Die drei hier vorgestellten Kurzgeschichten zum Wolfmädchen Sarah sind entstanden während des Schreibens des Romans „Geheimnisvolles Begehren“, der unter dem Namen Rosario Chriss als Taschenbuch und eBook veröffentlicht ist.
Lassen Sie sich entführen nach Luthalyen, dem Land, das unter den Seen und unter den Teichen liegt. Fiebern Sie mit, wie Sarah aus den Fängen mordgieriger Raubritter befreit wird; was passiert, wenn ein Rußbuttenmann durch den Wald gepoltert kommt; wie gefährlich Xanwasken sind, Wesen die sich aus dem langen Moorgras aufbauen und wahre Meister im Strangulieren sind.
„AAAHHH!! Sie wollen Carlinga umbringen!“ Mit weit aufgerissenen Augen saß Erendila im Bett, mit dem Rücken am Kopfende angelehnt, ihre Arme um ihre Knie geschlungen. Orange leuchtete ihr Nachthemd auf ihrem blauen Körper. Links und rechts von ihr schälten sich Varinda und Merander aus den Decken. Sie rieben sich die Augen und forderten eine Erklärung.
„Nortax hat Carlinga in den Tower geworfen. Er will sie köpfen lassen.“ Die relativ junge Nixe mit den knabenmäßig kurzgeschnittenen, braunen Haaren, die ihr gerade bis drei Zentimeter über die Ohren reichten, schaute noch immer wie geistesabwesend die karge Wand an, die gegenüber des riesigen Betts stand.
Varinda, die mit ihren vierzig Jahren knapp siebzehn Jahre ältere Artgenossin Erendilas, schaltete sofort. Sie wusste von den telepathischen Kräften ihrer Gefährtin. Flugs sprang sie aus dem Bett und rannte zur Dusche. Ihr weißer Frotteepyjama mit dem Blümchenmuster wirkte skurril an dieser großen, ebenfalls blauen Kriegerin.
„Weiß gar nicht, warum sie sich noch waschen muss“, brummte Merander. Er hatte gehofft, Luthalyen nie wieder betreten zu müssen. Seine beiden Nixen sahen das anders.
„Raus aus den Federn, lass uns Frühstück machen.“ Schon rannte die kleine, quirlige Erendila zur Küche. Missgelaunt schlurfte Merander in seinem königsblauen, metallisch schimmernden Satinschlafanzug hinterher. Ein Geschenk seiner Gefährtinnen. Damit auch an ihm etwas blau war. Zumindest in der Nacht.
Eine Stunde später verließen die drei im alten Golf von Varinda Hameln. Auf Meranders Oberschenkeln schaukelte die kleine Sauerstoffflasche, die sie noch schnell bei der Tauchschule am alten Hafen eingeladen hatten.
Hinter Welsede ging es auf der kleinen Straße in engen Serpentinen hoch auf die Ottensteiner Hochfläche. Nebel lag im Tal der Emmer. Zaghaft kroch die Morgendämmerung aus der Nacht hervor. Bisher war sie nicht mehr, als ein winziger Streifen am östlichen Horizont.
An der Kirche in Ottenstein parkten sie den Wagen. In südlicher Richtung verließen sie den Ort. Es ging leicht bergab. In der Talmulde lag der sagenumwobene Teich. Schon von weiten hörten sie Stimmen.
Fragend schaute Merander zu Varinda.
Die Pfadfinderin zuckte nur mit den Schultern.
„Na Jungs, eine lange Nacht gehabt?“, begrüßte sie keck die vier in der kleinen Holzhütte am See sitzenden Jugendlichen.
„Fasching ist schon vorbei!“, gifteten diese zurück und musterten die drei Ankömmlinge mit regem Interesse. Einer richtete eine Taschenlampe auf die Vorausschreitende.
„Es ist besser für euch, ihr habt uns nicht gesehen.“ Varinda war die Unschuld vom Lande, als sie die Jungs anlächelte.
„Soll es eine Drohung sein?“ Der angebliche Anführer der Jugendlichen schnellte aus der Hütte und stellte sich Varinda in den Weg.
„Nur ein Ratschlag.“ Ohne zu verlangsamen schob diese den muskelbepackten Mann zur Seite.
„Täubchen, mach mal halblang. Sonst landest du bei mir in der Badewanne, damit ich dir deine Farbe vom Körper schrubben kann“, plusterte sich der junge Mann auf und hatte noch gar nicht richtig registriert, mit was für einer großen Kraft er gerade Bekanntschaft gemacht hatte.
„Ihr werdet an meine Worte noch denken, Jungs.“ Unbeeindruckt der Anspielungen der Jugendlichen half die ältere der Nixen Merander, die Flasche anzulegen.
„So groß ist unser Teich auch nicht. Ich durchtauche den, ohne Luft zu holen.“ Ein kleiner, dicker Boy drückte sich an die Seite des Anführers und schaute lobheischend zu dem Großen auf. Seine zwei Kumpels lachten dümmlich. Gut im Hintergrund gehalten, im Bollwerk der Hütte.
Der Anführer machte einen Ausfallschritt, packte Varinda am Oberarm und griff fest zu: „Ich heiße Josch. Mal Lust auf einen Kaffee?“
Varinda ließ den Gurt der Sauerstoffflasche los. Merander würde auch ohne ihre Hilfe klarkommen. Langsam drehte sie sich zu dem Mann, der sie festhielt. Hier unten im Talkessel war es noch völlig dunkel. Kurzentschlossen nahm sie dem Mann die Taschenlampe aus der Hand und leuchtete in sein Gesicht.
„Einverstanden“, sagte sie knapp und deutete ein ganz kleines Nicken an. „Wo finde ich dich denn?“
„Kannst meine Nummer speichern.“
„Habe kein Handy dabei. Kommt nicht gut beim Tauchen.“ Schnell drehte sie ihren Unterarm über den Greifarm des großen Mannes. Sofort war sie aus seinem Griff befreit und hatte nun ihrerseits den Mann gefasst. Allerdings am Handgelenk.
Sie zog ihn hinter sich her zur Hütte und wies auf eine freie Stelle im Holz. „Ritze sie hier ein. Wenn ich in ein paar Wochen zurück bin, melde ich mich bei dir, Josch.“
Der große Kerl lächelte die Frau an, die mindestens doppelt so alt wie er selber war. „Warum nicht schon morgen?“ Seine Stimme war warm. Er drehte seine Hand, dass seine Finger nach oben kamen, und kraulte Varinda über der Pulsader. „Die Farbe sieht verdammt echt aus, Mädel“, sagte er mit einem freudevollen Scherzen in der Stimme.
Varinda stellte sich auf die Zehenspitzen und brachte ihren Mund an sein Ohr. „Es ist meine Hautfarbe, Bursche. Ich bin eine Teichnixe aus einer anderen Welt. Weil die Teiche weit auseinander liegen, wäre ein Fischschwanz hinderlich bei der Fortbewegung. Deshalb habe ich Beine. Wenn ich zurück bin, kannst du dich überzeugen, dass ich am ganzen Körper blaue Haut trage. Jetzt muss ich aber los.“
Josch pfiff durch die Zähne. „Gute Story. Du kannst bestimmt wunderbare Gute-Nacht-Geschichten erzählen. Von bösen Königen, einsamen Rittern und verführerischen Frauen. Hat die Märchentante auch einen Namen?“
Die große Nixe hatte schon das Ufer erreicht. Sie drehte sich ein letztes Mal um. „Varinda. Und ja, in Sachen Verführung kenne ich mich aus.“ Intuitiv ging sie zurück zu dem Mann, ließ sich von seinen großen Pranken an der Hüfte packen und hochheben. Als beide auf Augenhöhe waren, gab sie ihm einen saftigen Kuss auf den Mund.
Danach beharrte sie darauf, abgelassen zu werden. Der Mann kam ihrem Wunsch nach. Sie schmunzelte vor sich hin, als sie zum Wasser schritt. Auf ihren violetten Lippen spürte sie der Berührung des Mannes nach. Ein äußerst angenehmes Gefühl.
Am Ufer angelangt, sprang sie mit einem Köpper in den Teich. Merander folgte mit den Füßen voran. Den Schluss machte Erendila.
Zielstrebig steuerten die drei den Ring aus Muscheln, der auf dem Boden das Tor zur Anderswelt markierte. Ohne Umstände durchstießen sie an dieser Stelle den Boden.
Die vier Jugendlichen standen am Ufer des Teiches. Warum tauchten die Typen nicht wieder auf? Josch, der Prahlhans und frisch Verliebte, sprang hinterher. Vielleicht hatten sie sich im Schlick verfangen. Fehlanzeige. Im ganzen Teich waren keine Spuren mehr von den drei komischen Gestalten zu finden. Wie er triefend aus dem Wasser stieg, wollte sein kleiner, dicker Kumpel die Polizei rufen. Zornig schlug der Anführer ihm das i-Phone aus der Hand. Jetzt wusste er, was die Große gemeint hatte, als sie warnte, sie täten besser daran, die drei nie gesehen zu haben. Wenn die herbeigerufene Feuerwehr und Polizei im Teich keine Personen finden würden, würden die Jugendlichen innerhalb nur eines Tages das Gespött der ganzen Ottensteiner Hochfläche werden. Blaue Frauen, die vorgaben, Nixen zu sein. Oh Mann, in die Ausnüchterungszelle würde man sie verfrachten.
„Was meinst du, Josch. Ist da was dran mit der Anderswelt?“ Der kleine Mann steckte sein Handy wieder ein und stierte auf den Teich.
„Hast du eine andere Erklärung?“, konterte Josch in sehr nachdenklicher Art.
*
Unterdessen stießen die drei Krieger durch die Oberfläche des Sees Narath. Luthalyen, das Land, das unter den Seen und unter den Teichen liegt, hatte sie wieder. Die ehemalige Heimat der beiden Teichnixen Varinda und Erendila. Vierzig die erstere, dreiundzwanzig die andere. Fast hätte man sie für Mutter und Tochter halten können. Merander lag mit seinen dreißig zwischen beiden.
Es wehte ein frischer Wind. Viele kleine Wellen schlugen ihnen ins Gesicht. Hier herrschte noch pechschwarze Nacht. Lediglich unzählige Sterne funkelten am Firmament. Millionen mehr, als sonst in der Nacht, dachte Merander. Dann erinnerte er sich an eine Wanderung in der Hohen Tatra. Weit ab von der Zivilisation drangen weder das Licht noch die Abgase der Städte in die Atmosphäre. Dort war der Sternenhimmel genau so scharf zu beobachten gewesen,
Trotz der Dunkelheit spendeten die Himmelskörper genügend Licht, um die Umwelt in ihren Konturen zu erkennen. Der See Narath war lang gezogen. Bewaldete Steilhänge reichten bis an das Ufer. Nur im Norden gab es eine kleine Bucht. Diese steuerten die drei Schwimmenden an. Ein ohrenbetäubender Donner ließ sie erschauern. Ganz im Westen hatte der Himmel schon ein anthrazitfarbenes Kleid angezogen. Schnell breiteten sich die Wolken aus, fraßen einen Lichtpunkt nach dem nächsten. Als Ausgleich zum Raub des Sternenlichts gaben sie der Welt Blitze. Noch flackerten sie nur als Wetterleuchten, doch Merander wusste von seinem letzten Auftritt in Luthalyen, das Wetter änderte sich hier schneller als auf der Erde. Er verdoppelte seine Anstrengung. Sollte ein Blitz direkt in den See schießen, wollte er nicht mehr im Wasser sein.
*
„Ich habe Angst, Rebekka. Warum verbrennen die unsere Kleider?“ Mit hoffnungsvollem Blick schaute Sarah zu ihrer am Kreuz nebenan gefesselten Freundin auf.
„Weil sie davon ausgehen, dass wir sie nicht mehr brauchen werden“, lachte Rebekka gehässig. Verbittert durch ihre Wut auf die Unmenschlichkeit ihrer Peiniger. Dann brach sich Desillusion die Bahn. Rebekkas Augen füllten sich mit Tränen. Sichtlich rang sie um Fassung. Schnell wandte sie sich ab. Ihre kleine Freundin sollte nicht sehen, was sie wirklich fühlte und welche schreckliche Wahrheit in ein paar Minuten über sie hereinbrechen sollte.
Und Sarah war in dieser Hinsicht wirklich kindlich geblieben: „Was soll das heißen, wir brauchen unsere Kleider nicht mehr? Haben wir fortan nur noch nackt herumzulaufen? So anstandslos werden die Männer nicht sein. Wenn sie mit ihrem Spiel durch sind, werden sie uns sicherlich gehen lassen.“
Mitleidsvoll schaute die große Braunhaarige ihre blonde Gefährtin an. Bestimmt schüttelte sie ihre gelockte Mähne.
„Aber wenn wir uns nichts überziehen, werden wir uns erkälten.“ Sarah akzeptierte nicht die Verneinung ihrer langjährigen Gefährtin. „Dann können sie uns auf dem nächsten Markt nicht mehr für viel Geld feilbieten. Dieses Risiko werden sie nicht eingehen.“
„Komm zu dir, Sarah! Sie haben für uns einen anderen Weg bestimmt, als den in die nächste Stadt.“ Rebekka war nicht mehr gewillt, die Selbstverleugnung Sarahs länger zu ertragen. „Rings um uns her brennen kleine Lagerfeuer, sie sollen den Platz ausgiebig erhellen. Die Feuer lodern nicht, weil die Männer erst unsere Kleider verbrennen und uns dann wärmen wollen. Sie wollen gute Sicht haben, wenn ihr Spiel mit uns beginnt. Wenn der Tag angebrochen sein wird, werden wir nicht mehr zwischen diesen Pfählen baumeln, sondern an denen da drüben angebunden sein.“
„Warum treiben die Männer dort neue Stämme in die Erde? Hier sind doch genug.“
„Diese hier gehören der Stadt. Wenn die Männer die zerstören, müssen sie den Wiederaufbau der Richtstätte bezahlen, Sarah. Wie du siehst, bauen sie da drüben ihren eigenen Pranger.“ Rebekka zerrte an den Seilen, die von ihren hochgezogenen Handgelenken nach oben zu dem Querbalken des Kreuzes führten. Vergeblich. Die Fesselung würde niemals nachgeben.
„Rebekka schau! Sieh dir das an! Jetzt schichten sie um jeden Stamm Holz. Die bauen Scheiterhaufen!“ Allmählich dämmerte es Sarah. Sie alle, die hier auf dem Baßberg unter den Pfählen gehenkt waren, sollten nach Rebekkas Meinung in Kürze sterben.
Die zehn Raubritter hatten Anderes vor, als die Gefangenen zu verschachern. Schlimmeres. Unweigerlich zog sich ihr Magen zusammen, als sie das blecherne Lachen dieser Männer hörte, die sich gerade auf die Rücken ihrer Pferde schwangen.
Plötzlich roch sie den Schweiß der Pferde, den Gestank ihrer Äpfel, das Blut, das an den Schwertern der Mörder klebte. Das Blut ihrer Eltern und ihrer Geschwister. Das Blut ihrer Nachbarn und ihrer Lehrerinnen. Das Blut der Alten, Gebrechlichen und wehrhaften Männer.
Noch einmal durchlebte sie das Grauen des letzten Abends. Die Hunde konnten gerade noch anschlagen, dann waren sie von Pfeilen durchbohrt. Bis auf zehn junge Frauen und Männer metzelten die Raubritter alle Dörfler nieder. Diese zehn schmissen sie brutal auf die Rücken ihrer Pferde. Im rücksichtlosen Galopp ging es zu diesem Hügel.
Dort angekommen, wurden sie wie flohbesetzte Decken auf einen Haufen geworfen. Sechs Frauen und vier Männer. Alle jugendlich. Alle hübsch und athletisch. Und während zwei Unmenschen sie bewachten, fällten die anderen mit flinken Äxten junge Fichten. Kaum eine Stunde später waren die auf diesem baumlosen Hügel stehenden Pfähle zu Kreuze ausgebaut worden.
Unter jedem Schenkel wurde ein Opfer gehenkt. Die Linken schauten immer nach Norden, die rechten nach Süden. Erst darauf wurden die Gefangenen entkleidet. Kurz war der Spott, der über sie ausgegossen wurde. Unbeschreiblich die Scham, die in den Opfern explodierte.
Jeder Mann musterte Sarah, indem er ihr Kinn in seine kalte, eiserne Pranke nahm und ihre Augen zu den seinen drehte. Diese blauen Iriden auf einer gelben Lederhaut waren etwas ganz Besonderes. Danach wog einjeder ihre großen Brüste in seiner Hand. Freude und Verlangen leuchtete in den Augen der Mordbrenner. Die Lust am Spiel schienen sie kaum mehr ertragen zu können. Grölend zogen sie sich zum Rand des Hügels zurück und bauten emsig die Scheiterhaufen. Als sie mit ihrer Arbeit fertig waren, gingen sie zurück zu den Pferden. Nun saßen sie in ihren Sätteln, hatten die Pferde zu einem Halbkreis aufgestellt, und lauschten den Spielregeln.
Derweil fraß das Feuer immer gieriger die Kleider der jungen Leute. Viel war vom Stoff nicht mehr übrig. Das Wenige, das es noch gab, stob in Funken tänzelnd nach oben.
Zusammen mit den Kleidern zerstörte das Feuer die Hoffnung der jungen Menschen. Zehn Seelen machten sich bereit für die letzte Reise. Da ertönte weit im Westen ein grellender Donner. Als würden die Götter dem Frevel zürnen. Wie eine anthrazitgraue Wand wälzte sich eine Wolkendecke näher.
*
Triefend wateten die drei Krieger dem Ufer entgegen. An dieser Stelle hatte der See Narath zwischen zwei hohen Steilwänden seinen Abfluss. Mit den Jahren hatte sich eine Wiese über das Geröll gebildet.
Sofort entkleideten sich die beiden Nixen bis auf die Unterwäsche und wrangen zu zweit ihre Kleidung aus.
„Was ist? Ziert sich der Mann vor zwei Frauen?“, neckte Erendila.
„In einer Stunde kommt der Regen. Dann ist eh alles wieder nass“, kommentierte Merander die Nutzlosigkeit des Tuns der Frauen.
„Nicht, wenn wir in den dichten Wäldern Gangartans sind“, bellte Erendila. Ihre smaragdgrünen Augen loderten schwach. Eine Warnung an ihren Gefährten, ihre Geduld nicht überzustrapazieren.
Oh, wie Merander diese kleine Klugscheißerin für diese Hochnäsigkeit hasste. Dabei hätte sie genügend Gründe, ihm ihre Dankbarkeit zu erzeigen. Schließlich war er, Merander, es gewesen, der sie aus den Klauen der Betrüger befreit hatte. Aber das war schon über ein Jahr her. Da kann frau schon mal vergessen, brummelte der große Mann mit dem kräftigen schwarzen Haar vor sich hin.
Um die Objekte seines Ärgers nicht sehen zu müssen, drehte er sich zu der Wasserfläche. Im Gras suchte er nach flachen Steinen. Einen nach dem anderen ließ er über das Wasser hüpfen, bis er von hinten angefallen wurde.
Schnell hatten ihn vier blaue Arme zu Boden gerungen. Varinda hielt ihn im Schwitzkasten, während Erendila den Mann entkleidete.
Als die beiden Nixen Hose, Jacke und Hemd in den Händen hielten, tanzten sie wie zwei Furien vor den Augen des der Kleidung Beraubten.
Da zerriss ein grausiges Wolfsgeheul die Stille der Nacht – wenn man einmal von den beiden sich stöhnenden Frauen absah, die das Wasser aus der Kleidung des Gefährten pressten. Varinda ließ das eine Ende der Hose los und rannte zur Felswand. „Den Rest könnt ihr beide alleine machen“, war ihre lapidare Begründung.
„Angst vorm bösen Wolf?“, neckte Merander.
„Der Ruf war klagend und weinerlich. Auch fehlte die Antwort des Rudels. Wir hörten keinen Wolf“, gab die ältere Frau sachlich Auskunft. „Dort draußen ist irgendwo ein Mensch, der unsere Hilfe braucht.“ Ungehindert schritt die große Frau weiter auf die Felsen zu.
Versteckt hinter drei tausendjährigen Eiben, gab es einen Spalt an der Felswand. Rechts und links davon stützte sich Varinda am Stein ab. Der Spalt öffnete sich. Das Schwert Tockalisur spürte seine Trägerin. Zehn Jahre lang schmiedete es der Zwerg Jaroslav. Es war sein Meisterwerk. Geschmiedet für Ysiandrilla, der letzten Fürstin der Nixen, beschworen, dem Bösen zu widerstehen bis ans Weltenende, gehärtet im Blut der Drachen, Magie zu bekämpfen, mit Runen verziert, die sich selber die Trägerin suchen. In der Stunde des Todes der Nixenfürstin ging das Schwert über auf die stärkste Kriegerin der Fürstin: Varinda.
Unter dem Schwert lagen Bogen, Köcher, Dolche, zwei weitere Schwerter und drei lange Wasserschläuche. Bei der nächsten Quelle würden sie diese füllen.
Eine Minute später rannten die drei nach Luthalyen Eingedrungenen durch den Canyon. Laut platschte das Wasser unter ihren Füßen.
*
Kaum war der erste Donner verklungen, nahmen die Ritter Aufstellung.
„Was . . . machen . . . die . . . jetzt, . . .Rebekka?“ Sarah konnte vor Angst kaum mehr sprechen.
„Der Wettkampf beginnt.“ Hass lag in den Augen der Großen, Todesverachtung in ihrer Stimme.
„Wettkampf? Wollen die Punkte sammeln?“
„Einen gibt es, wenn sie dich an Arm, Bein, Bauch oder Rücken treffen. Zwei, wenn es deine Brust ist. Drei, schaffen sie es, dir einen über deinen Arsch zu ziehen. Vier bringt ein Riss in deiner Scham ein.“
Sarah musste sich übergeben.
Rebekka sah noch einmal, wie sie Sarah damals gefunden hatte. Sie war fünf und mit dem Körbchen losgezogen, Pilze zu sammeln. Plötzlich erblickte sie hinter einem Baumstrunk eine Puppe. Völlig unbekleidet. Rebekka nahm sie auf. Da schlug das Ding die Augen auf. Vor Schreck ließ die Pilzesammlerin das Kleinkind wieder fallen. Diese gelben Augen – wie ein Kind des Satans. Aber weinte ein Teufelsbraten? Rebekka nahm die Kleine wieder in ihre Arme und stürzte los zur Mutter. Nach drei Schritten fiel sie lang ins Unterholz. Sie war gestürzt über den Kadaver einer großen Wölfin.
Zuhause musste sie ihr vier Monate altes Püppchen an die Nachbarin abgeben, die kinderlos war.
Seit diesem Tag waren die beiden unzertrennlich. Heute sollten sie gemeinsam in den Tod marschieren.
Die Hufe der Pferde trommelten über den Boden. Die Erde flog nach hinten weg. Die Peitsche zischte durch die Luft, laut klatschte sie auf Sarahs Bauch. Ihr Schmerzensschrei klang wie das Heulen eines Wolfes.
*
Die Schreie der Gequälten zeigten Varinda die Richtung. Sie stießen auf einen schmalen Weg. Es stank nach Pferdeäpfeln. Wolken an Fliegen stoben auf, wenn sie dran vorbei hasteten. Nach einigen Minuten erreichten sie den gerodeten Hügel. Oben die Kreuze mit den zehn Gehenkten.
Neun Ritter hatten wieder am Fuß des Hügels Aufstellung genommen. Einer stand bei den Opfern und kritzelte etwas auf ein Pergament.
„Er schreibt die Punkte auf“, erklärte Varinda. „Wer die meisten hat, darf sich als erstes Aussuchen, wen er abschlachten will.“
„Das ist ja grausam.“ Erendila setzte den ersten Pfeil an ihre Sehne. Der Schock hatte vor ihrer Wut weichen müssen.
„Warte!“, befahl die Pfadfinderin. „Lass uns drei Bodenwellen weiter nach vorne schleichen. Wir dürfen uns keine Fehlschüsse erlauben. Wenn die Horde wieder galoppiert, schießen wir. Gleich nach den ersten Pfeilen ziehen wir uns in den dichten Wald zurück. Dort müssen die Raubritter absitzen, wollen sie mit uns kämpfen.“
Merander gab ein zustimmendes Nicken, ohne die Augen von der menschenverachtenden Szenerie zu wenden.
„Warum ist jede zweite verkehrt herum gehenkt?“ So brutal die Szenerie war, Erendila wollte wissen, was es bedeutete.
„Auf dem Hinweg dürfen die Reiter nur die einen schlagen, auf dem Rückweg die anderen. Wer sich in dem hohen Tempo vertut, bekommt Punktabzug.“
*
Sarahs Körper brannte bestialisch. Rücken, Arme, Bauch, Beine, überall fraßen winzige Vögelchen ihr Fleisch. So kam es ihr vor. Doch die großen Raben saßen noch auf den Querstreben der Kreuze. Laut kündete ihr „Krrrk“, dass sie es kaum mehr erwarten konnten, über die Toten herzufallen.
Rebekka neben ihr weinte nicht minder stark. „Ich habe so große Angst“, schluchzte sie.
Sarah konnte nicht antworten. Sie drehte den Kopf wieder weg von ihrer Freundin. Durch den Nebelflor an Tränen sah sie drei schwerbewaffnete Krieger aus dem Wald huschen und sich von Bodenwelle zu Bodenwelle vorarbeiten. Gab es wirklich Hoffnung? Sie richtete ihre Nase in den Wind.
„Was riechst du?“ Rebekka erkannte sofort die Hoffnung in Sarahs Gesicht.
„Nixen.“
„Wie viele?“
„Zwei oder drei.“
„So wenig?“ Die große Rebekka fiel zurück in ihre Resignation.
„Genug. Mein Großvater sagte mir, nur Elben wären noch bessere Krieger.“ Die kleine Blonde schaute fast schon trotzig zu ihrer Freundin auf. Sie mochte nicht, dass ihr letzter Traum an Zuversicht zersplittert werden sollte wie ein Tonkrug, der auf Steinquader fällt.
Da setzte sich der Todestross lauttrampelnd ein zweites Mal in Gang. Auf halbem Wege stürzten die vordersten drei Mordbrenner von ihren Pferden. Sofort dirigierten die anderen ihre Rösser zum neuen Feind. Dieser flüchtete in den Wald.
„Na toll.“ Rebekkas Mut zerrann im Stundenglas. „Sieben haben sie übrig gelassen.“
„Aber diese Sieben haben von uns abgelassen.“ Sarah war stets bemüht, positiv zu denken. Das machte das Blut aus, das in ihren Adern rann. Auch wenn sie davon zu diesem Zeitpunkt noch nichts wusste.
Bevor die Reiter den Wald erreichten, stürzten die nächsten drei aus den Sätteln. „Nur noch vier“, kommentierte die kleinere Frau mit den glatten, blonden Haaren, die ihr bis an die Taille reichten.
Ihre große, schlanke Freundin mit der braunen Lockenpracht, dem langen, schlanken Hals und der engen Taille gewann erstmals neuen Lebensmut, als sie dem Kampfeslärm im Wald zuhörte. Sollte ihr Leben doch noch nicht mit dreiundzwanzig Sommern jäh beendet werden?
Fünf Minuten tobte das Geklirr von Schwertern und Schilden. Plötzlich herrschte Grabesruhe. Nur die Krähen und Raben störten das Schweigen der Welt, als sie sich um die ersten Leichname zankten.
Sarah und Rebekka zitterten. Sie wagten nicht zu atmen. Damit waren sie im Einklang mit den anderen Gefesselten. Alle hatten sie nach dem ersten Ritt der mordlustigen Gesellen Hiebe auf ihre Körper erhalten. Rücken, Bauch, Brust, Arme und Beine – überall brannten die Wunden. Doch für einen Moment vergaßen sie den Schmerz. Er wurde verdeckt von der Hoffnung auf Rettung. Nur unterschwellig glomm das Bangen, die Peitschen würden zurückkommen. Wie würde diese Nacht enden, in der menschliche Dämonen über die Welt hereingebrochen waren. Würden die Scheiterhaufen am gegenüberliegenden Hang noch diese Nacht erhellen und auf frevelnder Weise den Geruch verbrannten Fleisches in die Umgebung pusten? Oder würde der in der Nähe fließende Bach noch vor dem Morgengrauen sein kühlendes Wasser über geschändete Körper gleiten lassen? Tod oder Leben, was würde gleich aus dem Tann hervor brechen? Alle hofften, es mögen die blauen Nixen sein, die den Morgen einläuten würden. Den Morgen für ein neues Leben.
Die achtzehnjährige Sarah konnte die Ungewissheit nicht mehr ertragen. Sie drehte den Kopf und musterte Rebekka. „Tut es sehr weh?“, fragte sie, nur um etwas zu sagen; um sich abzulenken.
Rebekka senkte das Kinn und starrte den roten Striemen an, der diagonal von der Schulter über ihre kleine Brust verlief.
„Zum Glück nicht aufgeplatzt“, gab sie widerwillig Auskunft. Ihre bernsteinfarbenen Augen schimmerten matt, als sie Sarah wieder anschaute.
Das Mädchen mit den Wolfsaugen nahm nicht den Blick von Rebekkas nacktem Körper. Ein Unwohlsein beschlich die Große mit den braunen Locken. Sarah war zwar von Kindesbeinen an ihre Freundin, aber erlaubte dieser Umstand, dass sie jetzt Rebekkas nackten Körper so unverschämt anglotzen musste? Mitnichten.
Sichtlich irritiert, wendete sie den Kopf. Augenblicklich öffnete sie ihren Mund sehr weit. „Was haben die denn für fremde Kleider an?“, empörte Rebekka sich. „Und warum guckt die Alte dich so an, Sarah? Kennst du sie?“
Erst jetzt
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Rosario Chriss und Patrick Goldrain
Bildmaterialien: Demian, fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2019
ISBN: 978-3-7438-9513-3
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