Kommissar Schröder würde diesen Tag nie vergessen. Jahre waren bereits verstrichen, doch die Erinnerungen hatten sich in seinem Kopf festgefressen, wie eine Zecke in die Haut. Dachte Edwin Schröder auch nur einen Augenblick zurück, begann sein Herz zu rasen, sein Atem glich einem Keuchen und seine Hände begannen zu zittern - und Kommissar Schröders Hände zitterten ständig. Es war der Tag, an dem er nicht nur seinen Job verloren hatte, sondern auch seinen Verstand.
Damals hatte Edwin Schröder ein Haus am Land besessen. Er hatte das Leben in der Großstadt satt gehabt und sich ein bescheidenes kleines Häuschen in einem idyllischen, kleinen Örtchen zugelegt. Der Tag hatte wie jeder andere begonnen. Kommissar Schröder war in die Arbeit gefahren. Sein Büro befand sich immer noch in der Großstadt und so viele Privilegien ein Leben am Land auch mit sich brachte, er hasste die lange Anfahrtszeit. Nicht zu vergessen die steigenden Treibstoffkosten, die jede Woche um ein neues Rekordhoch kämpften.
An den Anruf
, mit dem das gesamte Übel begonnen hatte, konnte er sich noch genau erinnern. Eben hatte er bei McDonalds angehalten und sich einen Kaffee geholt. Die Nacht hatte er wieder einmal vor dem Fernseher verbracht und neben der erdrückenden Müdigkeit und den dunklen Augenringen, nervte ihn das ständige Gähnen am meisten. Kommissar Schröder brauchte Koffein. Nach dem Telefongespräch allerdings, arbeiteten die Zahnräder in seinem Gehirn auf Hochtouren. Adrenalin floss durch seine Adern und der eben gekaufte Kaffee war im Getränkehalter seines Autos vergessen. Es handelte sich um einen Mordfall. Aber nicht um irgendeinen. Auch die Tatsache, dass es sich um einen Messerstecher handelte, war nicht der Grund für die Überdosis Adrenalin in seinem Körper. Der Mord, war an dem Ort geschehen, welchen er sein Zuhause nannte. Womöglich kannte Kommissar Schröder das Opfer, womöglich auch den Täter.
Eigentlich handelte es sich hierbei nicht mehr um sein Einsatzgebiet. Ein gewisser Kommissar Lothar war hier zuständig, doch anscheinend hatte irgendjemand in der Zentrale sein Hirn benutzt und ihn zu dem Fall hinzugezogen. Edwin Schröder lebte nun schon knapp ein Jahrzehnt am Lande. Er kannte jeden Winkel seiner neuen Heimat, war eine geachtete Persönlichkeit, deren Stimme Gewicht erlangt hatte und zudem sprach er den Großteil der Menschen bereits beim Vornamen an.
Zielgesteuert hatte er seinen Wagen umgelenkt, war den gesamten Weg wieder zurückgefahren und das war eine ziemlich weite Strecke. Zudem arbeiteten die Ampeln nun auch noch gegen ihn.
Als er am Tatort angekommen war, traute er kaum seinen Augen. Ja, er hatte den Park schon hunderte Male besucht, er war ja nicht weit von seinem eigenem Haus entfernt und auch hatte er schon hunderte Male die rot-weißen-Absperrbänder gesehen. Aber beides in kombinierter Form, dass ließ selbst ihm ein Schaudern durch die Adern laufen. Das war etwas, das einfach nicht hätte sein sollen. Routiniert zeigte er seine Dienstmarke, kroch ohne auf eine Antwort zu warten unter dem Absperrband hindurch und marschierte geradlinig auf die Leiche zu.
Ihm war mulmig zumute. Diesen Park kannte er wie seine Westentasche, er verbrachte mindestens drei Tage die Woche hier. Hier entspannte er sich und versuchte den einen oder anderen Fall im Geiste nachzuvollziehen. Aber im Dienste hier aufzutauchen hätte er niemals für möglich gehalten. Das war gewissermaßen sein Park. Seine Zufluchtsstelle aus dem hektischen Alltag. Sein Ort der Ruhe und Entspannung. Er war nicht groß und er war nicht schön, aber verdammt nochmal, das war sein Park! Und niemand hatte in seinem Park zu töten!
„Also, was haben wir?“, fragte er schon von Weitem.
Die Worte klangen falsch. Das waren nicht seine
Kollegen, das war nicht sein
Gerichtsmediziner und eigentlich war das auch nicht sein
Einsatzgebiet. Das gesamte Team war bereits versammelt, durchsuchte den Tatort, schoss Fotos und war eifrig am Suchen nach Indizien. Und er, derjenige, welcher keine hundert Meter vom Tatort entfernt wohnte, kam als letzter. Welch Ironie. Und dann war da auch noch dieser andere Kommissar. Das alles fühlte sich ganz und gar nicht... richtig
an.
„Mehrere Einstiche in den Bauch.“, sagte der Gerichtsmediziner motorisch und war dabei seine Tasche zu packen.
Und dann sah Kommissar Schröder die Leiche. Es war Inge. Inge Katzinger, die keine zwei Straßen weiter wohnte. Sie war eine dieser Sportskanonen, die er des Öfteren am Park vorbeijoggen sah. Manchmal war sie auch in den Park gekommen und hatte ihm beim Grübeln Gesellschaft geleistet. Jetzt lag sie tot vor ihm. Wie die Welt doch manchmal spielte. Edwin Schröder konnte es kaum glauben. Ihre Kleidung und ihr gesamter Körper war vollkommen mit Blut besudelt.
Schlagartig legte sich ein Schalter in seinem Kopf um und er war nicht mehr Edwin Schröder, das soziale Wesen, welches Mitleid für seine Mitmenschen zeigte, sondern Edwin Schröder, der beinharte Kriminalkommissar, der zielstrebig einen Fall aufzuklären versuchte.
„Mehrere Einstiche in den Bauch.“, wiederholte er und diesmal war die Autorität in seiner Stimme zu spüren. „Gibt es Kampfspuren?“
„Kein Blut unter den Fingernägel, keine Schürfwunden, keine blauen Flecken auf der Haut. Nach momentaner Vermutung nicht. Genaueres kann ich allerdings erst nach der Obduktion sagen.“
„Der Täter hat sich also nicht heimlich von hinten angeschlichen. Die Stichwunden am Bauch lassen vermuten, dass sie den Täter gekannt hatte, andernfalls hätte sie ihn nie so nahe an sich herankommen lassen. Sie hat auch keinen Versuch unternommen wegzulaufen. Ich kenne das Opfer, wenn sie entkommen hätte wollen, dann wäre sie auch entkommen. Auf lange Sicht ganz bestimmt.“
„Meine Rede.“, sagte Kommissar Lothar. „Zu denselben Schlüssen sind auch wir gekommen.“
Edwin Schröder ließ sich nicht aus seinen Gedankengängen bringen. „Haben Sie schon etwas über die Tatwaffe herausfinden können?“, fragte er den Gerichtsmediziner.
„Ich vermute, dass es sich um ein gewöhnliches Küchenmesser handelt. Die Einstichstellen sind an der einen Seite stumpf, an der anderen haben sie das Fleisch geschnitten. Typisch für ein Küchenmesser. Ein Messer mit beidseitiger Klinge kann ich ausschließen, ebenso einen Schraubenzieher oder einen ähnlichen Gegenstand, mit stumpfer Spitze. Genaueres, wie gesagt, nach der Obduktion.“
„Haben Sie schon eine Vermutung wann das geschehen sein könnte?“
„Ich schätze die Tatzeit gegen Mitternacht, vielleicht ein-zwei Stunden mehr, vielleicht ein-zwei Stunden weniger.“
Wäre er doch gestern in den Park gegangen, vielleicht hätte er etwas verhindern können. Aber sofort verwarf er den Gedanken. Mit Einbruch der Dunkelheit war er stets am Weg nach Hause. Und zu dieser Jahreszeit wäre er um zehn Uhr schon lange in seinen vier Wänden angekommen.
„Haben Sie eine lange Nacht gehabt?“
Kommissar Schröder war aus seinen Gedanken gerissen worden.
„Nein.“, antwortete er prompt, obgleich die richtige Antwort ,Ja‘ gelautet hätte. Er wusste, dass der Gerichtsmediziner es an seinen dunklen Augenringen abgelesen hatte.
Der Satz ,Haben sie eine lange Nacht gehabt?‘, war fast schon ein Kode unter seinen Kollegen, obgleich der eigentliche Kode ,Wieder mal eine lange Nacht gehabt?‘ lautete.
Jeder hatte eine Last zu tragen und Edwin Schröders Last war es, Schlafwandler zu sein. Obgleich sich sein Wandeln nur vom Bett bis zum Sofa erstreckte. Irgendwann schreckte er dann hoch - dass war meist der Moment, in dem das Programm endete und die Werbung um ein Vielfaches lauter spielte - und er saß mit der Fernbedienung in der Hand und im Pyjama vor der Glotze. Schlaftrunken kroch er dann wieder ins Bett und wachte am nächsten Tag, mit dunklen Ringen unter den Augen, auf.
Seine Kollegen kannten bereits die Geschichte und einige Leute aus dem hiesigen Ort kannten sie auch. Der Satz ,Wieder eine lange Nacht gehabt?‘, bedeutete im Grunde nichts anderes als ,Na, hast du dich wieder einmal ungewollt vor die Glotze geschmissen und die ganze Nacht Teleshopping geguckt?‘ - Worauf Edwin dann ein mürrisches ,Nein!‘ von sich gab, genauso, wie er es beim Gerichtsmediziner getan hatte.
Ein paar Mal hatte er schon versucht seinem Treiben einen Strich durch die Rechnung zu ziehen: Er hatte den Stecker beim Fernseher gezogen. Am nächsten Tag allerdings war er wieder in der Buchse und er vor der Glotze. Dann hatte er die Fernbedienung versteckt. Am Tag darauf war sie wieder in seiner Hand. Einmal hatte er den Fernseher in die Küche getragen und einmal das Sofa, aber jedes Mal hatte er im Schlaf alles wieder an seinen Platz zurückgestellt. Dann war es ihm zu blöd geworden und er hatte es auf sich beruhen lassen und sich mit dem Schlafwandeln und den dunklen Augenringen abgefunden.
Mittlerweile häuften sich seine nächtlichen Gänge ins Wohnzimmer. Edwin war ein nachdenklicher Mensch und seine Gedanken quälten ihn zumeist des Nachts. Zusammen mit seinem ungewöhnlich hohen Kaffeekonsum, war das Einschlafen eine regelrechte Last geworden. Und je schwerer das Einschlafen war, umso höher war die Wahrscheinlichkeit, dass er des Nachts vor dem Fernseher aufwachte. Schlaftabletten wollte er keine nehmen. Edwin Schröder gehörte zu jener Sorte Mensch, die nicht einmal einen Arzt aufsuchen, wenn ihnen der Kopf fehlte. Außerdem war er stolz darauf, dass er in seinen späten Vierzigern noch keine einzige Tablette einnehmen musste.
Auch am besagten Tage hatte Edwin eine Nacht vor dem Fernseher verbracht. Gequält von seinen Gedanken war er eingeschlafen und vor dem Fernseher aufgewacht. Diesmal war sogar etwas Neues hinzugekommen. Obwohl, viel eher war etwas weggekommen
. Als er heute Morgen aufgewacht war, war er komplett ausgezogen gewesen. So etwas hatte es noch nie gegeben, nicht einmal in einer ähnlichen Form. Wo wohl sein Pyjama geblieben war?
„Ich vertschüss mich mal. Tüdelü.“, sagte der Gerichtsmediziner.
„Tüdelü.“, wiederholte Edwin, ohne darüber nachgedacht zu haben, was er eben wiederholt hatte.
Jetzt würden wieder die Frage-Antwort-Spielchen beginnen. Heute würde er bestimmt nicht mehr in sein Büro fahren.
Kommissar Schröder war fertig. Fertig mit der Arbeit, fertig mit den Nerven. Für gewöhnlich fand man den Mörder noch in den nächsten 24 Stunden, aber so wie sich dieser Fall entwickelte, konnte sich Schröder auf längere Ermittlungen einstellen. Zudem hatte er erkennen müssen, dass sein Berufskollege ein richtiges Arschloch war. Aber gut, jetzt war endlich Schluss und er konnte nach Hause gehen. Heute wäre ein passender Tag gewesen, den Park aufzusuchen. Daraus wurde wohl nichts. Aber Schröder hatte schon einen Plan-B und dieser hieß Mikrowellenpizza und Fernseher. Dann schlafen gehen und vor dem Fernseher aufwachen. Aber vorerst würde er sich den Dreck von den Fingern waschen. Im Laufe des Tages musste er irgendwo hineingegriffen haben, seitdem versuchte er den Dreck durch bloßes Reiben loszuwerden. Dieser aber saß fest wie Rotwein.
Bei ihm im Badezimmer angekommen, erregte etwas völlig anderes seine Aufmerksamkeit. Da lag sein Pyjama. In der Dusche!
Wieso um Himmels Willen lag sein Pyjama in der Dusche? Er ging einen Schritt darauf zu und musterte ihn. Er war nass. Anscheinend hatte er sich beim Schlafwandeln ausgezogen, seinen Pyjama in die Dusche gelegt, die Dusche kurz laufen lassen und sich dann vor die Glotze geschmissen. Schröder glaubte kaum selbst was er dachte.
Er nahm ihn aus der Dusche und hängte ihn auf die Wäscheleinen, welche über der Badewanne angebracht war. Dabei fiel ihm etwas Komisches auf. Der Pyjama hatte überall Flecken. Mal größere, mal kleinere und alle hatten sie ein dunkles Rot. Ein Rot wie das von Blut. Schröder stockte der Atem. Zittrig hob er sein Hemd an und betrachtete seinen Bauch - Nichts. Es war nicht sein Blut. Dann sah er wieder auf seine schmutzigen Finger. Seine Augen fingen an zu tränen, kalter Schweiß brach ihm aus allen Poren. Dann rannte er in die Küche. Er fand genau das, wonach er Ausschau gehalten hatte: Auf der Spüle befand sich ein Messbecher. Er war gefüllt mit einer roten Flüssigkeit, in der sich ein Messer befand.
Kommissar Schröder sank am Boden zusammen. Wieso hatte er gewusst, dass er in der Küche suchen musste? Edwin Schröder war zu keiner Bewegung mehr fähig, seinen Blick starr auf seine Fingerspitzen gerichtet. Jetzt war ihm alles klar.
Edwin Schröder hatte wieder einmal zu Schlafwandeln begonnen. Doch diesmal war nicht das Sofa und der Fernseher sein Ziel. Er steuerte die Küche an und nahm ein Messer aus der Lade. Mit dem Messer in der Hand, spazierte er in den Park. Dort traf er zufällig auf Inge Katzinger, welche sich bei seinem Schlafwandeln nichts gedacht hatte. Als sie sich in unmittelbarer Reichweite befunden hatte, hatte der Kommissar das Messer gezückt und sie erstochen. Mehrmals hatte er ihr in den Bauch gestochen. Dies hatte Spuren auf seinen Händen und auf seinem Pyjama hinterlassen. Schröder war wieder nach Hause gegangen, hatte einen Messbecher mit Wasser gefüllt und das blutbesudelte Messer eingetaucht. Anschließend war er in die Dusche gestiegen und hatte sich seinen Pyjama ausgezogen. Vielleicht hatte er sogar versucht ihn sauber zu bekommen. Nach der Dusche hatte er ihn liegen lassen und sich vor den Fernseher gesetzt. Doch den Pyjama hatte er nicht vollständig sauber bekommen und ebenso schmutzig waren seine Fingerspitzen geblieben.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses widme ich meiner Betaleserin, da sie einerseits die Fähigkeit hat meine Rechtschreibfehler zu überleben und andererseits die Mittel und Wege kennt, sie in ihre Schranken zu weisen.