Beteiligte
Lord Fauntleroy, Earl von Dorincourt
Cedric Erol
Mrs Erol, Ihre Ladyschaft
Mutter von Cedric
Mr Havisham
Anwalt, Berater
Silas Hobbs
Gemischtwarenhändler
Dick Tipton
Schuhputzer
Mary
Kindermädchen, Vertraute der Mutter
Sam Wilkins
Sohn des Stallmeisters
Mellon
Zimmermädchen, Vertraute
Miss Laureen Hampshire
Wird die Frau von Cedric
Philip Keshian, Marquess of Hastings
Freund von Cedric
William McKinsley, Duke of Grinwood
Bester Freund von Cedric
Lord Chester Mistley
Bekannter von Cedric
Sir Caldon Shiffles
Bekannter von Cedric
Richard Fellow, Duke of Bellamore
Leiblicher Vater von Laureen
Mick Hampshire
Stiefbruder von Laureen
Creston Smith
Handlanger von Mick
Lord Steven McEntire
Soll der Mann von Laureen werden
Kapitel 1
„All das, wird eines Tages dir gehören.“
„Mir, wann?“
„Wenn du der Earl von Dorincourt wirst, an dem Tag, an dem ich sterbe!“
„Dann will ich es gar nicht haben. Du sollst nicht sterben, das will ich nicht!“
„Sehr nett von dir, das zu sagen.“
Der junge Mann, mit den blonden Haaren stand vor dem Grab, das Gesicht dem Wind zugewandt. Er war der letzte Trauergast. Als es anfing zu regnen, begaben sich alle anderen wieder ins Haus. Er war froh, dass niemand seine Tränen sah, die ihm über die Wangen flossen. Er stand allein und schaute in die herannahenden Gewitterwolken. Die Worte, welche er und sein Großvater vor nunmehr zwanzig Jahren gewechselt hatten, kamen ihm wieder in den Sinn.
Cedric Errol, Lord Fauntleroy, war ab sofort der neue Earl von Dorincourt. Sein Großvater war vor ein paar Tagen verstorben. Bei einem Ausritt mit Cedric scheute sein Pferd vor einem plötzlich aus dem Gebüsch hervorspringenden Hasen und bäumte sich auf. Der alte Lord konnte sich nicht mehr so schnell festhalten, stürzte und brach sich das Genick. Seine Gicht machte ihm mehr und mehr zu schaffen. Aber trotz allem ließ er es sich nicht nehmen, mit seinem Enkel einen Ausritt zu unternehmen.
Verdammt, er hätte ihn davon abhalten müssen, diesen Ausritt zu unternehmen. Er hätte nicht zulassen dürfen, dass sein Großvater sich immer und immer wieder auf den Rücken des Pferdes begab. Ohne Hilfe des Stallmeisters Wilkins kam er nicht mehr hoch. Selbst wenn er oben war, hatte Cedric immer das Gefühl, dass es einmal ein schlimmes Ende nehmen würde. Und so hatte es sich dann auch ergeben.
„Ceddie, bitte komm rein“, die Stimme seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging ebenfalls zum Haus. Drinnen waren alle Trauergäste in einer für ihn unerträglichen Stimmung. Seine Mutter kam auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter, weil sie erkannte, dass er sich nicht wohl fühlte. Aber das war auch kein Wunder. Sie drehte ihn leicht zu sich um. „Ceddie, bitte, ich weiß wie du dich fühlst. Auch ich leide unter dem Verlust. Aber wir haben Gäste. Du kannst dich nicht einfach zurückziehen. Dein Großvater hätte es nicht gewollt.“
Cedric nickte kaum merklich. Er wandte sich von ihr ab und ging zum Kamin. Wie schon sein Großvater legte er die Hände auf den Sims und starrte in das Feuer. Wie sollte er nur ohne ihn auskommen? Er war noch nicht so weit, dass er den Titel des Earl von Dorincourt mit Würde übernehmen konnte. Er fühlte sich allein und verlassen.
Plötzlich gab es einen heftigen Knall und einige Damen gaben vor Schreck einen kleinen Schrei von sich. Auch Cedric erschrak. Das Gewitter war nun direkt über dem Haus. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Er sah zu, wie die Blitze zuckten, der Donner über das Land, was jetzt sein Land war, hinweg grollten. Als der nächste Blitz aufkam, drehte er den Kopf weg. Dieser Blitz war so hell und laut, dass er das Gefühl hatte, direkt von ihm getroffen worden zu sein. Als er wieder aus dem Fenster sah, war ihm, als ob er eine Frau in den Händen von zwei Ganoven gesehen hatte. Cedric kniff die Augen zusammen und versuchte im Regen mehr zu erkennen. Und tatsächlich, da waren sie wieder. Zwei Männer, von der übelsten Sorte, der größte Abschaum Londons, vergriffen sich an dieser Frau.
Cedric stürmte wie vom Hund gebissen in den Garten. Er schrie schon von weitem.
„Hey, Sie da, was zur Hölle machen Sie denn da? Lassen Sie sofort die Frau los. Haben Sie nicht gehört?“ Mit einem Satz sprang er dem größeren der beiden auf den Rücken. Der andere nutzte seine Chance und griff sich die Frau, er zerrte sie mit sich. Die junge Frau schrie aus Leibeskräften. Cedric hatte den Kerl mit dem Sprung auf dessen Rücken zu Boden gedrückt und verpasste ihm einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Der Mann blieb am Boden liegen und rührte sich nicht mehr. Cedric rappelte sich wieder auf und rannte dem anderen Mann hinterher. Da der zweite Mann aber die Frau im Schlepptau hatte, kam er nicht so schnell voran, wie er es sich gedacht hatte. Cedric hatte die beiden schnell eingeholt und griff die junge Frau am Arm. Der Mann hingegen versuchte mit allen Kräften die Frau wieder an sich zu reißen. Nun zog jeder an einem Arm. Sie schrie, dass man denken konnte, sie würde auseinandergerissen werden.
„Lass sie los du Idiot, du zerreißt sie noch“, brüllte Cedric den kleingewachsenen Herumtreiber an. Doch dieser ließ sich nicht beirren und zog so fest er konnte. Dann sah Cedric seine Chance und erkannte, dass der Mann einen Augenblick zu sehr damit beschäftigt war, die junge Frau zu kontrollieren. Cedric holte aus und seine linke Faust traf den Mann am Kinn. Dessen Kopf wurde mit einer solchen Wucht nach hinten gestoßen, dass er das Gleichgewicht verlor und stürzte. Dabei zog er die Frau mit sich, welche auf ihm landete.
„Verdammte Hölle“, fluchte die Frau und drückte dem Mann, auf dem sie lag, einen Finger in sein Auge. Dieser schrie auf und drehte sich plötzlich um. „Na warte du Miststück, das wirst du mir büßen.“ Noch bevor er seine Hände um ihren Hals legen konnte, wurde er mit einem Ruck nach hinten weggezogen. Er hatte doch glatt vergessen, dass er nicht allein mit der Frau war. „Lass deine dreckigen Pfoten von ihr, du Bastard“, schrie Cedric ihn an und schlug ihm seine Faust direkt ins Gesicht.
Kurz darauf kamen auch schon andere seiner Gäste herbeigerannt, um ihm zu helfen. Lord Chester Mistley und Sir Caldon Shiffles rannten auf das Gemenge zu und schnappten sich den Mann, der noch auf dem Boden lag. Der Marquess of Hasting und der Duke of Grinwood eilten zu Cedric und halfen ihm, den anderen der beiden Männer wieder auf die Beine zu stellen und dessen Arme auf den Rücken zu drehen. „Wir haben einen Pagen bereits losgeschickt, um ein paar Männer von der Bond Street zu holen. Als wir gesehen haben, was sich hier draußen abspielt haben wir nicht lange überlegt. Du hast gute Vorarbeit geleistet Ceddie“, sagte der Duke. Cedric und er waren seit vielen Jahren sehr gute Freunde. Bereits vor 10 Jahren haben sie sich auf einer Veranstaltung von Lady Grace kennen gelernt. Cedric war damals mit seinem Großvater in London gewesen. Nach und nach lernte er dann auch Chester, Caldon und Philip kennen. Aber zu William hatte er eine besondere Beziehung. Er wurde für ihn wie ein Bruder, den er nie hatte. William McKinley, der Duke of Grinwood, gehörte für ihn zur Familie.
Cedric begab sich zu der jungen Frau, welche er vor den Angreifern gerettet hatte. Wie auch er, sah sie aus, als ob sie dringend ein Bad nötig hätte. „Bitte verzeihen Sie, Miss?“, sprach er sie an. Sie versuchte gerade vergeblich ihr Kleid vom Schmutz zu befreien. Dabei fluchte sie wie ein Holzfäller vor sich hin. „Das kann ich vergessen, alles ist ruiniert. Mein Kleid, meine Zukunft und ich. Und das alles wegen diesem aufgeblasenen Idioten. Wie soll ich das jemals erklären?“
„Ähm, Miss?“, fragte Cedric erneut. Sie hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. „Sie! Sie in an allem Schuld. Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich mich jetzt in dieser miserablen Lage befinde. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was Sie mir angetan haben? Sie haben alles kaputt gemacht.“ Cedric glaubte sich verhört zu haben. Er sah sie mit großen Augen an. Sie versuchte weiterhin ihr Kleid zu reinigen. Er holte tief Luft, bevor er sich wieder gesammelt hatte. „Vielleicht haben Sie nicht begriffen, was hier gerade passiert ist. Ich habe Sie vor diesen Bastarden beschützt. Wer weiß, was die Ihnen sonst angetan hätten. Und Sie haben nichts weiter zu tun, als mir Vorhaltungen zu machen? Das darf doch wohl nicht wahr sein.“ Er drehte sich weg und fuhr sich mit beiden Händen durch sein Haar. Er war wütend, auf die Frau, auf sich selbst und auf die gesamte Situation.
Dann spürte er, wie die junge Frau ihn wieder zu sich herumdrehte. Sie zog ihn am Ärmel und sah ihn mit finsterem Blick hochmütig an. „Ich glaube, Sie sind mir eine Erklärung schuldig, Sir.“
„Ich? Ihnen? Verwechseln Sie da nicht etwas? Ich habe Ihnen eben das Leben gerettet und Sie fahren mich an wie eine Besessene. Vielleicht sollten Sie sich bei mir entschuldigen.“
„Oh nein, das werde ich auf keinen Fall tun, Sir. Am besten wäre es, wenn Sie mich einfach gehen lassen. Dann vergessen wir die ganze Sache, haben alle unsere Ruhe und jeder kann seiner Wege gehen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und wollte gehen. Aber da hatte sie die Rechnung ohne Ceddie gemacht. Er eilte ihr hinterher und drehte sie zu sich um. „Gut Lady, ich glaube, ich nehme Sie erstmal mit ins Haus. Dort werden wir uns ein wenig frisch machen und Sie werden mir dann erklären, warum ich mich bei Ihnen entschuldigen sollte. Alles andere wird nicht akzeptiert. Haben Sie mich verstanden? Und nein, es gibt keine Widerrede.“
Mit diesen Worten drängte er sie vor sich her ins Haus. An der Tür kam ihm seine Mutter entgegen. „Ceddie, was ist passiert? Warum bist du…, oh mein Gott. Ceddie, bist du verletzt? Willst du mir nicht sagen, wer die junge Dame ist?“
„Nein Mama, im Moment habe ich andere Probleme. Könntest du bitte als erstes dafür sorgen, dass wir uns frisch machen können? Danach werde ich dir alles erklären.“
Ceddie schob die junge Frau weiter vor sich her zur Treppe. Er rief nach Mellon, die sich ihm sofort zuwandte. „Jawohl Eure Lordschaft? Was kann ich für Sie tun?“
„Sorgen Sie bitte dafür, dass ein Bad hergerichtet wird und kümmern Sie sich um unseren Gast. Wenn Sie fertig ist, bringen Sie sie bitte nach unten. Danke Mellon.“
Mellon knickste und wandte sich der jungen Frau zu: „Wenn Sie mir bitte folgen würden, Miss? Dann zeige ich Ihnen, wo Sie sich frisch machen und umkleiden können.“ Sie wies auf eine Tür am Ende des Flures. „Bitte dort entlang.“ Die junge Frau war so entrüstet und sah sie mit erstaunten Blicken an. Mellon zeigte mit ihrer Hand in die angegebene Richtung. „Was befindet sich dort?“ „Dort befinden sich die Zimmer Ihrer Ladyschaft. Seine Lordschaft hat mich angewiesen, Ihnen ein Bad zu ermöglichen, und das befindet sich im Zimmer Ihrer Ladyschaft. Sie ist die Mutter seiner Lordschaft. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, sie ist außerordentlich nett.“ Die junge Frau nickte zögerlich und ging langsam auf das ihr zugewiesen Zimmer zu.
Sie sah sich auf dem langen Gang um, betrachtete flüchtig die Gemälde an der Wand. Musterte den Boden, das Geländer und die Wandverkleidung. Bisher hatte sie sich noch nie in einem solchen Haus aufgehalten. Und nun sollte sie hier ein Bad nehmen? Sie hatte schon oft gehört, dass die hohen Herrschaften solche Annehmlichkeiten nutzten. Aber sie konnte es sich nicht vorstellen. Ihre Körperreinigung erfolgte stets am Fluss oder im See. Unangenehm war es nur im Winter. Aber im Sommer, oder ab dem Frühjahr, genoss sie es, im See zu schwimmen. Das Schwimmen hatte sie von ihrem Bruder erlernt als sie sich noch verstanden. Das war aber lange her. Nun wollte er sie an den furchtbaren und angsterregenden Lord Stephan McEntire verkaufen um seine Schulden zu begleichen. Ihr Bruder war dem Kartenspielen verfallen und sein Schuldenberg wuchs ins Unermessliche. Als er kurz vor dem Galgen stand, hatte ihm Lord McEntire die Schulden abgenommen unter der Voraussetzung, die Schwester zu heiraten. Der Lord war als bekannt dafür, dass er die Frauen in seiner Nähe behandelte wie ein Stück Dreck. Er quälte sie, schlug sie und diskriminierte sie. Auf unerklärliche Weise verschwanden die Frauen, wenn er ihrer überdrüssig wurde, oder wurden tot in den Straßen Londons gefunden. Seiner Lordschaft konnte aber nie etwas nachgewiesen werden. Seine Handlanger waren Männer, denen man lieber nicht im Dunkel begegnen wollte.
„Bitte sehr, hier herein, Miss?“
„Hampshire, Laureen Hampshire“, antwortete Laureen, als sie sich wieder gefangen hatte. Sie war so in ihren Überlegungen versunken, dass sie sogar vergaß, dass sie nicht allein war. „Bitte gehen Sie voran, Mellon, richtig?“
„Ja, Miss Hampshire. Mein Name ist Mellon.“ „Und seit wann sind Sie in den Diensten seiner Lordschaft?“ „Oh, Miss Hampshire, das sind jetzt bereits zwanzig Jahre. Und ich bereue nicht einen Tag. Seine Lordschaft kam als gerade mal acht jähriger Junge hierher zum alten Earl. Nun ist er der Earl. Vor ein paar Tagen ist der alte Earl von uns gegangen. Gott sei seiner Seele gnädig. Wenn Sie ihn gekannt hätten, ja, das wäre toll gewesen. Oh mein Gott, da plappere ich und plappere ich, derweil wird das Bad schon fast wieder kalt. Bitte Miss, ich denke, dass wir uns beeilen sollten. Seine Lordschaft mag es nicht, wenn er warten muss.“ Mit diesen Worten ging sie eilig voran in das Zimmer ihrer Ladyschaft. Laureen folgte ihr auf dem Fuße. Als sie im Zimmer angekommen waren, staunte sie nicht schlecht über den Prunk, den das gesamte Zimmer ausstrahlte. Alle Wände waren mit herrlichem Brokat verkleidet. Das Mobiliar aus feinstem Eichenholz und selbst die Fenstervorhänge aus reinstem Samt. Solch eine Pracht übertraf die geheimsten Vorstellungen von Laureen. Sie sah sich mit weit geöffneten Augen um und konnte nicht fassen, dass hier tatsächlich jemand lebte. Mitten im Raum stand eine großer Zinkzuber gefüllt mit herrlich duftendem und dampfendem Wasser. Es roch nach Rosen und Flieder. Dieser Duft war betörend. Konnte sie es wagen, sich hier frisch zu machen? Konnte sie dieser Einladung wirklich folgen? Oh ja, das konnte sie. Mellon wies auf einen Paravent, hinter welchem sie sich entkleiden konnte. Sie verschwand dahinter und versuchte, das völlig zerstörte Kleid auszuziehen. Dabei fluchte sie recht undamenhaft. Mellon fragte sie, ob sie ihre Hilfe benötigte und sie bejahte. Als sie endlich von diesem Fetzen befreit war, trat Mellon diskret zurück und überließ sie sich selbst. Laureen stieg in das herrliche Wasser, lehnte den Kopf an den Rand und schloss die Augen. Sie holte tief Luft und genoss das wärmende Gefühl, den atemberaubenden Duft und die Stille.
Solch ein Luxus. Und das alles hatte sie in gewisser Weise ihrem Bruder zu verdanken. Nein, ihm auf gar keinen Fall. Ihm war sie keinen Dank schuldig. Ganz im Gegenteil. Wenn sie ihm bei nächster Gelegenheit zu Gesicht bekäme, würde sie ihm eine gewaltige Ohrfeige verpassen. Das war sie ihm schuldig und nichts anderes. Sie würde ihm ihre Meinung sagen. Sie würde ihm sagen, dass sie nicht die Absicht hatte, diesen nichtswürdigen, verkommenen und skrupellosen Lord Stephan McEntire zu heiraten. Es war allgemein bekannt, dass er mit Frauen nicht so liebevoll umging. Auch die Klatschzeitungen hatten sich dem Problem bereits gewidmet. Aber leider konnte ihm nichts nachgewiesen werden und das ärgerte Laureen am meisten. Aber er wird noch seine gerechte Strafe bekommen, das hatte sie sich geschworen. Sie wusste nur noch nicht wie sie ihn überführen konnte. Und da sie es sich nicht nehmen ließ, ihn bei jeder Gelegenheit zu beobachten, brachte sie sich jedes Mal selbst in Schwierigkeiten. So eben auch heute. Sie war gerade wieder dabei, ihn zu verfolgen, hatte ihn dann aber aus dem Sichtfeld verloren, als er in einer Kutsche in den Straßen von London verschwand. Als sie wieder auf dem Weg in ihr Haus war, wurde sie von den Handlangern ihres Bruders verfolgt. Sie rannte so schnell sie konnte, schlängelte sich durch die Menschen auf den Straßen und versuchte ihre Verfolger abzuschütteln. Ihr Bruder sollte nicht wissen, wo sie lebte. Bisher konnte sie sich immer wieder verstecken. Mick hatte noch nicht herausgefunden, wo sie wohnte, und so sollte es auch bleiben. Wenn er erst wusste, wo sie sich aufhielt, hatte sie keine weitere Chance, sich dem zu entziehen, was er mit ihr vorhatte. Aber jetzt war sie erst mal in Sicherheit. Aber war sie das wirklich? Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nichts über den Earl von Dorincourt wusste. Konnte sie ihm trauen? War er vielleicht sogar mit Stephan bekannt? War er sein Freund? Sie konnte nicht sicher sein. Sie musste herausfinden, wer dieser Earl war. Aber sie hatte keine Ahnung, wie lange sie sich auf seinem Schloss aufhalten konnte.
Dann klopfte es plötzlich an der Tür. Laureen hatte wieder völlig die Zeit vergessen. Doch als es klopfte, hob sie erschrocken den Kopf und blickte zur Tür. „Ja bitte?“, sagte sie ängstlich. Doch anstatt, dass, wie sie vermutet hatte, Mellon hereinkam, stand plötzlich Ihre Ladyschaft in der offenen Tür. „Miss Hampshire, bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe mir nur Sorgen gemacht, wo Sie so lange bleiben. Mellon sagte mir, dass Sie nicht reagierten, als sie vor ein paar Minuten geklopft hatte. Und da hat sie mich rufen lassen. Können Sie mir verzeihen? Ich bin auch gleich wieder verschwunden.“
Laureen saß noch immer noch im Zuber und bedeckte sich mit den Armen ihren Oberkörper, welcher leicht aus dem Wasser ragte. „Nein, Eure Ladyschaft, ich muss mich entschuldigen. Ich muss wohl eingedöst sein. Aber ich werde mich sofort ankleiden und Eure Gesellschaft nicht weiter in Anspruch nehmen. Wenn Ihr mich bitte entschuldigen würdet?“
„Bitte, Miss Hampshire, nennen Sie mich Mrs Errol. Allein so möchte ich genannt werden. Und ich bitte Sie ebenfalls, Gast in unserem Haus zu sein. Fühlen Sie sich hier wie zu Hause. Ich habe Mellon bereits gesagt, dass Sie Ihnen ein Kleid von mir bringen soll, welches Sie anziehen können. Ihre Kleidung war leider nicht mehr zu retten. Völlig zerrissen und verschmutzt. So können sie sich auf keinen Fall mehr sehen lassen. Ich denke, dass Sie die gleiche Größe haben wie ich. Bitte nehmen Sie meine Einladung an. Mein Sohn und ich erwarten Sie dann in einer halben Stunde unten im großen Salon. Mellon wird Sie nach unten begleiten“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand aus dem Zimmer.
Kurz danach kam Mellon ins Zimmer und trug ein Traum von einem Kleid auf dem Arm. Soweit Laureen das erkennen konnte, war das Kleid aus zarter dunkelblauer Seide. Mellon legte es auf einem Stuhl in der Nähe ab und ging zu einer Truhe am Ende des Bettes. Dort holte sie ein großes Handtuch heraus und hielt es ihr hin. Laureen streckte den Arm danach aus und Mellon drehte sich dezent weg. Als sie aus dem Zuber gestiegen war, begab sie sich, eingewickelt im Handtuch, hinter den Paravent. Mellon reichte ihr das Kleid. Und sie zog es an. Sie war durchaus erstaunt, dass es wie angegossen passte. Das hatte sie nicht erwartet. Als sie fertig war, kam sie hinter dem Paravent hervor und drehte sich zum großen Spiegel um. Mellon stellte sich hinter sie und schloss die Knöpfe auf dem Rücken.
„Oh Miss Hampshire. Das Kleid steht Ihnen. Sie sehen wunderschön darin aus. Mrs Errol hatte völlig Recht mit ihrer Annahme. Da wird seine Lordschaft aber staunen. Er verehrt seine Mutter sehr, und es wird ihn erfreuen, wenn er sieht, wie gut Ihnen das Kleid steht. Ich mache Ihnen jetzt noch schnell die Haare und dann begleite ich Sie nach unten. Ihre Ladyschaft hat gesagt, dass alle auf Sie warten.“
„Denken Sie nicht, dass ich besser wieder nach Hause sollte, Mellon? Sie hatten mir doch gesagt, dass gerade die Trauerfeier seiner verstorbenen Lordschaft stattfindet. Und ich denke nicht, dass ich da dabei sein sollte. Ich gehöre nicht zur Familie.“
Laureen wurde flau im Magen, wenn sie nur daran dachte, sich inmitten so vieler Mitglieder der höheren Gesellschaft Londons zu bewegen. Sie hatte schon viel davon gehört, dass Personen, welche nicht zu diesem Kreis gehörten, geschnitten wurden. Sie wurden einfach nicht beachtet. Sie wusste nicht, ob sie dem gewachsen war. Sie hatte nur eine Möglichkeit das heraus zu finden. Sie musste sich dem stellen. Also folgte sie Mellon in den großen Saal.
Als sie unten angekommen waren, starrte sie in die Runde und erblickte sofort den hochgewachsenen, blonden und sie musternden Earl von Dorincourt. Sie sah ihm direkt in die Augen, musste den Blick dann aber wieder abwenden. Sie senkte den Kopf und spürte, wie er auf sie zukam. Dicht vor ihr blieb er stehen. „Miss Hampshire“, sprach er sie an. Seine Stimme war sinnlich und fast glaubte sie, dass er flüsterte. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Seine Augen durchbohrten sie in einer Weise, die ihr unbekannt war. Sie hatte in seiner Gegenwart nicht das Gefühl von Angst, wie sie es von Lord McEntire kannte, nein, dieser Blick war anders. Er war aufrichtig und hatte eine gewisse Spur von Scheu. Aber sie konnte auch Neugierde in diesem Blick erkennen. Das machte sie wiederrum neugierig. Auf diesen Mann. Der vor ihr stand und sie von Kopf bis Fuß musterte. „Miss Hampshire, haben Sie mich nicht verstanden?“, unterbrach er ihre Gedanken. Sie sah ihn mit erschrockenen Augen an. Hatte er sie wirklich angesprochen? Es musste wohl so sein, denn alle anderen sahen sie ebenfalls an. Sie räusperte sich und sagte: „Ja, Eure Lordschaft? Bitte was sagten Sie eben? Ich muss wohl kurz abgelenkt gewesen sein.“
„Miss Hampshire, wenn Sie mir bitte in die Bibliothek folgen würden? Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen reden. Ich denke, Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig. Bitte, nach Ihnen.“ Er trat einen Schritt zur Seite und wies mit der Hand aus dem Saal. Laureen schaute in die angegebene Richtung, drehte sich um und schritt zur Tür. Hinter ihr lief Cedric und beobachtete ihren Gang. Ihm fiel auf, dass sie sehr gleichmäßig und sicher ging. Er fragte sich, wer sie war. Bisher kannte er nur ihren Namen. Woher sie kam, war ihm nicht bekannt. Aber er hatte die Absicht, das zu ändern. „Die nächste Tür auf der linken Seite bitte, Miss Hampshire.“ Laureen blickte ihn über die Schulter an und nickte leicht. „Sehr wohl, Eure Lordschaft.“
Cedric hatte den Sarkasmus in ihrer Stimme nicht überhört. Er stöhnte kaum hörbar auf und ging an ihr vorbei, um die Tür zur Bibliothek zu öffnen. Laureen hatte ihre Hände auf dem Rücken verschränkt. Sie schlenderte förmlich in die Bibliothek. Es sollte scheinbar so aussehen, als ob sie völlig entspannt wäre. In Wirklichkeit war sie die Nervosität in Person. Aber sie wollte erstmal abwarten, was er zu sagen hatte. Dann würde sie ihre Entscheidung treffen.
„Na dann fangen Sie mal an, ich bin gespannt, wie Ihre Entschuldigung ausfällt, Eure Lordschaft“, sagte sie und lächelte ihn spöttisch an. Cedric dachte, er hätte sich wieder verhört. Er ging hinter seinen Schreibtisch und setzte sich auf seinen Stuhl. Der Stuhl, auf welchem immer sein Großvater gesessen hatte. Cedric hatte vor das gesamte Haus in dem Zustand zu lassen, wie an dem Tag, an dem sein Großvater verstorben war. Er lehnte sich zurück, schloss für einen kurzen Moment die Augen und schaute sie dann wieder an. Sie stand immer noch da, als ob sie sich auf einen heftigen Krieg gefasst gemacht hätte. Er wollte ihr diesen Druck nehmen. Aber wie konnte er das anstellen?
„Als erstes, Miss Hampshire, möchte ich mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Cedric Errol, Lord…, nein, Earl von Dorincourt. Ich bin erst seit ein paar Tagen der Earl und muss mich an diesen Status gewöhnen. Bitte entschuldigen Sie. Und nun möchte ich, dass Sie sich mir vorstellen. Ich würde gern wissen, mit wem ich es zu tun habe.“ Mit diesen Worten sah er sie forschend an. Laureen überlegte kurz und erwiderte: „Mein Verstand sagt mir, dass es sich nicht ziemt, dass eine Dame sich einem Mann selbst vorstellt. Da ich aber keine Lady bin, kann ich wohl davon absehen, dass ich mich nicht danebenbenehme. Mein Name ist Laureen Hampshire. Ich bin 22 Jahre, nicht verheiratet und komme aus London.“ „Und wie sind Sie in meinem Garten gelandet? Und was waren das für Männer, vor denen Sie geflüchtet sind? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie freiwillig mit denen mitgehen wollten. Denn das machte nicht den Eindruck. Also? Ich höre?“ Mit diesen Worten lehnte er sich zurück, stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und legte die Fingerspitzen aneinander.
Laureen beobachtete ihn genau. Sie stellte fest, dass er leuchtend blaue Augen hatte. Um nicht ins Stocken zu geraten, blickte sie an ihm vorbei. Konnte sie es wagen, ihm die Wahrheit zu sagen? Aber vielleicht war das auch die einzige Chance, mehr über ihn zu erfahren. „Diese beiden Männer waren Freunde meines Bruders, wenn man das so sagen kann. Mein Bruder verfolgt die Absicht, mich mit Lord Stephan McEntire zu verheiraten. Dieses Ziel verfolge ich aber nicht. Ich verabscheue Lord McEntire. Ich habe schon genug von ihm gehört. Und da war nichts Gutes dabei. Ich will gar nicht heiraten. Meine Absicht ist es, eine Schule für Waisen und für Kinder zu errichten, deren Eltern sich das nicht leisten können. Meine Vorzüge liegen in der Mathematik und in Latein. Für die anderen Fächer würde ich geeignetes Personal einstellen.“ „Und wie haben Sie vor, das alles zu bezahlen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie die geeigneten Mittel dafür haben. Haben Sie schon einen Platz gefunden? Ich möchte, dass Sie mir mehr von Ihrem Plan erzählen. Aber in erster Linie erzählen Sie mir über die Absicht Ihres Bruders. Warum strebt er eine Heirat mit McEntire an?“ Laureen wusste gar nicht, wo sie zuerst anfangen sollte. Warum stellte er all diese Fragen?
„Nun gut, Eure Lordschaft, ich will versuchen, Ihnen das zu erklären. Mein Bruder, sein Name ist Mick, ist seit dem Tod unseres Vaters der Spielleidenschaft verfallen. Er verspielte innerhalb kürzester Zeit sein gesamtes Erbe. Unsere Eltern unterhielten einen kleinen Lebensmittelladen. Alles lief sehr gut. Mein Vater konnte ein kleines Vermögen erwirtschaften. Seit meine Mutter vor nunmehr sechs Jahren der Schwindsucht erlegen war, ging es meinem Vater immer schlechter. Er kümmerte sich zwar noch um das Geschäft, aber um sein eigenes Leben nicht mehr. Doch bevor auch er dann vor einem Jahr starb, nahm er meinem Bruder das Versprechen ab, dass das Geschäft weiterlaufen soll. Mick gab es ihm, aber da war er dem Kartenspielen schon verfallen. Er hat es mir nach dem Tod unseres Vaters gestanden. Ich bat ihn, damit aufzuhören. Er wollte es versuchen, aber es gelang ihm nicht. Als die Schulden immer größer wurden, stand er eines Tages mit der Behörde vor der Tür. Sie gaben ihm eine Frist von vier Wochen die Schulden zu begleichen, oder er würde ins New Gate gebracht werden und später an den Galgen kommen. Ich weiß nicht, wie er an Lord McEntire gekommen ist. Aber nach knapp zwei Wochen offenbarte er mir, dass er einen geeigneten Heiratskandidaten für mich hätte. Als er mir den Namen nannte, wurde mir klar, dass er mich an ihn verkauft hatte. Seine Lordschaft hatte seine Schulden getilgt und mich als Preis gefordert. Mein Bruder sah keinen weiteren Ausweg und willigte ein. Seitdem bin ich auf der Flucht. Ich habe mir im East End ein kleines Mansardenzimmer genommen und wohne seitdem dort. Mein Bruder hat keine Ahnung, wo ich mich aufhalte und so soll es auch bleiben. Ich kenne den Lord nicht persönlich, aber das, was ich bisher von ihm gehört oder gelesen habe, reicht mir aus, um einer Hochzeit mit ihm aus dem Weg zu gehen. Mein Plan ist es, so viele Informationen von ihm herauszubekommen, um ihn der Gerichtsbarkeit zu überstellen. Ich will, dass dieser Mensch zur Rechenschaft gezogen wird. Aber dazu muss ich erst beweisen, was über ihn im Umlauf ist. Das war auch heute meine Absicht. Ich habe ihn heute verfolgt. Aber leider ist er in einer Mietdroschke entwischt. Und als ich dann auf dem Weg nach Hause war, bemerkte ich, dass ich von Creston Smith und einem zweiten Mann verfolgt wurde. Den zweiten kenne ich nicht. Mr Smith ist meines Bruders Handlanger. Er beobachtet mich auf Schritt und Tritt. Alles was ich unternehme, wird sofort meinem Bruder übermittelt.“ Während sie sprach, beobachtete Cedric sie. In Gedanken malte er sich aus, wie er dem verruchten Lord McEntire das Handwerk legen konnte. Nun sah er eine Chance. Und diese Chance hieß Laureen Hampshire. Er musste nur noch überlegen, wie er sie für seinen Plan gewinnen konnte. Aber anhand dessen, wie sie über ihn redete und dachte, konnte er sich gut vorstellen, dass es ihm leichtfallen würde, sie zu überzeugen. Mit McEntire hatte er noch eine offene Rechnung zu begleichen.
Plötzlich fiel ihm auf, wie hübsch sie eigentlich war. Ihre Augen wurden von langen dunklen Wimpern umrahmt, ihre Haut wies einige wenige Sommersprossen auf und ihr Mund war schön gezeichnet. Die Farbe ihrer Augen war von einem braun, welches er bis dahin noch nicht gesehen hatte. Es schimmerten kleine goldene Punkte in ihnen. Aber am meisten gefielen ihm ihre Haare. Diese waren schwarz, lang und glänzend. Sie fielen ihr wie Seide über ihre Schultern. Mellon hatte sich zwar alle Mühe gegeben, diese Pracht unter Kontrolle zu bringen, aber ein paar einzelne Strähnchen hatten sich gelöst. Und das gefiel ihm wirklich. Er stellte sich vor, eine dieser Strähnen um seinen Finger zu wickeln und ihn langsam durchgleiten zu lassen. Ihre Haut zu streicheln und sie mit seinen Fingerkuppen ganz vorsichtig zu liebkosen. Ihm wurde bewusst, dass er noch nie solche Gedanken in der Gegenwart einer Frau hatte. Aber bei ihr kamen sie plötzlich in ihm hoch.
„Eure Lordschaft? Hören Sie mir überhaupt zu? Warum sollte ich Ihnen alles erzählen, wenn es Sie doch nicht interessiert? Ich glaube, ich verschwende hier nur meine Zeit.“ Sie stand auf und wollte gehen, doch Cedric erhob sich auch und bedeutete ihr, sich wieder hinzusetzen. Mit ihren Worten hatte sie ihn wieder auf den Boden zurückgeholt. Und dafür war er ihr dankbar. Aber das sagte er ihr nicht. Laureen drehte sich um, und sah ihm in die Augen. Sie erkannte, dass es ihm wichtig war. Aber warum war er nur mit einem Mal so weit weg? Konnte sie es wagen, ihn zu fragen? Nein, das konnte und wollte sie auch nicht.
Cedric hingegen sah ihr ebenfalls tief in die Augen und sah ihre Fragen, welche sie nicht aussprach. Er zeigte auf den Stuhl, auf dem sie eben noch gesessen hatte. „Bitte, Miss Hampshire, nehmen Sie wieder Platz. Ich entschuldige mich für meine Unaufmerksamkeiten und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten. Ich stehe wieder ganz zur Verfügung. Haben Sie Ihren Ausführungen noch etwas hinzuzufügen? Wenn nicht, würde ich Ihnen gern einen Vorschlag unterbreiten. Ich möchte aber, dass Sie sich meinen Vorschlag erst anhören, bevor Sie eine Entscheidung fällen. Gern können Sie sich den Vorschlag auch erst einmal überlegen. Ich würde Ihnen dazu eine Woche Zeit gewähren. Sie könne sich hier im Schloss aufhalten, ich stehe Ihnen dann jederzeit zur Verfügung, um Ihre Entscheidung entgegen zu nehmen. Und ich werde jeder Ihrer Entscheidungen akzeptieren.“ Mit diesen Worten nahm er wieder Platz und Laureen begab sich ebenfalls zu ihrem Stuhl. „Gut, Eure Lordschaft. An was genau haben Sie gedacht?“
Cedric schaute kurz auf seinen Schreibtisch, der zwischen ihnen stand. Dann sah er sie wieder an. „Miss Hampshire, ich möchte, dass Sie mich Mr Errol nenne. Ich gebe nichts auf Förmlichkeiten. An dieses Eure Lordschaft, habe ich mich bisher nur sehr schlecht gewöhnen können. Also, von nun an bin ich Mr Errol für Sie. Das war Punkt eins. Nun zu Punkt zwei, dem wichtigeren, wie ich meine. Sie erwähnten in Ihren Äußerungen Lord McEntire. Sie sagten mir, dass Ihr Bruder beabsichtigt, Sie mit ihm zu vermählen. Habe ich das richtig verstanden?“ Laureen neigte den Kopf und merkte, wie sich ihre Wangen röteten. Sie hatte es ihm bereits gesagt. „Ja, Mr Errol, das ist korrekt. Aber ich beabsichtige das zu verhindern.“
Cedric legte beide Hände zusammen. Er schaute auf den Tisch und entgegnete ihr folgendes: „Ich habe mit Lord McEntire noch eine Rechnung zu begleichen. Ich würde Sie gern einweihen, worum es sich hierbei handelt. Aber ich muss sicher gehen, dass Sie nicht auf eigene Faust handeln. Wenn Sie einverstanden sind, arbeiten wir gemeinsam mit dem Duke of Grinwood und dem Marquess of Hasting einen Plan aus. Also, wenn Sie mich kurz entschuldigen wollen?“
Damit stand er auf und begab sich zur Tür. Laureen saß wie versteinert auf dem Stuhl und konnte sich nicht bewegen. Hatte sie richtig gehört? Hatte er wirklich gesagt, dass er mit dem Lord eine Rechnung zu begleichen hatte? Sollte es wirklich wahr werden, dass sie einen geeigneten Partner für das Überführen des Lords gefunden hatte? Sie konnte ihr Glück nicht fassen. Aber was meinte er damit, als er sagte, dass er ihr helfen würde unter der Vorgabe, dass sie nicht auf eigene Faust handelt? Sie musste ihn dazu noch einmal befragen.
Plötzlich hörte sie Stimmen auf dem Gang. „Also Ceddie, was hältst du von der jungen Dame? Ich finde sie ja bezaubernd. Ich habe sie zwar noch nicht richtig angesehen, aber das was ich bisher erkennen konnte, war schon etwas Besonderes. Also, wenn du mich mit ihr bekannt machen könntest, wäre ich dir dankbar.“ Dann hört sie die Stimme des Earl: „William, hör auf. Ich mache dich mit ihr bekannt, aber nur unter einer Bedingung. Du wirst mich und Miss Hampshire unterstützen, McEntire zu überführen. Danach wirst du dich von ihr fernhalten. Hast du mich verstanden, Will?“ Sie vernahm, wie sich die Tür wieder öffnete und die zwei Männer das Büro betraten. Da sie sich sicher war, das einer davon der Earl war, konnte sie sich gut vorstellen, wer der andere war. Aber sie drehte sich nicht um, um nachzusehen. Sie senkte den Kopf und schaute auf ihre Hände, welche sie auf ihrem Schoß zusammengelegt hatte. Cedric ging an ihr vorbei zu seinem Stuhl. Der Duke of Grinwood folgte ihm und drehte sich zu ihr um. „Miss Hampshire, darf ich Sie mit dem Duke of Grinwood bekannt machen? William, das ist Miss Hampshire. William ist mein bester Freund und er hat sich bereit erklärt, uns zu helfen, wenn wir uns gemeinsam gegen Lord McEntire verbünden. Der Marquess of Hasting wird in ein paar Minuten zu uns kommen. Auch er wird uns behilflich sein. Will, bitte nimm doch Platz. Dann können wir schon beginnen. Und wenn Philip dazu kommt, werden wir ihn auf den neuesten Stand bringen.“
Der Marquess nahm Platz und atmete tief durch. Laureen schaute Cedric an und dann zum Marquess. Dieser sah sie ebenfalls an und sagte: „Miss Hampshire, Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen. Wir werden schon einen Weg finden, um Sie aus der Misere zu holen. Und um Ihnen zu zeigen, dass Sie auch Vertrauen zu mir haben können, möchte ich Sie bitten, mich Mr McKinsley zu nennen. Das macht die ganze Angelegenheit doch ein wenig entspannter, finden Sie nicht auch?“ Cedric beobachtete ihn mit zusammen gekniffenen Augen. „Miss Hampshire, wenn Sie bitte in knappen Worten Mr McKinsley erklären möchten, welche Rolle Sie in dieser Sache spielen.“
Laureen sah McKinsley an und erzählte ihm, was sie bisher in Erfahrung gebracht hat und was ihr Bruder mit ihr vorhatte. Sie sah ihm an, dass er jedes ihrer Worte aufmerksam verfolgte. Er war nicht ganz unbeeindruckt, das konnte sie feststellen. Manchmal erkannte sie eine steile Falte auf seiner Stirn. Und ab und an hatte sie das Gefühl, dass er sich sehr zurück halten musste, um nicht aus der Haut zu fahren. Doch dann konnte sich William nicht mehr bremsen. Er schlug mit beiden Händen auf die Stuhllehnen, sprang auf und erwiderte so laut, dass es sicher die Gäste hören mussten. „Das darf doch wohl alles nicht wahr sein. Dieser verdammte Kerl treibt sein Unwesen in der gesamten Stadt und niemand ist nur im Mindesten im Stande, ihm das Handwerk zu legen. Bitte entschuldigen Sie, Miss Hampshire. Ich wollte nicht ausfallend werden, aber ich konnte mich nicht mehr zügeln. Es tut mir außerordentlich leid.“
Einen Augenblick später wurde durch einen Lakaien die Tür geöffnet und Philip Keshian, der Marquess of Hasting betrat die Bibliothek. „William, du hörst dich an, als ob sich jemand an dir zu schaffen macht. Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte mich nicht verlaufen können.“ Mit diesen Worten wandte er sich an Laureen, reichte ihr die Hand zum Gruß und verneigte sich vor ihr. „Miss Hampshire, Marquess of Hasting. Oder der Einfachheit halber, Philip Keshian. Stets zu Ihren Diensten. Miss Hampshire.“
Cedric unterbrach ihn. „Meine Herren, wie wäre es mit einem Brandy und einem Port für Miss Hampshire?“ Laureen sah ihn an und neigte den Kopf. Ihr wäre ein Brandy weitaus lieber gewesen, aber das konnte sie ja wohl schlecht sagen. Cedric begab sich zur kleinen Anrichte und goss ein paar Gläser mit Brandy und ein Glas für Laureen mit Portwein ein. Dann reichte er allen die Gläser und sagte: „Miss Hampshire, meine Herren, trinken wir auf einen guten Plan. Der Tag ist gekommen, Lord McEntire das Handwerk zu legen.“ Mit diesen Worten prostete er allen zu und nahm einen tiefen Schluck. Dann stellte er sein Glas wieder ab und begab sich an seinen Schreibtisch. Cedric stützte beide Fäuste auf den Tisch und setzte sich. Dann faltete er die Hände zusammen. Er sah in die Runde und bemerkte, dass Laureen noch nicht getrunken hatte. „Miss Hampshire, warum trinken Sie nicht? Wünsche Sie uns denn keinen Erfolg?“ Laureen sah ihn an. „Doch, Eure Lordschaft. Ich wünsche Ihnen, uns allen Erfolg. Nur kann ich mir leider noch nicht vorstellen, wie wir das bewerkstelligen wollen.“ Cedric schaute sie weiterhin an. „Mr Errol, oder haben Sie das bereits vergessen, Miss Hampshire?“ „Nein, Eure Lordschaft, oh, verzeihen Sie, Mr Errol, das habe ich nicht vergessen. Es ist nur recht ungewohnt für mich. Ich denke, ich muss mich wohl erst noch daran gewöhnen“, erwiderte Laureen.
„Ja, das sollten Sie, Miss Hampshire. Denn ich gehe davon aus, dass wir eine geraume Zeit miteinander verbringen werden. Also, auf unseren gemeinsamen Erfolg.“ Damit erhob er erneut sein Glas und diesmal tat es ihm Laureen gleich. Auch sie erhob ihr Glas und nahm einen kräftigen Schluck. Sie hatte aber nicht damit gerechnet, dass der Port so herb war und musste husten. Philip kam auf sie zu und schlug ihr sachte auf den Rücken. „Na, Miss Hampshire, Sie sind das Zeug wohl nicht gewohnt, hmm? Ceddies Port ist wirklich von ausgezeichneter Güte. Auch daran werden Sie sich gewöhnen müssen.“ Laureen drehte sich zu ihm um und neigte leicht den Kopf. Cedric konnte es nicht begreifen, aber Miss Hampshire machte ihm nicht den Eindruck einer Frau von einfachem Stand. Ihm kam sie vor wie eine Dame aus der gehobenen Gesellschaft. Aber das konnte ja nicht sein, sie war die Tochter von einfachen Menschen. Aber er durfte sich kein Urteil bilden, denn bis zum Zeitpunkt seiner Reise nach England, war er ebenfalls ein einfacher Mensch. Und er hatte seine Probleme, sich mit der Gesellschaft einzulassen. Aber durch seine offene Art und Weise, war es ihm dann doch schnell gelungen, alle von sich zu überzeugen. Auch seinen Großvater. Cedric schaute zum Fenster, dachte über seinen Großvater nach. Er fehlte ihm.
„Hey, Ceddie, was ist denn los? Wo bist du denn wieder mit deinen Gedanken?“, wollte Philip wissen. Er stand plötzlich neben ihm und hatte seine Hand auf dessen Schulter gelegt. „Oh, nichts weiter. Entschuldigt bitte, mir ging gerade etwas durch den Kopf. Wo waren wie stehen geblieben?“, wollte er wissen.
„Wir haben nur eben Miss Hampshire erklärt, dass sie sich mit deinem Port anfreunden müsse, da wir davon ausgehen, dass sie sich wohl eine Zeitlang hier aufhalten wird, bis der Fall mit McEntire geklärt ist.“ Cedric nickt und sah zu Miss Hampshire. „Wie geht es Ihnen Miss Hampshire?“, wollte Cedric wissen. Laureen wurde plötzlich heiß, sie hatte das Gefühl, dass der Port sie innerlich verbrannte. Ceddie bemerkte, dass ihr Gesicht rote Flecken aufwies, und stand auf, um auf sie zuzugehen. „Miss Hampshire, was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut? Will, lass sofort meine Mutter kommen, sie soll ihr Riechsalz mitbringen, ich glaube, Miss Hampshire wird ohnmächtig“, wandte er sich an William. Dieser rannte stehenden Fußes zur Tür, riss diese auf und war schon im Gang verschwunden. Cedric und Philip nahmen sich Laureen an und brachten sie gemeinsam auf eine Chaiselongue, die sich ebenfalls in der Bibliothek befand. Laureen bekam alles mit, konnte sich aber nicht rühren. Sie hatte große Mühe genügend Luft zu bekommen. Cedric bemerkte das und begann, ihr Luft zuzufächeln. Kurze Zeit später wurde die Tür aufgestoßen und seine Mutter und William stürmten herein. Seine Mutter hielt ihr das Fläschchen mit dem Riechsalz unter die Nase, erkannte aber sofort, dass das nicht das Problem war. „Ceddie, ihr Mieder ist zu eng geschnürt. Schnell, heb sie an, ich muss es lösen. Meine Herren, würden Sie beide bitte den Raum verlassen? Vielen Dank.“ Diese kurze Ansage reichte aus, dass William und Philip das Zimmer verließen. Beide machten sich erhebliche Gedanken und liefen im Flur auf und ab.
Cedric setzte sich neben Laureen auf das Sofa und zog sie an sich heran, in dem er seine Arme unter ihre schob und sie langsam aufsetzte. Ihr Kopf sank an seine Schulter. Er atmete den Duft ihres Haares ein, schloss die Augen und schickte insgeheim ein Stoßgebet zum Himmel. Seine Mutter begann, die Knöpfe des Kleides zu öffnen und dann das Mieder zu weiten. Dann massierte sie den Rücken von Laureen und drückte leicht zwischen ihre Schulterblätter. Cedric hielt sie weiter fest. Dann bemerkte er, wie sie langsam wieder ruhiger Luft zu holen begann. „Halt sie noch ein bisschen fest, ich hole ein Glas Wasser“, mahnte ihn seine Mutter. Nichts lieber als das, dachte er bei sich. Das Gefühl, was sich ihm bot, als er Laureen in seinen Armen hielt, war unbeschreiblich. Es kam ihm vor, als ob sie dahin gehörte. Seine Mutter kam mit einem Glas Wasser zurück und Ceddie beugte sie leicht nach hinten. „Langsam Mutter, nicht dass sie sich verschluckt. Sie ist noch nicht wieder bei vollem Bewusstsein.“
Seine Mutter benetzte Laureens Lippen mit dem Wasser. Er beobachtete, wie ihre Zunge das feuchte Nass von den Lippen abstreifte. Ihre Lider flatterten und dann öffnete sie ihre Augen. „Lass sie aufrecht sitzen Ceddie, sie braucht noch einen Augenblick“, sagte seine Mutter und stellte das Glas auf den kleinen Beistelltisch ab. Er hob ihren Kopf an und fragte sie: „Geht es wieder, Miss Hampshire? Sie haben uns allen einen mächtigen Schrecken eingejagt. Zum Glück hat meine Mutter erkannt, warum Sie plötzlich bewusstlos geworden sind. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich nicht annähernd gewusst, was ich hätte machen sollen.“
Laureen blinzelte ihn an. „Es tut mir leid, Eure Lordschaft, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe. Aber ich bin mir nicht mal sicher, was eben passiert ist. Plötzlich wurde alles schwarz vor meinen Augen.“ Ceddie sah sie an. „Miss Hampshire, sie müssen sich nicht entschuldigen. Sie sind es sicherlich nicht gewohnt, ein so enges Mieder zu tragen. Also war es nicht Ihr Fehler. Die Hauptsache ist doch, dass es Ihnen wieder besser geht. Aber bitte, ruhen Sie sich noch ein wenig aus. Wir können unsere Unterhaltung gern morgen weiterführen. Ich habe Mellon schon angewiesen, ein Zimmer für Sie herzurichten. Mutter, würdest du bitte dafür sorgen, dass Miss Hampshire in ihr Zimmer gebracht wird?“
Laureen fühlte sich überrumpelt. „Moment bitte, Eure Lordschaft. Aber das kann ich nicht annehmen. Wenn Sie mir eine Kutsche rufen, die mich nach Hause bringt, wäre ich Ihnen dankbar. Aber ich kann unmöglich in Ihrem Hause bleiben. Es wird sicher Gerede geben. Nein, das kann und werde ich nicht verantworten. Bitte, Eure Lordschaft, lassen Sie eine Kutsche kommen. Und wenn es Ihnen wichtig ist, kann ich morgen gern wieder hier vorsprechen.“ Aber Cedric machte nicht im Geringsten Anstalten, sich von ihr beeinflussen zu lassen. Er war schon dabei, alles Nötige für die Unterbringung von Laureen zu veranlassen.
„Mr Errol, bitte“, sagte Laureen in einem derberen Ton, als es ihr selber gefiel. Cedric drehte sich zu ihr um und erwiderte nur: „Nein, Miss Hampshire, ich werde keine Kutsche kommen lassen. Sie sind Gast in meinem Haus und als Gastgeber bin ich für meine Gäste verantwortlich. Sie stehen unter meinem Schutz und ich werde mich nicht umstimmen lassen. Ich schlage vor, Sie verbringen diese Nacht hier und morgen werden wir weitersehen. Keine Widerrede. Und bevor Sie mich von meiner unfreundlichen Art kennen lernen, gebe ich Ihnen den Rat, sich an meine Anweisungen zu halten. Sie können gern meine Mutter fragen, dass ich auch ganz anders sein kann.“
Mit diesen Worten drehte sich Laureen langsam zu Mrs Errol um. Diese verzog spöttisch grinsend ihren Mund und nickte. „Ja, Miss Hampshire. Mein Sohn hat auch eine andere Seite. Um des lieben Friedens willen bitte ich Sie ebenfalls, sich in unserem Hause als Gast und damit auch sicher zu fühlen. Nehmen Sie die Einladung meines Sohnes an. Sie werden es nicht bereuen. Das verspreche ich Ihnen.“
Laureen seufzte aus und gab sich ihrem Schicksal hin. „Nun gut, Eure Ladyschaft. Oh, Verzeihung, Mrs Errol. Ich füge mich. Aber nur eine Nacht. Das ist die Bedingung, die ich stelle. Und ja, Eure Lordschaft, morgen früh können wir uns weiter unterhalten. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich nicht schon Ihr Haus verlassen habe, ehe Sie aufgestanden sind. Ich bin es nämlich nicht gewohnt, sehr lange zu schlafen.“ Sie stellte sich hochmütig vor Cedric, die Hände auf den Rücken gefaltet und das Kinn in die Luft gereckt. „Sobald ich wach bin und bemerke, dass Sie noch nicht salonfähig sind, werde ich mich aus dem Staub machen. Das verspreche ich Ihnen.“
Mit diesen Worten knickste sie vor ihm, drehte sie sich um und eilte zur Tür. Diese wurde im selben Moment von einem Lakaien geöffnet und Mellon trat ein. Beide Frauen stießen aneinander. Laureen erschrak und ihr entkam ein kleiner Aufschrei. Dann jedoch lächelte sie Mellon an, welche sich ergeben verbeugte und ihr den Weg wies. Die Tür wurde geschlossen und Cedric sah seine Mutter an. Diese fing an zu lachen. „Oh Ceddie, Miss Hampshire ist schon etwas Besonderes. Was meinst du?“ Cedric sah wieder zur Tür. „Ja, liebste Mutter, das ist sie. In der Tat. Und wenn du weißt, was ihr widerfahren ist, wirst du mir Recht geben, dass es notwendig sein wird, sie länger als nur eine Nacht hier auf Dorincourt zu verstecken. Sie schwebt in höchster Gefahr. Aber diese Gefahr kann sie selbst noch nicht abschätzen. Sie ahnt vielleicht das Eine oder andere, aber wie hoch die Gefahr tatsächlich ist, kann sie nicht wissen.“ Er drehte sich zu seiner Mutter um. „Mutter, ich werde mich auch zurückziehen. Bitte entschuldige mich bei der Gesellschaft. Ich werde nur noch Philip und William eine Nachricht zukommen lassen, wann ich sie morgen zu sehen gedenke. Ich muss einen Plan erarbeiten, wie ich Miss Hampshire retten kann. Ich wünsche dir eine gute Nacht Mutter. Wir sehen uns morgen.“
„Cedric, ich kann es nicht glauben, dass Miss Hampshire in Gefahr ist. Aber deinem Benehmen nach zu urteilen, scheint es sich wirklich um etwas Schreckliches zu handeln. Ich werde nicht weiter in dich eindringen. Ich weiß, dass du mich informieren wirst, wenn du die Zeit dafür gekommen siehst. Sei dir meiner Hilfe bewusst. Schlaf gut, Ceddie.“ Sie ging auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, wie sie es immer tat. Sie musste sich etwas strecken. Cedric war größer als ihr verstorbener Mann. Dann wandte sie sich ab und ging ebenfalls nach draußen.
Cedric verfasste noch schnell eine Nachricht an William und Philip, gab sie einem Bediensteten und begab sich ebenfalls in seine Räume.
Kapitel 2
„Was soll das heißen, sie ist euch entwischt. Bekommt ihr überhaupt noch was zustande? Ihres Idioten. Morgen kommt McEntire, ich habe ihm versprochen, dass das kleine Biest dann hier ist. Wenn ich sie ihm nicht ausliefere, wird er mich ins New Gate bringen und am Montag werde ich dann gehängt. Findet heraus, wo sie sich aufhält und bringt sie mir. Meinetwegen auch in Ketten. Sie wird McEntire heiraten. Und nun noch mal ganz von vorn. Wie ist sie euch entkommen? Los erzählt es nochmal.“
Mick Hampshire, der Bruder von Laureen, war ein kleiner dicklicher Mann in den Dreißigern. Sein Körper war vom Ale gezeichnet. Seine Hände waren knochig und auch so machte er nicht den Eindruck eines Mannes in den besten Jahren. Seine gedrungene Haltung ließ den Anschein zu, dass er viele Jahre gearbeitet hatte, was aber nicht der Fall war. Allein das Karten spielen und das ständige verlieren hatte ihn so zugerichtet. Man sah ihm die Angst förmlich an. „Los John, fang an“, sagte er zu dem hageren blonden Kerl. Mit Daniel, dem anderen der beiden Halunken, konnte man nicht reden. Er stotterte und bekam keinen zusammenhängenden Satz heraus.
John hielt seine Mütze in den Händen und knüllte sie zusammen. „Tja, wie schon gesagt. Wir hatten sie beobachtet, wie sie aus einem Hutmacherladen in der Booker Street kam. Dann sind wir hinterher. Haben es auch nicht so aussehen lassen, dass wir es auf sie abgesehen haben. Doch dann muss sie bemerkt haben, dass sie verfolgt wird und fing an immer schneller zu laufen. Um die Zeit ist es in der Stadt immer recht voll. Und dann haben wir nur noch gesehen, wie sie die Beine in die Hand genommen hat und weggerannt ist. Wir natürlich hinterher. Ich muss gestehen, sie kann ganz schön schnell laufen. Sie rannte in einen Park, zumindest dachten wir, dass es einer wäre. Dass es das Anwesen des Earl von Dorincourt war, war uns nicht eingefallen. Doch da war dann unsere Chance gekommen und wir haben sie eingeholt. Dummerweise fing es genau in dem Moment an wie aus Eimern zu schütten. Es war ein furchtbares Gewitter. Als wir sie dann endlich hatten, fing sie an sich heftig zu wehren und zu schreien. Da waren wir schon in der Höhe vom Anwesen des Earl. Bevor wir überhaupt mitbekommen haben, was passiert ist, kam schon ein Kerl auf uns zu gerannt und hat Daniel von ihr weggezogen. Ich habe versucht, sie weiter zu ziehen, aber sie hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Das kleine Biest hat immer wieder versucht mich zu treten. Als ich sie fast schon fest in der Gewalt hatte, kam der Kerl auf mich zu und hat mir eine verpasst. Und dann kamen noch weitere von der feinen Gesellschaft. Alles starke Männer. Die haben uns so richtig in die Mangel genommen, und uns in einen Keller gesperrt. Als wir gehört haben, dass die die Bond Street Runners informiert haben, mussten wir fliehen. Wir haben also ein Fenster eingeschlagen und uns dann nach draußen durchgekämpft. Wir haben wir uns erstmal versteckt und abgewartet. Irgendwie haben wir dann gesehen, dass das Weibsbild bei denen im Haus ist. Die müssen sie mit reingenommen haben. Als die Polizei kam, warteten wir noch ne Weile ab, bis die bemerkt haben, dass wir entkommen sind. Und als die Runners dann auch wieder verschwunden sind, haben wir die Beine in die Hand genommen, naja, und nun sind wir hier.“
Mick lief im Zimmer umher. Egal wie er sich anstrengte, das Geschehene zu verarbeiten, es wollte ihm einfach nicht gelingen. Er hatte keine andere Wahl, als McEntire zu sagen was geschehen war. Und dabei war es so einfach. Die beiden Idioten sollten Laureen nur zu ihm bringen, er wollte sie dann, gegebenenfalls auch gefesselt, in seinem Zimmer festhalten und sie dann morgen McEntire übergeben. Damit wären seine Probleme gelöst gewesen. Nur leider hatte er die Rechnung ohne seine Schwester und diese beiden Deppen gemacht. Nun war guter Rat teuer. Ob sich McEntire einfach so damit abfinden würde, dass Laureen nicht da war, konnte er sich nicht vorstellen. Er würde darauf bestehen, dass er Laureen heiraten kann. Und wenn nicht, würde er, Mick, am Galgen enden. Und das kam überhaupt nicht in Frage. Sie musste wieder her, koste es was es wolle. Er blieb stehen und sagte zu John, dass er ihm eine Droschke rufen solle. Er wollte zum Schloss fahren und, wenn nötig mit Gewalt, auf die Herausgabe seiner Schwester bestehen. Er war immerhin, seit dem Tod seiner Eltern, ihr Vormund. Er würde sich nicht abweisen lassen.
Ja, seine einfältigen Eltern, wie konnten sie nur damals, vor zweiundzwanzig Jahren, dieses elende Balg ins Haus holen? Ständig hat sie geweint, und als sie älter wurde, hat sie sich immer in sein Leben eingemischt. Sie hat sich damals schon wie eine Lady benommen. Und wenn er nicht genau wüsste, dass sie aus der feinen Gesellschaft kommt, müsste er sich fragen, wo sie ein solches Benehmen herhat.
Die Schwester seiner Mutter, hatte die Chance, Reich zu heiraten. Leider konnte sie aber mit ihrer Vergangenheit nicht richtig abschließen und trieb es mit einem anderen Lebemann. Aus dieser Begegnung entstand Laureen. Ihr Mann wollte sich aber nicht scheiden lassen, um sein Ansehen in der Gesellschaft nicht zu verlieren. Den Bastard, also Laureen, wollte er aber ebenso wenig. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als das Kind an seine Mutter zu übergeben. Seine Mutter war dankbar für dieses Geschenk. Sein Vater auch. Seine Eltern mussten der Tante versprechen, ihr Geheimnis bis zum Tag der Hochzeit von Laureen, für sich zu behalten. Mit diesem Versprechen verschwand die Tante. Vor drei Jahren hatte Mick erfahren, dass sie gestorben ist. Ihr Mann, so heißt es, lebt zurück gezogen auf dem Land. Er soll wohl nicht wieder geheiratet haben. Aber um den Mann soll es hier nicht gehen, alles dreht sich nur um seine „Schwester“. Er hatte es immer gehasst, sie als seine Schwester zu bezeichnen. Bastard, das war die richtige Bezeichnung für sie. Aber damit sollte nun ein für alle Mal Schluss sein. Er würde ihr nie verraten, wer sie in Wahrheit war. Niemandem würde er es verraten. Mit diesen Gedanken verließ er sein Haus, als er die Droschke vorfahren hörte. Er stieg ein und nannte dem Kutscher die Adresse. Dieser vergewisserte sich nochmal ganz genau, und als Mike ihn laut fragte, ob er schwerhörig sei, fuhr die Droschke polternd los. Im Inneren der Mietdroschke überlegte sich Mike seinen Plan, wie er Laureen ohne Kampf wieder zurückbekommen könnte.
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2017
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