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Weil Träume fliegen können...

A man is least himself when he talks in his own person. Give him a mask, and he will tell you the truth.

-Oscar Wilde-

 

In einer Millionen Jahren und einer Millionen Welten hätte er diese Stimme erkannt, auch wenn er sie nie zuvor gehört hatte.

Er saß in einem Strandkorb, die spätherbstliche Nordsee rauschte in seinen Ohren, gedämpft drang dieser monotone Klang durch seine dicke Mütze und den flauschigen Schal den er trug.

Es war ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit, die Temperaturen gingen gegen Null Grad, doch die Küste blieb von Schneefall verschont.

Ihm konnte das nur recht sein, er hasste Schnee.

Die Kälte hingegen konnte ihm nichts anhaben.

Jeden Abend spazierte er am blutroten Strand entlang, der im rosa Licht des Sonnenuntergangs matt strahlte.

Und jeden Abend, wenn er sich niederließ und auf das Meer blickte, kam sie und setzte sich zu ihm

Oft sprachen sie kein Wort und saßen nur Stunde um Stunde an derselben Stelle und betrachteten die Wellen, wie sie sich aufbäumten und auf den nassen Sand niederbrachen.

Er kannte ihren Namen nicht und er fragte sie auch nie danach.

Er kannte nur ihre Stimme.

Hell und sanft, ähnlich dem feinen Wind der um sein Gesicht säuselte.

Oft hatte er sich Namen für sie ausgedacht, hatte sie jedoch nie mit einem dieser Namen angesprochen.

Nach einer bestimmten Anzahl hatte er sich jedoch entschieden sie namenlos zu lassen.

Sie hatte hüftlanges, schneeweißes Haar das ihr gewellt über den Rücken fiel und im Wind um ihr Gesicht spielte.

Ihr Gesicht.

Es war klein und ihr Kinn spitz, ihre Augen blau wie der Himmel.

An manchen Tagen war der Anblick dieser Augen noch überwältigender als der Sonnenuntergang selbst.

An diesen Tagen verlor er sich im tiefen Blau und schenkte dem Meer keine Beachtung,

an diesen Tagen konnte er sich vorstellen wie der Himmel aussehen musste.

Doch so pünktlich wie sie kam verschwand sie auch wieder mit dem letzten Lichtstrahl, den die Sonne über das Meer warf.

Er stand dann noch einige Minuten am Strand und beobachtete sie, bis ihre Mütze hinter dem nächsten Damm oder der nächsten Düne verschwand.

Dann fuhr er schweißbedeckt aus dem Schlaf und starrte auf den Wecker, der klein und staubig auf dem Nachttisch neben seinem Bett stand.

3 Uhr.

Er würde diese Nacht keinen Schlaf mehr finden das wusste er.

Er ging zu seinem alten Sessel und warf sich hinein.

Als die Schlafstörungen damals bei ihm eingesetzt hatten, hatte er unzählige Stunden vor dem Fernseher verbracht.

Mit der Zeit jedoch hatte er eingesehen dass er über dieses Medium nicht wirklich erreicht werden konnte, zu viel Vorstellungskraft wurde ihm genommen indem ihm Idealbilder aufgedrängt wurden.

Seine Liebe zu Büchern war, so gesehen ein Resultat seiner psychischen Labilität und dennoch hätte er alle Wörter dieser Welt für eine weitere Minute an diesem Strand eingetauscht.

Fantasie war ihm eine willkommene Fluchtmöglichkeit vor den grauen Betonwänden, die des Nachts um ihn herum lauerten und auf ihn nieder zu stürzen drohten.

Wenn er las tauchte er in eine andere Welt ein, vergaß für einen Moment all seine Sorgen und schaffte es sogar für kurze Zeit sie aus seinem Kopf zu verbannen.

Kam er jedoch zum Ende eines Buches, prasselten die Emotionen nur so auf ihn nieder und er drohte unter ihrem Gewicht zu ersticken.

Nur der blonde Engel dem er an seinem Strand begegnete schien eine Art Trost in seiner endlosen Einsamkeit.

Schlafstörungen sollen einen am ausüben beruflicher Tätigkeit hindern.

Er hatte niemals ähnliches gefühlt.

Er hatte einen öden Job, doch hatte er nie einen Arbeitstag verpasst.

Urlaub war ihm fremd. Er hatte schon des Nachts mit einem Loch in seiner Routine zu kämpfen, hätte er nicht seinen Jobb, er wäre längst mit Burn-Out von einer Brücke gesprungen.

Solang er anderen Menschen zuhören konnte, wie sie sich über ihre eigenen Alltagstiefen ausweinten, blieben ihm seine eigenen Sorgen fern.

Viele Menschen wendeten sich mit ihren Problemen an die öffentliche Seelensorge.

Die meisten suchten keine wirkliche Hilfe, sie riefen lediglich an um einem Wildfremden ihre Probleme aufzutischen und sich zu beklagen, wie schlecht ihr Leben doch sei.

Er erhielt unzählige Anrufe und jedem der armen Menschen schenkte er ein offenes Ohr.

Häufig verstrichen Anrufe bei denen er kaum ein Wort sagte, bei welchen die Anrufer genau so gut mit einer Wand hätten reden können.

Er war der Kummerkasten, der die Gefühle der anderen aufnahm.

Die Probleme der Fremden waren seinen Büchern gar nicht so unähnlich.

Sie waren eine Droge, von der er abhängig war, eine Droge die ihn vergessen ließ, dass sein eigenes Leben ein grauer, stinkender Kreislauf war.

In seiner Mittagspause schlenderte er gerne durch die Innenstadt und trank einen koffeinhaltigen Kaffee, um sich auf die nächste Flut Anrufe vorzubereiten.

Dann saß er auf einer Bank mitten im grünen Herz der Stadt und hörte Musik.

Wenn er die Augen schloss kam diese halbe Stunde seiner Zeit am Strand sehr nahe.

Wenn er sich dann wieder an seinen Schreibtisch setzte, brachte er sich sogar teilweise ein und versuchte den bekümmerten Anrufern Lebensweißheiten mit auf den Weg zu geben.

Oft zitierte er dann aus seinem Lieblingsbuch, welches, wider erwarten kein Fantasieroman war.

Es handelte von einem Feldarzt im ersten Weltkrieg der davon träumte eines Tages in London einen kleinen Buchverlag zu eröffnen und seine eigene Geschichte zu erzählen.

Der Arzt stirbt jedoch gegen Ende des Buches, weshalb er es nie zu Ende gelesen hatte.

Ihm selbst war das ein Rätsel.

Schließlich ertrug er jeden Tag das Leid sämtlicher Anrufer, brachte es jedoch nicht übers Herz die letzten Seiten zu lesen, zu viel Angst hatte er vor dem Tod.

Hatte doch der Tod seine Jugend dominiert und seine Eltern und seinen jüngeren Bruder bei einem Autounfall davon gerafft als er noch ein Kind gewesen war.

Sogar die Feuerwehrbeamten waren angesichts des Unfallwracks in Tränen ausgebrochen.

Doch er hatte in jener Nacht nicht eine Träne vergossen und auch nach diesem Tag nie wieder.

Er war gebrochen.

Von Kindesbein an.

Die Angst vor dem Tod fachte seine Schlafstörungen an und diese ließen seine Furcht ins Unendliche wachsen.

Gegen Abend kam er zurück in seine kleine Wohnung am Stadtrand.

Sie bestand aus der minimalistischsten Grundaustattung die benötigt wurde.

Bad. Küche. Und ein drittes Zimmer, welches sowohl als Schlafplatz als auch zum Lesen Verwendung fand.

Er besaß kein Regal, weshalb sich die Bücher die Wand entlang in Richtung Decke stapelten.

Die Tapete war durch und durch mit Zeichnungen bedeckt, was wenigstens den Moder verdeckte.

Wenn es, neben zuhören, je etwas gegeben hatte das er in Perfektion beherrscht hatte so war es zeichnen gewesen.

Er hätte Zeichner werden können, doch dafür hatte ihm auf Grund seiner Schlafstörung die ruhige Hand gefehlt.

Doch wann immer er ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte setzte er sich an seinen einzigen Tisch und zauberte mit Kohle ein Gemälde aus einem Stück Papier.

Er zeichnete sie.

Nur.

Und auf seinen Bildern war sie genau so schön wie in seinen Träumen.

Nur die Stimme fehlte.

Sein Tag glich einer Umlaufbahn, und sie war der Brennpunkt.

Als er an diesem Abend zu Bett ging wollte sich der Schlaf nicht einstellen, nicht für eine einzige Minute.

An diesen Tagen war er dem Tod auf sonderbare Art und Weise nah.

Nachdem er geschlagene 2 Stunden vor Wut und Frust in sein Kissen geschrien hatte, zog er aus dem Meer von Büchern sein Liebstes hervor und las es in einem Zug, wie immer bis auf die letzte Handvoll Zeilen.

Bis zum Beginn seiner Arbeitsschicht geisterte er dann meist durch die Stadt.

Doch an diesem Tag kam es anders.

Er war ausgezehrt und kraftlos, doch er wusste dass etwas nicht stimmte.

Und trotz der Tatsache, dass er öffentliche Verkehrsmittel nicht ausstehen konnte, entschied er sich dafür den Bus in die Stadt zu nehmen.

Er setzte sich in die letzte Reihe und zog seine Kapuze tief ins Gesicht.

Um sich endgültig von seiner Umgebung abzuschirmen, steckte er sich Kopfhörer in die Ohren und versuchte zum Klang der Musik einzuschlafen.

Er hatte nicht mitbekommen dass sich jemand neben ihn gesetzt hatte.

Doch die Stimme war so klar und eindringlich dass er fast die Fassung verloren hätte.

„Ein wunderschönes Lied.“

Er hätte die Stimme niemals hören können, durch all den Lärm und all die Geräusche.

Doch er hätte sie gehört, selbst wenn ein Airbus neben ihm gestartet wäre.

Sein Kopf zuckte in die Höhe und als er der Fremden in die Augen schaute stockte sein Atem.

„Hallo.“ Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

„Ich bin Evanna.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Er starrte immer noch auf ihre strahlend weißen Haare und rang damit seinen Atemrhythmus wieder zu finden.

„Hallo.“ Keuchte er und nahm ihre Hand.

Sie fühlte sich an als sei sie einem Ofen entstiegen und die Hitze kroch langsam seinen Körper hinauf.

Und in dieser wunderbaren Szenerie vergaß er komplett ihr seinen Namen zu nennen …

 

 

Er musste seine Fassung zurück gewinnen.

Ansonsten wäre er für den Rest der Busfahrt ein zuckender Spastiker der in den letzten Wochen weniger geschlafen hatte als es gesund war.

Seine Hände hatten unkontrolliert zu zucken begonnen nachdem er zum ersten Mal Evannas Hand gehalten hatte.

Er hatte sie daraufhin schnell in den Taschen seines Pullovers verschwinden lassen.

Seit sie ihm ihren Namen verraten hatte herrschte Schweigen zwischen ihnen während er mit peinlicher Bemühung versuchte das Gespräch neu aufzunehmen.

Er hatte immer zugehört, nie hatte er ein Gespräch starten müssen.

Und bevor er etwas dagegen tun konnte sprudelten die gewohnten Worte aus ihm heraus:

„Die amtliche Seelensorge hier, wie können wir helfen?“

Evanna lächelte ihn an.

„Du bist nicht wirklich gut in so was.“

Es kostete ihn unmenschlich viel Kraft seinen Gedanken eine Stimme zu verleihen.

„Was machst du hier so früh?“

Er musste sich eingestehen, es gab bessere Fragen die er hätte stellen können, doch in seinem Zustand, der an einen epileptischen Schock grenzte, war das alles was er Zustande brachte.

Sie schaute zu ihm herüber und lächelte dieses schmale, glückliche Lächeln das er schon so oft gesehen hatte.

„Ich bin nur auf der Durchreise.“

Sie zog ihre Mütze über und stand zeitgleich mit dem Stillstand des Busses auf.

„Schön dich kennen gelernt zu haben.“ Sagte sie und zwinkerte ihm noch einmal zu, dann ging sie in Richtung des Busausstiegs.

Er saß für mehrere Sekunden alleine im Bus, seine Gedanken überschlugen sich förmlich.

Nachdem gefühlte Stunden verstrichen waren sprang er aus dem Sitz und rannte auf die Straße.

„Evanna.“ Er war selbst verwundert dass er so laut brüllte.

Sie drehte sich zu ihm und er wusste, er wäre für sie gestorben.

„Ich will mit dir kommen.“

Sie lachte und es sah fast komisch aus wie sie da an diesem schäbigen Busbahnhof stand.

Lachend.

Und blendend schön.

„Gerne. “, sagte sie und kam ihm ein paar Schritte entgegen.

Er griff in seine Tasche und atmete erleichtert aus, als er das Leder seines Buches zwischen den Fingern spürte.

Er hatte fast vergessen, dass er es bei sich hatte.

Er ging schnell und war rasch auf ihrer Höhe angekommen.

„Wohin geht die Reise?“ Fragte er etwas verspätet.

Sie lächelte wieder.

„Nach Norden.

Ans Meer.“

Sein Herz machte einen Sprung und er lächelte, als hätte er es gewusst.

Das war selten, er lächelte nie, entgegen der meisten Menschen die bereits zu lächeln begannen wenn sie auf der Straße eine Ein-Euro-Münze fanden.

Er war bereits einmal am Meer gewesen und der Wind und das Rauschen versetzten ihn in eine andere Welt.

In eine Welt in der er glücklich war.

 

Er musste für eine geschlagene Minute starr dagestanden haben, während er in Gedanken von einem Strand auf das Wasser blickte.

Evanna stand immer noch vor ihm.

Sie schien immer zu lächeln.

Nicht dieses gespielte Lächeln, mit dem die meisten Leute in der Öffentlichkeit herum spazierten um sich dann abends in den Schlaf zu weinen.

Es war ein ehrliches Lächeln.

Ein echtes.

In der Realität angekommen hakte sie sich bei ihm unter und sie liefen zusammen in Richtung U-Bahnstation

Auf der kurzen Fahrt zum Hauptbahnhof, die ungefähr 10 Minuten dauerte, konnte er nicht aufhören sie anzustarren und er kam sich dabei eigenartig komisch vor.

Sie kauften ein Gruppenticket und er führte sie sicher ans richtige Gleis.

Sie sprach nicht. Aber aus ihr Sprach so viel.

Sie versprühte gute Laune und konnte mit ihrem Lächeln alle Leute die ihnen auf ihrer nächtlichen Reise begegneten begeistern.

Es schien fast als würde sie sich auf die Wirkung ihrer Fröhlichkeit verlassen.

Jedem Passanten an dem sie vorbei gingen lächelte sie zu, und jeder von ihnen musste, ob gewollt oder nicht, auch beginnen zu lächeln.

Immer wieder erwischte er auch sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht und er fragte sich weshalb er sein ganzes Leben so viel Trübsal geblasen hatte.

Im Zug war es seeleruhig. Niemand wollte mitten in der Nacht eine mehrere hundert Kilometer lange Reise antreten.

Sie setzten sich in eine zweier Reihe und sie legte ihren Kopf an seine Schulter.

Ihm war es ein Rätsel wie sie so viel Vertrauen in einen Fremden haben konnte, doch er wusste Evanna war jemand dem man nicht böse sein konnte.

Sie schaute ihn nicht an, hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen als sie zum ersten Mal seit der Busfahrt direkt mit ihm sprach.

„Magst du das Meer?“ Sie öffnete die Augen nicht, sprach nicht in seine Richtung.

Es hätte genau so gut ein Traum seien können und doch war die Frage an ihn gestellt.

„Sehr sogar.“, seine Stimme war ungewöhnlich fest. Er nahm an das lag an der Tatsache, dass er über etwas sprach dass ihm etwas bedeutete. Er tat das nicht oft. Eigentlich nie.

„Ich träume sogar davon.“ Er dachte für einen Sekundenbruchteil darüber nach, ihr zu erzählen, dass er auch von ihr träumte, ohrfeigte sich dann aber innerlich für diesen dummen Gedanken.

„Träume sind etwas Schönes.“ Ihr Lächeln wurde noch breiter. „An einem schlechten Tag können sie uns wieder aufbauen und an einem guten Tag können sie uns an unsere Ängste und Sorgen erinnern.“

Er schloss die Augen und spürte den weißen Sand durch seine Finger gleiten.

Und zum ersten Mal drängte er den Schlaf zurück der ihn zu umhüllen schien und blickte auf die blonden Haare die immer noch auf seiner Schulter ruhten.

Nein, sagte er sich innerlich.

Ich bin nicht dein Untertan.

Er legte seinen Arm behutsam um die mittlerweile schlafende Evanna und harrte, bis zum Stillstand des Zuges, aus ohne die Augen zu schließen.

 

Sie erwachte mit dem endgültigen Stillstand des Zuges.

Zu seinem Glück, denn er hätte all seinen Mut aufbringen müssen um sie aufzuwecken und wäre wahrscheinlich schlussendlich wieder in einen Schockzustand verfallen.

Sie blinzelte und blickte ihn dann an.

Was sie sah musste grausam aussehen, denn er hatte seit Wochen keinen richtigen Schlaf mehr gefunden und seine Augenringe mussten bereits sein Kinn zieren. Doch sie schien zufrieden mit dem was sie in seinem Gesicht sah, stand auf und führte ihn an der Hand aus dem Zug.

Er hatte den Überblick längst verloren in welcher Stadt sie sich befanden, welcher Wochentag war oder welche Uhrzeit sie hatten doch sie führte ihn auf direktem Weg zu einem Gleis welches sie weiter nach Norden, in Richtung Wasser, bringen würde.

Sie machten halt um sich in einer kleinen Bäckerei etwas zu essen zu besorgen, dass Evanna orderte und auch bezahlte wofür er ihr sehr dankbar war.

Die Menschen denen sie begegneten, warfen ihm wider erwarten keine krummen Blicke zu, sondern lächelten nur das hübsche Mädchen mit den weißen Haaren an, dass eine magische Aura der Freude auszustrahlen schien.

Im Zug fanden sie ein leeres Abteil in dem sie sich einquartierten um die letzte Etappe ihrer Reise an die Küste anzutreten.

Sie hatten eben erst Platz genommen, als der Kontrolleur gleichzeitig mit der Abfahrt des Zuges in der Tür erschien.

Der Schweiß brach aus allen Poren aus ihm hervor und er begann krampfhaft in allen Taschen seiner Jacke nach den Tickets für ihre Zugreise zu kramen.

Als er sie nicht finden konnte begann er wild an den Reißverschlüssen herum zu ziehen, in Hektik die Richtige Tasche endlich zu finden.

Er blickte auf und sah den harten Gesichtsausdruck des Kontrolleurs der mit seinem Stempelgerät unruhig hin und her wippte.

Als er einen seiner Reißverschlüsse in einem zwanghaften Anfall von Ekstase abriss, legte Evanna ihre Hand auf seine, die weiterhin unkontrolliert zuckte.

Mit der anderen Hand nahm sie die Tickets aus der Innentasche seiner Jacke und gab sie dem wartenden Kontrolleur der sie ihr wenige Sekunden später abgestempelt wieder zurück gab.

Seine Augen fuhren wild umher, seine Bewegungen und sein Herzschlag begannen sich langsam wieder zu normalisieren, doch auch nachdem seine Hände wieder stillstanden nahm Evanna ihre Hand nicht von seiner und er umschloss ihre zarten Finger und drückte ihre Hand als Zeichen seiner Dankbarkeit.

Und dann Begann sie zu lachen und er wusste nicht warum.

Es war ein warmes Lachen, welches, einem Sonnenstrahl gleich in ihn fuhr.

Und er lachte wie er nie zuvor in seinem Leben gelacht hatte und auch nachdem er aufgehört hatte zu lachen lächelte er den Rest der Fahrt über, bis sie an ihrem Ziel angekommen waren.

An ihrem Ziel angekommen erkundigte sich Evanna nach dem schnellsten Weg der zum Strand führte und eine alte Frau teilte ihnen mit das es von ihrer jetzigen Position noch 3 Kilometer bis zum Meer seien, die man jedoch nur auf einer Landstraße zurück legen konnte.

Sie entschlossen sich den Rest ihrer Reise zu Fuß anzutreten, zu lang waren sie gereist um einen weiteren Tag zu warten, sie wollten sofort das Meer sehen.

Und so machten sie sich in der Abenddämmerung bei Zwielicht auf den Weg, der ihr letzter sein sollte, denn ein Fernfahrer, dessen Kind sich einige Tage zuvor in einem Anfall von fortgeschrittener Paranoia die Pulsadern geöffnet hatte, hatte an diesem Tag Unmengen an Alkohol getrunken und war mit erhöhtem Tempo auf dem Weg in Richtung Strand, um sich mitsamt seines Fahrzeugs in die Fluten zu stürzen.

So kam es, das im roten Licht des Sonnenuntergangs der LKW von der Straße abkam und die zwei Wandernden unter sich begrub, sie jedoch aber nicht sofort erschlug.

Und so lag er da, unfähig zu weinen, eingeklemmt unter einem tonnenschweren Metallklotz, seine Muse nur einige Meter von ihm entfernt bewusstlos oder gar Tod auf dem Asphalt liegend und der schwer betrunkene Fahrer kam zu ihm gestrauchelt und blickte ihn panisch an.

Er warf sich zu ihm auf den Boden und versuchte verzweifelt den Anhänger vom Körper des todgeweihten zu hieven.

Und er schrie, nicht fähig zu denken oder sich zu bewegen:

„Helfen sie ihr! Lassen sie mich in Ruhe! Helfen sie ihr!“

Doch die folgenden Worte schmerzten mehr als der Blutverlust, die Schlaflosigkeit, das vergebliche Träumen oder der Verlust seiner Eltern es je hätten können.

Denn der Fahrer blickte sich panisch um und sprach zu ihm:

„Da ist niemand.“

„Sie waren alleine unterwegs.“ Er blickte zu ihr hinüber doch ihr Haar verfärbte sich grau, wurde brüchig und fiel aus.

Ihre Haut verdorrte, starb ab und zog sich zusammen.

Ihr Mund schrumpfte, verbog sich, ihre Ohren schienen zu verkümmern.

Und letztendlich wich auch die Farbe aus ihren himmelblauen Augen.

Der Körper der Frau, welche er so liebte ohne sie zu kennen oder je gekannt zu haben, zerfiel vor seinen eigenen Augen und er wusste, es hatte sie niemals gegeben.

 

 

 

So ging es zu Ende mit dem Mann der sein Leben lang ein Arzt gewesen war, der geholfen und gerettet hatte, der mehr Leid erfahren hatte als irgendein anderer.

Und der General, ein Mann von großem Ansehen und noch größerer Macht trat an das Sterbebett des Arztes und sprach zu ihm:

„Wie konntest du so viel Leid ertragen und trotzdem immer noch mit einem Lächeln vor mir liegen, der der du dem Tod ins Auge blickst.“

Und der Arzt blickte ihn an, und aus seinen Augen sprühten Funken der Freude und des Glücks und er nahm die Hand des Generals und küsste sie.

„Weil man von mir sagen wird ich habe gelebt und ich sei gestorben.

Ich aber werde sagen, egal wie schlecht mein Leben zu sein schien, ich habe genossen.

Und wenn ein Tag kam an dem ich knietief durch das Blut meiner Brüder waten musste, dann genoss ich es und wenn ich einen Kameraden mit seinem letzten Wunsch auf dem Sterbebett erlösen musste, dann genoss ich es.

Denn wir leben unser Leben und dann legen wir uns ins Grab nieder. Und das einzige was man am Ende unseres Lebens sagen kann ist, ob wir es genossen haben oder nicht.

Ich hatte natürlich Träume. Doch Träume sind für unser eins nichts als Wünsche die uns durch Tage tragen die für uns ansonsten nicht erträglich wären.

Es gibt kein Leben das keine Freuden kennt und auch gibt es kein Leben das keine Tragik kennt, denn Leben ist Lieben und Hassen, Genießen und Leiden.

Wir können jedoch für uns entscheiden ob wir den stillen Momenten des Glücks nachjubeln oder uns nach einem Verlust nie wieder erholen.

Von mir soll man sagen:

Er habe nie bereut.“

Der unbekannte Arzt starb in einer unbekannten Region an einem Tag und in einer Woche die nicht bekannt sind.

Doch weiß man wie er starb.

Er starb als Mann, der in Zeiten von Leid und Schmerz nicht die Augen vor der Wirklichkeit verschloss.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Anjulie's persönliche gute Nachtgeschichte! Ich hoffe es gefällt dir.

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