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Buch 1


 

 

Das Verschwinden

 


 

1. Kapitel

 

 

Pfingstsonntag 2014 in Boltenhagen an der Ostsee

 

„Na, mein Täubchen, warte mal ab, heute Abend noch werde ich dir deinen schönen Hals umdrehen.“

Barbara erbleichte, als sie die Worte des Fremden von seinen Lippen ablas. Erschrocken führ ihr Kopf herum. Nein, der große, düstere Mann hinten am Ende des Speisesaals meinte keine Andere.

Oh, was grinste er schief. Nur der rechte Mundwinkel war verkrampft in Richtung Ohr gezogen. Der Mann faltete die Finger zusammen, drückte die Handteller von sich weg, dass es eklig knackte. Danach zupfte er jeden Finger einzeln. Die junge Frau, ja fast noch ein Mädchen, starrte gelähmt in die grässliche Fratze ihres Schicksals. Erneut las sie die gemurmelten Worte ihres Jägers: „Sieh meine großen Hände! In Kürze werden sie sich um deinen langen, schlanken Hals legen. Genüsslich werden sie zudrücken, bis deine Seele deinen wunderhübschen Körper verlassen hat, mein Zuckerding.“

Hektisch sprang Barbara vom Tisch auf. Riss ihre schwarze, mit vielen Nieten beschlagene Umhängetasche an sich und hastete zur Tür. In diesem Schreck ließ sie ihr iPhone zurück. Ebenso ihre verschreckten Eltern und Geschwister.

Dem rügenden Vater keifte sie nur ein „Verschwindet“ zu.

Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Wie kann das nur gehen? Konnte der Kerl meine Lippen lesen, als ich meinem Bruder sagte, ich hätte gerade ein sehr großes Geheimnis erfahren, fragte sich Barbara. Instinktiv krallten sich ihre Finger um den Schulterriemen ihrer Tasche, dass die Knöchel weiß hervor traten. Die Details konnte ich Timo schon nicht mehr nennen. Wohin soll ich gehen? Ich muss weg, untertauchen. So schnell wie möglich.

Vor der großen Flügeltür des Speisesaals warf sie einen Blick über die Schulter. Der große Mann im adretten Anzug hatte schon ihre Verfolgung aufgenommen. Sicherlich war er der Leibwächter des smarten Mannes, des Drahtziehers der Verbrechen.

Aber um zum Ausgang des Hotels zu gelangen, hätte Barbara den Weg ihres Verfolgers kreuzen müssen. So blieb ihr nur die Flucht hinauf ins Treppenhaus. Eine Sackgasse, wie sie sich beim Sprinten über die teppichbeschlagenen Stufen eingestehen musste. Dennoch, was sollte sie tun? Hoffen und beten? Dafür war keine Zeit. Im Flur der zweiten Etage rüttelte sie an der ersten Tür. Verschlossen. Beim zweiten Knauf nichts Anderes. Die dritte gab ebenfalls nicht nach. Vor ihr lag das Ende des Flures. Nur noch eine Tür. Wenn sich die nicht öffnen ließe, würde sie hier ihr Leben aushauchen.

Unterbewusst griff Barbara sich an die Kehle. Sie spürte schon, wie sich des Jägers Hände um sie legen, seine Daumen ihr den Kehlkopf eindrücken würden. Warum kam ihr niemand zur Hilfe? Hatten ihre Eltern nicht bemerkt, was gerade geschehen war?

Ein Angstvoller Blick zurück in den Gang, als sie die Hand auf den nächsten Türknauf legte. Gefühlt war es der Hundertste. Noch war der Hüne im Anzug nicht zu sehen. Seinen langsamen Schritt konnte sie jedoch schon hören. Gleich würde er um die Ecke biegen, sein Wild stellen.

 

2. Kapitel

 

Antonio Schmied amüsierte sich sehr über sich selber, als er mit einem Mabuhay Bagigba in der Hand vor der von Schaum nur so überquellenden Badewanne stand. Aber verdammt noch mal, warum sollte er es sich heute nicht gut gehen lassen.

Auch wenn es ihm irgendwie absurd erschien, jetzt, wo er in dem von Wasserdampf erfüllten Badezimmer stand und genüsslich durch seinen Strohhalm den ersten Schluck trank. Absurd, weil es heute ein so heißer Frühsommertag war, bei dem man sich eher in ein Becken aus Eis denn in kochendes Wasser legen mochte.

Die Geschäfte in Hannover waren sehr anstrengend gewesen. Nur selten hatte er dort Gelegenheit gehabt, mal ein Auge zuzumachen. Jetzt könnte er endlich entspannen.

Nun denn. Er stellte sein Glas auf eine Ecke am Kopfende und glitt langsam in das wohlig nach Blutorange duftende Bad. Zufrieden schaute er auf seinen Cocktail, dem er einen etwas höheren Anteil an Grapefruitsaft beigemischt hatte, um ihm die Süße zu nehmen. Dadurch kamen auch die anderen Aromen von Kokos, Ananas, Rum und Aperol voll zur Geltung. Mit dem Crushed Ice befüllt und lange geshakt hatte das Glas eine kleine Schaumkrone. So stak der Strohhalm in dem Longdrink wie er in der Wanne.

Da tauchte sie wieder auf. Vor seinem inneren Auge. Die hübsche, sehr junge Frau vom Strand. Mindestens 175 Zentimeter groß, blondes Haar, rechts gescheitelt. Es reichte ihr gerade bis auf die Schlüsselbeine. Dazu eine schlanke, durchtrainierte Figur mit wohlproportionierten Rundungen an den rechten Stellen, wahrlich eine überaus ansprechende Erscheinung. Sie hatte sofort all seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Warum, fragte er sich in diesem Moment, wo er mit einem genussvollen Stöhnen tiefer in das heiße Wasser glitt, bis nur noch sein Kopf herausschaute.

Seit Jahren hatte er sich nichts mehr aus Frauen gemacht. Arbeitskollegen munkelten schon, er könnte vom anderen Ufer sein - na und! Deren Vermutungen tangierten ihn nicht.

Wieso also fesselte ihn plötzlich der Liebreiz dieser blonden Frau? Dieser verdammt jungen Frau. Viele hübsche Frauen im reiferen Alter hatte er auf seinem bisherigen Strandspaziergang gesehen, doch bei keiner hatte sein Herz zu tanzen angefangen.

Die wahren Gründe lagen tief verschlossen in seiner Seele. Das warme Wasser und der hohe Schaum legten sich wie ein doppelter Mantel darum. Zwecklos, hier weiter zu bohren, lockte sein Unbewusstsein ihn weg zu unverfänglicheren Erklärungen.

Gut, sagte sich der Mann, sie wirkte keck und locker, als sie den Ball vorsätzlich zu ihm pritschte. Und senkte trotzdem sofort den Kopf, als er den Blickkontakt zu ihr suchte. Oh, dieser schwungvolle Mund, diese breiten, zum Küssen einladenden Lippen.

Nein, Antonio Schmied durfte nicht daran denken.

Nicht an das Küssen.

Nicht an das Gefühl, von ihr umarmt zu werden.

Aber in dem Moment, wo er die Bilder verdrängen wollte, klopfte die Erinnerung an ihr ungezwungenes Lachen wie ein böser Teufel an seinem Verstand an.

Vielleicht half es, den Kopf unter Wasser zu bringen.

Antonio spürte, wie das Wasser sein Haar hob, als der Hinterkopf am Porzellan entlangrutschte, bis er am Boden zum Liegen kam.

Langsam zählte er bis dreißig.

Dreißig Schläge gegen den Boxsack namens Vergessen. Dreißig stille Schreie gegen das Organ, das wild in seiner Brust pochte.

Tief atmete er ein, nachdem er wieder aufgetaucht war.

Geistesgegenwärtig wischte er sich die Schaumkrone vom Kopf.

Ruhig lag sie in seiner Hand. Vor seinem Gesicht.

Er hörte das leise Knistern der winzigen Bläschen, die verpufften.

Mit einem kräftigen Stoß pustete er hinein.

Die Krone zerplatzte in viele daumengroße Teilchen, die durch die Luft segelten.

Und sich am Ende mit dem Schaum in der Wanne verbanden.

Die weißen Dinger waren nicht wegzukriegen.

Genau wie seine Gedanken; die Bilder in seinem Kopf.

Die tolle Frau spielte mit ihren Eltern und Geschwistern am Strand Volleyball. Von weitem schon war sie Antonio aufgefallen, als er mit hochgekrempelten Hosenbeinen durch die Wellen des Ufers stapfte. Die Freude, mit der sie dem Ball hinterher hechtete; der Spaß, sich zum Baggern in den Sand zu werfen; die Präzision, mit der ihre Bälle bei den Mitspielerinnen und Mitspielern ankamen.

Und mit jedem Schritt, den sich der dreißigjährige Mann diesem Mädchen näherte, stolperte dieses stärker in sein Herz. Da waren sie wieder, die Gefühle, die Antonio Schmied nicht zulassen durfte.

Nicht hier und heute.

Niemals. Nirgends.

Aber verdammt, sie waren da.

Sie waren ehrlich, fühlten sich so gut an.

Und waren dennoch verboten.

Für ihn.

Den einsamen Wolf am Strand.

Auch wenn er deutlich gespürt hatte, dieses Mädchen hatte auch für ihn spontan Gefühle empfunden.

 

Um sie länger verstohlen beobachten zu können, blieb er vorhin am Ufer stehen. Ertappte sich bei dem irrationalen Wunsch, durch diese räumliche Nähe eine emotionale aufbauen zu können. Sah sich schon kühn diesem Mädchen entgegeneilen, die Arme aufgespannt, den fliegenden Vogel zu empfangen.

Natürlich fehlte dazu der Mut.

Ganz anders verhielt es sich bei dieser jungen und unkonventionellen Frau. Aus Schabernack schlug sie mit ihrer starken Hand den Ball in seine Richtung und lachte hell auf, als er den Kopf einzog. Ja, das war ihre Art, Interesse an den attraktiven Mann zu zeigen.

Antonio hätte den Ball aufnehmen und zurück werfen können. Er hätte anbieten können, mitzuspielen. Er hätte dieses Mädchen ganz normal kennen lernen können.

Aber Antonio lebte nicht unter normalen Umständen.

Das war sein Schicksal. Sein Verhängnis.

Stattdessen stapfte er weiter durch die Wellen. Den Kopf gebeugt von der Bürde seines Gewissens. Schwer haderte er mit sich selber, diesen Weg eingeschlagen zu haben.

Doch mit jedem Schritt, den er sich der Seebrücke Boltenhagens näherte, schrie ein stiller Ruf in seinem Inneren „Geh nicht!“

Das Bild dieses unbekümmerten Mädchens, nein, dieser jungen Frau, es verfolgte ihn, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, so groß die Ablenkung um ihn herum auch angerichtet war. Denn im kleinen Kurpark war Markt.

Antonio stand vor den Auslagen hübscher Kleider. Trotzdem nahm er diese kaum wahr. Überall legte sich ihr Bild rüber. Eine sportliche Prinzessin am Strand. Nahm er ein Kristall in die Hand, funkelten ihre Augen ihn an. Legte er seine Lippen an das kalte Speiseeis, spürte er ihren Mund, ihre neckende Zunge.

Es war nicht zu verhehlen, Antonio Schmied war krank.

Wie er sich diese Schwäche eingestanden hatte, hastete er am Strand zurück.

Aber sein Stern strahlte nicht mehr.

Nur noch die Eltern und der Bruder spielten Ball.

Die beiden Töchter waren verschwunden.

Ob er sein Mädchen morgen wieder sehen würde? Warum hatte er die Chance verstreichen lassen, sie anzusprechen? Nur ein einziges, freundliches Wort. Und ein Lächeln, um Steine zu erweichen. Wie so oft in seinem Leben hatte er sich nicht getraut, die Gelegenheit beim Schopf zu packen. Was wäre, wenn er die schöne Blonde nie wieder sehen würde?

Niedergeschlagen schleppte sich der Mann zu seinem Hotel.

Das Abendessen schlug er aus, so flau war ihm.

Vergessen wollte er. Mit aller Macht. Ein heißes Bad und ein leckerer Cocktail sollten ihm helfen.

 

Gerade hatte Antonio erneut sein Glas ergriffen, da polterte es an seiner Zimmertür. In der nächsten Sekunde stand sie im Badezimmer. Der Schreck fuhr ihm bis ins letzte Zehenglied. Mit weit geöffnetem Mund schaute er sie an. Sie, die Frau vom Strand.

Und nach ihren weit aufgerissenen Augen zu urteilen, war sie über dieses Wiedersehen nicht minder stark erschrocken. Oder gab es einen anderen Grund für ihre Furcht?

Wie Antonio sich hierüber noch den Kopf zermarterte, hatte Barbara ihre Fassung schon zurückgewonnen: „Ich werde verfolgt, Sie müssen mich verstecken!“

Antonio, reagiere jetzt nicht wieder falsch, hämmerte es in seinem Schädel. Zieh dieses eine Mal den Koipf nicht ein, fliehe nicht.

Fest schaute er die aufgeregte Frau an. Im Flur hörte er Schritte, die vor seiner Tür anhielten. Da verstand er, die Panik der Hübschen war nicht gespielt: „Springen Sie hinein, nehmen sie diesen Strohhalm und dann ab unters Wasser.“

Eine Sekunde später spürte er Barbaras Turnschuhe an seiner Seite. Mit großer Kraft klammerte sie sich an seiner Hüfte fest, um nicht wieder aufzutauchen.

Um ihren Kampf gegen das Hochkommen zu unterstützen, nahmen seine Unterschenkel den fremden Körper in die Zange.

Die Schaumdecke hatte sich über seinen Gast gerade wieder geschlossen, da wurde die Badezimmertür erneut aufgerissen. Im Rahmen stand ein zwei Meter großer Hüne mit wütenden und eiskalten grauen Augen. „Haben Sie ein Mädchen durch ihre Wohnung rennen gesehen?“, forderte er barsch eine Antwort.

„Nein, absolut nicht. Aber wie Sie sehen, sitze ich in der Wanne und die Tür war zu. Ich hatte keine Möglichkeit, den Rest meines Appartements zu kontrollieren.“ Höflich schaute Antonio den Eindringling an. Entschuldigte sich fast, diesem Fremden nicht helfen zu können.

Wutschnaufend drehte der Anzugmann sich weg, polterte ins Appartement, riss Schränke und Fenster auf, schob das Bett durch den Raum und stürmte mit einem „verfluchte Göre“ auf den Lippen hinaus auf den Flur.

Laut krachte die Zimmertür ins Schloss.

 

Barbara tauchte vorsichtig mit ihrem Kopf auf. Eigentlich sah sie ganz witzig aus mit ihrer Schaumkrone, schmunzelte Antonio. Eigentlich. Denn ihre Augen zeugten von unendlicher Angst.

Zu Recht, analysierte Antonio Schmied das soeben Erlebte. Der Eindringling war eindeutig aufs Morden aus gewesen. Er kannte diese Blicke, diese Unruhe, ja Gier. Aber warum?

Aufmerksam musterte der Urlauber seinen unfreiwilligen Badegast, die Unterschenkel noch immer im Kontakt mit dem Körper der Schönheit. Das fühlte sich einfach umwerfend an.

„Was ist geschehen?“, bat er mit warmer Stimme um eine Erklärung.

Barbaras Augen ließen die Tür nicht aus den Augen, als sie sich den Strohhalm aus den Mund nahm und sich den Schaum vom Kopf wischte: „Ich habe ein Geheimnis seines Chefs entlarvt . . . Ein kriminelles“, schob Barbara schnell hinterher, nachdem sie die Runzeln auf Antonios Stirn gesehen hatte. „Wird der Hüne wiederkommen, wenn er mich nirgends findet?“

„Vielleicht. Wir müssen achtsam bleiben. . . . Vielleicht vergreifen er und sein Chef sich aber auch an deine Geschwister und Eltern. Ihr müsst alle so schnell wie möglich verschwinden.“

„Ich soll wieder hinaus in den Flur gehen? Wollen Sie mich hinaus in den Tod treiben?“ Fassungslos starrte Barbara den fremden Mann an und erkannte, wie dieser mit sich selber rang.

Wie ein Blitzlichtgewitter bei der Berlinale schossen die Gedanken quer durch ihren Kopf. Wie hätte sie auch etwas Anderes erwarten können? Warum sollte dieser die Entspannung suchende Mann sich für sie abschlachten lassen? Würde er sie rausschmeißen, wäre er aller Sorgen ledig. Sie dürfte es ihm nicht einmal übel nehmen. Oder doch nicht? Konnte man Zivilcourage einfordern? Warum nicht?

„Vorhin am Strand hatten Sie mich mit sehr freundlichen Augen angesehen. Bitte verwandeln Sie sich nicht in ein Monster.“

Antonio hob überrascht eine Augenbraue, nahm Barbara den Strohhalm aus der Hand, spülte ihn kurz unterm Wasserhahn ab, steckte ihn in sein Cocktailglas und sog langsam eine Portion in seinen Mund.

Er musste nachdenken.

Was er sich wünschte, und was er durfte, waren zweierlei Dinge.

Aber das forsche Auftreten der jungen Frau ließ das Pendel stark von dem Nicht-Dürfen wegschlagen. Vorsichtig tastete er sich vor. „Es ist alles nicht so einfach, wie Sie meinen.“

„Sie wollen . . . “

„Ruhig jetzt.“ Unvermittelt war Antonio wie ausgewechselt. Seine Worte waren direkt, sachlich und extrem zielgerichtet. „Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Ihre neuen „Freunde“ werden jetzt sicherlich eine kleine Lagebesprechung abhalten. Dann werden sie reagieren. Rufen Sie sofort Ihre Eltern an. Sie und Ihre Geschwister müssen sofort das Hotel verlassen.“

Durch Barbaras Körper ging ein Ruck. Mit großen Augen fischte sie ihre Handtasche aus dem Wasser. Ihre Hände zitterten, als sie die Lederlasche umschlug. Das iPhone war nicht da.

„Hier ist meins.“

Barbara nahm Antonios Handy und drehte es misstrauisch in der Hand. Ein billiges Ding, das wirkte, als hätte er es aus einem Museum gestohlen. Es passte überhaupt nicht zu dem Kerl.

„Und was sage ich, wenn sie mich fragen, wo ich bin?“

„Mit einem Bekannten auf dem Weg nach Berlin.“

„Das werden sie mir nicht glauben.“

„Sie müssen es. Werfen Sie all ihr Können in die Wagschale.“

Barbara blickte besonnen zu Antonio. Anscheinend war dieser wirklich bereit, ihr zu helfen. Nur, sollte sie einem wildfremden Mann wirklich vertrauen? Und wieso weiß er, dass meine Eltern hier sind, mahnte ihre innere Stimme der Vorsicht sie. Postwendend gab sie sich selber die Erklärung. Der Mann hatte die Begegnung am Strand nicht vergessen. Sie war in seiner Erinnerung hängen geblieben. Somit wusste er auch von ihrer Familie. Als sie sich dieses eingestand, verwandelten sich ihre Wangen in glühende Kohlen. Wer sich so viel merkt, muss ein großes Interesse an einem gehabt haben. Ob er mich gar mag?, spukte ein Gedanke durch ihren Kopf, während sie die Nummer ihres Vaters eintippte.

Kaum hatte die junge Frau ihr Gespräch begonnen, stieg der reife Mann aus der Wanne. Geschwind schlug er sich ein großes, weißes Badehandtuch um die Hüften. Dennoch hatte sie einen Moment lang seine Nacktheit gesehen. Nun wandelte sich ihr Gesicht in ein Lavameer, während Antonio anstandshalber das Bad verließ und die Tür hinter sich schloss, um sie alleine mit ihren Eltern reden zu lassen.

Der Mann mit dem schwarzen Haar und den eisgrauen Augen hatte gerade den Flur erreicht, da rumorte es erneut an der Wohnungstür.

Barbara ließ das Handy auf den Läufer fallen, schnappte sich den Strohhalm aus Antonios Glas, tauchte unter, kam hektisch wieder hoch, angelte sich ihre Tasche, presste sich diese auf den Bauch und versteckte sich erneut.

Die Todesangst lähmte sie fast.

Sie musste sich konzentrieren, nicht zu hektisch durch den Strohhalm zu atmen, sonst würde ihr Schnaufen sie verraten, sollte der Hüne das Bad betreten.

Unter Wasser hörte sie die hohen Stimmen von zwei Frauen. Sie mussten sich in der Nachbarwohnung lautstark unterhalten.

Hingegen hörte sie nichts vom Flur.

Das beängstigte sie umso mehr.

 

Sie konnte ja nicht wissen, dass Antonio blitzschnell mit seinen Fingern in die Kehle des Eindringlings stieß, dem Überraschten und dem Atem Beraubten routiniert das Genick brach, den Toten in seinen Armen leise auf den Boden gleiten ließ, um ihn geräuschlos im Besenschrank des Flures zu verstauen.

Den Schlüssel des Schrankes versteckte er in seiner Stiefelspitze. Vorsichtig öffnete er das Fenster in der Küche. Über sein Gesicht legte sich ein schiefes Grinsen. Drei mal holte er mit seiner Hand aus, als wollte er ein Frisbee werfen. Beim vierten Versuch segelte das iPhone des Eindringlings durch die Luft und fand einen Platz hinter dem Beifahrersitz eines vor dem Hotel angehaltenen Cabriolets.

Wie Antonio das Fenster schloss, trat ein junges Paar aus dem Hotel. Er hatte richtig spekuliert: Das Hotel war ausgebucht, die Neuankömmlinge waren eine Stadt weiter verwiesen. Laut röhrte der Auspuff, als das Cabriolet entschwand.

 

Eine Minute später trat der Schwarzhaarige mit einem zweiten Cocktail und einer Spielesammlung zurück in das Bad. „Backgammon, Mau Mau oder Schwimmen?“ richtete er unbekümmert das Wort an die leer scheinende Badewanne.

Schaum hob sich empor. Daraus pellte sich Barbaras Kopf. Ihr Atem pfiff laut, Wasser und Schaum flossen ihr auf die Schultern. Ihre Augen vibrierten, als wollten sie auch ohne den dazugehörigen Körper zur Flucht ansetzen wollen. „Ich denke, wir müssen fliehen?“, spricht sie mit schriller Stimme.

 

„Planänderung“, sagte Antonio lapidar und stellte ohne eine weitere Erklärung die Spiele ab. Sodann übergab er ihr mit einem gewinnbringendem Lächeln ihr Getränk, hob sein Handy vom blauen Badewannenläufer auf und bedachte seinen Badegast mit einem fragenden Blick.

Barbara zuckte mit den Schultern: „Ich weiß nicht, ob sie mir glauben?“

Antonio drückte auf Wahlwiederholung.

Barbaras Vater prustete augenblicklich los, da er glaubte, seine Tochter am Apparat zu haben. Antonio verdrehte die Augen, hielt das Handy in den Raum, das Barbara mithören konnte - und lächelte verständnisvoll.

Wie der Vater Luft holte, gab Antonio ihm knapp seine Anweisungen durch. Widerworte duldete er nicht.

Nach seiner Predig hielt er das Mobilphone Barbara vor den Mund: „Es ist alles in Ordnung, Daddy. Mach bitte, worum wir dich gebeten haben. Denk dabei an Timo und Carmen.“

Der Vater grummelte seine Zustimmung und legte auf.

Barbara sah, wie sich die Stirn des attraktiven Mannes in Falten legte. Mit fiepsender Stimme gestand sie, ihrem Vater zu vertrauen. Alsogleich ärgerte sie sich, nicht selbstbeherrscht geklungen zu haben. Vor diesem Mann wollte sie weder kindlich noch schwach erscheinen. Beides war ihr vortrefflich misraten.

Allerdings hatte sie nicht lange Zeit, mit sich zu hadern.

Der Mann tat schon wieder etwas Komisches: Er öffnete das Fenster, sprach mit Jugendlichen, die der Unterhaltung nach mit ihren Fahrrädern unterwegs waren, und warf ihnen sein Handy zu, nachdem er den Bengels das Versprechen abgerungen hatte, dieses Telekommunikationsgerät beim Campingplatz am Ortsausgang in der Rezeption einem Herrn Bantelmann zu übergeben.

Wie konnte Antonio so naiv sein, den Typen zu glauben, wunderte sich die Blonde, schüttelte ihren Kopf und wurde sich erneut ihrer banalen Situation bewusst. Wenn der Hüne ihre Eltern nicht fände, würde er hierher zurück kommen. Denn hier hatte er die Spur seines Wildes verloren.

Machte sich Antonio darüber gar keine Sorgen?

Zweifel nagten an Barbaras Verstand wie ihre oberen Schneidezähne an ihrer Unterlippe.

Abermals schmunzelte der Mann.

Die junge Frau spürte, wie sie sauer wurde. Nahm der Kerl sie nicht für voll?

Misstrauisch beäugte sie den Mann, wie er das Fenster schloss, durchs Zimmer schritt und das Handtuch um die Hüften gewickelt zu ihr in die Wanne stieg.

Ihr Mund stand weit offen.

Unwillkürlich zuckte ihr rechter Fuß. Dieser wollte das klitschnasse Girl am liebsten durchs Hotel nach draußen auf die Straße führen, hin zum Parkplatz des Autos ihrer Eltern. Aber im letzten Moment schaltete sich Barbaras Verstand dazwischen. Selbst der kurzsichtigste Indianer der Welt hätte ihren nassen Fußabdrücken folgen können.

„Über W-Lan lässt sich jede Bewegung eines Mobilphones nachverfolgen. Ich will nicht, dass Spuren Ihre neuen Freunde zu mich führen“, erklärte Antonio unaufgefordert, als er in aller Seelenruhe ein großes Tablett quer über die Wanne legte und das Backgammon-Spiel aufbaute. „Zudem habe ich gesehen, wie Ihre Eltern das Weite gesucht haben.“

Barbara seufzte erleichtert auf. Für Sekunden entspannten sich ihre Gesichtsmuskeln. Dann rief sie unvermittelt aus: „Wurden sie verfolgt?“

„Nein.“

„Weil sie nicht meine Eltern jagen, sondern mich. Sie sind noch auf der Suche nach mir. Wir müssen weg. Sofort.“

„Dass die Ganoven es nicht auf ihre Eltern sondern auf Sie abgesehen haben, wäre eine mögliche Erklärung. Eine andere könnte sein, dass die Herren nicht auffallen dürfen und die Sache deshalb langsam angehen lassen“, äußerte Antonio in beiläufigem Tonfall seine Überlegungen. „Was war denn das Geheimnis, welches Sie nicht hätten hören dürfen?“

Die Gesichtszüge des Fast-Noch-Mädchens entspannten sich nicht. Wieso wollte der Typ nicht fliehen? Mit ihr . . . natürlich. Stattdessen bleben sie hier sitzen und taten . . . nichts. Ein irrsinniges Bild kam Barbara vor Augen. Sie sah sich und Antonio in einer viele Meter großen Messingschale sitzen. Das Kleinod war abgestellt auf dem Kegel eines Vulkans. Stechende Schwefeldämpfe stiegen von unten auf. Mussten die beiden mal nicht husten, hörten sie das Grollen der ansteigenden Lava.

Ich bin verloren, sagte sich die junge Frau. Bin ich es wirklich? Würde der Schurke mich den Verbrechern aushändigen, wenn sie sein Kinn mit einem Pistolenlauf anheben würden?

„Ist mein Fisch stumm geworden?“ Die gütige Stimme des fremden Mannes riss Barbara aus ihren Spekulationen. Verbringe dein Leben nicht damit, dich um Dinge zu sorgen, die vielleicht passieren könnten, fiel ihr eine buddhistische Weisheit ein, aber wahrscheinlich nie über dich hereinbrechen werden. Werde nicht unglücklich, weil du dich dein Leben lang mit Illusionen abgibst.

Illusionen? Ha! Die Tötungsabsicht war real. Ihr noch so junges Leben wirklich in Gefahr. Nahm der Mann ihr gegenüber dies Alles nicht wahr? Seelenruhig nuckelte er an seinem Strohhalm. Seine Augen hingegen sahen wie zwei Lanzen aus, die den Gegner erstechen. Den Gegner? Nein. Sondern das Mädchen, das ihm die Antwort verweigerte.

Barbara räusperte sich. „Immobilienbetrug im großen Stil.“ Den Missmut ihres Gemüts konnte sie bei diesem kurzen Satz schwerlich verbergen.

Den Mann brachte es nicht aus der Ruhe. Er lehnte sich zurück und erklärte ihr in selbstgefälliger Art, dass Betrüger nur gute Geschäfte machen würden, wenn sie nicht auffielen. Mit gezückten Knarren alle Gäste eines Hotels aufzuscheuchen, würde diesen Lehrsatz ab adsurdum führen.

Diese Worte leuchteten der jungen Frau ein. Einerseits. Anderseits war da etwas Neues, was sie wahrnahm. Der schwarzhaarige Mann verschwieg etwas. Er wusste mehr als sie. Nannte ihr aber nicht den wahren Grund, warum sie sich nicht mehr zu fürchten bräuchte.

Stattdessen blickten seine eisblauen Augen sie eindringlich an. Barbara konnte nicht sagen, ob ihr wegen dieses Blickes fröstelte oder wegen der kalten Luft, die noch immer im Zimmer stand. Dieser Blick, der ihr in Mark und Bein ging. Der sie irritierte. Weil er in ihr intensive Gefühle und Sehnsüchte weckte. Emotionen, die in dieser Situation der Gefahr unangebracht waren.

Schnell reflektierte die blonde Frau die letzten Minuten. Das erste Mal in ihrem Leben war sie ihren Eltern für etwas dankbar. Wenn sie auch oft von Vater und Mutter vernachlässigt worden war, weil ihr Bruder den Bonus des Erstgeborenen und ihre Schwester den des Nestkükens hatten und für sie als „Mittelkind“ kaum Aufmerksamkeit abgefallen war, so hatten beide ihr zumindest das Analysieren der Wirklichkeit beigebracht.

Die Selbstsicherheit des Mannes vor ihr war nicht gespielt. Und die Art, wie er ihrem Vater Anweisungen gegeben und sein Telefon „verschenkt“ hatte, zeugten von einem raffinierten Macher, der wusste, wie Verbrecher tickten.

Vielleicht konnte dieser Typ sie wirklich beschützen.

Als hätte Antonio abermals ihre Gedanken gelesen, offenbarte er ihr seine nächsten Absichten. Nach dem Spielen würden sie sich per Internet zu morgen früh ein paar neue Klamotten, eine Perücke und eine Sonnenbrille zustellen lassen.

Das morgen früh hallte in Barbara nach wie der Urteilsspruch eines Richters. Beklemmung kam in ihr auf bei dem Gedanken, die ganze Nacht mit diesem fremden Mann in einem Zimmer bleiben zu müssen. So fasste sie all ihren Mut zusammen: „Können wir nicht die Polizei rufen, dass sie mich abholt und beschützt?“

Reflexartig nahmen die Beine des fremden Mannes ihr Becken in die Zange. Sie befürchtete schon, dass eine Hasstriade über sie ausgeschüttet würde, da stimmte er ihr entgegen seiner Körperreaktion zu, dieses nach drei Spielen zu machen.

„Ich bin übrigens Antonio“, sagte er, als er die Würfel in seiner geschlossenen Hand schüttelte.

„Barbara“, antwortete die junge blonde Frau und spürte, wie sie begann, sich geborgen zu fühlen. Unerklärlicher Weise. Denn das Aufschieben eines Notrufs war ihrer Meinung nach unangemessen. Unpassend wie die heimliche Freude, von den Beinen dieses Mannes „umarmt“ zu werden. Deplatziert wie das liebenswerte Gefühl, das sie überflutet hatte, als er ihr mit weicher Stimme seinen Namen genannt hatte. Weich. Sanft. Geborgenheit erweckend. Dieses Angebot des Du.

Barbara hatte das Gefühl, sich selber nicht mehr zu kennen, als sie mit Antonio anstieß.

Das Klingen des Glases hallte noch im Raum, als die Würfel in seinen Händen klackerten. Hart polterten sie kurz darauf über das Spielbrett, dann schrappten zwei Spielsteine.

 

 

3. Kapitel

 

Es war eine regendunkle Nacht. Der Mann huschte mit seiner großen Tasche von seinem abgestellten Auto über den Hof zur Eingangstür. Seinen schwarzen Kapuzenanorak hatte er tief ins Gesicht gezogen.

Erleichtert atmete er tief aus unter dem kleinen Vordach vor der zweiflügeliegen Glastür. Die heute Nachmittag abgeschalteten Bewegungsmelder waren nicht angesprungen.

Sein Schlüsselbund raschelte metallern.

Ein letzter Blick über die Schulter.

Niemand hatte ihn gesehen.

Wie ein Geist huschte er ins Haus, durcheilte den Flur, ohne Licht zu machen. Diesen Weg kannte er auswendig. Selbst im Dunkeln fand er sich zurecht.

Erst in der großen Werkhalle setzte er seine Stirnlampe auf und schaltete deren Licht ein. Es war ein schmaler, weißer Strahl.

Andachtsvoll nahm er seinen Laptop und eine Fernbedienung aus der Tasche.

Kurz schnarrte das Elektrogerät, als es hochfuhr.

Alsogleich packte der Mann einen in einem weißen Laken eingewickelten Gegenstand aus.

Als wäre es ein heiliger Artefakt, stellte er das Ding in die Mitte der Werkhalle.

Zurück am Laptop rief er einige Programme auf.

Ein paar Kontrollblicke, dann packte er sich die Fernbedienung.

Ein Knopfdruck, und das Ding auf dem Fußboden hob sich mit einem lauten Rattern in die Luft.

Sein Saturn flog.

Phänomenal.

Nach einigen Runden schaltete er auf Autopilot.

Nur weil es relativ dunkel in der Halle war, konnte man nicht sehen, wie sich seine Nase jedesmal rümpfte, wenn sein Flugobjekt gegen die Decke oder eine Wand stieß.

Nach einer viertel Stunde packte der Mann seine Sachen wieder ein.

Er wusste, die Motoren brauchten Schalldämpfer, die Infrarotsensoren, die die Abstände des Flugobjekts zu seiner Außenwelt maßen, waren noch zu ungenau eingestellt; bedurften noch einer Feinjustierung im Programm.

Im Flur schaltete er seine Stirnlampe wieder aus, vor der Eingangstür zog er sich die Kapuze ein zweites Mal weit ins Gesicht.

Wie er gekommen war, verschwand er.

Niemand hatte von dem Spuk etwas mitbekommen.

 

 

4. Kapitel

 

„Fleet kommt überhaupt nicht zurück“, stellte Marco Huntingten nüchtern fest. In seiner Stimme schwang ein Ton, als hätte er sich herzlich für ein Geburtstagsgeschenk bedankt, was er nun wirklich nicht benötigte und schon morgen in die Mülltonne verfrachten würde.

„Vielleicht amüsiert er sich mit der Kleinen ein wenig länger, treibt sie in atemlose Spielchen?“ Hugo von Streelitz führte seine Espressotasse an den Mund und trank einen ganz kleinen Schluck. Um seinen Mund zuckte ein winziges Lächeln. Nur wer ihn ganz genau kannte, verstand den abgrundtiefen Sarkasmus seiner Worte. „Ist ja auch eine bezaubernde Schnecke. Wäre ich noch einmal so jung, wie Fleet, ich nähme mir ebenfalls das Erfreuliche, bevor ich zu den unangenehmen Taten des Abends schritte.“

„Ein heißes Erlebnis vorweg, die Göre hat es sich redlich verdient, bevor ihre Augen aus ihren Höhlen glubschen würden. Wäre ja jammerschade um sie, sie würde als Jungfrau vor den Herrn treten.“ Neid erwachte in Huntingten, nicht anstelle seines Kollegen Nick Fleet die Verfolgung aufgenommen zu haben. Aber so war es schon die ganze Zeit. Fleet war ihm immer einen Schritt voraus. Deshalb war Fleet und nicht er der erste Leibwächter seines Bosses von Streelitz. Langsam wurde es Zeit für ihn, Huntingten, aus diesem Schatten heraus zu treten. Nicht zufrieden war er mit der Tatsache, nur die Nummer Zwei zu sein.

„Sie schauen etwas bekümmert drein, Mister Huntingten“, forschte von Streelitz mit sorgloser Miene nach. Natürlich hatte er den unter seinen beiden Leibwächtern ausgebrannten Konkurrenzkampf längst vernommen. Viel profitierte er davon, dass beide sich selber übertreffen wollten, um ihm zu imponieren. Eine bessere Motivation konnte von Streelitz sich nicht vorstellen. Seine langen, schlanken Finger begannen zu kribbeln. Nervös bugsierte er sie an die Kante der herabhängenden Tischdecke. Huntingten sollte sein Entzücken nicht erkennen. Auf keinem Fall. Das würde ihn den Spaß an diesem Abend rauben. Wo der Tag so anstrengend gewesen war.

Von Streelitz fühlte sich wie in der Manege eines Zirkus. Mit der riesenlangen Peitsche stand er in der Mitte, führte die Löwen und Tiger im großen Kreis um sich herum, ließ sie durch Ringe springen, sich auf Boxen setzen, ihre Reißzähne blecken. Jede einzelne dieser Raubkatzen hätte ihn sofort in Stücke reißen können. Doch mittels geschickter Manipulation hatte er, der Schwächere, sich auf den Thron gesetzt. Lebte von dem glücklichen Umstand, dass die Stärkeren sich ihrer Kraft nicht bewusst waren und die Schwäche ihres Herren nicht in Frage stellten. So funktionierte das Spiel in der Zirkusarena, auf der politischen Bühne, im wirtschaftspolitischen Machtkampf. Und er, von Streelitz, wähnte sich als einen Meister der Intrige.

Um seine Macht direkt auskosten zu können, schickte er eine weitere Breitseite gegen seinen Leibwächter. Das war ein Genuss für seine Seele, wie Grappa für seinen Gaumen: „Keine Sorge, Mister Huntingten. Fleet ist mein bester Mann. Der kriegt das schon hin. Erzählen Sie mir lieber, warum meine rechte Hand aufgesprungen ist, dieses Küken zu rupfen? Bisher hatte er nie Interesse an Kindern gezeigt.“

Huntingten rang um Fassung. Auf keinem Fall durfte er seinem Chef zeigen, wie sehr diese Kränkung ihn getroffen hatte. Er zupfte ein paar Mal an seinem Nasenrücken, um sich die Worte zu Recht zu legen: „Das Flittchen hat gelauscht. Der Mund muss verstummen, bevor sie es weiter plappert“, gab Huntingten die letzten Worte seines Kollegen Fleet wieder, kurz bevor er davon gestoben war.

Der selbsternannte Immobilienmakler von Streelitz horchte auf. Lebhaft funkelten seine Augen. „Auf der Distanz? Unmöglich. Zudem die Geräuschkulisse hier im Saal. Ich kann gerade noch ihr Wort verstehen.“

„Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, Herr von Streelitz. Fleet war sofort aufgesprungen. Er sagte nur, keine Sekunde hätte er zu verlieren und war sichtlich erfreut, als das Mädchen schlagartig vom Tisch ihrer Eltern aufgesprungen war.“

„Küken halt. Fleet ist der Marder, den sie in ihren Hühnerstall gelockt hat. Bleibt nur zu hoffen, er hinterlässt ausschließlich die Federn der Gerupften. – Na, was mache ich mir Sorgen, wo sich ein Profi der Sache angenommen hat.“ Der alte Mann, der gewohnt war, Chef zu sein, tupfte seinen Lippen mit einer Serviette ab und griff zum Weißweinglas.

Huntingten konnte diese Ruhe nicht teilen. Nicht aus Angst. In ihm begann das Jagdfieber zu brodeln. Er wollte auch ein Stück vom Kuchen abbekommen. Jetzt musste er seinen Geld- und Auftraggeber geschickt lenken.

„Die Eltern sind ihr gefolgt. Wenn sie nun Fleet überraschen? Fünf Personen sind vielleicht selbst für dieses Ass einer zu viel. Sollte ich nicht nachsehen und ihm notfalls assistieren, Herr von Streelitz?“

Der Angesprochene stellte sein Glas bedächtig ab. Die Augen hingen auf der Tischdecke, als suche er nach Soßenflecken. Den Ellenbogen aufgestellt, rieb er sich den Handrücken an seinen Lippen. Als diese Hand sich zum Tisch senkte, hob sich gleichzeitig sein Kopf.

„Reizt Sie die Mutter oder die jüngste Tochter?“ Die Augen des fünfzigjährigen Mannes schossen Blitze. „Wir sind hier nicht auf dem Basar, Huntingten. Trinken Sie ihr Bier, bleiben Sie mit ihren Gedanken im Kopf, bei unseren Plänen. Rutscht Ihnen der Verstand in die Hose, begeben Sie sich auf einen lehmigen Trampelpfad im steilen, schroffen Fels. Nach drei Tagen Dauerregen, versteht sich.“

Der Leibwächter Marco Huntingten steckte diese Zurechtweisung gelassen weg. Vorerst. In seiner Vorstellung wurde jedoch in dieser Stunde der Keim gepflanzt, sich eine neue, sehr eigene Freizeitbeschäftigung zu suchen. Hinter dem Rücken seines Chefs. Gelassen lehnte sich der breitschultrige Mann mit dem ausrasierten Nacken zurück, streckte seine langen Beine unterm Tisch weit aus, wohl bedacht, seinem Chef nicht in die Quere zu kommen. Mit seinen ein-Meter-neunzig war er nur minimal kleiner als sein Widersacher Nick Fleet.

Hugo von Streelitz kaschierte unterdessen seine aufkommende Unruhe. Warum dauerte das bei Fleet so lange? Wieso standen auf dem verwaisten Tisch der Eltern die halbleeren Gläser Wein, Bier und Cola? Aus welchem Grund waren die Teller noch halb gefüllt? Es war nicht zu übersehen, jemand oder irgendetwas hatte die Familie zum spontanen Aufbruch ermuntert. Und das wird nicht das Fernsehprogramm gewesen sein. Was ging hier wirklich ab? Und wie sehr war sein Unternehmen davon gefährdet?

Schlagartig wechselte der Kapitän seinen Kurs. Seine Hand auf den Unterarm seines zweiten Leibwächters gelegt, rollten die Worte sanft aber bestimmt über seine Zunge: „Es wäre mir lieber, Mister Huntingten, Sie schauten einmal nach. Aber bitte kein Aufsehen.“

Huntingten entsicherte unterm Tisch seine Waffe, schraubte den Schalldämpfer rauf. Erfreut, dass Gott seine Bitten so schnell erhört hatte, begab er sich auf den Weg. Vater und Sohn würde er gleich nach Eindringen ins Hotelzimmer erschießen. Sicherlich hatten Eltern und Kinder unterschiedliche Residenzen. Musste er sich schon jetzt entscheiden, ob die reife Mutter oder das grüne, unschuldige Mädchen ihm zu dienen habe? Wie alt mochte die Tochter sein? Dreizehn? Es reizte ihn wahnsinnig, zu erforschen, wie sich so ein junges Ding in der Stunde ihres Todes verhalten würde.

Mit großen Schritten durchmaß er den Speisesaal.

Am verwaisten Tisch mit den halbvollen Tellern und halbleeren Gläsern lugte er nach dem Namenskärtchen, an der Garderobe riss er eine Damenjacke vom Haken. Freundlich bat er an der Rezeption um die Zimmernummer der Familie Buszekowsky, um die Jacke abgeben zu dürfen. Hilfsbereit gab die Empfangsdame Auskunft. Es kommt nicht oft vor, dass Gäste so aufmerksam sind, wie dieser schlecht frisierte aber extrem gut bekleidete Amerikaner, sagte sich die Rezeptionistin. Dorthin datierte sie den Leibwächter wegen seines Akzents.

Von Streelitz Unruhe legte sich unterdessen nicht. Obwohl er die Idee mit der Jacke bewunderte, schlich in ihm eine böse Vorahnung hoch. Wie Magma, das sich tief im Erdkern sammelte, um langsam im Schacht eines Vulkanes anzusteigen. Fleet war zu hundert Prozent loyal. Für Huntingten würde von Streelitz seine Hand nicht ins Feuer legen. Notgedrungen müsste er sich von diesem Mann trennen, nachdem sie das Ding in Boltenhagen durchgezogen hätten. Diese Aufgabe würde sein bester Cleaner, Nick Fleet übertragen bekommen. Tief sog er die Note seines Weines ein, bevor er einen weiteren Schluck nahm.

Mit zur Decke gerichteten Augen spürten seine Geschmacksnerven der Zunge dem Aroma nach. Plötzlich fuhr der ältere Mann von seinem Sitz hoch. Ein Blick auf seine Armbanduhr, es waren erst zwei Minuten vergangen. Wieso kam seine Nummer Zwei schon wieder zurück? Er wollte sich doch besonders viel Zeit für sein Vergnügen nehmen.

Huntingtens hastige Art, deutete nicht auf angenehme Neuigkeiten hin. Am Tisch angelangt, flüsterte er hektisch: „Die Vögel sind ausgeflogen. Alle Fünf. Nur leere Zimmer. Und von Fleet keine Spur. Im Zimmer der Kinder war er nicht.“

„Er wird sich ein leer stehendes gesucht haben, um vor Überraschungen geschützt zu sein. Wie leer sind die Zimmer wirklich, Mister Huntingten? Fehlen nur die Personen oder auch die Kleider?“

„Nur die Personen, Herr von Streelitz. Selbst ein Kuscheltier, ein kleiner Tiger, liegt noch auf dem Kopfkissen.“

„Gut . . . oder auch nicht gut . . .“. Der aufgestandene Immobilienhai strich seinen Anzug glatt und zog die Krawatte wieder fest. „Sie behalten die Zimmer im Auge, ich besorge uns von der Rezeption die Heimatadresse der Flüchtenden.“

„Buszekowsky“, schob Huntingten dem Davoneilenden hinterher. Stolz auf sich, diese Information dem Chef noch mit auf den Weg geben zu können.

„Bußewas? Was für ein schrecklicher Name.“ Mit angewidertem Gesichtsausdruck drehte sich der Chef zu seinem Untergebenen.

„Fürwahr, ein schrecklicher Name. Und dennoch perfekt für uns. Mit so einem Makel kann man sich nicht verstecken.“ Huntingten grinste von einem Ohr zum anderen.

„Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht. Diese verfluchten Scheißer hätten auch Müller heißen können.“ Ein Anflug von väterlichen Gefühlen huschte über das Gemüt des alten Haudegens. Dankend legte er seine eher zartbesaitete Hand auf die breite Schulter seines schwer zu zügelnden Stieres. „Und nun ab. Wenn schon kein Familienmitglied zurück kommt, findet sich vielleicht Fleet im Kinderzimmer ein.“

 

 

5. Kapitel

 

Antonio setzte seine Steine.

Barbara war eine hartnäckige Gegnerin. Er allerdings auch nicht sehr geübt in diesem Brettspiel. Es war halt eines aus dem Regal im Wohnzimmer, und weil sein Besuch sich vorhin nicht hatte entscheiden können, hatte er ihr dieses aufgedrückt.

Die ersten beiden Runden hatte verloren, jetzt lag er uneinholbar vorne. Schnell hatte er die Taktik der jungen Frau durchschaut, seine Fehler analysiert und das Spielglück auf seine Seite rübergezogen.

Ihm gegenüber saß ein anderes Glück.

Zuweilen bohrten sich Barbaras Turnschuhe in seine Seiten. Immer, wenn sie besonders eifrig die Würfel in ihrer Hand schüttelte. Dabei glitzerten die drei goldenen Ringe ihrer rechten Hand im Licht der Badezimmerstrahler. Jedes Schmuckstück hatte einen anderen Stein eingefasst, trotzdem harmonisierten sie miteinander.

Von den Händen ging Antonios Blick zum Gesicht.

An den Ohren baumelten große, goldene Creolen, wenn sie die Würfel über die Spielplatte warf. Ihr blondgefärbtes Haar, aus dem sich auf ihrer Schulter allmählich wieder zwei Spitzen herauskringelten, je trockener die Haare wurden, gab ihr ein witziges Aussehen, das zwischen Mädchen und junger Frau hin und her tänzelte.

Antonios Bewunderung wanderte von den Ohren zu den Augen. Fantastisch blaue Sterne funkelten ihn an. Darüber waren die Augenbrauen sehr schmal gezupft. Sie standen im Kontrast zu dem breiten, schön geschwungenen Mund. Lange verweilte sein Blick auf der deutlichen Vertiefung in der Mitte der Oberlippe.

Wie würde dieser Mund schmecken, wie Barbara küssen, schwirrten zwei Gedanken an seinem Verstand vorbei wie Schwalben in der Abendsonne vorm Balkon den Himmel teilten.

Wieder vergegenwärtigte Antonio sich das gute Gefühl, von Barbaras Unterschenkeln berührt zu werden. Fast war es ihm wie eine zärtliche Umarmung.

Er wusste, er redete sich etwas ein, trotzdem wagte er es, vorsichtig mit seinen Beinen den Körper der jungen Frau fester zu drücken. Zum Glück wies sie seine Berührung nicht zurück, bis das Spiel beendet war.

Dann jedoch kippte sie das Tablett mit dem Spiel von der Wanne, robbte nach hinten, zog sich die Schuhe aus und warf sie ins Waschbecken.

Zufrieden sank sie zurück ins Wasser und schob den männlichen Körper weit in seine Ecke. Das Groteske dieser ganzen Situation wurde ihr abermals bewusst: Sie in Lebensgefahr; ihre Eltern auf der Flucht; und sie in der Nähe des Mannes, der vorhin am Strand kurz ihr Herz zum Flattern gebracht hatte.

„Und jetzt?“, fragte die blonde Schönheit laut, obwohl sie im grunde sich selber um Auskunft gebeten hatte. Wie sollte es jetzt weiter gehen? Mit ihr, mit ihm, mit allem? Das beschäftigte sie arg.

„Nun wird es Zeit, shoppen zu gehen“, lachte der Schelm sie an, erhob sich, wobei er das Handtuch fest gegriffen hielt und stieg ohne Barbara eines weiteren Blickes zu würdigen aus der Wanne.

Erst an der Tür rauschte sein nasses Handtuch zu Boden.

Die Tür war schon wieder geschlossen, da sah die junge Frau noch immer das Bild der nackten Rückseite des Mannes. Sie schämte sich nicht, die Augen nicht zusammen mit dem Handtuch gesenkt zu haben.

Trotzdem stieg sie mit etwas Griesgram aus der Wanne. Der plötzliche Aufbruch Antonios in dem Moment, wo sie ihn hatte intensiver spüren wollen, bohrte sich wie ein Splitter unter ihre Haut. Dieses Gefühl der Abweisung mochte sie überhaupt nicht. Das kannte sie von zuhause zu genüge. Sie wollte Anerkennung und Nächstenliebe - wollte einfach nur gemocht werden, wie sie war.

Und aus irgendeiner Laune des Schicksals heraus meinte sie, dieses bei Antonio finden zu können. Nicht erst seit jetzt, wo er ihr geholfen hatte, sich zu verstecken. Schon beim ersten Blickkontakt am Strand war diese Empfindung ihr unter die Haut gekrochen.

Barbara stieg aus dem Wasser, nahm sich ein trockenes Handtuch und wischte als erstes den beschlagenen Spiegel blank. Für eine Weile studierte sie ihr hübsches Gesicht.

Zufrieden mit dem Gesehenen zog sie sich das Kleid über den Kopf und schaute an sich herunter. Ihre Panty und ihr Bügel-BH „Marie Claire“ schimmerten flieder-rosé. In Gedanken versunken strich sie mit ihrem Finger an der zauberhaften Blütenstickerei und den schimmernden Strassdetails entlang.

Kurz darauf blickte sie in den Spiegel und gestand sich ein, eine starke erotische Ausstrahlung zu haben. Vor allem jetzt, wo ihre ansich schon transparente Unterwäsche aufgrund der Nässe fast durchsichtig wirkte.

Als sie die Wäsche vor ein paar Stunden angelegt hatte, waren es Kleinmädchenträume gewesen, es für den schönen Mann vom Strand zu tun. Jetzt hatte die Wirklichkeit sie überholt.

Besonnen zog die in Verwirrung Geratene sich die letzten nassen Kleidungsstücke aus und hüllte sich in ein großes, dunkelblaues Badelaken.

Kaum hatte sie den Knoten über ihrer Brust in die richtige Position gerückt, wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Ein Arm schob sich in das Badezimmer, an dessem Ende ein sehr langes, weißes T-Shirt hing.

„Mehr habe ich nicht fürs erste“, entschuldigte sich der Gastgeber.

Das Blauauge nahm es dankend an und zollte Antonio viel Respekt, dass er sogleich die Tür wieder schloss.

In das Hemd geschlüpft, hängte Barbara ihren Slip über die Heizung und drehte den Termostat voll auf. Nur mit dem Hemdchen bekleidet fühlte sie sich nicht wohl. Für Antonios angekündigte Shoppingtour sollte es reichen - in der Nacht wollte sie sich bekleideter wissen, obwohl sich der fremde Mann äußerst anständig verhielt.

Das Hemd reichte ihr bis kurz über die Knie und schloss am Hals eng ab. Es wirkte wie ein Nachthemd, dennoch war es kein passendes Outfit, die Polizei zu empfangen. So nahm Barbara still Abschied von ihrem Vorhaben, heute Abend noch die Gesetzeshüter einzuladen.

Barfuß ging sie ins Wohnzimmer, wo Antonio schon an einem kleinen Tisch saß und wie gefesselt auf den Screen seines Laptops stierte.

Beim Einkaufen im Netz verging Barbara die Zeit wie im Flug. Dabei schäkerte sie mit Antonio, als würde sie ihn schon seit Ewigkeiten kennen.

Fast kam es ihr wie ein Bruch vor, als er das Notebook schloss, um ins Bett zu gehen.

Wieso nur fühle ich mich immer gleich abgewiesen?, fragte sich Barbara, als sie ein paar Minuten später im Bett lag. Auf ihrer Seite. Lichtjahre entfernt lag der schöne, schwarzhaarige Mann. Weit genug weg, um gefährlich werden zu können; nah genug, sollte der grobe Hüne von vorhin zurück kommen.

Wie diese Gedanken um den Kopf der müden Frau schwirrten, beruhigte sie sich schnell. Antonio wird es vorhin richtig analysiert haben, sagte sie sich, die Schurken wagen es nicht, Aufsehen zu erregen.

Der Schalter der Nachttischlampe klickte kurz. Dann war es still. Zumindest im Zimmer. Durch das auf Kipp gestellte Fenster hörte Barbara entferntes Meeresrauschen. Es erinnerte sie daran, eigentlich im Pfingsturlaub zu sein. Uneigentlich war sie in ein großes Abenteuer hineingeschlittert. Aufregend und beängstigend zugleich. Barbara ertappte sich, Freude daran zu empfinden, ihre Grenzen auszutesten. Hinter dem Stacheldrahtzaun lag die Verbrecherjagd. Was würde alles passieren, wenn sie mit dem Mann neben ihr über den Zaun spränge?

Doch viel interessanter erschien ihr die Ungewissheit, was geschehen würde, wenn sie über die andere Barriere klettern würde? Bei diesem Gedanken kuschelte sie sich tief in ihr Kopfkissen. Es roch frisch. Dazu duftete ihr Haar nach dem Badeöl. Zudem nahm ihre Nase noch eine andere Witterung auf. Die erregte sie am meisten. Es war der Wolf, der am anderen Ende des breiten Bettes sich in seine Decke gerollt hatte.

Sie lugte über ihre Schulter. Im silbrigen Licht der Straßenlaternen sah sie das zufriedenen Antlitz Antonios. Sein Atem ging tief und regelmäßig.

Er lag auf der Seite und hatte seine linke Hand frei vor seinem Gesicht. Für einen Moment war in Barbara der Impuls ganz stark, sich umzudrehen und diese Hand zu ergreifen. Hemmung hinderte sie daran. Und die Angst, was geschähe, wenn sie das Raubtier erweckte.

Barbara wusste, die Geister, die sie rufen würde, sie könnte sie nicht mehr zähmen. Wie der Zauberlehrling in Goethes Gedicht. Doch anders als bei dem Lehrjungen, würde bei ihr nicht der alte Hexenmeister kommen, um sie aus ihrer Not zu befreien.

Vielleicht ist es richtig so, meinte sie. Antonio ist lediglich der Mann, der Morgen mit dir zur Polizei geht. Nachdem die deine Zeugenaussage aufgenommen haben, wird er dich auf einen Abschiedskaffee einladen und davon düsen. Nichteinmal seine Handynummer wird er dir geben.

Bei diesen Gedanken griff abermals ein prähistorisches Untier in Barbaras Eingeweide. Das ist keine Liebe, belog sie sich selber und konzentrierte sich auf die Erinnerung vom Strand am Nachmittag. Doch verflucht noch mal, immer mischte sich das Gesicht eines Mannes zwischen ihre Bilder.

Verzweifelt atmete sie tief aus. Dann begann sie die Atemzüge zu zählen. Darüber schlief sie endlich ein.

 

6. Kapitel

 

Barbara fiel in einen unruhigen Schlaf und in bedrohliche Träume.

Plötzlich war sie wieder ein zehnjähriges Mädchen. Und ihr Vater, wie es in Träumen so möglich ist, war der Meister des großen Sägewerkes des Dorfes. Bettelarm waren sie nicht, das Werk warf viel Profit ab. Trotzdem bewirtschaftete die Mutter einen kleinen Garten und verlangte von den Kindern Hilfe, sofern es die Schule erlaubte.

Heute, zum späten Nachmittag, hatte Barbara jedoch mit ihren Geschwistern frei.

„Lass uns Abenteuer spielen gehen“, schlug ihr Bruder Timo vor. Die kleine Schwester Carmen war dagegen. Sie fürchtete sich vor diesen Spielen. Denn hierzu ging es immer in den finsteren Wald. Timo sagte stets, dort lauerte das Fremde; das Böse, wie das Gute. Wer keine Neugier hätte, würde es im Leben zu nichts bringen.

Carmen war dieses gleichgültig. Sie wollte lieber auf dem Anger Ball spielen. Der Nervenkitzel, vom Ball abgeworfen zu werden, war groß genug. Sie brauchte nicht die düsteren Wesen, von denen die Erwachsenen sprachen. Die Hexen, Kobolde, Feen und Werwölfe.

Doch wie fast immer setzte sich der große Bruder durch. Alleine zurückbleiben wollte Carmen nicht. So griff sie die ausgestreckte Hand von Barbara und ließ sich in den grausamen Wald hinein ziehen.

Schon bald kamen die drei Kinder auf eine große Lichtung. Peter, aus der Clique um Stefan war der General. In seiner Uniform sah er sehr stattlich aus. Barbara spürte sich sofort zu ihm hingezogen. Das erste Mal entwickelte sich in ihr eine Verliebtheit zu einem Jungen. Da spielte es gar keine Rolle mehr, dass ihre Geschwister nicht mehr bei ihr waren. Schließlich übernahm jetzt Peter die Rolle des großen Bruders, des Beschützers. Aber er gab zudem etwas, was bei Timo unmöglich gewesen wäre. Dieses Etwas brachte ihr Blut in Wallung.

Und Barbara, stets gut behütet, vor allen Bösartigkeiten der Welt immer abgeschirmt, lebte aus der festen Überzeugung heraus, alle Menschen und alle Tiere wären gutartig.

Um ihrem General ein Geschenk zu machen, schlich sie sich bei einem alten Steinbruch von der Gruppe weg. Schon bald fand sie einen in buntesten Farben schimmernden Erzstein. Doch kaum hatte sie ihn in ihre Tasche gesteckt, sah sie ganz weit weg einen noch viel schöneren. Hastig rannte sie über Stock und Stein. Mal nach vorne, mal nach recht, dann nach links und immer weiter. Nach kurzer Zeit schon hörte sie nicht mehr die Rufe der anderen Kinder. Sie war so im Sammeleifer, dass sie nichts Anderes mehr sah, als Steine und Waldboden. Bis sich plötzlich in einem Feld von Findlingen etwas bewegte. Ihr Herz rutschte ihr in die Hose. Ein Wolf, so groß wie sie noch nie einen gesehen hatte, rappelte sich von seinem Nachmittagsschläfchen auf und blickte sie mit forschendem Auge an. Ganz langsam ging er auf sie zu. Seine blaugrünen Augen, schwimmend in der gelben Lederhaut, fixierten sie unermüdlich. Deutlich tasteten sie ihren Körper ab. Würde er ausreichen, seinen Hunger zu stillen, oder würde er sich nach einem fetteren Braten umsehen müssen?, deutete Barbara diese Blicke.

Deshalb betete sie zu Gott, dass das Raubtier sich eines Anderen besinnen möge und Jagd auf einen großen Hirsch machen würde. Vergebens. Der große Wolf fletschte kurz die Zähne, dann leckte er sich immer wieder mit seiner Zunge über seine Schnauze. Dem blonden Mädchen wurde ganz kalt in ihrem Bauch und ihrem Herzen. Denn das waren die Körperpartien, in die die Augen des Wolfes hinein stachen. Schlagartig war ihr bewusst, dass er Bauch und Brust zuerst fressen würde.

Langsam ging er weiter auf sie zu.

Ängstlich wich das Mädchen Schritt für Schritt zurück.

„Lieber Wolf, an mir ist nichts dran. Ich bin so ein kleines, unschuldiges Mädchen. Mit Sicherheit werde ich dir nicht schmecken. Schau, wie dünn ich bin.“ Dabei hob sie ihr Hemdchen, dass er sich überzeugen sollte.

Aber das war wahrscheinlich das Falscheste, was sie hätte machen können. Laut knurrte der Wolf auf und duckte sich zum Sprung. Vor Schreck fiel Barbara die Tasche aus den Händen. Wie Kanonenkugeln rollten ihre Steine dem Wolf entgegen. Dieser jaulte laut auf und sprang einen Meter in die Höhe. Und noch in der Luft drehte er sich und setzte zur Flucht an.

Erleichtert schaute Barbara dem Fliehenden hinterher. Der Wald wurde licht. Die weit im Westen stehende Sonne warf orangene Strahlen zwischen den Baumstämmen hindurch. Deutlich sah Barbara das Fell des Wolfes sich wandeln. Golden funkelte es zu ihr her. Wie der Lockruf einer Nymphe hallte es in Barbaras Kopf „Das Fell musst du haben. Es ist schöner als all deine Erzsteine zusammen.“

Die Angst vorm Raubtier war vergessen. Barbara wurde getrieben von dem Bedürfnis, etwas zu besitzen. Mutig hastete sie dem Tier hinterher, sprang über Stock und Stein, wich Zweigen und Dornen aus. Und merkte erst als es zu spät war, dass sich die dunkle Nacht über sie geschlossen hatte.

Jetzt war sie verloren.

Panik überschüttet sie, kam so unvermittelt wie eine Flutwelle im Bach nach stundenlangem Dauerregen.

Wohin sollte sie gehen? Kein Laut, nirgends.

Zitternd rollte sie sich in ihre große Wolldecke, lehnte sich mit den Rücken an den Stamm einer alten Eiche. Woher die Decke kam, magst du dich fragen, liebe Leserin, lieber Leser. Nun, wir sind ja in Barbaras Traum. Da ist alles möglich.

Das blonde Mädchen verspürte Durst. Da hörte sie eine Quelle plätschern. Nicht weit entfernt. Hinter den großen, moosbewachsenen Steinen müsste sie liegen.

Ihre Hände glitten über das weiche, kühle Moos der Felsen, als sie sich vorsichtig ihren Weg durch diese Hexenküche bahnte. Silbern glitzerte der Tümpel der Quelle im Mondlicht. Kalt war das Wasser, als Barbara ihre Hände hinein tauchte, um das kühle Nass an ihre Lippen zu bringen. Gierig trank sie.

Als sie das siebte Mal ihre Hände zum Mund führte, sah sie zwei gelbe Punkte in Menschenhöhe funkeln. Vor Schreck öffnete sie die Hände. Laut platschte das Wasser auf ihre Oberschenkel. Vorsichtig erhob sie sich aus ihren Knien. Und rannte.

„Bleib stehen, Barbara“, brüllte der Werfwolf hinter ihr, „nichts Böses will ich dir. Beschützen muss ich dich vor den wilden Tieren hier im Wald.“

Nein, Barbara traute den Worten nicht. Das Raubtier wollte sie belatschern, damit sie sich besser fressen ließe. Nicht mit ihr.

Schneller rannte das Mädchen. Oft waren ihre Sprünge so weit, dass sie glaubte, fliegen zu können. Und wie durch die Hand guter Magier geleitet, schoben sich Äste, Bäume, Brombeeren, Steine und Totholz aus ihrem Weg.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Timo, hilf mir!“, brüllte sie verzweifelt in die Nacht.

„Würde ich gerne“, kam die Antwort ihres Bruders.

Abrupt blieb das fliehende Mädchen stehen. Ihr Bruder war in der Nähe. Jetzt war sie gerettet. „Timo, wo bist du?“

„Hinter dir, aber du rennst ja vor mir weg.“

Oh Gott, der Wolf imitierte Timos Stimme. Schneller als je zuvor spurtete Barbara durch die Finsternis. Sie hörte ihr eigenes Schnaufen und hinter sich das Hecheln des Werwolfes. Deutlich konnte sie sein Fell riechen. Er musste schon verdammt nah sein. Da stürzte sie erstmals, seitdem sie die Flucht angetreten hatte.

Sie rollte sich flink auf die Seite, in eine winzige Höhle unter einen der vielen Felsbrocken. Der Boden unter ihr wackelte. Fremde Zehenspitzen berührten ihre Fußsohle. Vor Schreck zog sie die Knie an. Eine Maus? Eine Amsel? Hoffte sie sich Mut einzureden. Da wurde der Stein über sie weggezogen. Gleich darauf legte sich ein haariger Arm über ihre Taille. Knurrend stupste die Schnauze des Werwolfes in ihren Nacken. Gelähmt vor Angst erwartete Barbara den Todesbiss.

Aber das Raubtier spielte mit ihr, mit ihrer Angst. Legte sich wie ein Mantel in ihren Rücken, umhüllte sie ganz; wärmte sie auf diesem kalten Waldboden.

Vorsichtig öffnete Barbara die Augen.

Sie lag in einer Hütte, gebettet auf Wolfsfellen. Das waren also die Haare des Werwolfes. Im Kamin flackerte ein kleines Feuer, auf dem Tisch brannte eine Kerze. Davor saß ein uralter Druide und tunkte ein Leinentuch in eine kupferne Schale. Anschließend säuberte er ihr ihre Wunden.

Der Sud war kühl und vertrieb sofort ihre Schmerzen. Der Duft war so aromatisch, dass all ihre Ängste nach draußen flogen.

Nur in einem langen, weißen Nachthemd lag sie auf einer Matratze aus Stroh. War es eine Ironie des Schicksals, dass sie auf Wolfsfellen gebettet war?

„Das Glück ist jetzt oder nie.“ Weich und warm drang die Stimme des steinalten Mannes an ihr Ohr. „Wenn du das Vergangene nicht los lässt, wirst du das Glück nie finden. Um loslassen zu können, brauchst du Einsicht in die Dinge. Einsicht in dir selber. Du musst lernen, mit einer Sicht zu schauen. Einfach nur schauen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was du brauchen könntest. Oft haben wir eine ganz klare Vorstellung davon, was wir brauchen und was wir nicht brauchen, um glücklich sein zu können. Genauso oft haben wir eine Vorstellung davon, was wir dürfen und was wir nicht dürfen, um Glück erleben zu können. Aber genau diese Vorstellungen sind falsch. Wir haben Angst, sie loszulassen, weil wir befürchten, dann unseren Halt zu verlieren. Doch solange wir das Loslassen nie ausprobieren, so lange können wir nicht die Erfahrung machen, wie schön das Leben ist, wenn wir los gelassen haben. Hab den Mut, loszulassen, Mädchen. Lass die Sorgen und Ängste gehen, wie das Meer sich bei Ebbe zurück zieht. Dann wirst du erkennen, dass wahres Glück möglich ist.“

Barbara spürte, sie war noch nicht wach. Der Traum hatte nur eine Schleife genommen. „Wach auf! Du musst aufwachen! Streng dich an, sonst entkommst du nicht der Gefahr.“ Unablässig spornte Barbara sich selber an.

Ein weiteres Mal blinzelte sie aus müden Augen. Ihr T-Shirt klebte an ihrem Körper. Ihr war, als hätte sie eine Sonne verschluckt. Ganz langsam kam sie in der Wirklichkeit an.

Antonios Arm war über sie gelegt, sein Atem kitzelte in ihrem Nacken.

Wie von einer Tarantel gestochen hüpfte Barbara aus dem Bett. Das Monster grunste nur und drehte sich im Schlaf auf die andere Seite.

Oh Gott, was sah dieser Werwolf hübsch aus.

Barbara setzte sich auf die Bettkannte und streichelte über Antonios Haar. Diese schwarze, üppige Pracht fühlte sich ganz weich an. Nicht zu vergleichen mit den Borsten der Bestie in ihrem Traum.

Für ein paar Minuten blieb die junge Frau an der Seite des Schlafenden sitzen. Noch total verwirrt von dem Traum, diesen vielen Bildern, der übergroßen Angst und ihren tiefgründigen Gefühlen nach Nähe und Liebe.

Barbara wusste, sie musste mit sich ins Reine kommen. Sofort. Sonst käme der Albtraum zurück. In den Träumen wollte sie ihr Unterbewusstes verarbeiten. Wenn sie es jetzt aufschriebe, könnte sie sich ihren unsichtbaren Wünschen und Hoffnungen vielleicht etwas nähern, sagte sie sich und erhob sich von der Bettkannte.

Sie nahm ihre Nachttischlampe, ging rüber zur Sitzecke, nahm sich von der Anrichte ein kleines Din-A-6-Heftchen, wo auf der ersten Seite ein paar Einkaufsnotizen standen, und schrieb ihr „Tagebuch“ weiter. Das reale war leider unbrauchbar geworden. Es hatte in der Handtasche gelegen, die mit ihr baden gegangen war.

 

Antonio blinzelte. Ein Geräusch hatte ihn geweckt. War es ein Stöhnen, war es ein Wimmern gewesen? Er wusste es nicht. Und woher kam das Licht?

Allmählich kam die Erinnerung zurück. Er hatte einen Gast. Instinktiv drehte er sich um. Das andere Bett war leer, sein Vögelchen ausgeflogen. Hatte das Licht etwas damit zu tun? Weit hangelte er sich aus dem Bett heraus, damit er um die Ecke linsen konnte. Froh darüber, dass das neue Bett nicht knarrte, stand er ganz langsam auf. Ohne ein Geräusch zu erzeugen, schlich er zu Barbara. Hinter ihrem Stuhl blieb er stehen. Vorsichtig nahm der noch immer müde Mann Barbara den Stift aus der Hand und schloss ihr provisorisches Tagebuch. Ihr Geheimnis sollte geheim bleiben.

Anschließend stellte er sich quer zum Stuhl. Sein rechter Unterarm schob sich in Kniehöhe unter die Oberschenkel der jungen Frau, während der linke ihren Schultergürtel umschloss. Bedächtig hob er sie an. Trotzdem Barbara schlief, umschlossen ihre Hände seinen Hals. Da war es wieder, das leichte Wimmern, welches ihren schlafenden Lippen entfleuchte.

Ihre Schmusegeräusche, ihre vertrauensvolle Umarmung, wie ein Presslufthammer stampften sie in Antonios Herz. Für einen Augenblick wollte er seine sanften Gefühle wieder verdrängen, aber dieser leichte, schlafende Körper auf seinen starken Armen, diese bedingungslose Zuneigung des hübschen Mädchens fühlten sich zu großartig an.

Lange war es her, dass er das letzte Mal ein Mädchen auf seinen Armen getragen hatte. So lange, es lag schon jenseits seiner Erinnerung. Dennoch zog sich sein Herz bei dieser Ahnung zusammen. Schatten wollten sich über seine Seele legen, meinte er. Dabei erkannte er nicht, es war der Wind, der die Wolken vertreiben wollte, um heilendes Licht in Antonios Innerstes zu tragen. Denn das Mädchen damals, es hatte nicht seine zierlichen Arme um seinen Nacken geschlungen. Hatte ihm keine Anzeichen gegeben, sich bei ihm geborgen und beschützt zu fühlen. Mit Barbara war etwas anders. Und dieses Neue wühlte den in seinen Gewohnheiten alt eingesessenen Mann gehörig auf.

Fester drückte er die Schlafende gegen seinen Körper. Weich drückte Barbaras Busen an seiner Brust. Um dieses Gefühl nicht gleich wieder missen zu müssen, drehte der große Mann in seiner Miniwohnung sechs Ehrenrunden mit seinem Mündel.

Sie sah so friedlich, so unschuldig aus.

Und atmete.

Ein tiefer Seufzer entfuhr seinem gekränkten Herzen.

Als wäre sein verträumter Engel eine Figur aus Glas, legte er sie auf dem Bett ab. Jetzt, im Schlaf, wirkte sie so zerbrechlich. Ganz anders, als am Strand, im wilden Spiel. Der träumende Mann setzte sich auf die Bettkante und betrachtete sein Geschenk. Ihr wunderschönes Gesicht, das so entspannt und glücklich wirkte. Was mochte in dem kleinen Köpfchen vorgehen? Ob sie wirklich schon registriert hatte, dass der Tod nur noch eine Sensenbreite von ihr entfernt gewesen war? Wie grausam hätte sie sterben müssen, wenn sie nicht zufällig seine Tür gewählt hätte? Keiner der anderen Hotelgäste hätte sie retten können. Niemand.

Es war fast zu schön, um an Zufall zu denken. Antonio kam es wie die Fügung des Schicksals vor.

An dieser Stelle mochte er nur mit sehr viel Unmut in die andere Richtung denken. Was wäre gewesen, wenn Barbara nicht in sein Zimmer gepurzelt wäre. Er hätte am nächsten Morgen nervige Fragen der Polizei beantworten müssen – so wie jeder Hotelgast. Ob er etwas gehört, gesehen, gerochen hätte? Ob etwas unnormal gewesen wäre, ihn verwundert hätte – eine Begegnung mit einem Menschen, ein Auto, ein Anruf?

Nebenbei hätten die Notärzte eine Bahre an ihm vorbei getragen, den Menschen vollständig bedeckt mit einer Plane. So hätte Antonio nicht einmal erkannt, dass es Barbara gewesen wäre, die man an ihm vorüber trug. Tagelang hätte er am Strand verzweifelt seine Volleyballspielerin gesucht. Am Ende wäre er betrübt nach Hause gereist, einen weiteren Riss in seinem Herzen.

Dieses Schreckensszenario wollte sich der Mann nicht länger ausmalen. Einmal schüttelte er sich kurz, dann betrachtete er das Gesicht der Schlafenden. Gefühlt zum tausendsten Mal.

In Antonios Blick lag eine Mischung aus Erleichterung und Angst. Wie mochte es weiter gehen? Wie lange würde Barbara bei ihm bleiben, wenn sie nicht mehr in Gefahr schweben würde? Wie lange dürfte er sein Mädchen überhaupt bei sich behalten? Seine Organisation namens „Agentur Lasalle“ würde diesen Schritt mit Sicherheit nicht akzeptieren.

Verpeste deine Gegenwart nicht mit Sorgen, die du dir über deine Zukunft machst. Wie ein Mantra betete er diesen Satz runter. Mit Erfolg. Seine Gefühlsaufwallung ebbte ab.

Leer und befreit konnte Antonio wieder auf die Schlafende hinabblicken. Mit den Fingerrücken strich er ihr zärtlich über die Wange. Sofort ertönte aus ihren geschlossenen Lippen wieder dieses leise Summen des Vergnügens. Ein himmlischer Gesang in den Ohren des Mannes.

Lange saß der einsame Wolf an Barbaras Bett. Dann schlug er die Decke über seinen Schatz, schlich zum Tisch, löschte die Lampe.

Erneut krabbelte er von der anderen Seite in sein Bett.

 

Mit dem Einsetzen der Vögel erwachte Barbara.

Ihr erster Blick traf das Gesicht des schönen Mannes.

Ein Anflug an Trotz legte sich um ihre Mundwinkel.

Dieses Pfingsten wurde so ganz anders, als es sich die Familie vorgenommen hatte. Aufregend auf einer ganz anderen Art. Und maßlos gefährlich.

Wieder düste an Barbaras Verstand der Gedanke vorbei, zur Polizei gehen zu müssen. Und erneut verschob sie dieses Vorhaben auf später.

Stattdessen angelte sie sich jetzt wirklich die Hand Antonios. Sie musste einfach etwas von ihm berühren, greifen, festhalten. Er durfte nicht wegrennen, wie das Raubtier in ihrem Traum.

Ein paar Minuten später schlug Antonio die Augen auf.

Als hätte er in ein Wespennest gefasst, zog er seine Hand zurück.

 

Beide kommentierten dieses nicht.

Solange der hübsche Mann schlief, war es für Barbara ein Leichtes, ihm ihre Zuneigung zu zeigen. Jetzt, im wachen Zustand, kam es ihr peinlich vor. Die frühreife Schülerin, die ihren Lehrer vernaschen wollte – dieses Bild hatte sie immer gehasst. Dennoch war es oft Gespräch auf dem Schulhof gewesen. Doch mittlerweile war sie zwanzig, war ein Jahr als Aupairmädchen in den USA gewesen, hatte viele Erfahrungen gesammelt, war reifer, als andere in ihrem Alter. Wenn sie auch wusste, noch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Maurice Lambert
Cover: Evgeniya Tiplyashina
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2019
ISBN: 978-3-7487-1945-8

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