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Und dann rutschten meine Hände ab. Ich hatte mich noch an den Kanten des geöffneten Buches festgehalten können, doch dann entglitt mir der Griff und ich fiel kopfüber, hinein, in das Märchenbuch.
Es ist einer dieser Momente, wo einem das Vergangene noch einmal vor Augen abläuft. Ich war in diesen unscheinbaren Bücherladen am Ende der Gasse gegangen, in der Hoffnung hier ein paar Bücher zu finden, die ich noch nicht kannte. Ich liebe Märchen über alles. In meiner Fantasie malte ich mir das Geschriebene wie einen Film aus, in dem ich der Hauptdarsteller bin. Ich kämpfe gegen Drachen, rette Prinzessinnen und lernte die interessantesten Wesen der Märchenwelt kennen. Die Welt in der wir Menschen leben, ist mir viel zu langweilig, da ist die Welt der Märchen wesentlich interessanter. Was würde ich dafür geben in einer solchen Welt zu leben.
Nun kenne ich schon fast alle Märchen und so war ich in diesen unbekannten Bücherladen gegangen, in der Hoffnung noch eine Geschichte zu finden, die ich noch nicht kenne. Der Verkäufer war ein eigenartiger Mann: Alt mit einem Funkeln in den Augen, als ob er etwas wisse, von dem niemand sontst etwas weiß. Anfangs hatte ich Angst in dieser unheimlichen Stube, aber dieser Bibliothekar war auf eine eigenartige Weise freundlich. Schnell kamen wir ins Gespräch und ich hatte ihm gesagt wonach ich suche. Ein Märchenbuch, das wie kein zweites ist, unvergleichbar mit allen anderen und in das man voll und ganz eintauchen kann. Und so kam es, dass er mir seinen großen Schatz zeigte. Ein Buch, dass magisch sein soll. Aber ich durfte es nur in seinem Laden lesen. Und so kam es, dass ich das Buch öffnete, das erste Wort las, plötzlich von der Kante abrutschte und in der Buch hineinfiel.

Jetzt war ich hier, im Buch, an diesen märchenhaften Ort.
„Wo bin ich hier?“, fragte ich eine Gestalt neben mir.
„Im Märchenland natürlich.“, antwortete er mir.
Endlich meine Träume waren wahr geworden, ich war im Märchenland. Niemals mehr wollte ich von hier weg.
„Und wer bist du?“ - „Ich bin ein Schattenstreicher? Bist du auch ein Schattenstreicher?“ - „Ich weiß nicht.“ - „Kannst du das hier?“, fragte er und formte seine Hände in eine eigenartige Position, sodass der Schatten seiner Hand einen Vogel abzeichnete. Plötzlich machte sich der Schatten selbstständig, hob vom Boden ab, verwandelte sich in einen farbenfrohen Vogel und flog gegen den Himmel. Ich war völlig erstaunt, von dem, was er mir zeigte. So etwas geschah wirklich nur in Märchen.
„Nein ich glaube nicht.“, sagte ich noch immer vollkommen verblüfft.
„Probier es einmal.“
Ich probierte es nicht nur einmal, doch so sehr ich mich auch anstrengte, niemals schaffte ich es auch nur annähernd, dass sich mein Schatten anders als meine Finger bewegte.
„Vielleicht bist du doch kein Schattenstreicher“, sagte er zu mir. „Jeder hier im Märchenland hat seinen Platz. Aber ich glaube nicht, dass du weniger kannst als ich, vielleicht kannst du sogar mehr, vielleicht gehörst du zu den Gauklern.“

Und so machte ich mich zusammen mit dem Schattenstreicher auf, in das Reich der Gaukler. Auf unserer Reise habe ich es noch oft probiert, einen Vogel in den Himmel aufsteigen zu lassen, doch jedes Mal ist es mir missglückt. Und dann hatten wir unser Ziel erreicht: Das Reich der Gaukler.
„Nimm eine Hand voll Wasser, lass es hoch schweben und forme was du willst.“, sagte eine Gaukler. Mein Freund der Schattenstreicher und ich staunten, wie er das Wasser über seinen Kopf schweben ließ, es zu einem Pferd formte und es so veränderte, dass es aussah, als würde es sich bewegen. Sogar seine Mähne wehte im Wind.
„Jetzt probier du es aus.“, sagte er zu mir.
Zögernd griff ich in den Eimer mit Wasser, füllte meine Hände und warf das Wasser in die Luft. Doch so schnell ich es auch hochgeworfen hatte, so schnell kam es wieder runter und ich wurde nass. Ich probierte es einmal, ich probierte es zweimal, dann zehn Mal und dann hundert Mal, aber kein einziges Mal gelang es mir. Alles was passierte war, dass ich schlussendlich klatschnass dastand. Langsam wurde ich traurig.
„Wenn es Nacht wird, versuchen wir es mit Feuer.“, wollte mich der Gaukler aufheitern. „Vielleicht gelingt dir das besser.“
Ich war wie vom Schlag getroffen. Mit Feuer? Da würde man sich doch verbrennen! Nein, das wollte ich erst gar nicht ausprobieren. Zu den Gauklern gehörte ich ganz bestimmt nicht. Und sogar der Gaukler hatte diesen Entschluss gefasst.
„Nun, vielleicht gehörst du nicht zu den Gauklern.“, sagte er „aber ich glaube nicht, dass du geringer bist, womöglich bist du zu höherem bestimmt. Vielleicht bist du ein Magier.“
Sofort schlug mein Herz höher. Ein Magier? Das wollte ich schon immer sein. Aber irgendwie glaubte ich auch nicht daran, zumindest hatte ich noch nie Magie gewirkt.

Und so machte ich mich, zusammen mit dem Schattenstreicher und dem Gaukler, auf, in das Reich der Magier.
„Sieh her, sagte ein Magier.“, er richtete seine Hand auf den Boden und in wenigen Sekunden wuchs ein Baum aus der Erde. Dann ließ er den Baum wieder verschwinden. „Kannst du das auch?“
Zögerlich trat ich vor und richtete meine Hand auf die selbe Stelle, doch nichts geschah. Wir probierten es noch mit einem Stein, einem Strauch, mehreren Blumen, mit Gläsern und Teller, aber niemals konnte ich etwas verändern.
„Vielleicht bist du auch kein Magier.“, sagte er nachdenklich.
„Aber was bin ich dann?“, fragte ich traurig.
„Nun, jeder hat seinen Platz und du hast bestimmt auch einen Platz. Kannst du vielleicht ganze Häuser hochheben?“ - „Nein.“ - „Kannst du Steine und Metalle verspeisen?“ - „Nein.“ - „Kannst du unter Wasser atmen?“ - „Nein, kann ich auch nicht.“
Der Magier fragte mich eine Frage nach der anderen und jedes Mal musste ich diese verneinen. Ich wurde mit jeder Frage unglücklicher, anscheinend gehörte ich nirgends dazu, bis er schließlich... „Hast du Fantasie?“ - „Ja.“, antwortete ich zögerlich.
„Du hast wirklich Fantasie?“, fragte mich der Magier erstaunt und ebenso eindringlich.
„Ja.“, sagte ich nochmals. War das nicht etwas ganz normales?
„Dann bist du ein Fantast.“, sagten der Schattenstreicher und der Gaukler wie aus einem Mund. Alle drei betrachteten mich mit großen Augen, als wäre ich etwas ganz besonderes.
„Aber jeder hat doch Fantasie.“, erwiderte ich.
„Nein, wir haben keine.“, sagte der Magier. Der Schattenstreicher sowie der Gaukler nickten.
Plötzlich fing ich an zu lächeln. Also war ich ein Fantast. Also gehörte ich schlussendlich irgendwo hin. Aber wohin gehörte ich genau?
„Und was machen Fantasten?“, fragte ich nach.
„Fantasten machen alles.“, sagte der Magier überschwänglich „Sie erschaffen die Magie, sie erschaffen alle Wesen des Märchenlandes und sie erschaffen sogar die Märchenwelt selbst.
„Und ich soll das können?“, fragte ich skeptisch.
„Ja.“, antwortete mir der Magier „Alles was du dazu brauchst ist ein Blatt Papier und einen Stift und sehr viel Fantasie.“
Fantasie - davon hatte ich reichlich. Ja, anscheinend war ich wirklich ein Fantast. Alles was ich nur noch wollte war in das Reich der Fantasten zu gehen.
„Und wie komme ich dort hin? Ist es weit weg?“
„Oh nein.“, sagte der Magier „Komm mit, ich zeige dir den Weg.“
Aufgeregt folgte ich dem Magier, hinter mir der Schattenstreicher und der Gaukler.
„Hier ist es.“, sagte er und zeigte auf ein geöffnetes Buch „Du musst hindurchgehen. Nur Fantasten können das.“
Schlagartig wurde mir alles klar. Dieses Buch hatte ich schon einmal gesehen. Was der Magier, der Schattenstreicher und der Gaukler als einen Fantasten bezeichnen, war in Wirklichkeit ein Mensch! Das was ich eigentlich nicht sein wollte und das, weswegen ich in die Märchenwelt gekommen war. Aber jetzt war alles anders. Ich wollte ein Fantast sein! Ich hatte Fantasie und davon nicht zu wenig. Ich wollte ein Blatt Papier und einen Stift und ich wollte mir meine eigene Märchenwelt erschaffen. Und so verabschiedete ich mich von meinen drei Freunden und meine Reise ins Märchenbuch war zu...

Ende

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Tag der Veröffentlichung: 22.10.2012

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