?

Nachts im Bett, als ihr Mann schon schlief, kullerte eine dicke Träne über die linke Wange der missbrauchten Frau.

Und dann war sie plötzlich da, ihre Mutter. Drohend den Kochlöffel in der Hand. Als würde diese Drohung bezwecken können, die Mathematikaufgaben besser zu verstehen.

Dreimal die Woche hatte es diesen Albtraum gegeben. Immer montags, mittwochs und donnerstags. Es sei denn, Mathe war einmal ausgefallen.

 

3.

 

Hinten links ging eine Hoftür auf. Ein alter Mann in Bademantel und Latschen, die wenigen Haare, die vom Duschen nass auf seinem Haupt klebten, nach links gescheitelt, schlurfte in Pantoffeln Richtung Mülltonnen.

Wie der Blitz verschwanden die vier Todesmutigen.

Li atmete tief durch.

Ein Meter noch, und der junge Mann wäre mit ihr zusammengestoßen.

Der Mann im Bademantel rief seinen Hund.

Der jaulte fürchterlich im Müllcontainer und sprang erneut gegen die Klappe.

Xue kam heruntergeklettert.

Äste knackten.

Kaum hatte der alte Mann seinen vierbeinigen Freund befreit, drehte er sich zu der Kastanie um. Missmutig bedachte er sie mit einem strafenden Blick, als hätte der Baum etwas mit dem Quälen seines Hundes zu tun gehabt.

Li spielte nervös mit den Fingern in ihren langen Haaren.

Der Opa sollte endlich Leine ziehen, damit sie vom Baum springen könnte.

Ihr Herz schmerzte bei der Vorstellung, dass der Hübsche vom Bahnsteig über alle Berge sein könnte und sie ihn nie mehr wiedersehen würde.

Aber es kamen noch mehr Gefühle in ihr hoch. Vorne an: Verzweiflung. Denn in Gedanken hatte sie sich vorhin ein schönes Abenteuer mit dem mutigen Mann ausgedacht. Eine kleine Aufheiterung ihres tristen Geschäftslebens.

Ungeduldig verfolgten ihre Augen das Wegschlurfen des alten Mannes mit seinem Entlebucher Sennenhund.

Xue amüsierte sich über das heftige Atmen ihrer Gefährtin. Da sie sich sehr gut kannten, wusste sie, wie sie sticheln konnte: „Merk dir die Hoftür, Li! So kannst du dich heute Nacht rächen, weil wir wegen dieses Trödlers deinen Schönling verlieren.“

Li ließ diesen Satz unkommentiert. Kaum waren Hund und Herrchen im Haus eingetreten, huschte sie zum Anfang der Toreinfahrt und lugte heraus. Ihr Herz machte einen Hüpfer. Enthusiastisch schlug sie ihrer Freundin den flachen Handrücken auf den Bauch: „Sieh nur, das Glück ist auf unserer Seite. Da hinten steht er.“

„Ja. Leider.“ Xues Zähne knirschten, als würden sie Sand zermahlen.

„Und wieder ist ein Hund der Retter“, kicherte Li.

„Ich weiß schon, welches Tier ich im nächsten Leben auf keinen Fall werden will.“ Mit Augen, als wollte sie den Hund gleich auf den Grill schmeißen, schaute sie, den Kopf an Lis Seite gebettet, aus der Toreinfahrt hervor. Eine übertriebene Vorsichtsmaßnahme, da beide noch unsichtbar waren.

„Wenn die alte Dame mit ihrem Liebling nicht Gassi gegangen wäre, hätten wir ihn verloren.“ Lis Augen strahlten erst Verwunderung, dann Neugier und am Ende Dankbarkeit aus.

„Wenn das Wörtchen wenn nicht wär.“

„Was?“

„Ist eine Redensart hier im Land. Ich dachte, du hast dich auf die Eigenheiten der Einheimischen vorbereitet?“

„Deine Vorwürfe kannst du dir sparen, Xue.“

„Schaffe, schaffe, Häuslebauer.“

„Du nervst.“

„Und du kannst mich mal mit deinem Deutschen.“ Energisch zog Xue den Kopf zurück und zupfte sich ein paar Zweige aus den Knopflöchern ihrer schwarzen Lederjacke. Vor ihr ging Li in die Knie. „Was machst du da?“ rief sie entrüstet aus und hatte eine böse Vorahnung.

„Ich ziehe mir die Schuhe aus. Los, du auch. Und dann ihm hinterher. Beeile dich, wir haben nicht viel Zeit. Die Dame mit dem weißen Spitz wendet sich schon zum Gehen.“

Kurze Zeit später rannten beide los.

Erst zwanzig Meter vor dem Objekt der Begierde verlangsamten sie das Tempo.

In diesem Moment blieb der Fremde abrupt stehen. Sein ganzer Körper war plötzlich aufgerichtet. Keine Schulter mehr angezogen, der Kopf hing nicht mehr auf der Brust. Es schien, als hätte er alle Sinne nach hinten ausgerichtet. Irgendjemanden oder irgendetwas musste er wahrgenommen haben. Langsam drehte er sich um.

Wie Xue und Li ihn hatten plötzlich stehen bleiben sehen, hatten sie sich instinktiv in den nächsten Hauseingang gedrückt. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt sowieso nicht sichtbar waren.

Allmählich wurde dieser Mann auch für Xue interessant. Doch anders als bei Li, war ihr Interesse nicht auf ein erotisches Vorspielchen ausgerichtet. Xue begann Gefallen an der Vorstellung zu finden, sich mit diesem Mann im Kampf zu messen. Spielerisch seine Geschicklichkeit und seine Kraft zu studieren, um ihn letztendlich unbarmherzig zu ermorden. Lis Ambitionen hingegen, das Opfer erst nach einem guten Sex zu erwürgen, konnte sie überhaupt nicht teilen.

Wie der Fremde sich umgedreht hatte, blickte er verwundert die menschenleere Straße entlang. Seine Augen waren klar und fragend. Erst als er sich sicher war, nicht verfolgt worden zu sein, steuerte er auf eine Haustür zu.

Li frohlockte über ihren Erfolg. Sie hatte sein Domizil ausgekundschaftet.

Die beiden Chinesinnen warteten, bis sie hinter den schwarzen Fenstern Licht angehen sahen. Jetzt hatten sie seine Etage. Es war die zweite. Die mit dem großen Balkon. Darüber senkte sich das Dach herab.

 

4.

 

Plötzlich stürmten sie den Gang entlang. Zwei wie aus dem Nichts entstiegene Männer. In schwarzen enganliegenden Sportanzügen und mit einer Strumpfmütze maskiert. Sie hechteten den Flur des Hotels Luisenhof im zweiten Stockwerk entlang. Als gehörten sie zu den schnellsten 100-Meter-Sprintern der Welt.

Noch ehe die beiden vor der Zimmertür 203 postierten Bodyguards ihre Waffen ziehen konnten, waren sie von den Schwertern der beiden Angreifenden niedergestreckt worden.

Das alles ging so schnell, dass man selbst beim Abspielen des Videobandes in Zeitlupe kaum sehen konnte, wie schnell die Attentäter während des Laufens ihre Schwerter gezogen und noch in dieser Ziehbewegung den ersten Schnitt ausgeführt hatten. Wie Schatten waren sie förmlich an den Leibwächtern vorbei geglitten und hatten sich noch in dieser Laufbewegung mit einer immensen Leichtigkeit um 360 Grad gedreht. In der Drehung hatten sie ihr Schwert über den Kopf gehoben und von oben kommend ein zweites Mal zugeschlagen.

Sowie diese zwei unschuldigen Männer ermordet worden waren, waren die Attentäter in das ehemals bewachte Zimmer eingedrungen. Den Bruchteil einer Sekunde später hatte auch dessen Insasse nicht mehr unter den Lebenden geweilt.

Dann waren die beiden Männer wieder den Flur entlang gerannt, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren … und waren verschwanden.

„Woher sind sie gekommen? Was sagen uns die anderen Kameraaufzeichnungen vom Foyer und den Fahrstühlen?“, fragte Hauptkommissarin Ute Jaskewitsch während sie mit ihren Mitarbeitern dieses Video der Überwachungskamera von Flur 2 ansah. „Wie sind sie in das Haus gekommen? Wie konnten sie so lange unbemerkt bis nach oben schleichen?“

Hierbei merkte man ihr ihre große Professionalität und Routine an. Obwohl sie noch nicht mal ein Jahr bei der Truppe war.

Vorhin hatte es keinen Moment des Entsetzens bei ihr gegeben, als sie über die Leichen im Flur hinweg gestiegen war, um sich das Hauptopfer im Hotelzimmer anzusehen. Mitleid und Übelkeit, wie sie es in den ersten Monaten ihrer Karriere noch durchleiden musste, hatte sie mittlerweile vollkommen abgelegt. Heutzutage ging es bei ihr nicht mehr um die Opfer, wenn sie zu einem Verbrechen gerufen wurde. In ihr erwachte sofort der Trieb, die Täter zu jagen und zur Strecke zu bringen. In einer mechanischen Sachlichkeit konzentrierte sie sich von Anfang an auf die Indizien und die Fragestellungen, die sie wirklich zu den Attentätern führen könnten.

Nichtsdestotrotz nahm sie ausreichend Notiz von dem kleinen Büro des Hoteldirektors, wo sie jetzt allesamt um den winzigen runden Glastisch saßen und sich die Videobänder der Überwachungskameras ansahen. Einen Meter entfernt von diesem spartanischen Empfangstisch stand ein ebenfalls nicht groß ausgefallener Schreibtisch, auf dem neben dem Bildschirm lediglich ein Turm Ablagekörbe und ein paar Aktenordner Platz hatten. Früher, wenn sie mit ihren Eltern in die Hotels auf Mallorca, Madeira oder Madagaskar gefahren war, hatte sie immer gedacht, die Hoteldirektoren würden in genau so luxuriösen und feudalen Büros sitzen, wie es die Unternehmer in den Fernsehkrimis taten. Heute, wo sie erwachsen und selber Kommissarin war, hatte sie ihr Bild von damals stark revidieren müssen. Ein Hoteldirektor war nur noch ein kleines Rädchen in einer großen Kette und sein Büro strahlte nicht mehr Achtung aus, als ihm entgegengebracht wurde.

Er selber strahlte im Augenblick überhaupt keine Wertschätzung aus. Da Leichen und Morde nicht zu seinem Tagesgeschäft gehörten, war er äußerst verstört und wusste überhaupt nicht, wie er sich zu verhalten hatte. Auch war ihm der Schrecken so auf den Magen geschlagen, dass er froh war, abseits des Tatortes auf einem Stuhl sitzen zu dürfen und nur im Notfall der Polizei zur Hand gehen zu müssen. Sollte sie seine Hilfe denn wirklich benötigten.

Im Grunde jedoch half die Polizei mehr ihm als dass sie von ihm profitieren konnte. Es hatte nicht einmal eine Minute gedauert, da hatte die Hauptkommissarin die Absperrung des Flügels organisiert, in dem das Verbrechen verübt worden war. Galant hatte sie die Presse vor die Tür gewiesen und in seinem Büro die Stabsstelle eingerichtet, die gerade dabei war, den Tathergang zu rekonstruieren.

„Auf den anderen Kameraaufzeichnungen ist verdammt noch mal nichts zu sehen“, antwortete Kommissar Hartmann. „Wir haben alle Aufzeichnungen des Hauses gecheckt, selbst die von der Parkgarage und der Rundumkamera außerhalb des Eingangs. Nirgends tauchen diese beiden Arschlöcher vorher auf. Das im Flur ist die einzige Kamera, die sie eingefangen hat.“

„Dann schauen wir uns alle Bänder ein zweites Mal an. Irgendwo muss es einen Hinweis geben. Und wenn er noch so klein ist, wir werden ihn finden.“ Dabei rückte die Hauptkommissarin mit ihrer Nase so nah an den Bildschirm, dass Kommissar Hartmann an ein Bild erinnert wurde, wo er mit seiner zwei Jahre älteren Schwester auf der Eckbank der Küche gekniet, die Nase platt an die Fensterscheibe gedrückt und dem Treiben der Schneeflocken zugesehen hatte.

Aber selbst die neue Analyse ergab keine weiteren Erkenntnisse. Nirgends war etwas Ungewöhnliches oder Auffälliges zu sehen.

„Ziehen Sie bitte Kopien von den Aufzeichnungen, und geben Sie sie in unser Labor, Herr Hartmann. Die Kollegen sollen nachsehen, ob etwas gelöscht wurde oder die Aufzeichnungen andersartig manipuliert worden sind. Und sie sollen alle Aufzeichnungen in Superzeitlupe über den Beamer laufen lassen. Alle! Habe ich mich klar ausgedrückt? Nicht nur die Actionszenen. Sodann überprüft bitte alle Gäste des Hotels. Standen sie mit dem Opfer in Verbindung? Hatte er ihnen etwas von einer Bedrohung erzählt? Haben sie etwas gehört oder gesehen? Alles kann wichtig sein.

Und vergesst nicht die, die heute Morgen abgereist sind. Mit wem hat er gesprochen, mit wem hat er am Tisch gesessen, wohin gingen seine Telefonate?“

Dann wandte sich Ute Jaskewitsch von ihrem Team ab: „Herr Direktor, so leid es mir tut, wir müssen ihre Portiere und Bediensteten befragen. Vielleicht können die uns Aufschlüsse zu dieser Tat geben. Wären Sie bitte so freundlich, ihr Personal darauf hinzuweisen, sich zu unserer Verfügung halten zu müssen. Niemand darf ungefragt in seinen Feierabend gehen.“

„Jetzt sofort?“, fragte der Angesprochene nach und man merkte ihm an, was für eine große Last das alles für ihn war.

„Ja bitte, das wäre uns eine sehr große Hilfe. Wie gesagt, wir befragen ihre Angestellten als Zeugen, nicht als Verdächtige“, ermunterte die Kommissarin ihn und wandte sich, nachdem der Direktor die Tür von außen wieder geschlossen hatte, an ihre Mitarbeiter: „Fühlt jeden einzelnen auf den Zahn. Hier gibt es kein Pardon. Vielleicht hatten die Mörder einen Helfer unter den Angestellten. Das würde erklären, wie sie ungesehen in das Haus kommen konnten.

Von daher prüft deren Konten und auch die Konten der ihnen nahe stehenden Personen, Lebensgefährten, Freunde, Bekannte, Sportkollegen und so weiter. Seid wachsam für jede Auffälligkeit!“

„Bis wir die Genehmigungen eingeholt haben ...“. Weiter sprach der Kriminalbeamte nicht, kratzte sich stattdessen am Hals und ging Richtung Tür.

„Herr Wallat“, rief die Hauptkommissarin dem Mann hinterher, „in zwei Stunden habe ich alle Genehmigungen auf meinem Schreibtisch liegen. Und Sie, Herr Hartmann, beginnen sofort mit dem Einholen der Informationen. Sollte jemand nachfragen, sagen Sie, dass ich alles in Kürze rechtfertigen werde.“

Herr Wallat schlich grummelnd in den Flur hinaus, Herr Hartmann bedachte seine Vorgesetzte mit einem anerkennenden Blick. Er mochte ihr kompromissloses Vorgehen. Noch.

Zusätzlich piesackte ihn ein wenig die Neugier: „Hatten Sie nicht eben gesagt, dass wir die Angestellten nicht verdächtigen, Frau Hauptkommissarin?“

„Natürlich habe ich das gesagt. Jedoch nur, um den Hoteldirektor nicht unnötig in Aufregung zu versetzen. Schließlich möchte ich seine Kooperation. Einen Mann, der mauert, kann ich nicht gebrauchen.“

Geschickt, geschickt, schmunzelte Kommissar Hartmann in sich hinein, bevor er weitere Anweisungen verteilte. Alle möglichen und unmöglichen Zugänge zum Hotel mussten durchsucht werden. Sei es die Kanalisation, die Lüftungsschächte oder das Dach. Danach lenkte er das Gespräch in eine neue Richtung: „Was wissen wir über die Opfer?“

„Es handelt sich um einen chinesischen Geschäftsmann mitsamt seinen Leibwächtern. Da sie Besucherausweise für die Hannover-Messe hatten, steht der Anlass ihres Besuches fest“, antwortete Hauptkommissarin Jaskewitsch.

„Wissen wir schon etwas über die Branche, in der er tätig war?“

„Den Prospekten in seinem Zimmer nach etwas mit Elektronik und Programmierung. Das kann ein weites Feld sein. Wir müssen Tabletts und iPhones auswerten. Setzen Sie bitte Frau Hanner an die Recherche. Was genau war sein Geschäftszweig? Mit wem hat oder wollte er sich auf der Messe treffen? Mit welchen europäischen Firmen, Organisationen oder Politikern stand er im Kontakt? Hatte er Frauengeschichten? Hatte er sich im eigenen Land vielleicht Feinde geschaffen, die es bevorzugten, die Liquidation lieber nach Europa zu verlegen ...“

„Und vor allem: Wem ist er auf den Sack gegangen?“, brachte es Kommissar Hartmann auf den Punkt.

„Dass Sie sich immer so vulgär ausdrücken müssen, werter Kollege“, schüttelte die Hauptkommissarin den Kopf, konnte sich aber ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Irgendwie amüsierte sie sich über diese unverfrorene Art.

Danach hob sie die Diskussion wieder auf ein berufliches Niveau, indem sie sachlich weitere Fragen stellte: „Welche Informationen haben wir über die Täter? Alter, Nation, Namen, Besonderheiten? Haben wir Stimmen gehört? Wenn ja, auf welcher Sprache haben sie sich unterhalten und so weiter und so fort. Schießen Sie los.“

„Die eine Person ist zwischen 1,80 und 1,90 m groß, die andere um die 1,60. Beide müssen extrem gut durchtrainiert sein und den Umgang mit dem Schwert perfekt beherrschen. Auffälligerweise haben sie keine Schusswesten getragen. Sie müssen sich also entweder sehr sicher gewesen sein, mit ihren Schwertern gegen Pistolen siegen zu können – was eigentlich nicht machbar ist – oder sie haben eine extrem fatalistische Einstellung zum Leben. Wie die vielen Kamikazeflieger im zweiten Weltkrieg“, berichtete der Mann, der sich zum dritten Mal die Videoclips angesehen hatte.

„Vielleicht waren sie sich einfach nur sicher, dass sie die Bodyguards überraschen könnten? Aber woher haben sie sich diese Sicherheit genommen?“, räsonierte Frau Jaskewitsch.

„Alles in allem sind sie sehr professionell vorgegangen. Sie haben nicht ein Wort miteinander gewechselt, sich nicht ein einziges Mal mit Zeichen verständigt. Das nur zu Ihrer Hoffnung, wir könnten ihre Sprache ermitteln“, fiel ihr der Mann hinterm Bildschirm ins Wort. „Wenn Sie genau hinschauen, sehen sie, die Lippen der beiden bewegen sich nie. Demnach müssen sie sich sehr gut kennen und schon häufig zusammen „gearbeitet“ haben. Wir sollten nach ähnlichen Attentaten in Asien, Europa und den USA suchen lassen. Vielleicht können wir uns dann der Nationalität der Mörder annähern. Über diese Aufzeichnungen schaffen wir es nicht. Die Kerle sind vollkommen maskiert.“

„Sie sind klein und schmächtig. Das könnte auf Asiaten hindeuten:“ Ute Jaskewitsch kratzte sich an der Nasenspitze.

„Oder aus Lateinamerika. Das sind ebenfalls keine Schränke, wie die, die aus europäischen Muckibuden schlüpfen“, relativierte Kommissar Hartmann die ersten Verdachtsmomente und legte einen weiteren Dämpfer nach, dass sich der Täterkreis nicht so einfach eingrenzen lassen würde: „Außerdem gibt es bei uns genügend durchtrainierte Männer, die schlank und drahtig sind, Frau Jaskewitsch. Und Geschöpfe, die so schnell mit dem Schwert sind, benötigen keine großen Bizeps- und Brustmuskeln. Ich werde die Aufzeichnungen unseren Kampfsportlehrern vorlegen. Sie sollen den Kampfstil ermitteln. Dann wären wir einen guten Schritt weiter.“

„Gute Idee, Herr Hartmann. Kommen wir nun zum Motiv. Wo sollen wir anfangen? Terroristischer Anschlag? Chinesischer Bandenkrieg – obwohl ich noch nichts von einer Chinesenmafia gehört habe? Rachefeldzug? Auftragsmord?

Im Grunde wissen wir viel zu wenig und müssen in alle nur erdenklichen Richtungen ermitteln. Durchleuchtet diesen Geschäftsmann. Auch wenn ich mich wiederhole: Ich will wissen, welche Geschäfte er betrieben hat und vor allem, welches seiner Geschäfte ihn nach Hannover geführt hat. Lasst zudem die familiären Möglichkeiten nicht außer Acht! Hat er eine Geliebte in Hannover? Ist er überhaupt verheiratet? Hat er Kinder? Könnte in seiner Verwandtschaft jemand von seinem Tod profitieren?“

„Dazu müssten wir uns mit den chinesischen Polizei kurz schließen“, brachte Kommissar Hartmann seinen Einwand vor.

„Das werden wir früher oder später sowieso tun müssen. Doch bevor wir die chinesischen Kollegen wild machen, sollten wir sehen, was das Netz uns alles zu sagen hat. Gibt es noch was?“ Ute Jaskewitsch drückte ihr Kreuz durch und schaute mit wachen Augen in die Runde. „Ja bitte, Kollege!“

„Ich weiß nicht, ob uns das wirklich weiter helfen könnte, vielleicht ist es gar keine Spur. Aber bei einer der Leichen im Flur haben wir schwarze Stofffasern gefunden.“

„So ist es richtig, junger Mann. Jeder Krümel kann wichtig sein. Besser, einen zu viel aufheben, als einen Brocken zu übersehen. Bitte sofort die Faser ins Labor schicken. Wenn es keine weiteren Fragen und Anregungen gibt, bitte ich alle, mit ihren Aufgaben anzufangen. In drei Stunden treffen wir uns zur nächsten Lagebesprechung im Kommissariat wieder. Vielen Dank.“

 

5.

 

„Da bist du ja endlich“, sagte die kleine Chinesin einen Tag nach der Kletterpartie im Baum, „unser Geschäftspartner möchte uns sofort sprechen. Treffpunkt am alten Güterbahnhof. Zieh bitte diese hübschen Kleider aus und etwas Dunkles, Unauffälliges an.“

Li tat wie ihr geheißen, wunderte sich nur, warum das jetzt mitten in der Nacht zu geschehen habe und nicht auf den morgigen Tag zu verschieben wäre.

„Warum bist du nicht wie gewöhnlich zum Abendessen nach Hause gekommen?“, fragte Xue in einem leicht rügenden Tonfall, der ihre Enttäuschung nicht verbergen konnte. „Ich habe so schön gekocht und die ganze Zeit vergebens gewartet. Überraschen wollte ich dich, doch nun ist alles kalt ... und wir haben keine Zeit mehr. Zumindest dein Handy hättest du nicht abschalten müssen.“

„Verzeih mir, Xue. Das ist wirklich äußerst lieb von dir. Hätte ich etwas von deiner schönen Überraschung geahnt, ich wäre mit Sicherheit nicht so spät gekommen. In aller Freude hätte ich den Abend mit dir genossen. Die festlichen Kerzen, der gute Wein und dein unübertroffenes Essen. Ich kenne wirklich keine bessere Köchin als dich. Da ist mir jetzt wahrlich etwas Tolles entgangen“, besänftigte Li ihre Freundin.

„Nun gut, ist nicht weiter schlimm. Dann wird daraus eben ein spätes Nachtessen, oder sollte ich besser sagen, ein extrem frühes Morgenmahl? Schlecht wird es nicht werden. Und wenn wir zurück sind, haben wir bestimmt viel zu planen und zu überlegen. Da wird es sowieso nichts mit dem Schlafen.“

Li war froh, bei ihrer zwei Jahre älteren Freundin Entspannung zu registrieren. Die Enttäuschung war überwunden. Glaubte sie. Hätte sie nur die Gedanken hören können, die Xue hinter ihrer freundlichen Maske versteckt hatte.

 

Eine halbe Stunde später kamen sie in eine sehr menschenleere Gegend. Am Ende der Hamburger Straße bogen sie in die Arndtstraße ein. Diese führte sie unter den Bahngleisen hindurch und verabschiedete sie in den Weidendamm.

Verlassen, trostlos und dunkel lagen die alten Hallen des ehemaligen Güterbahnhofes vor ihnen. Xue blieb vorsichtig stehen und schaute in alle Richtungen. Nirgends war eine Menschenseele zu erkennen. Das musste nicht unbedingt verwundern, da es drei Uhr nachts war. War das jetzt aber ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? Potentielle Verfolger konnten sie nirgends ausmachen. Das war ein gutes Zeichen. Auf der anderen Seite gab es niemanden, der ihnen bei Gefahr helfen könnte. Das stufte Li als schlecht ein.

„Warum zwingt er uns zu so später Zeit hier her, Xue? Mir ist bei der Sache nicht wohl. Warum können wir uns nicht wie zivilisierte Menschen morgens um 10:00 Uhr in seinem Büro treffen?“

„Weil er keine Zeugen haben will. Niemand soll wissen, mit wem er in Verbindung getreten ist. Je weniger Spuren wir hinterlassen, umso sicherer ist es für alle Beteiligten.“

„Du willst mir nicht im Ernst weiß machen wollen, dass wir hier zwischen diesen dunklen Gebäuden sicher sind. Hinter jeder Ecke könnte uns eine Gruppe auflauern. Und mit einem Nachtsichtgerät und einem guten Zielfernrohr wäre es ein Leichtes, uns eine Kugel in den Rücken zu jagen.“

„Du guckst eindeutig zu viel Fernsehen. Außerdem solltest du nicht so viel plappern, dann könnten wir uns besser auf unsere Umgebung konzentrieren und einen Feind früh genug ausmachen.“

Nachdem beide Frauen lange an dem Haupthaus entlang gegangen waren, fanden sie eine unverschlossene Tür. Vorsichtig traten sie ein und schlichen durch einen stockdunklen Flur. Li hatte alle ihre Sinne bis aufs Äußerste angespannt. Warum in diesen verfallenen Räumen? Warum zu so später Nacht? Die Sorglosigkeit ihrer Kollegin konnte sie nicht teilen. Wieder kamen sie an eine schwere Brandschutztür. Xue drückte ganz sachte den Griff runter während Li sich platt an die Wand presste. Langsam zog Xue die Tür auf und sprang noch im gleichen Augenblick weit zurück. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen fiel die schwere Tür wieder zu. Mist. Jetzt wusste jeder, wo sie waren. Und das nur wegen ein paar Fledermäusen.

„Früher warst du wegen so ein paar Nachtgeister nicht so schreckhaft“, amüsierte sich Li leise, innerlich frohlockte sie, dass die große und starke Xue einmal eine Schwäche gezeigt hatte. „Hast wohl gedacht, es handelt sich um ein paar Vampire, die sich dir gleich an den Hals werfen, was, meine Liebe?“, neckte Li weiter.

„Schnauze!“, knurrte die Angesprochene in halb ironischer und halb ernster Stimmlage. Li wusste, dieses harte Wort war nicht böse gemeint.

Dann öffnete Xue die Tür ein zweites Mal und trat hindurch. Plötzlich standen sie in der großen Halle, in der einst die Waren der Güterwaggons umgeschlagen wurden. Deshalb war diese Halle nach Norden hin offen. Von dort floss das Licht der Stadt seicht in diese Gebäude hinein und gab grob die Konturen des Bodens und der Wände frei.

„Langsam könnte unser Partner mit diesem Versteckspiel aufhören und sich zeigen.“ Der leichte Groll in Xues Stimme war nicht zu überhören.

„Vielleicht hat er einen großen Gefallen daran, zwei Frauen wie uns das Fürchten zu lehren.“

„Dann dürfte er sich gerne einen besseren Zeitpunkt aussuchen. Dieses Spiel hier gefällt mir überhaupt nicht.“

Die Worte waren noch gar nicht verklungen, da krachte es unter Xue und im nächsten Moment war sie nach unten verschwunden. Li schrie instinktiv laut auf. Was war geschehen? In welche Falle war ihre Freundin geraten? Lebte sie noch?

Wie viele Fragen man sich doch in einer Sekunde stellen konnte.

Mit angestrengten Augen stierte die große Chinesin in das finstere Loch vor ihr.

„Pst“, schimpfte Xue von unten, „alles halb so schlimm.“ Dann rappelte sie sich auf und kam neben dem zerbrochenen Holzbrett wieder zum Vorschein. „Ich stehe hier auf den Gleisen. Diese kleinen Bretter sind transportable Brücken, die einst über die leeren Gleise gelegt wurden, damit man mit den Hand- und Schubkarren Abkürzungen vornehmen konnte und nicht immer ganz den Bahnsteig hinab zur Endplattform musste.“

„Woher kennst du dich in diesen Dingen so gut aus?“ Lis Stimme klang ehrfurchtsvoll, nicht fragend.

„Hab mir heute viele Fotos von diesem Bahnhof im Internet angesehen, um mich mit den Örtlichkeiten etwas vertraut zu machen“, gab die kleine Partnerin schlaumeierisch Auskunft. Dann stand sie wieder neben Li. Sie klopfte den losen Staub von ihren Hosen und aus ihrem schwarzen, fülligen Haar, das ihr bis kurz über die Ohren fiel und mittig gescheitelt war. Mit ihrem strengen Blick, der etwas breiten Nase und der sehr schmalen Oberlippe flößte sie jedem Angst ein, der sie nicht kannte.

Langsam führte Xue den Kopf nach oben und blieb mitten in der Bewegung stehen. Im selben Moment wusste Li, dass jemand hinter ihr stehen musste.

Ganz langsam drehte Li sich um. Dann sah sie ihn. Weit hinten, an der Einfahrt zur Abfertigungshalle. Es war nur eine Silhouette, die sich schwarz und bedrohlich gegen den nächtlichen Horizont abhob. Reglos stand die Person da, beide Hände hingen an ihrer Seite herab. Uff, ein Gewehr war somit nicht auf sie angelegt.

Ob er sie schon gesehen hatte? Mit bloßen Augen könnte er sie nicht erkennen, da er in das Schwarz dieses Gebäudes herein blickte, wohingegen sie aus demselben hinaus sahen. Doch es bestand kein Zweifel. Er hatte sie gehört. So laut wie sie gewesen waren, hätte man schon taub sein müssen, um sie nicht wahrgenommen zu haben.

„Nun gut, dann lass uns zu ihm hin gehen!“, gewann Xue ihre Fasson als erste zurück.

Kurz darauf schritten die beiden Frauen aufrecht und langsam dem Bahnsteig entlang zu der in Anzug und Mantel wartenden Person. Beide Frauen waren im Begriff, sich bei der kleinsten Bewegung dieses Mannes sofort in die Gleisgruben zu werfen und standen dann doch stocksteif vor Schreck, als er sich plötzlich bewegte.

Wo war er hin?

Minuten vergingen, in denen die Frauen sich nicht rührten und angespannt in die Nacht hinaus lauschten. Dann klappte eine Autotür. Dann startete ein Motor. Dann sahen sie einen Lichtkegel über den Boden huschen und hörten, wie sich der Wagen entfernte.

„Mist. Anscheinend will er mit uns jetzt keine Geschäfte mehr machen“, fuhr es Li enttäuscht über die Lippen.

„Abwarten. Vielleicht war es ja ein anderes Auto. Weder gibt es einen Grund, zu verzweifeln, noch einen, unsere Aufmerksamkeit zurück zu nehmen. Wir wissen nicht, was da vor uns ist. Also weiter!“

So schlichen die beiden Frauen leise die restlichen fünfzig Meter voran. Am Ende des Güterbahnsteigs erwischte sie eine kühle Brise. Li spürte den Hauch des Windes wie einen Todeskuss auf ihrer Wange.

An der Stelle, wo eben noch der geheimnisvolle Mann gestanden hatte, hob Xue einen Umschlag vom Boden auf.

 

6.

 

Vier Monate vorher

 

Die Frau freute sich. Es war Jahrestag. Der vierte. Sie hatte sich frei genommen. Während des Einkaufens hatte sie noch einmal Jahre zurückgeblickt. Es war ein sonniger Tag gewesen. Mit drei Freundinnen war sie in die Herrenhäuser Gärten gegangen. Die große Fontäne hatte geruht, als sie mit den dreien am Beckenrand rumgekaspert hatte. Da hatten sie urplötzlich das Rauschen gehört. Im nächsten Moment war der gewaltige Wasserstrahl in die Höhe geschossen. Das Unglück hatte es gewollt, dass die vier in Windrichtung gesessen hatten. Wie ein Schleier hatte die Gischt sie eingehüllt. Noch im Weglaufen hatte sie eine lederne Jacke gespürt, die sich um ihre Schultern gelegt hatte. Ralf.

Natürlich war es zu spät gewesen. Ihre Bluse, ihr Rock, ihre Haare – alles war klitschnass gewesen. Aber der Blick in seine Augen hatte alles entschädigt. Sie hatte gespürt, wie ihre Wimperntusche verlaufen war. Oh Gott, sie musste schrecklich ausgesehen haben. Neben diesem adrett im weißen Hemd gekleideten Herrn. Mindestens zehn Jahre älter als sie. Und noch immer jugendlich grinsend. Seine Bankerkollegen hatten sich mit den Ellbogenspitzen in die Seiten gebufft. Prompt hatte sie gewusst, ab diesen Moment war sie mit ihrem Retter zusammen gewesen.

Auf einer Parkbank im Rosengarten hatte sie sich abgeschminkt. Schnell hatte die Sonne ihre Kleider getrocknet. Männer und Frauen hatten gleichermaßen rumgealbert. Sie hatte in einem fort mit ihrem hübschen Mann geschäkert. Zum frühen Abend wurde sie gentlemanlike nach Hause gebracht. Die ganze Nacht hatte sie nicht schlafen können. Hatte fortwährend an die Einladung zu morgen Abend gedacht.

An jenem Abend hatte sie edel beim Inka gegessen. Lange hatten sie bei ihrer Flasche Wein geschwatzt. In der Nacht war sie mit zu ihm gegangen.

Heute gab es nicht südamerikanisch.

An Festlichkeit stand es dem damaligen Abend aber in nichts nach.

Sie hatte Thunfisch, Hai und Lachs gebraten. Eine pikante Cremesoße mit roten Pfefferkörnern gemacht und dazu Kartoffelbrei in Blätterteig. Der Brei war natürlich nicht gewöhnlich. Angebratener Speck und Zwiebeln gaben einen salzigen, kräftigen Geschmack. Zwei Bund Petersilie und drei Bund Schnittlauch lieferten eine frische Würze. Es roch fantastisch. Dazu einen Riesling bester Lage und Kerzen in jeder Ecke.

Ralf hatte noch nicht sein Jackett aufgehängt, da hing sie schon wie ein kleines Mädchen an seinem Hals. Lächelnd gab er ihr einen Kuss. Während sie ihm die Krawatte aufband, fragte sie sich, warum er heute die Blumen vergessen hatte. Es war das erste Mal in all den Jahren.

Mit sichtlichem Genuss aß er die Speise und trank er den Wein. Umso unverständlicher war ihr seine Reaktion: „Ist heute etwas Besonderes, Liebling. Bist du befördert worden? Oder was feiern wir hier?“

„Ralf, heute ist unser Jahrestag.“ Entrüstung brach sich Bahn, überschlug sich und wachte auf als Verzweiflung. Dem eine Traurigkeit folgen sollte, die mit den Gewitterwolken in die Stratosphäre stieg, um als alles verschlingende Wut Gottes zurück zu kommen.

„Ach so.“

„Das ist alles, was du zu deiner Entschuldigung zu sagen hast?“

„Für was soll ich mich entschuldigen?“

„Dass du den Tag vergessen hast. Dass du uns vergessen hast.“

„Aber mein Mädchen, nun mach mal halblang. Diese Kindereien sind für frisch Verliebte.“

Soso. Wir sind also nicht mehr verliebt?

„Unsere Partnerschaft hat solche antiquierten Rituale nicht nötig.“

Glaubst du.

„Mittlerweile hat jeder von uns seinen Platz in dieser Zweckgemeinschaft gefunden. Ich tolerieren dein immer längeres Außer-Haus-Bleiben und habe mich mit meinem Alleinsein vorm Fernseher abgefunden.“

„Willst du mir die Schuld geben für deine Unfähigkeit, dein Leben aktiv zu gestalten? Was kann ich dafür, wenn dir in deinem Leben nichts Anderes einfällt, als zu konsumieren. Immer schön alles in dich hineinfressen. Und nie etwas geben. Das bist du. Schau dich mal an.“

Mein Gott. Dieses ist der Mut der Verzweifelten.

„Deine Mutter hatte ganz recht. Du bist ein engstirniger Geist. Weißt immer selber besser, was für dich richtig und was für dich falsch ist. Wären sie mit deiner Erziehung nicht so sanft und nachgiebig umgegangen, hätte aus dir mal was werden können.“

„Ist das wirklich dein Ernst, Ralf? Bist du ehrlich der Auffassung, ich bin nicht gescheit?“

„So krass möchte ich das noch nicht auslegen. Noch besteht ein kleiner Funken Hoffnung. Noch habe ich dich nicht ganz aufgegeben.“

„Drei Mal „noch“! Glaubst du eigentlich den Scheiß, den du da redest? Ich befürchte fast, ja. Ich bin auf dem Wege, eine sehr gute Karriere zu machen. Wenn du darauf neidisch bist, kläre das mit deinem Therapeuten. Ich bin nicht mit dir zusammen, weil ich auf dein Geld angewiesen bin. Ich bin mit dir zusammen, weil ich es will. . . . . . . Wollte? Wenn es mit uns nicht mehr klappen soll, bin ich die Letzte, die sich weigert, zu gehen.“

Warum bin ich eigentlich mit diesem Mann zusammen, der mir eine Kränkung nach der nächsten unterjubelt?

„Mein Kleines, nun sei nicht so zickig. Der Abend hatte so schön begonnen und nun machst du alles kaputt. Komm auf meinen Schoß. Lass es uns gleich hier machen.“

„Vergiss es. Pack dein Geld ein und fahr in die Ludwigstraße. Ich bin nicht länger dein Flittchen, das du erst seelisch und dann körperlich misshandeln kannst.“

Die Küchentür warf sie mit so einer Vehemenz zu, dass die Scheibe zersplitterte.

 

7.

 

Die leicht geschwungenen Sandwege führten entlang eines kleinen Baches zu einem Teich, der von ihm gespeist wurde. Lotusblumen wuchsen am Ufer des Teiches und Jasminbüsche entlang des Weges. Ihre Blüten erfüllten die Luft mit einem süßen Duft und ließen Hummeln, Wespen und Bienen sich an ihnen laben.

Auch der alte Mönch und das etwa zehnjährige Mädchen erfreuten sich an diesen köstlichen Düften. Sie saßen in dem kleinen Pavillon, dessen hölzerne Dachbalken schwungvoll gestaltet und reichlich verziert waren. Die Stützbalken liefen aus in Drachen- und Schlangenfiguren und gingen über in Blumenornamente.

Der kleine Bach entsprang einem zwischen zwei Felsen arrangierten Springbrunnen, welcher am Anfang des Parks mittig vor dem größten Gebäude des Klosters sein Wasser in die Höhe pustete. Sein leichtes Plätschern hatte etwas sehr Beruhigendes und das kleine Mädchen konnte oft stundenlang vor den kleinen Felsensteinen sitzen und zuschauen, wie das Wasser in immer neuen Wellen und Formen über den Stein hinab floss.

Nachdem das Mädchen und der Mönch schweigend einige Zeit vom Pavillon aus in den Seerosenteich geschaut, den roten, blauen und grünen Libellen zugesehen und den vielen Singvögeln zugehört hatten, stand der alte Mann unvermittelt auf und ging gemessenen Schrittes den Weg entlang. Die Hände unterhalb des Bauchnabels in der Art verschränkt, dass die linke Hand die rechte Faust überwölbte. Im gleichen Atemzug stand das Mädchen auf und nahm ebenfalls die aufrechte Haltung des Mönches ein, ließ ihr Kinn ganz leicht zur Brust sinken und schob die Schulterblätter nach hinten. Bedächtig setzte sie erst den Fuß nach vorne und brachte anschließend mittels einer kleinen Körperdrehung in der Hüfte ihr Gewicht über diesen Fuß, so dass nun der andere frei war, von ihr gesetzt zu werden.

„Was fühlst du, mein wissbegieriges Sternchen, wenn du mit deinen Füßen den Weg entlang gehst“, fragte der Mönch freundlich, ohne in seinen aufmerksamen und bedächtigen Bewegungen inne zu halten.

„Ich weiß nicht, Meister. Was sollte ich fühlen?“

„Probiere es aus! Dann wirst du es wissen.“

Daraufhin zog sich das Mädchen die Sandalen aus und ging barfuß den Weg entlang. Die kleinen piksenden Kieselsteinchen sowie die ihr gestellte Aufgabe hingegen verursachten, dass sie die meditative Art des Gehens verlor. Ihrem Gesicht war anzumerken, wie sie sich nun völlig auf ihre Füße konzentrierte und mit großem Eifer bei ihrer Sache war. Sie wollte Antworten finden. Angespannt biss sie sich auf die Lippen.

Hatte sie eben beim Gehen noch die ganze Welt betrachtet, so schien es jetzt, als würde sie durch eine Lupe nur noch den ganz kleinen Ausschnitt ihrer Füße wahrnehmen.

Wie sie zum wartenden Mönch aufgeschlossen hatte, sprach sie: „Ich fühle die Schwere meiner Füße.“

Die Aufgabe war etwas zu schwer gewesen, musste der Mönch sich eingestehen. Gehofft hatte er, seine Schülerin könnte ihm etwas von der Leichtigkeit des Seins und der Harmonie mit allen Dingen erzählen. Das Gegenteil war eingetreten. Überfordert von der schweren Aufgabe war sie in grüblerische Gedanken gefallen und hatte ihre Wahrnehmung auf ein Minimum reduziert.

„Das ist gut, mein Schatz“, lobte der Mönch trotzdem. „Du

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Mikka Tornesch
Bildmaterialien: Anna Kvach https://fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3091-0

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