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Kapitel 01 - Die Flucht




Sie stöhnte auf. Das grelle Licht verflüchtigte sich allmählich und eine angenehme Dunkelheit machte sich in ihren Kopf breit. Insofern man es als angenehm bezeichnen konnte, wenn die Schmerzen einer Folter nachlassen. Jemand redete - zumindest war da eine Stimme. Nur langsam kehrten ihre Sinne zurück.
„Ich bin Sahinja.“, rief sie sich im Gedanken zu. Jedes Mal, wenn der Foltermeister sie zu quälen begann, schwanden ihre Erinnerungen für kurze Zeit. Sahinja trug mehrere Schutz-Takrane, welche ihr erlaubten Schmerzen besser zu ertragen, doch hier waren sie den speziellen Takranen des Foltermeisters, sowie seiner außergewöhnlichen Foltermethode hoffnungslos ausgeliefert.
Takrane sind Symbole auf der Haut und jeder einzelne verleiht eine Fähigkeit. Zehn Takrane konnte man insgesamt am Körper tragen: Einen auf jedem Arm, auf jeder Handfläche, auf jedem Bein und auf jeder Fußsohle und ebenso einen auf der Stirn sowie am Bauch.
Auf Sahinjas Haut zeichnete sich die übliche Ausstattung einer Kämpferin ab. Auf Händen und Armen trug sie elementare Takrane für den Angriff, auf Bauch und Stirn Takrane welche sie schützten und an den Füßen und Beinen Takrane um sich schneller und flinker bewegen zu können. Nur ihr linker Fuß war leer. So sah es zumindest für den Foltermeister aus.
Ihr Gehör kehrte immer mehr zurück und nun auch ihr Augenlicht. Sie sah den Foltermeister verschwommen umhergehen. Die Geräusche die nur sehr langsam und dumpf an ihre Ohren drangen kamen von ihm, doch sie zu verstehen, sowie ihren Sinn zu deuten, das vermochte sie noch nicht.
Sahinja versuchte abermals ihre Gedanken zu ordnen und sich alles wieder in Erinnerung zu rufen. Sie hatte sich von den Truppen des Königs gefangen nehmen lassen und diese hatten sie nach Kubur gebracht. Kubur war eine der Festungen König Horiors. Sahinja hatte einen Plan und langsam kam er ihr wieder in Erinnerung.
„...nicht mehr was sie einmal waren. Sieh dich doch an, du bist schwach! Du trägst zwei Takrane der Schmerzresistenz und dennoch wirst du ständig ohnmächtig.“
Dem Foltermeister bereitete es großes Vergnügen sie zu demütigen. Stets waren seine Lippen von einem hinterhältigen Lächeln umspielt. Er verhielt sich als sei er ihr Freund und als wolle er nur ihr Bestes, doch gleich darauf quälte er sie wieder mit Schmerz und Erniedrigung.
Sahinja war schon einmal gefoltert worden, doch diese ,besondere‘ Foltermethode war weitaus grausamer. Damals hatte man ihr physische Schmerzen bereitet und diese hatte sie mehr oder minder ertragen können. Doch die Art von Schmerzen, welche ihr der Foltermeister zuführte waren anders. Es besaß Takrane, die ihren Geist angriffen und sie waren von solcher Intensität, dass sie glaubte jeden Moment den Verstand verlieren zu können. Der Foltermeister hatte seinen Beruf zu einer Kunst gemacht und er hatte seinen Körper mit Takranen bestückt, welche ihm in dieser Kunst verstärkten. Dazu gehörten Takrane, welche seine Opfer fesselten und schwächten und seine eigenen Fähigkeiten verstärkten.
Anstelle von Ketten benutzte er seine Fähigkeiten um sie bewegungsunfähig zu machen. Er besaß einen der wertvollsten Takrane überhaupt. Mit diesem konnte er andere Takrane, von seinem Körper, auf Wände oder Böden kopieren. Unter Sahinja befand sich ein solcher Takran, welcher sie vollständig lähmte. Zudem hatte er an den Wänden Takrane angebracht, die den Raum in gleißendes Licht hüllten. So, dass ihr das grelle Licht in den Augen schmerzte, auch wenn er sie nicht folterte.
Sahinja hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es kam ihr vor als wären bereits mehrere Zyklen vergangen, doch wusste sie, dass es sich nur um wenige Tage handeln konnte. Das vermutete sie am Kommen und Gehen des Foltermeister. Er hatte den Raum mehrmals verlassen, vermutlich um zu essen und sich schlafen zu legen. Jedoch war er noch nicht oft genug verschwunden gewesen, um behaupten zu können, dass auch nur ein einzelner Zyklus vergangen war.
In der Zeit seiner Abwesenheit wurde ihr kein Schlaf gegönnt, dafür hatten die Wachen zu sorgten, welche während seiner Abwesenheit auf sie Acht gaben. Zudem trug das grelle Licht dazu bei nicht einschlafen zu können. Es war, als würde man in die Sonne blicken. Selbst wenn sie ihre Lieder schloss schmerzten ihre Augen fürchterlich. Wenigstens bekam sie genug zu essen. Laut den Worten des Foltermeisters solle sie bei Kräften bleiben, damit er noch weiterhin seine Fähigkeiten an ihr erproben könne.
„Ich war stets ein Bewunderer Eogils und Pontions. Ihr Rebellen wart einst stark und euer Widerstand hatte dem König große Probleme bereitet. Doch jetzt ist Pontion tot und diesen Verbrecher Eogil werden wir ebenfalls bald haben. Ich kann ohnehin nicht verstehen wieso ihr Pontion und Eogil treu ergeben sein könnt. Pontion war der denkbar schlechteste König den es je gegeben hat. Er hat rein gar nichts für sein Volk getan. Es war ihm absolut egal was mit uns geschah. Er war es nicht wert gewesen am Thron zu sitzen. Da war es nur verständlich, dass Horior ihn gestürzt hat.“, sagte er gespielt freundlich und wartete auf eine Reaktion ihrerseits, doch als diese ausblieb, redete er ungehindert weiter. „Aber wieso macht ihr immer noch weiter? Pontion ist doch schon tot!“
Sahinja interessierte sich für kein Wort des Foltermeisters. Er glaubte anscheinend sie gehöre zu den Freien Eogils und das glaubte er auch zurecht. Sie hatte sich schließlich als eine solche ausgegeben. Jedoch sah die Wahrheit vollkommen anders aus. Sie interessierte sich kein Bisschen für den Kleinkrieg zwischen den großen Lord Eogil und dem Thronräuber Horior. Auch der Tod des vorherigen Königs war ihr vollkommen egal - dieser Pontion, oder wie der hieß - es interessierte sie nicht. Sie spielte nur mit, um dem Foltermeister einen Anlass zum Reden zu geben und somit den Schmerzen eine Weile entgehen zu können. Außerdem gehörte dies, zu einem kleinen Teil ihres Plans.
„Ihr seid schwach geworden. Aber möglicherweise kommt mir das nur so vor. Im Laufe der Zeit habe ich Takrane angesammelt, für die manch einer seine Seele verkaufen würde. Ihr seit auch nicht mehr so zäh ausgebildet, jetzt wo Pontion tot ist. Und dieser Eogil, dieser billige Ersatz... naja. Nicht einmal die Takrane auf deiner Stirn und deinem Bauch helfen dir die Schmerzen zu ertragen. Schwach bist du! Kein Durchhaltevermögen hast du!“
Der Foltermeister irrte sich in fast jeder Annahme und in einer irrte er sich gewaltig: Sahinja trug keinen Schutz-Takran am Bauch und auch keinen an der Stirn. Sahinja hatte eine heimtückische Kombination zweier Takrane gewählt, die den Foltermeister täuschten. Sie trug einen Veränderungs-Takran auf ihrem linken Fuß, der es ihr erlaubte die Symbole der Takrane auf ihren Körper zu ändern. Für gewöhnlich war dies eine vollkommen unnütze Fähigkeit, da man an dieser Stelle einen effektiveren Takran tragen konnte und man das Symbol des Veränderungs-Takran selbst nicht ändern konnte. Somit war jedem sofort klar, dass man ein falsches Spiel spielte.
Doch für dieses Problem hatte Sahinja die passende Lösung gefunden, denn auf Sahinjas rechtem Fuß war kein Veränderungs-Takran zu sehen. Um genau zu sein, war auf Sahinjas rechtem Fuß gar nichts zu sehen. Die Stelle war vollkommen leer. Und das hatte mit dem zweiten Teil der Kombination zu tun. Auf ihrem rechten Arm trug sie nämlich einen Verhüllungs-Takren. Dieser Takran war ebenso sinnlos wie der Veränderungs-Takran. Mit diesem konnte man die Symbole der anderen Takrane unsichtbar machen, jedoch nicht das Symbol des Verhüllungs-Takrans selbst und somit wusste auch hier jeder sofort bescheid.
Doch mit beiden Takranen in Kombination, konnte sie den Veränderungs-Takran verhüllen und den Verhüllungs-Takran verändern. Zudem hatte sie auch alle anderen Takrane verändert, um jeden Glauben zu machen, sie gehöre zu den Truppen der Rebellen.
Sahinja hatte genug Informationen über den Foltermeister zusammengetragen und sich auf seine spezielle Art der Folterung vorbereitet. Sie hatte sich eine List erdacht und sich genauestens überlegt, welche Takrane sie sich auf ihren Körper kopierte.
„Nun meine Liebe, willst du mir immer noch nicht sagen wieso du dort herumgeschnüffelt hast? Nein?“
Sie hatte zwar herumgeschnüffelt, aber sie hatte nach nichts Konkretem geschnüffelt. Alles was sie wollte, war erwischt zu werden und somit zum Foltermeister geführt zu werden.
Sahinja hatte noch nicht genügend Kräfte gesammelt, um antworten zu können und dem Foltermeister war dies mit Sicherheit nicht entgangen. Doch es schien für ihn von keinerlei Interesse zu sein. Seine Leidenschaft war es seine Opfer zu quälen, jedoch nicht an die gewünschten Informationen zu kommen.
„Nun wenn ich keine Antwort von dir erhalte, sollten wir fortfahren. Es wäre doch schade, wenn ich nach all dem was ich durchmachen musste um diese Takrane zu erhalten, sie nicht einsetzen würde. Findest du nicht auch? Wie gut, dass ich sie so gewählt habe, dass du mir nicht einfach wegsterben kannst und ich dich somit, bis jenseits des Erträglichen foltern kann. Bist du nicht auch meiner Meinung? Wieder keine Antwort? Nun, ich denke, wir sollten fortfahren.“, sagte er im gespielt freundlichem Ton.
Dann richtete er wieder seine rechte Hand gegen ihre Stirn und der Takran auf seinem Handinneren begann zu glühen.

Die Umgebung verschwand schlagartig, alles war weiß, alles war grell. In ihrem Kopf dröhnte es und er drohte zu explodieren. Und dieses schreckliche Gefühl, als würde jemand mit glühenden Nadeln in ihr Gehirn stechen, es war unerträglich. Kein Geräusch war zu hören, nichts konnte sie sehen, nichts konnte sie fühlen. Alles was noch existierte war der Schmerz. Ein Schmerz der so grausam schien, als dass er von einer anderen Welt stammen musste. Dann wurde endlich wieder alles schwarz.

„Diesmal hast du dir aber lange Zeit gelassen.“, sagte er väterlich, als Sahinja wieder das Bewusstsein erlangte.
Sie konnte ihn hören! Wenigstens ihr Gehör war mit dem Erwachen wieder da. Alle anderen Sinne: Riechen, Schmecken, Fühlen sowie Sehen, versagten ihr den Dienst.
„Du siehst schrecklich aus, weißt du das? Dagegen solltest du etwas tun. Diese dunklen Augenringe, deine blasse Haut, dein schmerzverzerrtes Gesicht... Selbst der hässlichste Krüppel würde dir den Rücken kehren. Außerdem läuft dir Blut aus der Nase. Warte, das haben wir gleich. So, schon besser.“
Sahinja hörte nicht auf seine Worte. Sie musste abermals ihre Gedanken sammeln. Sie grübelte nach ihren Namen und dem Grund warum sie freiwillig dem Foltermeister in die Arme gelaufen war. Alles ist bisher nach Plan verlaufen, doch hätte sie nie damit gerechnet, dass sie solch große Schmerzen zu erleiden hatte. Sie zweifelte ernsthaft daran, dass sie ihr Vorhaben zu Ende führen konnte, selbst wenn sie es schaffte sich zu befreien.
„Weißt du, ich habe nie verstanden warum König Horior und Eogil so versessen darauf sind nach diesen legendären Takranen zu suchen. Es ist mir auch egal, solange ich ein paar Leute bekomme, an denen ich meine Fähigkeiten erproben kann.“, wieder geriet seine Stimme ins Schelmische. Jetzt würde er sie sicherlich wieder demütigen. „Weißt du, ich habe vor ein paar Tagen erfahren, dass unser König mit einem kleinen Trupp nach Nefarin unterwegs ist und wie ich mir denke, wird er dort einen weiteren dieser legendären Takrane in die Finger bekommen und dann seid ihr Rebellen nicht einmal mehr den Dreck wert, den ihr unter euren Fingernägeln tragt.“, sagte er energisch und rückte ein wenig näher an sie heran. Leise und mit vorgehaltener Hand sprach er weiter. „Aber erzähl es niemandem weiter, das war eigentlich ein Geheimnis.“, er fing an zu kichern „Wieso verrätst du mir nicht endlich was es so schönes an den Stadtmauern zu besichtigen gab und wir machen der Sache ein Ende. Du kannst dich endlich in einer gemütlichen Zelle ausruhen und ich habe den restlichen Tag frei. Das wäre doch ein Vorteil für beide Seiten.“
Selbst wenn Sahinja auf seine Frage antworten wollte, sie hatte keine Antwort. Es sei denn, er würde die Antwort ,Ich wollte mich gefangen nehmen und foltern lassen‘ akzeptieren. Doch dies war für Sahinja nun nicht mehr von Interesse. Der Foltermeister hatte einen dummen Fehler begangen. Er hatte ihr verraten, wo sich der legendäre Takran befand. Das war der Grund ihres Daseins und der Grund wofür sie all die Strapazen der Folterung auf sich genommen hatte. Sahinja hatte sich diesen Moment lange herbeigesehnt. Sie wollte dem Foltermeister überlegen in seine hässliche Visage lächeln, doch sie schaffte es nicht auch nur einen Muskel ihres Gesichtes zu bewegen.
Sahinja ließ noch eine Weile das sinnlose Geschwätz des Foltermeisters über Eogil und Pontion über sich ergehen um Kräfte zu sammeln. Als er erneut ansetzen wollte um sie ein weiteres Mal zu foltern, löste sie die Wirkung des Verhüllungs-Takrans auf und der Veränderungs-Takran erschien auf der freien Stelle ihres rechten Fußes. Gleich darauf veränderten sich auch alle andern Symbole auf ihrem Körper.
„Was geschieht hier?“, fragte der Foltermeister schlagartig entsetzt und wich einen Schritt von ihr zurück.
Wie von selbst erschien ein hinterhältiges Lächeln auf Sahinjas Gesicht.
Der Schutz-Takran auf ihrem Bauch war verschwunden, dafür waren auf ihren beiden Beinen zwei Schutz-Takrane erschienen, wo sich zuvor noch die Lauf-Takrane abgezeichnet hatten. Diese hatte sie sich machen lassen um die Schmerzen annähernd ertragen zu können. Auf ihrem Bauch jedoch befand sich nun ein Lösungs-Takran, welchen sie auch sofort einsetzte. Takrane am Bauch hatten für gewöhnlich eine Auswirkung auf den ganzen Körper und wenn man diese zudem perfekt beherrschte, konnte man seine Wirkung auch noch ein wenig nach außen dehnen.
Sahinja beherrschte den Lösungs-Takran perfekt, was ihr nur aufgrund ihres eigenen Takrans der Perfektion gelang. Somit konnte sie auch alle Takran in ihrer Umgebung lösen. Alle Takrane auf ihrem Körper verschwanden augenblicklich, mit Ausnahme ihres eigenen. Blitzartig, in Form einer Balse dehnte sich der Effekt aus. Die Takran-Fesseln lösten sich und nur einen Augenblick später hatte auch der Foltermeister seine kosbaren Takrane verloren.
Da der den Licht-Takran auf seiner Haut nun nicht mehr trug, löste sich auch die Wirkung der Kopien auf den Wänden auf und angenehme Dunkelheit umhüllte sie. Alle angeeigneten Takrane waren verschwunden, sogar der Lösungs-Takran. Jetzt trug Sahinja nur noch ihren eigenen. Den Takran der Perfektion.
Der Foltermeister war wie gelähmt. Er konnte nicht glauben, was hier vor seinen Augen geschehen war. Diese Fassungslosigkeit machte sich Sahinja zu Nutzen. Ihr schoss das Adrenalin in die Adern und sie machte sich ihre letzten Reserven zunutze. Sie stürzte sich mit vollem Gewicht auf ihn und begann ihn unter Aufbringung ihrer letzten Kräfte zu würgen. Der Foltermeister selbst leistete kaum Widerstand, der Verlust seiner kostbaren Takrane machte ihn zu sehr zu schaffen.
Kurz darauf lag er bewusstlos vor ihr. Sahinja gönnte sich eine kurze Pause, um ihre Sinne sowie ihre Kräfte zurückzuerhalten. Der Vorteil dieser speziellen Folter war jener, dass sie nur mental angegriffen wurde und sie somit keine bleibenden Schäden davongetragen hatte. Er hatte alles daran gesetzt sie im Geiste zu quälen, selbst den Raum, welchen er in extreme Helligkeit getaucht hatte, war dafür präpariert worden. Endlich waren diese Takrane verschwunden, endlich umgab sie eine angenehme Dunkelheit. Nur noch das schwache Licht des bewölkten Nachmittagshimmels drang durch die Gitterstäbe und beschien einige Umrisse.
Sahinja war furchtbar kalt. Es war Winter und sie hatte durch den Lösungs-Takran auch ihren Kälte-Takran verloren. Dennoch gönnte sie sich die Pause. Während der Folterung hatte es nie jemand gewagt, diesen Raum zu betreten und sie hoffte, dass es weiterhin so bleiben würde.
Sie strich sich über ihren linken Arm. Darauf befand sich ihr eigener Takran. Der Takran der Perfektion. Es war einer der zehn legendären, nach denen der König so besessen suchte. All das Streben, das der König an den Tag brachte, war darauf ausgelegt, die legendären Takrane zu ergattern. Wie sehr er sich wohl darüber gefreut hätte, zu wissen, dass einer dieser Takrane direkt vor seiner Nase war. Unter anderem war es auch dieser belustigende Gedanke gewesen, der Sahinja die Strapazen der Folterung überstehen hat lassen. Zudem durfte der König nicht noch an einen weiteren legendären Takran kommen.
Sahinja suchte im schwachen Licht nach dem Takran des Foltermeisters. Den einen den er seit seiner Geburt trägt und der eine der ihm geblieben war. Es war, wie Sahinja es vermutete, der seinige war derjenige, welcher ihr solche Schmerzen bereitet hatte. Doch sie brauchte unbedingt weitere Fähigkeiten. Sie drückte ihre beiden Handflächen gegen die des Foltermeisters und sein Takran kopierte sich auf ihre Hände.
Für gewöhnlich mussten beide damit einverstanden sein, doch Sahinja war Aufgrund ihres eigenen Takrans eine Ausnahme dieser ungeschriebenen Regel. Das Einverständnis zum Tausch gab man im Geiste und der Rest geschah wie von Zauberhand. Sie hatte Aufgrund ihres legendären Takrans der Perfektion einen enormen Vorteil, gegenüber allen anderen. Der Foltermeister gab zwar nicht sein Einverständnis, jedoch konnte er aufgrund seiner Bewusstlosigkeit auch nichts gegenteiliges tun. Somit ließ sich sein Takran mühelos auf ihre Handflächen kopieren.
Und dies war lediglich ein Sekundäreffekt ihrer Fähigkeit. Mittels des Takrans der Perfektion konnte sie jeden anderen Takran in seiner Gänze beherrschen. Wofür andere manchmal Jahre oder Jahrzehnte der Übung benötigen, brauchte sie nicht einmal einen Atemzug.
Die Kälte war es, welche ihr erneut Antrieb verlieh. Die Müdigkeit drückte auf ihr wie ein umgestürzter Baumstamm, doch versuchte sie diesen mit aller Mühe zu ignorieren. Neben ihren eigenen Lumpen zog sie noch die Kleidung des Foltermeisters über, welche jedoch, nur aus dünnem Stoff war. Es war üblich, dass man in der Winterzeit Kälte-Takrane trägt, um der eisigen Jahreszeit zu trotzen. Seine Kleider waren ihr viel zu groß, dennoch hatte sie keine Möglichkeit sich anders vor der Kälte zu schützen. Was sie erstaunte, war, dass sich ein Messer in seiner Taschen befand. Dies war vermutlich nur ein Zufall oder hatte er es noch gegen sie einsetzen wollen?
Vorsichtig achtete sie darauf, dass das Symbol auf ihrem linken Arm verborgen blieb. Niemand sollte erfahren, dass sie einen der legendären Takrane besaß. Ansonsten würde man auch auf sie jagt machen.
Sie überlegte kurz. Hatte der Foltermeister in der kurzen Zeit, als sich die Symbole der Takrane zurückverwandelt hatten bemerkt, dass sie einen der legendären trug? Sie konnte es nicht sagen. Sahinja machte einen Schritt auf den bewusstlosen Körper zu und trat ihm mit dem Fuß die Kehle ein. Ein Knacken gefolgt von einem Röcheln war zu hören. Kurze Zeit darauf verschwand der Takran des Foltermeisters von seiner Hand. Auch auf Sahinjas Händen leuchteten die Symbole der Takrane des Foltermeisters auf und verblassten.
Noch einmal vergewisserte sie sich, dass das Symbol auf ihrem linken Arm nicht zu sehen war, dann öffnete sie vorsichtig die Türe.
Sahinja hatte Glück, es befand sich niemand am Gang. Auch mit den Schuhen des Foltermeisters hatte sie Glück gehabt. Es war die Sorte Schuh, welche gewöhnlicher Weise nur von Edelmännern getragen wurde. Sie waren mit vielen Maschen verziert und schön anzusehen. Der Vorteil den sie daraus zog, war jener, dass diese Schuhe keinen harten Absatz hatte, wie es ansonsten bei den Soldaten der Fall war und sie somit keinen Lärm auf den steinernen Gang machte. Der Nachteil allerdings war jener, dass sie wenn überhaupt, nur kaum vor der Käte schützten. Langsam bewegte sie sich tiefer in das Gebäude hinein, in Richtung Kerker.
Mit gezogenem Messer bewegte sie sich nahe der Wand, um von den Fackeln, welche hier nur als Lichtspender angebracht waren, ein wenig Wärme zu ergattern.
Vor der Biegung zum Kerker überlegte sie ihre nächsten Schritte. Sie hatte gehofft, dass der Wächter sich in Richtung der Gefangenen gedreht hätte. Dummerweise saß er an einen Tisch, Blickrichtung des Ganges um deren Ecke sie hervorlugte. Er vertrieb sich die Zeit mit einem Kartenspiel. Das Anschleichen war ihr zu gefährlich, ihr Körper war zu steif vor Kälte, sie war müde und viel zu geschwächt. Sahinja hatte vorgehabt ihn bewusstlos zu schlagen und sich seines Takrans zu bemächtigen, so wie sie es zuvor beim Foltermeister getan hatte. Doch dazu würde es nicht kommen, sie würde es nicht schaffen unbemerkt so weit an ihn heranzukommen. Nun war sie dankbar, dass sie das Messer in der Tasche des Foltermeister gefunden hatte.
Was sie jetzt tat erforderte nicht nur ihr Können, sondern auch ein wenig Glück. Sollte der Wächter auch nur einen Takran an sich tragen, mit dem er sie entdecken konnte, oder der ihm vor dem Angriff des Messers schützt, hätte sie echte Schwierigkeiten. So leise es ihr möglich war, schlich sie um die Ecke und richtete sich inmitten des Ganges auf, um das bestmögliche Schussfeld zu haben. Der Soldat, war noch immer in sein Kartenspiel vertieft und hatte sie nicht bemerkt. Unter Aufbringung all ihrer Kräfte schleuderte sie ihm das Messer entgegen. Es gab ein markerschütterndes Geräusch und der Wächter schlug mit dem Messer im Kopf gegen den Tisch.
Wieder einmal war sie dankbar, dass sie den Takran der Perfektion besaß. Ein Nichttreffen war ausgeschlossen. Auch hatte sie Glück gehabt, dass der Wächter keinen passenden Takran besessen hatte, welcher ihr Vorgehen vereitelt hätte. Er war vermutlich nur ein einfacher Soldat gewesen, der am heutigen Tage den Wachdienst zu übernehmen hatte. Jedoch war er nicht jemand gewesen der sich wie der Foltermeister auf das Foltern spezialisiert hatte.
Das Ableben des Wächters war unbemerkt geblieben. Nicht einmal die Gefangenen hatten seinen Tod bemerkt. Vermutlich dachten sie, er wäre bei seinem Spiel eingeschlafen. Vorsichtig bewegte Sahinja sich auf den Leichnam zu. Es war kein weiterer Wächter mehr zu sehen. Enttäuscht merkte sie, als sie den Wächter durchsuchte, dass er keinerlei Waffen bei sich trug. Vermutlich hatte er einen Takran auf einer Hand getragen, welcher es ihm erlaubte, eine Waffe zu beschwören. Um nicht ganz ungeschützt dazustehen, zog Sahinja das Messer aus der Stirn des toten Wachmannes, was bei einem der Gefangenen nun doch nicht unbemerkt geblieben war. Blut strömte aus dem Loch in der Stirn und besudelte teilweise die edlen Kleider des Foltermeisters.
„Wir sind gerettet! Unser Bitten wurde erhört! Lord Eogil hat uns Hilfe geschickt!“, rief derjenige welcher sie bemerkt hatte durch die Gitterstäbe, um die anderen ebenfalls auf den Eindringling aufmerksam zu machen. Dies hatte zu weiteren kraftlosen Jubelrufen der anderen geführt.
„Seid leise ihr dummes Pack, oder wollt ihr das noch mehr Wachen kommen?“, zischte Sahinja aggressiv zurück.
Schlagartig wurde es wieder ruhig. Sahinja wischte das Messer an den Kleidern des Wachmannes ab und steckte es zurück in ihre Tasche. Sie nahm die Schlüssel vom Tisch und sperrte die erste Türe auf. Die Gefangenen waren alle in einzelnen Zellen untergebracht und zudem noch an den Wänden angekettet, so, dass sie ihre Angriffs-Takrane nicht gegen die Wachen einsetzen konnten.
Die Ketten hangen nur halb herab, sodass sich die Gefesselten nicht niedersetzen konnten. Ihre Arme waren sicherlich blutleer und schmerzten furchtbar. Sahinja kannte diese Schmerzen aus eigener Erfahrung.
„Gib mir deinen Takran und ich lasse dich frei.“, forderte Sahinja.
„Lass mich bitte zuerst frei.“
„Du bist nicht in der Position Bedingungen zu stellen!“
„Du könntest doch nicht einmal damit umgehen, was nützt er dir?“
Sahinja konnte damit umgehen. Sie besaß den Takran der Perfektion und konnte mit dessen Hilfe sofort jeden beliebigen Takran in seiner Vollendung einsetzen. Doch das würde sie dem Gefangenen nicht auf die Nase binden. Niemand sollte erfahren, dass sie einen der zehn legendären Takrane trug. Auch würde sie ihm diesen nicht zeigen. Er würde es sofort an der leuchtenden Farbe des Symbols erkennen. Wo für gewöhnlich alle normalen Takrane rot leuchten, schienen diese besonderen Takrane in blauer Farbe.
„Gib ihn mir, oder verrotte in diesen Kerkern.“, sagte Sahinja mittlerweile genervt.
„Du würdest mich nicht zurücklassen. Ich gehöre zu den Freien Eogils und du brauchst mich um hier rauszukommen.“
Sahinja zog ihr Messer aus der Tasche und hielt es dem Gefangenen an die Kehle.
„Jetzt hör mir zu, du Wurm. Eogil geht mir am Arsch vorbei und wenn du mir nicht sofort deinen Takran gibst, bring ich dich um, nur um an dir ein Exempel zu statuieren. Die anderen werden mir anschließend sicherlich ohne Fragen zu stellen die ihrigen geben.“
Ihre Worte hatten die gewünschte Wirkung nicht verfehlt, das konnte sie am Gesichtsausdruck des Mannes erkennen.
„Rechte Hand.“, sagte er nachgiebig und misstrauisch.
Sahinja legte ihre linke Hand auf seine rechte und sofort kopierte sich sein Takran auf ihre Handfläche. Na toll, er besaß die Fähigkeit eine Lichtkugel zu beschwören. Wie überaus sinnlos bei einer Flucht. Hoffentlich hatte irgendjemand einen elementaren Takran für Hände, dann würde sie diesen, sofort gegen den anderen eintauschen.
Mit zitternder Hand öffnete sie die Fesseln des Gefangenen, obwohl es ihr in den Fingern juckte ihm die Kehle für seine Frechheit durchzuschneiden. Doch in einem Punkt hatte er recht: Um zu fliehen würde sie seine Hilfe brauchen. Er besaß immerhin noch andere Takrane, die er von anderen Menschen erhalten hatte und die nicht so sinnlos waren wie sein eigener. Außerdem wollte sie noch die Takrane der anderen Gefangenen und hätte sie ihn umgebracht, nachdem er ihr den seinigen gegeben hatte, wären die anderen sicherlich nicht mehr so gefügig.
Seine Fesseln öffneten sich und er sackte zu Boden.
„Warte hier bis ich die anderen befreit habe und beweg dich nicht auf den Gang. Ich will nicht, dass ein Wächter vorbeikommt und dich sieht.“
„Wer bist du?“, fragte er sie.
„Halt die Klappe.“, war alles was sie darauf antwortete.
Als Sahinja die nächste Zelle öffnete, musste sie sich unter Anstrengungen konzentrieren, um dem Zittern Einhalt zu gebieten. Sie brauchte unbedingt ein Kälte-Element um sich den eisigen Temperaturen anzugleichen. Immerhin würde sie die Müdigkeit aufgrund ihrer Kälte nicht niederringen.
Der nächste Gefangene hatte ihr einen Feuer-Takran für den Bauch gegeben. Auch das war nicht umbedingt eine Fähigkeit, welche für eine Flucht nützlich war. Takrane am Bauch schützen zwar den gesamten Körper, wenn man diese erst einmal perfekt beherrschte, doch dieser würde sie nur vor Feuer-Elementen schützen. An den Händen wäre er nützlich gewesen, denn damit hätte sie andere angreifen können. Schade, dass Feuer-Elemente nicht ebenfalls gegen die eisige Kälte schützte. Bei diesem Gedanken kam ihr eine Idee. Nachdem sie auch diesen Gefangenen befreit hatte, ging sie zu einer der Fackeln und hielt ihren Ärmel darüber, sofort fing dieser Feuer. Kurz darauf stand ihr gesamter Körper unter Flammen. Durch ihren eben erhaltenen Schutz, konnte ihr das Feuer nicht schaden. In diesem Fall wärmte es sie sogar und um ihre Kleider nicht verbrennen zu lassen, hatte Sahinja ihren Schutz ein wenig nach außen gedehnt. Das Sahinja nun lichterloh brannte und von jedem Ankömmling sofort gesehen werden konnte ignorierte sie. Ihr war bitterkalt und mittlerweile brauchte sie die Wärme, wie sie die Luft zum Atmen.
Der frisch Freigelassene staunte. Schutz-Takrane waren mächtig und es benötigte viel Zeit sie richtig zu beherrschen. Manche beherrschten ihre eigenen Takrane bis zu ihrem Tode immer noch nicht vollständig und so war es möglich, dass man trotz eines Feuer-Schutzes verbrennen konnte. Es musste für den Besitzer wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, als Sahinja seinen Takran eingesetzt hatte, als beherrsche sie ihn schon ihr Leben lang.
Nachdem sie sich gewärmt hatte löschte sie das Feuer wieder, um die anderen Gefangenen bei ihrer Befreiung nicht zu verbrennen. Sahinja erhielt noch einen Sprung-Takran für die Füße, welcher sehr häufig zu finden war, einen elementaren Schutz am Arm und das Element Wind für die Hände. Das Wind-Element ließ sie sich auf beide Hände kopieren und überschrieb somit den Lichtkugel-Takran. Endlich ein Angriffs-Takran, auch wenn es nur ein schwacher war. Der fünfte und letzte Gefangene hatte etwas annähernd Nützliches, was bei ihrer Flucht sicherlich einen größeren Nutzen haben konnte. Er besaß einen Rauch-Takran auf seiner Stirn.
Takrane an der Stirn waren noch mächtiger als Takrane am Bauch, oder an den Händen. Gleichzeitig waren sie auch noch viel schwären zu beherrschen. Der Vorteil von Takranen an der Stirn war jener, dass man diese kontrollieren konnte. Wo man mit Takranen an den Händen eine Feuerkugel abschoss und hoffte dass sie ihr Ziel traf, konnte man mit Takranen an der Stirn deren Verlauf auch noch im Nachhinein umlenken.
Aller Vernunft entgegen hatte Sahinja beschlossen im Alleingang zu fliehen. Sie hatte schon oft genug in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, dass man sich auf niemand verlassen konnte. Aus diesem Grund war sie so lang sie sich zurückerinnern kann eine Einzelgängerin gewesen und nun würde sie damit keine Ausnahme machen. Diese fünf Männer waren lediglich ein kleiner Bonus, welcher für die nötige Ablenkung sorgen würde. Mehr nicht.
„Der Plan sieht folgendermaßen aus.“, wies Sahinja sie an „Ich gehe raus und flüchte, wenn ihr es ebenfalls schafft: Herzlichen Glückwunsch. Ich bin die erste und kommt mir nicht zu nahe!“
Die fünf Männer gaben bejahendes Gemurmel von sich. Man merkte ihnen an, dass sie von ihr nicht unbedingt das beste Bild hatten und dass sie mit ihrer Führung nicht ganz zufrieden waren.
Es war ihr herzlich egal, was sie von ihr hielten und was mit ihnen passierte. Sie sollten nur lange genug überleben, damit sie ihre Takrane nutzen konnte. Zudem war es gut ein paar Verbündete zu haben. Sie konnten genügend Verwirrung stiften und das Gefecht auf sich lenken. Außerdem besaßen sie im Gegensatz zu ihr, Takrane von anderen, welche bei ihrer Flucht wirklich hilfreich waren, als diese, welche sie von ihnen bekommen hatte. Vor allem besaßen manche von ihnen den Takran Eogils und um diesen beneidete sie die Freien.
Sahinja tauchte abermals ihren Ärmel ins Feuer und stand kurze Zeit darauf wieder in Flammen. Damit würde man sie einerseits viel leichter erkennen, andererseits würde es einige sicherlich abschrecken und für genügend Verwirrung sorgen. Außerdem konnte sie so der Kälte trotzen. Ein elementarer Schutzschild, welcher leicht bläulich schimmerte, erschien an ihrem rechten Arm. Ein elementarer Schutz-Takran am Bauch hätte ihren ganzen Körper geschützt, aber sie gab sich zufrieden mit dem was sie bekommen hatte. Zu guter letzt ließ sie schwarzen Rauch vor ihr erscheinen. Er war so dicht, dass man keine paar Schritte sehen konnte. Mit dem Wind-Takran trieb sie den Rauch voran. Dann stürmte sie los.
Hinter ihr johlten und tobten die fünf Männer, welche zuvor noch wie das letzte Elend in ihren Zellen dahin vegetiert hatten. Idioten, sie würden die Wachen und Soldaten nur auf sich aufmerksam machen. Doch jetzt war nicht die Zeit für Belehrungen. Die Rufe waren sicherlich nicht ungehört geblieben und schon spürte Sahinja, dass sich zwei Wachen in dem dichten Rauch befanden. Das war ein weiterer Vorteile von Takranen an der Stirn. Sie waren auch mit dem Geist verbunden und verliehen somit zusätzliche Vorteile. Sahinja hüllte die beiden Wächter in eine dicke Rauchwolke ein, sodass sie nahezu blind waren. Dann blies sie mit dem Wind-Takranen den restlichen Rauch weg und übrig blieben zwei herum taumelnde Rauchsäulen. Die fünf ehemaligen Gefangenen hatten sie in kürzester Zeit eliminiert. Blitz, Eis und Feuer, die üblichen Angriffs-Takrane wurden verwendet und schon lagen zwei weitere Leichen am Boden. Einer der beiden Rauchgestallten, hatte sogar einen Feuerball losgelassen der Sahinja sogar getroffen hätte. Sie hatte ihn mit dem magischen Schild abgewehrt, doch durch den Feuer-Takran hätte der Feuerball ihr ohnehin so sehr geschadet wie eine leichte Briese.
Sie waren nun am Ausgang angelangt und Sahinja forderte von den Fünf Ruhe. Draußen wimmelte es von Soldaten und wenn sie flüchten wollten, durften sie sich keinen Fehler erlauben und ihren Überraschungsmoment verschenken. Sahinja überlegte, wie sie vorgehen konnten. Sie hätten die Möglichkeit, sich anzuschleichen und so weit wie möglich bis zum Tor vorzudringen. Aber Sahinja hatte dazu keine Lust. Einerseits müsste sie dazu den Feuerschein und die damit verbundene Wärme aufgeben und andererseits war sie viel zu Müde für genaues Taktieren. Außerdem würde es einer der fünf Männer ohnehin vermasseln.
Vor dem Eingangstor fokussierte sie den Rauch auf einen einzigen Punkt, welcher sich zu einer dicken, dunklen Kugel vereinte. Alles was sie an Rauch erschaffen konnte, zwängte sie in diese Kugel. Sie wies auch den Gefangenen, von dem sie diesen Takran erhalten hatte, an, auch seinen Rauch in die Kugel miteinzuschließen.
Sahinja hatte sich den Aufbau der Festung genauestens eingeprägt, als man sie hier her gebracht hatte. Um von hier zu fliehen, musste sie quer über den Platz laufen, mit ihrem eben erhaltenen Sprung-Takran über das Tor springen und es lebend über die Berge schaffen. Und das alles ohne einen einzigen Lauf-Takran an ihren Füßen. Jeder der fünf Krieger Eogils besaß einen solchen und Sahinja war sich sicher, dass auch der Großteil der Wachen einen solchen trug. Lauf-Takrane gehörten zu jedem durchschnittlichen Kämpfer, seien es die Freien Eogils, oder die Soldaten des Königs. Die Flucht würde nicht einfach werden.
Die Kugel war jetzt genug mit Rauch gefüllt. Sie und der Fremde hatten alles hineingesteckt was sie an Rauch erschaffen konnten. Sahinja atmete kurz durch und dann, ohne ein Wort an die anderen Fünf zu verschwänden, drückte sie mit ihrem Wind-Takran das Tor auf, sodass dieses quer über den Hof flog. Gleich darauf beförderte sie die Rauchkugel mittels ihrer Gedanken in die Mitte des Hofes und lies sie dort auseinander bersten. Die ganze Festung lag in dichter Dunkelheit. Rufe von Soldaten waren zu hören. Sahinja rannte blind über den Hof und sprang im rechten Moment über das Tor, aus dem schützenden Rauch heraus. Sofort erschuf sie eine neue Rauchwolke um sich, was den Nachteil hatte, dass die fünf Männer von ihrem Rauch nun nicht mehr verborgen waren.
Hinter ihr konnte sie erkennen wie ein Wirbelsturm den restlichen Rauch, des anderen einsog und Gesteinsbrocken vom Himmel herabstürzten. Blaue Energieformen schwirrten umher, aufgeregte Befehle wurden gerufen, gepaart von dem Schock der Soldaten und den Kampfrufen der Gefangenen. Das Chaos war ausgebrochen. Vom Boden erhoben sich Steine, die zwar gezielt umherflogen, aber von dem beschworenen Wirbelsturm eingesogen wurden. All dies wurde umrundet von den üblichen elementaren Angriffen mit Feuer, Eis, Erde, Wind und Blitz, welche ziellos in den Rauch geschossen wurden, der wiederum von seinem Besitzer verzweifelt aufrecht erhalten wurde. Er war geübt mit seinem Takran und machte seine Arbeit gut. In diesem Chaos würde der König sicherlich mehr Soldaten verlieren als Eogil Freie. Sie würden sich einfach in dem Chaos versehentlich gegenseitig umbringen. Angst und Verwirrung waren gute Motivationen für Dummheiten.
Sahinja war schon fast aus der Gefahrenzone, als sie gegen eine unsichtbare Wand lief. Sofort war sie umrundet von weiteren unsichtbaren Wänden, welche sie dadurch erkennen konnte, da sich der Rauch dagegen drückte und Formen von geraden, aber undurchdringlichen Flächen zum Vorschein brachte.
„Sieh einer an. Eine Glühwürmchen inmitten einer Staubwolke.“, sagte der Ankömmling.
Er musste Lauf-Takrane an den Beinen tragen, welche es ihm erlaubt hatten so schnell an sie heranzukommen. Blitzschnell waren zwei weitere Soldaten an seiner Seite. Als leuchtender Schimmer, inmitten von pechschwarzer Dunkelheit, war sie wirklich viel zu leicht zu erkennen, das hätte sie vorher bedenken sollen. Aber dafür war es jetzt zu spät. Schlagartig war der Rauch verschwunden. Derjenige von dem sie den Takran erhalten hatte war soeben getötet worden. Das Zeichen an ihrer Stirn blitzte ein letztes Mal auf und schon war es verblasst. Gleich darauf verschwand auch ihr magisches Schild.
„Einer von uns vieren hat ein gewaltiges Problem.“, sagte der Erste wieder.
Die drei Soldaten fingen an zu lachen. Anscheinend hatte Sahinja es hier mit einem Spaßvogel zu tun. Sie hatten die unsichtbaren Wände aufgelöst, ihre Schwerter gezogen und kamen ihr siegessicher näher. Sie musste sich beeilen. Für hinauszögernde Worte war keine Zeit. Schon bald würden auch die anderen sterben und dann hatte sie nur noch ihren eigenen Takran.
Einen Kampf konnte sie nicht wagen, dazu waren ihre restlichen Takrane zu schwach und die der Soldaten zu stark, also blieb ihr nur noch ihr letzter Trumpf. Sie dehnte ihren Feuer-Schutz blitzartig aus, was die drei Soldaten sofort in Flammen setzte und einige Schritte nach hinten schleuderte.Der Flammenschein war verschwunden und erneut folgte bittere Kälte.
Sie hatte Glück, keiner der drei hatte einen Schutz gegen Feuer und somit standen sie alle unter Flammen. Es war schließlich auch sinnlos, sich im Winter gegen Feuer zu schützen. Einer der drei begann sich mit einem Wasser-Takran zu löschen, doch noch bevor er damit fertig war, hatte Sahinja ihn schon gegen die Schläfe getreten und er blieb bewusstlos liegen. Natürlich hatte sie, dank ihres Perfektions-Takrans die Stärke des Tritts richtig eingeschätzt und zielsicher an der entsprechenden Stelle getroffen. Die anderen beiden wälzten sich im Schnee, um die Flammen zu dämpfen. Auch ihnen trat sie gegen die Schläfe, erst dann löschte sie ihre restlichen Flammen mit einem Windhauch.
Ihr Feuer-Takran verschwand. Wieder war einer der ehemaligen Gefangenen getötet worden. Doch darum machte sie sich keine Gedanken. Jetzt wo sie kein wärmendes Feuer mehr um sich hatte, war auch der Takran wertlos geworden.
Sahinja musste sich beeilen, falls jemand nach ihr, oder den drei Soldaten suchen sollte. Der Feuerschein, den sie zuvor noch hatte, sowie der Rauch würde sie nicht mehr verraten, dennoch wollte sie keine Zeit verschwänden. Da nun alle bewusstlos waren, konnte sie sich ihrer Takrane bemächtigen. Wieder einmal war sie froh, dass sie den Takran der Perfektion besaß. Jeder andere wäre dieser Situation hoffnungslos erlegen.
Die Wind-Takrane auf ihren Händen verschwanden, auch dieser war gerade getötet worden. Jetzt konnte sie nicht mehr angreifen und sich nicht mehr verteidigen. Schnell eilte sie zum Nächstgelegenen. Er besaß einen Eis-Takran am Arm, den sie sich auf ihren rechten Arm kopierte, wo vor kurzem noch der elementare Schutzschild gewesen war. Endlich ein geeigneter Schutz gegen die Kälte. Sofort hörte ihr Bibbern auf. Der Zweite besaß die unsichtbare Wand, gegen die sie zuvor gelaufen war. Diese legte sie sich auf die linke Hand. Der Dritte besaß ein heraufzubeschwörendes Seil, auf das Sahinja normalerweise ohne zu zögern verzichtet hätte, dennoch legte sie es sich auf die rechte Hand. Die Sprung-Takrane besaß Sahinja noch, anscheinend hatte wenigstens ein Gefangener es geschafft zu überleben.
Schade war es allerdings um den elementaren Schild, aber wenigstens konnte sie mithilfe des Kälte-Takrans immer noch einen Eisschild erschaffen. Dieser war zwar um weiten schwächer und konnte von vielen Angriffen durchbrochen werden, doch immerhin war es ein Schutz. Für ihre Beine hatte sie noch immer nichts gefunden und dabei fand man Lauf-Takrane so häufig. Ärgerlich lief sie von der Festung weg, ohne einen einzigen nützlichen Schutz-Takran, ohne einen einzigen nützlichen Bewegungs-Takran und ohne einen einzigen Angriffs-Takran.

Nach einem Tag und einer Nacht der Wanderung, drohte Sahinja umzukippen und einzuschlafen. Sie zwang sich dazu wach zu bleiben und das nicht aufgrund der Tatsache, dass sie erfrieren könnte. Der Kälte-Takran würde sie davor bewahren. Der Grund war der, dass in letzter Zeit viele Takran-Jäger ihr Unwesen trieben.
Im Grunde waren Takran-Jäger einfache Sklavenhändler. Seitdem der Krieg sein Ende genommen hatte und der Frieden in einem Kleinkrieg zwischen Horior und Eogil gemündet war, gab es zu wenig Soldaten, welche für Recht und Ordnung sorgen konnten. Durch das Elend und den Hunger, war der Sklavenhandel aufgeblüht. Sie suchen nach Menschen mit wertvollen Takranen und wenn sie solche gefunden hatten, verkaufen man diese wie Vieh am Markt. Für gewöhnlich verfolgten diese Menschen folgende Taktik: Zuerst angreifen, dann hoffen dass sie überleben und dann hoffen, dass sie einen wertvollen Takran besitzen. Der Takran den Sahinja besitzt wäre bestimmt ein Vermögen wert.
Sahinja wusste, dass sobald sie eine Rast machte würde, sie einschliefe. Somit ging sie immer weiter und weiter. Ihr ganzer Körper war steif und verspannt, zudem zitterte sie am ganzen Leib. Diesmal nicht aufgrund der Kälte, sondern weil sie schon längst ihre physischen Kräfte aufgezehrt hatte. Mit ihrer körperlichen Schwäche schienen auch ihre Gedanken nachzulassen. Sie hatte nur noch ein Bild ihres Ziels vor Augen, auf welches sie monoton, Schritt für Schritt, zuging. Ein Stehenbleiben war ausgeschlossen, würde sie das tun, würde sie auf der Stelle umkippen und eingeschlafen. Ihre nackten Füße waren bereits wund. Sie hatte die Schuhe ausgezogen um so weniger Ballast mit sich zu schleppen wie möglich. Der Schnee war weich und hatte somit ihre Schritte abgefedert, dennoch zeichneten sich die Spuren ihrer langen Wanderung und ihres geschwächten Körpers auf ihren Füßen ab. Auch die Hose des Foltermeisters hatte sie gleich zu Beginn abgelegt und somit trug sie nur noch ihre eigene, zerrissene. Das Oberteil hatte sie anbehalten, da es aufgrund der langen Ärmel ihren Takran verdeckt.
Auf ihren Weg war sie einem Bauern auf einem Pferdekarren begegnet. Sie hätte ihn um Hilfe bitten, oder ihn höflich nach seinen Takran fragen können, doch sie wollte kein Risiko eingehen. Sie war geradewegs auf ihn zugegangen, hatte ihn mit dem Seil gefesselt, ihn niedergeschlagen und sich seinen Takran genommen. Er hatte zwar versucht ein Gespräch mit ihr aufzubauen, doch bevor er wusste wie ihm geschah und bevor er sich verteidigen konnte, lag er schon bewusstlos und gefesselt, am Boden. Anstelle des Seils auf der Hand trug sie nun eine zu beschwörende Axt. Ein guter Tausch, wie sie fand. Aber immer noch kein Takran, mit dem sie die Reise hätte beschleunigen können.
Sobald sie durstig wurde nahm sie eine Hand voll Schnee und stopfte ihn sich in den Mund. Aufgrund ihres Kälte-Takrans machte ihr dies nicht das Geringste aus. Hunger hatte sie keinen mehr. Hätte sie nur einen Bissen gegessen, hätte sie ihn sofort erbrechen müssen.

Sahinja war endlich an ihr Ziel angekommen. Das Lager Eogils. Das Zittern ihres Körpers hatte längst aufgehört. Mit einem knappen Blick überprüfte sie ob ihr Takran noch verdeckt war. Sie passierte die Tore mit gebeugtem Gang, welches die Wachen ihr geöffnet hatten. Ein paar Leute folgten ihr, andere eilten voraus. Ob es Männer oder Frauen waren konnte sie nicht sagen. Sie kannte den Weg zu Eogils Zelt bereits und ging stur darauf zu. Hoffentlich befand er sich auch darin.
Auf einen Befehl hin, der aus dem Inneren des Zeltes kam, traten die beiden Wächter zur Seite. Ohne auch nur einmal stehen bleiben zu müsste betrat sie sein Zelt. Ihren Kopf vermochte sie nicht mehr zu heben und wie man sprach hatte sie längst vergessen. Doch das würde sie auch nicht benötigen. In Eogils Fall genügte lediglich ein Gedanke.
,Du kennst meine Bedingungen!‘, formulierte sie im Geiste.
Dann kippte sie vornüber und fiel hart zu Boden.

Kapitel 02 - Lord Eogil




Sahinja erwachte. Sie hatte Hunger und ihre Kehle war staubtrocken, sie brauchte dringend etwas zu trinken. Ihr Kopf dröhnte.
„Holt Ellira. Sie ist wach.“, hörte sie die verworrene Stimme Eogils.
Sie öffnete die Augen. Alles war verschwommen, nicht einmal genaue Umrisse konnte sie erkennen. Doch irgendetwas verriet ihr, dass sie sich im hinteren Bereich von Eogils Zelt, in der Schlafstätte befand. Ihr wurde ein Weinschlauch mit Flüssigkeit an den Mund gedrückt. Mit der Aufbringung ihrer verbliebenen Kräfte gierte sie nach der Flüssigkeit. Gleich darauf versuchte man ihr einen Brei in den Mund zu schieben, doch Sahinja hatte vergessen, was getan werden musste, um es in ihren Magen zu befördern. Noch unterdessen schlief sie ein.

„Ellira, sie ist wieder wach.“
Es war wieder Eogils Stimme, diesmal deutlicher.
Wieder gab man ihr aus einem Schlauch zu trinken und wieder gierte sie nach der Flüssigkeit. Dann der Brei und diesmal konnte sie ihn hinunterwürgen. Sie versuchte die Augen zu öffnen. Zwei verschwommene Gestalten standen vor ihr. Sie redeten eindringlich aufeinander ein. Sahinja versuchte etwas zu sagen, doch ihre Zunge lag ihr schwer, wie ein Holzklotz, im Mund. Dann vernahm sie, eine ihr fremde, weibliche Stimme:
„Schlaf, du musst dich erholen.“
Dann wurde alles wieder dunkel.

Langsam erwachte sie wieder. Diesmal hatte sie keinen Hunger, nur ein wenig Durst.
„Du hast uns ganz schöne Angst gemacht.“, sagte die tiefe und ruhige Stimme Eogils. „Wie gut, dass du nicht so leicht umzubringen bist.“
Sahinja öffnete die Augen, das grelle Licht schmerzte sie. Doch sie konnte Eogils verschwommene Gestalt erkennen.
„Was ist...“, sagte sie schwerlich.
„Denke, was du sagen willst.“, erwiderte Eogil ruhig.
,Durst.‘, war der erste Gedanke den sie formte.
Eogil gab ihr zu trinken.
,Mein Takran?‘
„Niemand hat ihn gesehen. Ich war Tag und Nacht in deiner Nähe. Ich hab dich persönlich entkleidet und dir einen Verband über deinen Arm gelegt, sodass niemand ihn sehen kann. Keiner hat Verdacht geschöpft.“
Sahinja war erleichtert. Sie war müde und schloss für kurze Zeit die Augen. Ohne es zu wollen war sie wieder eingeschlafen.

Sahinja erwachte. Langsam öffnete sie die Augen. Das Licht war noch immer grell, dennoch konnte sie erkennen, dass sich niemand im Zelt befand. Sie richtete sich auf. Alles drehte sich und sie musste eine aufsteigende Übelkeit niederringen. Für eine längere Zeit saß sie aufrecht im Bett und wartete darauf, dass ihr Körper seinen gewohnten Dienst übernahm. Eine dichte Dunkelheit hatte sich um ihre Gedanken festgelegt, das Denken fiel ihr schwer. Am Beistelltisch stand ein Krug, gefüllt mit Wasser, daneben zwei Becher. Mit zittrigen Händen goss sie sich ein Glas ein. Sie hatte zwar keinen Durst, aber das Wasser würde ihr gut tun. Neben dem Krug befand sich außerdem noch eine Schale mit Trockenfrüchten und Nüssen. Sie schob sich eine Trockenfrucht in den Mund und merkte schlagartig wie hungrig sie war.
„Soll ich Lord Eogil holen?“, fragte eine Wache, die zuvor noch am Eingang des Zeltes gestanden hatte.
„Ja.“, sagte sie nach einer Weile, ohne zu der Wache aufzublicken.

Als Eogil das Zelt betrat hatte Sahinja die Schale mit den Trockenfrüchten und Nüssen bereits geleert. Sie spürte, wie sie allmählich kräftiger wurde.
„Etudor, sei doch bitte so nett und bringe unserem Gast noch eine Schale mit Früchten und Nüssen.“, sagte Eogil zu der Wache und wandte sich anschließend Sahinja zu „Wie geht es dir?“
Es war der übliche Tonfall den sie von ihm kannte: einfühlsam, warmherzig, fast schon väterlich. Wie sehr sie diese Art doch an ihm hasste.
„Was denkst du?“, sagte sie alles andere als freundlich.
Ein Grinsen trat in Eogils Gesicht. Am liebsten hätte Sahinja es ihm mit einem Faustschlag aus der Visage geschlagen.
„Wie lang war ich bewusstlos?“
„Elf Tage.“
„Elf Tage?“, fragte Sahinja schockiert nach.
Eogil zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr. Er ordnete für kurze Zeit seine Gedanken, dann sprach er:
„Wir hatten schon gedacht, du würdest uns wegsterben. Ich habe alle Heiler meines Lagers um dich versammelt, alle haben versucht dich zu heilen. Wir haben es mehrere Tage versucht, aber du hast dich irgendwie gegen die Heilung gewehrt.“
Sahinja machte ihm mit einem auffordernden Blick klar, dass er seine Geschichte fortsetzen soll.
„Ich habe eine Alchemistin gebeten dir zu helfen. Sie hat dir das Leben gerettet.“
„Du hast was?“, schrie Sahinja Eogil entsetzt an.
Alchemisten waren von jedem verhasst. Sie zogen die Takrane in den Dreck und vergifteten die Menschen mit ihren Gebräuen. Sahinja verstand nicht, wie man sich freiwillig ein Leben als Alchemist wünschen kann. Und Eogil, dieser Idiot, duldet diese Menschen auch noch in seinem Lager.
„Beruhige dich Sahinja.“, sagte Eogil, noch immer mit der selben gelassenen Tonlage, mit der er das Gespräch eröffnet hatte. „Wäre sie nicht gewesen, wärest du gestorben.“
Sahinja wollte sein Gerede nicht hören. Am liebsten hätte sie Eogil für diese schmachvollen Worte niedergeschlagen.
Eogil musterte sie und wartete kurze Zeit, bis Sahinja sich ein beruhigt hatte.
„Gib mir deinen Takran.“, forderte sie schroff.
Eogil formte sein übliches, breites Lächeln.
„Du kommst wie immer gleich zur Sache und ich weiß immer noch nicht, ob ich diesen Charakterzug an dir lieben oder hassen soll.“
Sahinja erwiderte diese Äußerung lediglich mit einem gereizten, auffordernden Blick. Schließlich zog Eogil sich mit einem Seufzer die Hose bis übers Knie und kopierte seinen Takran auf ihren Fuß.
Endlich sah sie die Fäden wieder. Mit zwei legendären Takranen sah man auf unerklärliche Weise die Fäden, welche durch die ganze Welt gezogen waren. Man konnte diese nur bruchstückhaft erkennen und was sie genau zu bedeuteten vermochten, wusste keiner zu sagen. Aber jeder der sie sah, war sich im Klaren darüber, dass sie Großes bedeuteten mussten und mit diesem Wissen erwachte auch ein Durst, nach den anderen legendären Takranen. Ein unerklärlicher Drang, nach einer Suche, deren Ziel unbekannt war. Doch es ist etwas Bedeutendes, so viel wusste Sahinja und alle anderen, welche ebenfalls zwei der legendären Takrane trugen, wussten es genauso.
„Auf beiden Beinen?“
Sahinja verneinte. Mit Eogils legendären Takran erhielt sie die Fähigkeit die Realität verändern zu können. Doch das war nicht der einzige legendäre Takran, welchen Eogil trug. Insgesamt hatte er drei. Sein zweiter war der Takran der Gedanken. Von woher er diesen hatte, wollte er Sahinja nicht verraten - noch nicht. Sein dritter legendärer Takran war der Takran der Perfektion. Sahinjas Takran.
Bereits zweimal hatte Sahinja versucht sich an Eogil heranzupirschen, ihn bewusstlos zu schlagen und sich seines Takrans zu bemächtigen. Jedoch hatte er beide Male ihre Gedanken zuvor gelesen und ein Kampf war ausgebrochen. Ständig kannte er ihre Züge voraus und gelang ihr der entscheidende Schlag, mit dem sie ihn zu Boden schicken hätte können, änderte er die Realität ab. Zweimal hatte sie den Kampf verloren und zweimal hatte er ihr Leben verschont und sie gehen lassen. Sie hätte nie so gehandelt. Sahinja war die geborene Kämpferin und jeder der sich ihr in den Weg stellte, wurde von ihr wie eine lästige Fliege platt gemacht. Ihr Takran schenkte ihr ein unvergleichbares Maß an Geschicklichkeit und Gewandtheit. Niemand konnte sie übertrumpfen. Niemand, außer jemand der einen legendären Takran mehr trug.
Nach langen Überlegungen ist sie mit Eogil darüber übereingekommen, auf friedfertige Art Takrane zu tauschen. Sie erinnerte sich nur zu gut an das Gespräch mit ihm zurück.
„Du zuerst!“, hatte sie wie üblich, in ihrer schroffen Art, gefordert.
„Ich glaube du vergisst, dass ich deine Gedanken lesen kann.“, hatte er erwidert. „Denkst du ich wüsste nicht, dass du verschwindest, sobald ich dir den meinen gebe?“
Sie hasste diese verdammte Gabe, welche ihm sein zweiter legendärer Takran verlieh.
„Was sagt mir, dass du nicht verschwindest, sobald du meinen Takran hast?“
„Wollen wir doch mal klarstellen, dass ich hier von uns beiden derjenige bin, der stets die Wahrheit gesprochen hatte und der sich im Gegensatz zu dir ehrenvoll verhält und du bist diejenige, welche sich hinterhältig anschleicht und in jeder Situation lügt, insofern sie einen Vorteil daraus ziehen kann.“
Es war beängstigend wie schnell und leicht es ihm gelungen war sie zu durchschauen. Sie musste ihm wohl oder übel vertrauen und das war genau das, was sie am meisten hasste: Anderen vertrauen. Doch sie wusste auch, dass wenn sie jemandem vertrauen konnte, es Eogil war. Er hatte sich einen beispiellosen Ruf aufgebaut. Er war der Held des gemeinen Volkes und seinen Namen kannte man sogar in den entferntesten Königreichen. Sogar Sahinja, die ein Leben als Einzelgängerin führte, hatte schon das ein oder andere Wort von ihm aufgeschnappt. Eogil war der edle Prinz in der goldenen Rüstung, welcher auf einem weißen Ross sitzt und für Recht und Ordnung kämpft. So zumindest stellten sich die Menschen ihn vor. Nur mit dem Unterschied, dass er kein Prinz war, keine goldene Rüstung trug und auch auf keinem Ross sitzt. Sahinja hingegen wusste es besser: Der große Lord Eogil war nur ein dämlicher Angeber. Ein Schönredner, der mit honigsüßer Stimme jedem seinen Willen aufzwang. Er war im Grunde genau das, was sie verabscheute, aber immerhin vertrauenswürdig.
Schließlich hatte sie sich einverstanden erklärt und somit war Eogil der einzige welcher von ihrem legendären Takran wusste und auch der einzige der ihn trug.
Vor einem Zyklus hatten sie erneut eine Abmachung getroffen. Wenn Sahinja ihm sagte wo sich ein weiterer legendärer Takran befand, würde er ihr sagen wo sich der Takran der Gedanken befindet. Somit war es zu Sahinjas hirnrissiger Idee gekommen, sich foltern zu lassen um von dem Foltermeister die gewünschten Informationen zu erhalten. Im Nachhinein betrachtet wunderte sie sich, dass es geklappt hatte. Aber Sahinja war noch nie eine große Denkerin gewesen.
„Und ist dein Vorhaben geglückt?“
„Ja.“
„Was hast du herausgefunden?“
„Er sucht in Nefarin.“
„Erstaunlich.“, sagte er mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. „Dass du entkommen würdest, daran hatte ich nie einen Zweifel, aber dass du wirklich herausbekommst wo der Thronräuber sucht, das hätte ich nicht gedacht. Die Geheimhaltung Horiors ist schwächer als ich dachte.“
„Du bist dran.“
„Du meinst ich soll dir verraten wo sich der Takran der Gedanken befindet? Ich soll das Wissen über Tatsachen gegen Vermutungen tauschen?“
„Wenn du mir nicht sofort sagst wo er ist, dreh ich dir den Hals um.“
„Schon gut, schon gut.“, sagte er lächelnd „Ich werde es dir sagen. Eine Abmachung ist eine Abmachung und als Ehrenmann werde ich mich auch daran halten. Ich möchte dich aber vorher darauf aufmerksam machen, dass eine höflichere Umgangsform angebrachter wäre. Wir haben dich gepflegt, dir zu essen und trinken gegeben und du hast Zugang zu unserem Lager erhalten. Übrigens, solltest du mir den Hals umdrehen, würde der Takran verschwinden den ich dir soeben gegeben habe. Außerdem hättest du ein Problem mit den Männern und Frauen im Lager.“
Eogil sprach im ruhigem, sanftem Ton, immer darauf bedacht freundlich zu wirken und den nötigen Respekt zu wahren. Es war eine andere Art von Freundlichkeit wie sie es beim Foltermeister kennen gelernt hatte. Diese Freundlichkeit war vorgetäuscht, Eogil hingegen meinte es ernst, er wollte nur ihr Bestes. Sahinja hätte ihn am liebsten erwürgt. Da war ihr doch die falsche Art des Foltermeisters zehn Mal lieber.
„Weißt du was ich davon halte?“, sie wartete seine Antwort nicht ab, anstelle dessen dachte sie an die Folterung zurück. Sie hatte oft genug die Schmerzen zu spüren bekommen, sodass sie sich an jede Einzelheit davon zurückerinnern konnte.

Die Umgebung verschwand schlagartig, alles war weiß, alles war grell. In ihrem Kopf dröhnte es und er drohte zu explodieren. Und dieses schreckliche Gefühl, als würde jemand mit glühenden Nadeln in ihr Gehirn stechen, es war unerträglich. Kein Geräusch war zu hören, nichts konnte sie sehen und nichts konnte sie fühlen. Alles was noch existierte war der Schmerz. Ein Schmerz, der so grausam schien, als dass er von einer anderen Welt stammen musste. Dann wurde endlich wieder alles schwarz.

Sie war zurück auf ihr Bett gesackt und richtete sich benommen auf.
„Lord Eogil, ist alles in Ordnung?“, sagte ein Wachposten der im Zelteingang erschienen war und einen Feuerball in der Rechten hielt. Über seiner Schulter blickte ein zweiter, ihr misstrauisch in die Augen, entschlossen jeden Befehl auszuführen.
„Ja, ja, schon gut. Geht zurück auf eure Posten.“
Eogil lag am Boden und richtete sich langsam auf. Skeptisch wandten sich die beiden Wachposten wieder um und verließen sein Zelt. Immer noch misstrauisch blickten sie über ihre Schultern hinweg.
Sahinja hatte damit gerechnet, dass es funktionieren würde. Siegessicher richtete sie ihre Worte an Eogil.
„Das nächste Mal hältst du dich besser von meinen Gedanken fern.“
Eogil hielt sich den Kopf. Seine Augen hatte er nur einen Schlitz weit geöffnet.
„Ich werde es das nächste Mal berücksichtigen.“, sagte er gequält.
Er setzte sich zurück auf den Stuhl.
„Es ist schon bemerkenswert.“, begann Eogil nach einer kurzen Pause. „Man hätte doch meinen können, dass sobald ich den Takran der Perfektion besitze, ich auch alle anderen Takrane perfekt meistern kann. Doch anscheinend muss ich erst den Takran der Perfektion vollends beherrschen, um alle anderen Takrane, so wie du, in ihrer Perfektion einsetzen zu können.“
Sahinja verstand den plötzlichen Themenwechsel nicht, ging aber dennoch darauf ein.
„Ja ich beherrsche deinen Takran auch nicht perfekt, obwohl ich den Takran der Perfektion besitze. Es ist echt lästig die legendäre Takrane so zu erlernen, wie es alle anderen tun müssen.“
Dann wurde es ihr schlagartig klar. Er hatte ihr eine rhetorische Falle gestellt und sie war festen Fußes hineingesprungen. Er wollte nur wissen, ob sie mit ihrer Fähigkeit auch die legendären Takrane sofort beherrschen konnte. Hätte er direkt gefragt, hätte sie nicht geantwortet und ihre Gedanken in andere Bahnen gelenkt. Doch jetzt wusste er es. Ihre Erkenntnis konnte sie auch an seinem dämlichen Lächeln ablesen. Sofort wurde sie wieder wütend und sie überlegte ob sie sich die Schmerzen der Folter wieder ins Gedächtnis rufen sollte. Schlagartig verschwand sein Lächeln und Furcht machte sich auf seinen Gesichtszügen breit. Jetzt war sie es die lächelte. Jetzt hatte sie einen Trump ihm gegenüber in der Hand. Dämlicher Gedankenleser!
„Lord Eogil.“, war eine weibliche Stimme vom Eingang des Zeltes zu hören.
„Ellira.“, sagte Eogil zögerlich. „Tritt ein.“
Ellira, dieser Name kam Sahinja bekannt vor.
„Ich bringe die Schale mit Nüssen und Trockenfrüchten, um die du gebeten hast.“
„Eine Alchemistin.“, sagte Sahinja erschrocken und zornig zugleich, als sie die Frau erkannte. Sie sprang von ihrem Bett auf, bereit sich zu verteidigen. Ihre Beine waren zittrig und ihr wurde für kurze Zeit leicht schwarz vor Augen.
„Beruhige dich Sahinja.“, sagte Eogil eindringlich, aber immer noch mit seiner sanften Tonlage. „Sie ist diejenige welche dich gerettet hat. Wäre sie nicht gewesen, wärest du nicht mehr hier.“, dann richtete er seine Worte an die Alchemistin und nahm ihr dankend die Schüssel mit den Früchten ab.
Unterdessen wurde Sahinja schlagartig ruhiger und ihr war klar, dass Eogil dafür verantwortlich war. Eogil hatte auf seinem Körper Takrane verteilt, die es ihm erlaubten eine gute Beziehung zu seinen Mitmenschen aufzubauen. Jeder fraß ihm buchstäblich aus der Hand und stets hatten andere das Bedürfnis ihm seine Wünsche von seinen Lippen abzulesen. Auf seinem Bauch befand sich ein Charisma-Takran, der alle Umstehenden glücklicher macht und den er zudem noch perfekt beherrschte. Auf seinem Arm befand sich ein Rhetorik-Takran, der seine sprachlichen Fähigkeiten verstärkte, auf dem anderen trug er ihren Takran der Perfektion. Auf seinem linken Bein befand sich sein eigener Takran. Damit konnte er jedes Mal die Realität ein bisschen abändern, um das zu hören, was er hören wollte. Des weiteren trug er einen Ausstrahlungs-Takran auf seinem linken Fuß. Und mit dem legendären Takran der Gedanken und seiner natürlichen angeborenen Fähigkeit mit Leuten umzugehen, war er der perfekte Führer. Was er wollte, das wollten gleichzeitig auch alle anderen. Zudem beherrschte er seine Takrane immer besser und ihr Takran würde ihm dabei auch noch behilflich sein. Jetzt, so war Sahinja sich sicher, wandte er gerade seinen Charisma-Takran auf sie an. Sie wurde ruhiger und gelassener.
Die Alchemistin hatte sich durch ihr fehlendes linkes Auge verraten. An dieser Stelle befand sich eine Art zusätzlicher Takran, welcher in einer schaurig grünen Farbe schimmerte. Mit diesem zusätzlichen Takran, so sagte man, könne man Dinge ,sehen‘, die für Normalsterbliche ungesehen blieben. Im Grunde waren es nichts anderes als Hirngespinste. Unter anderem erhielt man mit diesen Takranen auch ein enormes Verständnis für die Alchemie. Jeder Sinn, ob hören, riechen, schmecken, sehen oder fühlen, konnte bei einem Alchemisten eingetauscht werden, um einen solchen verfluchten Takran zu erhalten und um selbst ein solch verfluchtes Wesen zu werden. Ein einziges dieser verwunschenen Elixiere genügte.
Alchemisten waren verrückt. Doch das Fehlen ihrer Sinne, war nicht der einzige Grund weshalb sie die Realität nicht mehr ordnungsgemäß beurteilen konnten. Mit jedem einzelnen alchemistischen Takran nahm man andere Dinge war. Dinge, für die es keine Worte gab, um sie erklären zu können. Kein normaler Mensch konnte nachvollziehen was in der Gedankenwelt eines Alchemisten vorging. Es war, als würden sie mehr und mehr in eine andere Welt abgleiten.
Das Eintauschen beider Augen beispielsweise ermöglicht ihnen die Fähigkeit in die Zukunft zu blicken. Doch in der Gegenwart sprachen sie mit Menschen, die noch gar nicht da waren. Sie brauten Tränke für jemanden, der ihn erst in hundert Jahren irgendwo, irgendwann benötigen würde und kämpften in Schlachten, die noch nicht stattgefunden haben. Nicht wenige hatten ihr Leben verloren, als ihr Weg den eines Alchemisten gekreuzt hatte und nicht wenige waren gestorben bei dem Versuch ihnen zu helfen.
Die Geschichtsbücher waren gefüllt von Erzählungen des Kampfes gegen Alchemisten. Ganze Seen waren grundlos mit ihren Elixieren vergiftet worden. Sie brauten Tränke deren Flüssigkeit den Tod bedeuteten und wieder andere explodierten, sollten sie in Berührung mit Luft geraten. Manche Tränke konnten einem zu willenlose Sklaven machen, andere Geisteskrank. Nie konnte man sich sicher sein, ob man klares Wasser zu sich nahm, oder einen alchemistischen Trank, der täuschend ähnlich aussah. Es gab Erzählungen, dass sogar Speisen mit ihren Elixieren durchtränkt worden waren und dass der Verzehr die Atemwege verschloss. Niemand würde einen Alchemisten dahinter vermuten.
Doch waren es nicht ihre Tränke welche den meisten Menschen das Leben gekostet hatte, sondern ihre Homunculi. Humunculi waren im Reagenzglas erschaffene Wesen. Solch menschenartige Kreaturen konnten diese Verrückten erschaffen, sobald sie über mehrere dieser Takrane verfügten und genügend alchemistische Kenntnisse hatten. Diese erschaffenen Menschen besaßen selbst zwar keine Takrane, waren jedoch ausgezeichnet im Umgang mit Schwert und Bogen und verspürten zudem keine Schmerzen. Es waren damals hinterhältige Schlachten gewesen, da die wahren Drahtzieher im Verborgenen blieben und ihre Homunculi ihre Kämpfe austrugen.
„Keine Sorge, ich tu dir nichts.“, sagte die Alchemistin „Ich bin nur gekommen um zu sehen ob es dir besser geht.“
„Was soll das heißen? Was hast du mir eingeflößt? Welche Nebenwirkungen hat der Trank?“
„Nur mit der Ruhe. Ich habe dir einen Trank gebraut um deine körpereigenen Kräfte zu stärken. Der Trank hat keinerlei Nebenwirkungen soweit ich weiß.“
„Was soll das heißen: ,soweit du weißt‘?“
„Sahinja.“, sagte Eogil bittend.
„Ist schon gut Eogil. Dieses Elixier wurde gebraut um deinen Körper zu heilen, hätte er irgendwelche Schäden angerichtet, wären sie ebenfalls geheilt worden.“
Sahinja verstand sich zwar kein bisschen auf dem Gebiet der Alchemie, doch dieses Argument war stechend. Dennoch wollte sie sich nicht so schnell geschlagen geben. Ellira besaß zwar nur einen dieser alchemistischen Takrane und hatte somit noch einen annähernd fehlerlosen Bezug zur Realität, doch letzten Endes gehörte sie ebenfalls zu diesen Irren und man konnte nie wissen, wann der Wahnsinn sie packte und sie jemanden in ihrem Wahn ein Messer in den Rücken rammt. Noch bevor Sahinja ihr ein weiteres böses Wort an den Kopf werfen konnte, hatte die Alchemistin abermals das Wort ergriffen.
„Nun, wie ich sehe scheint es dir bestens zu gehen. Ich werde mich wieder zurückziehen. Was ist eigentlich mit deinem Arm?“
Sahinja sah auf ihren Arm. Der Arm, auf dem sich ihr legendärer Takran befand, war von Eogil einbandagiert worden, damit keiner ihren Takran zu Gesicht bekam. Für die Alchemistin musste es so aussehen, als ob sie eine Verletzung trug, welche der Trank nicht geheilt hatte.
„Das geht dich nichts an.“, sagte Sahinja gereizt.
„Lord Eogil.“, sagte sie höflich zu ihm, verbeugte sich und verließ das Zelt. Noch im Hinausgehen sprach sie: „Die Trockenfrüchte hab ich übrigens nicht vergiftet.“, dann war sie verschwunden.
Sahinja starrte die Schale an und wog die Worte der Alchemistin ab. Eigentlich hatte sie noch ein wenig Hunger, aber das Essen war von einer Alchemistin gebracht worden. Ja, möglicherweise hatte Ellira ihr das Leben gerettet, aber dieses alchemistische Pack war doch vollkommen geistesgestört. Was versicherte ihr, dass sie es, bei der ersten Gelegenheit, nicht wieder nehmen würde?
„Du könntest ein wenig an deinen Umgangsformen arbeiten.“, sagte Eogil zu ihr, wie ein geduldiger Vater, zu einem störrischen Kind.
„Was hatte sie gedacht?“
Eogil seufzte.
„Ich kann die Gedanken von Alchemisten nicht lesen. Irgendetwas stimmt mit ihren Fäden nicht.“
Das war Sahinja gar nicht aufgefallen. Diese zusätzliche Gabe, welche man mit dem zweiten legendären Takran erhält, war noch vollkommen neu für sie und falls sie diese Gabe anwandte, konnte sie immer noch nicht verstehen, was sie zu bedeuteten vermochte. Jedenfalls war ihr die Alchemistin, jetzt wo sie wusste, dass sie eine Art Abwehr gegen Eogils Gedanken-Takran hatte, noch unsympathischer geworden.
„Aber ich kenne Ellira schon lange.“, sprach er ungehindert weiter „Sie hat andere Sorgen und interessiert sich für andere Dinge, als unsere verrückten Suche nach den legendären Takranen. Sie hat sicher keine Verbindung gezogen.“
Ellira konnte auch keine Verbindung zu ihrem legendären Takran herstellt haben. Als sie mit Eogil ihren Takrane getauscht hatte, war eine ihrer Bedingungen gewesen, dass er zusätzlich einen Takran tragen musste, der das Symbol ihres Takrans verändert. Außerdem durfte niemand in seinem Lager davon wissen, dass Eogil einen dritten legendären Takran trug. Stattdessen zeichnete sich auf seinem linken Arm das Symbol eines weiteren Rhetorik-Takrans ab. Den Veränderungs-Takran trug er am rechten Bein, welcher stets durch seine Kleidung verdeckt blieb. Dem Lord fraß jeder aus der Hand und so glaubte jeder, dass er an dieser Stelle weiterhin seinen Lauf-Takran trug. Eogil benötigte ohnehin keinen Lauf-Takran, alles was er tat war auf seinen Hintern sitzen und Pläne schmieden. Zudem war das Wissen um die legendären Takrane nicht weit verbreitet und der Großteil, dem solche Geschichten zu Ohren gekommen war, hatte kein Interesse an solch wirklichkeitsfremden Ammenmärchen.
„Und sei nicht so abweisend zu ihr.“, sagte Eogil ganz in der Form eines weisen und gerechten Führers „Sie hatte eine schwere Zeit hinter sich. Sie hatte in ihrer Kindheit den Fehler gemacht einem Alchemisten zu vertrauen. Dieser hatte Angst gehabt, dass die Alchemie nach dem Krieg aussterben könnte und so hatte er ihr, gegen ihren Willen, einen Trank verabreicht, der sie zu seinesgleichen machte. Sie wurde von ihren Eltern verstoßen und von den Menschen gepeinigt und gequält. Ihr Lebensort wurde der Wald und sie ernährte sich für mehrere Jahre nur von Wurzeln und Beeren. Durch mehrere Umstände, auf die ich nicht näher eingehen will, hatte sie eine Lehre bei einem anderen Alchemisten angenommen. Als dieser gestorben war, hat sie sich uns angeschlossen.“
„Das hat sie gesagt.“, zischte Sahinja
„Ja, das hat sie gesagt und ich vertraue ihren Worten. Und vergiss nicht: Ellira hat dir das Leben gerettet. Du stehst in ihrer Schuld.“
Sahinja fühlte sich mies. Dafür hasste sie Eogil. Er verstand sich darauf ihr Schuldgefühle einzureden. Jetzt schämte Sahinja sich sogar, wie sie die Alchemistin behandelt hatte.
„Ich habe lange nachgedacht, als du krank auf meinem Bett lagst.“, begann Eogil von neuem. „Wieso schließt du dich nicht den Freien an? Mit vereinten Kräften und der Hilfe aller anderen Freien, könnten wir den Thronräuber vom Thron stoßen und endlich wieder Gerechtigkeit walten lassen.“
Sofort verflüchtigte sich Sahinjas gute Laune, falls sie überhaupt noch welche gehabt hatte. Das Problem welches Eogil mit Horior hatte, war nicht ihres und sie würde es nicht so weit kommen lassen, als dass Eogil sie für seine Sache einspannte. Es mag schon stimmen, dass dieser Horior nur seinen eigenen Zielen nachging, um nach den legendären Takranen zu suchen. Und das dieses eigensinnige Handeln zur Folge hatte, dass in ganz Venundur eine Hungersnot herrschte und dass der Sklavenhandel erblühte wie nie zuvor. Aber das war nun mal nicht ihr Problem.
War nicht auch der vorherige König ein Versager gewesen? Dieser Pontion oder wie der hieß? Der Foltermeister hatte ihr doch gesagt, dass er sich um sein Volk nicht im Geringsten gekümmert hatte. Ebenso wie der König nun. Nein, mit so etwas wollte Sahinja nichts am Hut haben. Sie war eine Einzelgängerin und das würde sie auch bleiben.
„Das kannst du vergessen!“, sagte sie schließlich „Wie stellst du dir das eigentlich vor? Soll ich die ganze Zeit wie du auf meinem Hintern sitzen, hinterhältige Pläne aushecken, Intrigen schmieden und schöne Worte von mir geben? Oder soll ich mich an einen Herd stellen und für dich und deine Leute kochen?“
„Es wäre eine Umstellung, aber sie wäre sicherlich nicht zu deinem Nachteil. Wir würden bestimmt ein paar Aufgaben finden, die dir entsprechen und an denen du Gefallen findest.“
Nichts als schöne Worte, darauf verstand sich dieser Redekünstler.
„Vergiss es! Ich bin immer schon meine Wege alleine gegangen und so werde ich es auch weiterhin tun.“
Eogil schwieg eine Weile, dann sprach er freundlich und mit Nachdruck:
„Solltest du es dir anders überlegen, du bist hier jederzeit willkommen.“
Sahinja wusste, was in Eogils Gedanken vorging: ,Der Feind meines Feindes ist mein Freund, aber besser ist es, wenn er mein Verbündeter wäre‘. Es war schwer hinter seine Fassade aus Takranen, Charisma und Freundlichkeit zu blicken. Da kam ihr plötzlich ein Gedanke, der sie wieder wüten machte.
„Wo befindet sich der Takran der Gedanken? Ich hab dir gesagt was ich herausgefunden habe, nun sag mir auch was du weißt!“
Hatte dieser Schönredner es doch tatsächlich geschafft, sie vom eigentlichen Thema abzulenken. Doch ohne zu zögern antwortete dieser:
„Er befindet sich in den Daugus Höhlen. Die Höhlen durchstrecken sich durch das gesamte Daugus Gebirge und sie schlängeln sich wie ein Labyrinth ins Erdinnere. Der Besitzer dieses Takrans heißt Zaroir. Er ist ein komplizierter alter Mann, der die letzte Hälfte seines Lebens in diesen Höhlen verbracht hatte. Er beherrscht seinen Takran perfekt. Er kann nicht nur deine Gedanken lesen, sondern sie auch kontrollieren. Wenn er gefunden werden will, wirst du ihn finden, ansonsten wird er dich, ohne dass du es merkst, immer tiefer in das Labyrinth führen und du wirst das Tageslicht nie wieder sehen. Du solltest darauf achten, dass deine Gedanken ehrenwert und tugendhaft sind, dann wird er dich zu sich leiten.“
Sofort sank Sahinja der Mut. Tugendhafte und ehrenwerte Gedanken hatte sie noch nie gehabt.
„Wir sind quitt, Sahinja. Für die Verpflegung brauchst du dich nicht zu revanchieren, sieh es als einen Akt der Nächstenliebe. Ich muss mich jetzt wieder um meine Leute kümmern. Ich habe dir ein paar Kleider bringen lassen. Natürlich mit langen Ärmeln, sodass niemand auch nur irgendeinen Takran sehen kann.“
Erwartete er jetzt ein ,Danke‘? Sie war ihm dankbar, das mag schon stimmen, aber das letzte was sie tun würde, wäre dieses eine schreckliche Wort der Schwäche auszusprechen. Soll er es doch aus ihren Gedanken lesen, für was hat er schon diese verfluchte Fähigkeit.
Eogil schüttelte verständnislos den Kopf.
„Solltest du Takrane benötigen, werden dir die Freien sicherlich behilflich sein, wenn du sie mit dem nötigen Respekt behandelst. Außerdem habe ich Vorcar gebeten dir ein neues Schwert zu schmieden, es müsste bereits fertig sein. Sei bitte so nett und komm noch einmal zu mir, wenn du uns verlässt.“, mit diesen Worten trat Eogil aus seinem Zelt.
Mit den Gefühlen und Wünschen anderen Menschen zu spielen, das konnte Eogil. Sahinja fühlte sich nun richtig mies. Nach kurzem Überlegen griff Sahinja schließlich doch zu der Schale und nahm eine getrocknete Apfelspalte heraus.

Kapitel 03 - Das Lager




Die Kleider passten wie angegossen, sie waren leicht dehnbar und lagen Sahinja eng auf der Haut. Sollte es zu einem Kampf kommen, würde ihre Kleidung sie in keinster Form behindern. Der Stoff war aus hochwertiger Qualität, bot jedoch nur wenig Schutz vor der Kälte. Für Sahinja allerdings war das nicht von Bedeutung, ihr Takran genügte um sie vor den eisigen Temperaturen zu schützen. Sie hatte den Verband, den Eogil ihr um den Arm gewickelt hatte abgelegt. Die Kleider verdeckten all jene Takrane, von denen sie nicht wollte, dass andere sie zu Gesicht bekamen.
Nachdem sie ein paar weitere Trockenfrüchte verspeist hatte, verließ sie Eogils Zelt. Die Sonne strahlte hell und tauchte das Lager in ihren warmen Schein. Jedoch vermochte dieser es nicht den Schnee zu schmelzen, der das ganze Lager in seinen weißen Mantel hüllte. In der Ferne sah sie Eogil mit ein paar Kindern spielen. Ein kleines Mädchen trug er am Arm und rannte mit den Jungen umher, als wäre er selbst noch ein Kind. So sah es also aus, wenn er sich um seine Leute kümmerte. Sahinja schüttelte den Kopf, aus Eogil wurde sie nicht schlau.
Sie schlug die entgegengesetzte Richtung ein, weg von Eogil. Bevor sie von Horiors Soldaten gefangen genommen worden war, hatte sie sich schon einmal in Eogils Lager ein paar Takrane besorgt und dabei hatte sie die beste Kombination aus dem zusammengestellt, was sie zur Verfügung hatte. Sie entschied sich, eben diese Takrane wieder zu holen.

Nach etwa einer Stunde hatte sie fast alle beisammen. Auf ihrer Stirn trug sie nun einen Telekinese-Takran, welcher es ihr erlaubte Gegenstände mithilfe des Geistes zu bewegen. In Kombination mit dem Erd-Element auf ihrer linken Hand, war dies eine vielversprechende Angriffskombination. Auf ihrer rechten Hand trug sie einen Beschwörungs-Takran, mit dem sie jede Art von Messern beschwören konnte. Sie bevorzugte Wurfmesser, ein gezielter Treffer aus dem Hinterhalt und ihr Kontrahent war tot. Ebenfalls, in Kombination mit ihrem Perfektions-Takran, hundert Prozentich tödlich. Diesen Takran benutzte sie eher selten, aber sollte der Überraschungsmoment auf ihrer Seite sein, ist es wesentlich einfacher ein Messer zu werfen, als sich in einen langen Kampf verwickeln zu lassen. Und als sie aus dem Kerker geflohen war, hatte ihr ein Messer sogar das Leben gerettet.
Für gewöhnlich, wenn es zu einem Kampf kommt, trug sie ein Schwert mit sich und aus diesem Grund hatte sie sich einen Stärke-Takran auf ihren rechten Arm kopieren lassen. Sahinja war aufgrund ihres Perfektions-Takrans im Schwertkampf nahezu unbesiegbar und mit dem Stärke-Takran würde jeder Treffer gewaltige Auswirkungen mit sich ziehen. Die Kraft eines Bären, gepaart mit dem Geschick und der Eleganz einer Gazelle.
Auf ihrem Bauch trug sie einen Selbstheilungs-Takran. Normalerweise wurden Takrane zur Verteidigung bevorzugt, da Heilungs-Takrane schwer zu erlernen sind und sie zudem keinen Schutz im Kampf boten. Doch war es Sahinjas Philosophie, im Kampf nicht getroffen zu werden. Sollte dies doch einmal der Fall sein, würde sich ihre Wunde wieder schließen, wohingegen sie mit einem Schutz-Takran ihren Verletzungen erlegen wäre. Auf ihrem rechten Bein befand sich ein Lauf-Takran und auf dem linken der von Eogil. Ein EisElement um sich vor der Kälte zu schützen trug sie nun auf ihrem rechten Fuß. Sie hatte vor Jahren den Vorteil erkannt, welcher ein solcher Takran auf dieser Stelle mit sich brachte. Es war ihr nun ein Einfaches auf Wasser zu gehen, indem sie es einfach unter sich fror.
Ihre Ausrüstung war nun beinahe komplett, nur ihr linker Fuß war noch frei. Darauf wollte sie sich einen Veränderungs-Takran kopieren. Ihre Kleider schützten sie zwar vor jeglichen Blicken auf ihre legendären Takrane, doch würde ein weitere Absicherung sicherlich nicht schadhaft sein. Außerdem konnte sie ihre Feinde damit täuschen und sich einen kleinen Vorteil verschaffen. Auf dem Weg zu dessen Besitzer, kam sie an der Schmiede vorbei.
„Guten Tag, Vorcar.“, sagte Sahinja und versuchte dabei so höflich wie möglich zu wirken.
„Guten Tag, Sahinja. Du bist sicher hier um dir dein Schwert zu holen.“
„Ja. Eogil sagte, du hättest diene Arbeit beendet.“
Vorcar gehörte ebenfalls zu jenen Menschen, welche ihre Takrane auf einen einzigen Zweck gebündelt hatten. Auf seiner rechten Hand ein Feuer Takran, um den Stahl zu erhitzen, auf der linken einen Kälte-Takran um ihn zu frieren. Auf beiden Armen waren Stärke-Takrane, mit denen er mit ungeheurer Gewalt seinen Schmiedehammer benutzen konnte. Und Sahinja war sich sicher, dass seine anderen Takrane, welche durch seine Kleider verdeckt waren, ebenfalls dazu beitrugen, sein Werk zu perfektionieren. Was würde er wohl dafür geben, ihren Takran der Perfektion an sich zu tragen.
Vorcar ging zum Waffenständer und nahm unter all den wunderbar und elegant, mit Verzierung geschmückten Schwerter jenes heraus, welches alt, einfach und ohne jeglicher Feinarbeit war.
„Eogil hatte mir erzählt, dass dir Unauffälligkeit wichtig ist. Ich hab dir ein Schwert geschmiedet, welches mehr einem Kinderspielzeug gleicht, als einer Kriegswaffe. Dennoch ist die Schärfe der Klinge und die Robustheit der Waffe mit keiner anderen zu vergleichen. Sie liegt leicht in der Hand, ist wendig und präzise zu führen. Niemand, der dieses Werk genau inspiziert, würde es als todbringende Waffe vermuten. Ich muss zugeben, es hat mir einige Schwierigkeiten bereitet, das Äußere so zu gestalten, dass es jegliche Spur eines Meisterwerks verhüllt.“
Vorcar strahlte selbstsicher und reichte ihr das Schwert.
„Ich müsste auch noch einen überflüssigen Waffengurt haben.“, sagte er anschließend, als er bemerkte, dass Sahinja ein solcher fehlte.
Er eilte in sein Zelt.
Währenddessen begutachtete Sahinja ihre neue Waffe. Vorcar hatte recht: Es glich wirklich mehr einem Kinderspielzeug, als eines der kostbaren Schwerter, welche auf dem Waffenständer hinter der Schmiede hingen. Man könnte sogar meinen, es bestünde aus Holz. Die Klinge strahlte keinerlei Glanz aus, als läge das Schwert schon seit Jahren in einer verstaubten Ecke. Sie fuhr mit dem Daumen leicht über die Schneide und sofort durchzuckte sie ein Schmerz. Sie hatte sich geschnitten. Erstaunlich wie scharf dieses Schwert doch war! Blut sickerte langsam aus dem hauchdünnen Schnitt. Der trügerische Schein hatte sie dazu veranlasst jegliche Vorsicht beiseite zu schieben. Sofort schloss sich ihre Verletzung - der Selbstheilungs-Takran erfüllte seine Aufgabe. Dass Vorcar bei der Schärfe der Klinge nicht gelogen hatte, war ihr nun klar. Es war außerdem so leicht und wendig wie er behauptet hatte und sie war sich sicher, dass er bei der Robustheit dies Meisterwerks ebenfalls nicht gelogen hatte.
„Hier.“ sagte Vorcar und reichte ihr einen Waffengurt.
Sie gürtete ihn sich um die Hüfte. Vermutlich hatte Vorcar auch hier den schäbigsten ausgewählt.
„Und? Hast du Eogils Angebot angenommen?“
„Welches Angebot?“
„Na, dass du dich uns anschließt.“
„Nein.“
Vorcar sah sie verwirrt an. „Warum nicht?“
„Das ist euer Krieg, nicht meiner.“
„Das ist unser aller Krieg, du weißt doch selbst was dieser verdammte Thronräuber getan hat.“
„Nein.“, Sahinja verschränkte die Arme. Sie war dem Schmied dankbar, dass er eigens für sie ein Schwert angefertigt hatte, aber sie hatte keine Lust mit ihm darüber zu reden für wem sie Partei ergriff, oder warum sie sich nicht den Freien anschließen wollte.
„Was, ,Nein‘? Du willst doch nicht etwa behaupten, dass du nicht weißt was Horior getan hat und warum wir gegen ihm Krieg führen?“, fragte Vorcar nun vollkommen verwirrt.
Sahinja wusste nicht viel über diesen Sachverhalt. Alles was sie bisher aufgeschnappt hatte, war, dass der alte König sich nicht für sein Volk interessiert hatte und der neue ein skrupelloser Herrscher war. Wie Eogil in dieses Bild passte wusste sie jedoch nicht.
„Nein, ich hab keine Ahnung.“, sagte Sahinja, um das Gespräch schnellst möglich zu beenden.
Ihre Geduld mit dem Schmied war erschöpft, doch ehe sie den ersten Schritt machte, kam ihr ein anderer Gedanke. Sie hatte die Erklärungsversuche anderer oft ausgeschlagen, doch sie konnte leugnen, dass sie mittlerweile doch ein wenig neugierig war. Von Eogil wollte sie sich nicht belehren lassen, der würde mit seiner Wortgewandtheit, den Sachverhalt so verdrehen, dass er einfach recht haben musste und er als der Gute dastand. Der Schmied würde zwar ebenfalls die Geschichte aus der Sicht Eogils erzählen, aber er würde nicht die blumigen Ausschmückungen verwenden, wie es der Schönredner immer tat.
Vorcar stand noch immer sprachlos und verwirrt vor ihr.
„Und? Sagst du es mir jetzt?“
„Oh. Ähm... ja.“, sagte er ein wenig verdattert auf Sahinjas plötzlichem Interessenwechsel und suchte nach einem passenden Anfang. „Also, du weißt doch wer Pontion war, oder?“
„Ja, dieser Versager, der vor Horior am Thron saß.“, sagte Sahinja schroff und wurde sich sofort klar darüber, dass Vorcar in ihm wohl eher einen weisen Herrscher, als einen elenden Versager gesehen haben musste. Nun ja, so war sie eben, taktlos. Sie bereute es jetzt schon den Schmied um nähere Auskunft gebeten zu haben.
Der Schmied seufzte gequält.
„Ja, es mag schon stimmen dass Pontion zu Zeiten seiner Herrschaft nicht umbedingt seinen Pflichten nachgekommen war, aber er hatte sich geändert. Seit dem Tag, als er gestürzt worden war, hatte er Verantwortung gezeigt. Er hatte immer nur im Sinne des gemeinen Wohls gehandelt und sich selbst hinten angestellt. Als König war er vielleicht ein Versager gewesen, aber seit dem Ende seiner Herrschaft, war er zusammen mit Eogil ein hervorragender Anführer gewesen. Hätte er den Thron wieder erlangt, dann wäre er ein ebenso guter Herrscher geworden.“
Tja, wenn man einmal nicht mehr das hatte, was einem selbstverständlich erscheint, beginnt man umzudenken. Sahinja hatte kein Mitleid mit diesem Pontion. Hoffentlich hatte sie mit Vorcar nicht einen ebensolchen Schönredner gefunden, wie Eogil einer war.
„Also“, fing Vorcar erneut an „Pontion wurde schon früh in sein Amt hineingeboren, da man seine Eltern vergiftet hatte. Er war gewissermaßen noch ein Kind, aber er hatte weise Räte. Einer von ihnen war beispielsweise Eogil gewesen, ein anderer jedoch der Thronräuber Horior. Horior war damals Kriegsmeister gewesen und nur ihm haben wir es zu verdanken, dass der Krieg gegen die Alchemisten ein Ende genommen hatte. Eogil war der Vertreter des Volkes gewesen und hatte stets im Sinne aller gehandelt, so war es zu seinem Ruhm gekommen. Zudem war er auch ein enger Freund Pontions. Doch im Gegensatz zu ihm und im Gegensatz zu allen anderen Königen, hatte er seine Aufgabe ernst genommen. Eogil hatte sich wirklich für das Wohl der Menschen eingesetzt und war jedem Gesuch nachgekommen. Er war jemand von dem die Menschen wussten, dass sie auf ihn Vertrauen konnten. So war er beliebt geworden. Dann kam der Frieden.“, sagte Vorcar schwerlich. „Du musst wissen, dass es da so eine besondere Art von Takran gibt. Man nennt sie die ,legendären Takrane‘.“
Wollte der Schmied ihr gerade erklären was es mit den legendären Takranen auf sich hatte? Die legendären Takrane waren für den Normalsterblichen etwas vollkommen Unbekanntes. Eigentlich wusste keiner so genau woher sie kamen und was sie zu bedeuten hatten. Nun, durch diese Erklärung musste sie durch. Es durfte keiner wissen, dass sie einen solchen trug und somit hatte sie ihm Unwissenheit vorspielen.
„Legendäre Takrane?“, fragte Sahinja nach, als ob sie davon gerade zum ersten Mal hörte.
„Ja“, bestätigte ihr Vorcar „legendäre Takrane. Ist dir schon einmal Eogils Takran aufgefallen? Er leuchtet blau. Nicht rot, wie alle anderen. Er trägt einen solchen legendären.“
„Aha.“, sagt Sahinja gespielt erstaunt.
„Und das ist nicht Eogils einziger legendärer Takran, er trägt auch noch einen zweiten.“
,Er trägt sogar einen dritten‘, besserte Sahinja ihm in Gedanken aus. Von ihrem Takran wusste schließlich keiner und der andere war der Takran der Gedanken. Das wusste Sahinja alles. Sie musste Vorcar wieder in die richtigen Bahnen lenken.
„Und was hat das alles mit Horior zu tun?“
„Horior trägt auch einen dieser legendären Takrane. Ich weiß nicht wer diese Idee hatte. War es Pontion, Eogil oder Horior selbst. Aber Eogil hatte Horior seinen Takran gegeben und dann ist etwas passiert.“
Dieser Idiot! Das sah Eogil wieder ähnlich. Gab er doch glatt Horior seinen Takran. So dämlich konnte nur er sein. Und was dann passiert war, das wusste Sahinja auch, Horior konnte die Fäden sehen, aber wieder musste Sahinja nachfragen um den Schein ihrer Unwissenheit aufrecht zu erhalten.
„Und was ist dann passiert?“, fragte sie gespielt neugierig.
„Das kann ich nicht genau sagen. Horior hat irgendwas gesehen. Irgendwelche Fäden. Keine Ahnung. Hirngespinste wenn du mich fragst. Andererseits Eogil meinte einmal, dass er sie auch sehen kann. Wie auch immer. Das hatte Horior so verrückt gemacht, dass er sich in die Bibliothek eingeschlossen hatte und wie ein Besessener nach Hinweisen gesucht hatte. Eogil und Pontion dachten sich anfangs nichts dabei und ließen ihn sein Treiben.
Anscheinend hatte er irgendetwas in einem Buck über Legenden gefunden. Deshalb war er es, der erstmals von ihnen sprach und sie als ,legendäre Takrane‘ bezeichnete. Er hatte herausgefunden, dass es mehrere gab und wollte unbedingt nach den anderen suchen. Mit den königlichen Truppen wollte er in andere Reiche marschieren, um nach deren Aufenthalt suchen, doch Pontion war seinem Wunsch nicht nachgekommen. Der Krieg gegen die Alchemisten hatte viele Opfer gefordert und die Männer waren des Kampfes müde. Außerdem brauchte der König deren Hilfe um sein Reich neu aufzubauen und zu stabilisieren. Doch Horior war von diesen Takranen besessen und es spielte sich so hoch, dass König Pontion Horior seines Amtes entheben musste. Eine Zeit lang schien alles seinen üblichen Lauf zu nehmen, doch Horior wollte sich rächen und hatte einen Angriff gegen den König geführt. Ein Teil der Truppen stand immer noch hinter ihm und so drang er mit Gewalt bis in den Thronsaal vor. Es kam zu einem Kampf. Die Männer, die den Treueschwur, welchen sie Pontion geleistet hatten, nicht vergessen haben, kämpften gegen die Truppen die dem ehemaligen Kriegsmeister noch immer treu ergeben waren. Horior hatte den Überraschungsmoment auf seiner Seite und verstand sich um weiten besser im Kampfgeschick. Seine Truppen hatte fast alle Räte niedergestreckt, doch König Pontion und Eogil konnten fliehen. Sie planten mehrere Aufstände gegen Horior, der sich in der Zwischenzeit selbst zum König ernannt hatte, doch wurden sie jedes Mal zurückgeschlagen.
Pontion und Eogil hatten zwar mehr Männer auf ihrer Seite, verstanden sich aber nicht in der Kriegslist. Zudem waren jene, die das Wissen um die Kriegslist besaßen auf Horiors Seite und im Schutze der Mauern des königlichen Palastes waren sie nicht aufzuhalten. Pontion musste aus seinem eigenem Reich fliehen und baute mit denjenigen ein Lager auf, welche ihm noch treu ergeben waren.
Venundur war aufgrund des Krieges geschwächt, der Verrat Horiors forderte weitere Menschenleben und als Pontion mit seinen treu Ergebenen das Reich verließ, stand der Handel still, eine Hungersnot brach aus und das Reich drohte zu zerbrechen. Horior war unterdessen von seinem eigenen Volk verhasst und er musste den Krieg gegen Pontion beiseite schieben, um nicht Herrscher über Ruinen und Leichen zu sein.
Während er versuchte das Reich wieder zu stabilisieren, errichtet Pontion, gemeinsam mit Eogil ein Lager und plante sein weiteres Vorgehen. Er schickte Eogil fort, denn er hatte von Gerüchten gehört, wo sich ein weiterer legendärer Takran befand. Immer mehr zogen von der Schreckensherrschaft Horiors fort und das Lager Pontions wurde immer größer. Ich selbst war einer der Nachzügler.
Horior erkannte, dass sein Reich nicht mehr zu retten war. Die Frauen und Männer hassten ihn und sie standen teilweise immer noch hinter dem ehemaligen König. Solange Pontion noch lebte, würden sie ihm keinen Gehorsam erweisen. Und so bündelte er seine letzten Truppen und zog zum finalen Kampf gegen Pontion. Aber hier in unserem eigenem Lager hatten wir den Vorteil und wir konnten sie erfolgreich zurückschlagen, doch Pontion verlor dabei sein Leben. Chaos brach aus und einige Feiglinge liefen wieder zurück zu Horior, aber dann kam Eogil und wir schöpften neue Hoffnung. Jetzt hatte auch er zwei Takrane.“
,Drei‘, besserte Sahinja ihn abermals im Gedanken aus.
„Während Horior es geschafft hat, sein Volk einigermaßen unter Kontrolle zu bringen, ist es Eogil gelungen uns wieder zu einen. Doch in dieser Zeit hatte sich Horior zwei weitere Takrane geschnappt.“
Vorcar schüttelte den Kopf.
„Welche Takrane besitzt Horior?“
„Das weiß keiner, aber über zwei sind wir uns sicher. Den von Eogil und seinen eigenen, den Takran der Unverwundbarkeit.“
Sahinja atmete schwer aus. Unverwundbarkeit, dem war schwer entgegen zu kommen.
„Aber der König ist paranoid, er gibt seinen Takran nicht weiter. Er hat Angst, dass jemand aus seinen eigenen Reihen ihn verraten könnte, so wie er Pontion verraten hatte. Eogil gibt seinen hingegen weiter und wir werden mit seiner Fähigkeit immer stärker. Aber es fällt uns schwer seinen Takran zu beherrschen, was dazu führt, dass nur wenige ihn tragen und noch wenigere ihn beherrschen können.“
Vorcar schwieg eine Weile.
„Zur Zeit sieht es schlecht aus, jede Seite ist enorm geschwächt und hofft, dass der andere nicht angreift.“
Vorcar beendete seine Rede und starrte ziellos in die Wolken.
„Aha.“, sagte Sahinja und ging ohne auf eine Antwort Vorcars zu warten weiter.
Verblüfft und vermutlich ein wenig gereizt auf ihre verschrobene Art hin, sah er ihr nach.
Was Sahinja jetzt noch brauchte war der Takran auf ihrem linken Fuß, um alle anderen zu verändern. Von demjenigen in dessen Besitz er war, wusste sie, dass er ein Spion Eogils war. Sahinja hoffte, dass er sich in dem Zelt befand, in dem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, doch die Wahrscheinlichkeit war größer, dass er sich in Venundur aufhielt, um Informationen für Eogil zu sammeln. Sie hatte unerwartetes Glück, er war genau da, wo sie ihn erhoffte und unerwartetes Pech: Eogil war bei ihm. Sahinja ließ die Schultern hängen.
Sie hatte keine allzu lauten Bewegungen gemacht und ebenso keine anderen Geräusche, dennoch drehte sich Eogil zu ihr und begrüßte sie herzlich. Verdammter Gedankenleser.
„Sahinja, schön dich so schnell wieder zu sehen.“
Das war gelogen, wollte sich Sahinja einreden. In Wahrheit wusste sie jedoch, dass Eogil es ernst meinte. Wie kann man immer nur so unverschämt fröhlich sein. So etwas ist doch krank.
„Hallo Eogil.“, sagte Sahinja mit wenig Begeisterung in der Stimme.
„Ich habe gerade erfreuliche Nachrichten von Arum erhalten. Er hat die selben Informationen aufgeschnappt wie du. Horior hat sich wirklich auf die Reise nach Nefarin gemacht.“
Na Toll, die Folter und die Flucht aus Festung Kubur war umsonst gewesen.
„Sei nicht enttäuscht. Die selbe Information, aus zwei unterschiedlichen Quellen, lässt mit Sicherheit darauf schließen, dass sie korrekt sind.“
„Ich bin nicht enttäuscht.“, sagte sie genervt.
Sahinja war verärgert. Es gab Dinge, die sie nicht umbedingt erleben wollte und eine Folter war ein gutes Beispiel dafür. Es würde viel Zeit beanspruchen diese Erinnerungen aus ihren Gedanken zu streichen. Aber sie hatte Übung im Vergessen. Es gab bereits viele Situationen, deren Erinnerung sie ausgelöscht hatte. Viele Male hatte sie von anderen Menschen gehört, dass sie einfach nicht vergessen konnten. Sahinja hatte etwas was diese nicht hatten. Den Takran der Perfektion. Was sie vergessen wollte, das vergaß sie auch.
„Ich bin nur gekommen um mir den Veränderungs-Takran zu holen, dann verlasse ich euch.“
„Schon so früh? Ich hatte gehofft, du beehrst uns mit deiner Anwesenheit noch ein paar Tage.“
„Ich gehe! Jetzt!“, sagte sie mit Nachdruck.
„Wie du willst. Schließlich bist du keine Gefangene.“, Eogil setzte einen Lächeln bis über beide Ohren auf, dann sprach er in besorgtem Ton weiter. „Es wäre dennoch besser wenn du dich einen Tag erholst. Du hast dich erst vor kurzem von einer schweren Schwäche erholt.“
„Ich schaff das schon.“, fiel sie ihm ins Wort.
Diese väterliche Art an ihm hasste sie wie die Pest. Zwischen ihnen lagen nur wenige Jahre, er sollte nicht so mit ihr sprechen. Doch Eogil fiel ihr wiederum ins Wort und redete entschlossen weiter.
„Außerdem bricht die Nacht bald herein und du solltest zumindest eine ordentliche Mahlzeit im Bauch haben, um überhaupt ans Ziel zu gelangen.“
Sahinja sagte nichts. Eogil hatte wie immer Recht, aber das würde sie ihm nicht an die Nase binden.
„Na schön.“, sagte Sahinja gereizt und wandte ihr Wort an den Spion „Kann ich jetzt den Takran haben?“
Arum, der dem Gespräch zwischen Eogil und ihr nur teilnahmslos gefolgt war, schreckte hoch.
„Ja.“, sagte er, ein wenig irritiert von der schroffen Anrede.

Warten. Sahinja hasste es zu warten. Am liebsten wäre sie gleich aufgebrochen, doch was Eogil gesagt hatte, war nicht so ganz falsch gewesen. Sie hatte ihre volle Stärke immer noch nicht zurückerlangt und eine ordentliche Mahlzeit würde ihr ebenfalls gut tun. Sie war kurze Zeit durchs Lager marschiert und schließlich zum Übungsplatz gelangt.
Schwerter waren eine zweitrangige Waffe, doch in einem fairen Duell ohne Angriffs-Takrane, waren sie immer noch gebräuchlich. Außerdem zog man ohne Schwert niemals in den Kampf. Es konnte viel zu leicht passieren, dass diejenigen von welchen man seine Takrane erhalten hatte, im Kampf getötet wurden. Somit würde man seinen Feinden hilflos gegenüber stehen. Außerdem waren Schwerter ein guter Ersatz falls man sich neue Takrane einübt und weiters wurden sie für die eine oder andere Kampflist benutzt.
„Wer wagt es mich herauszufordern.“, rief sie laut in die Runde und setzte einen überlegenes und siegessicheres Lächeln auf.
Erfreuliches Grölen und Gelächter war von den Umstehenden zu hören. Für gewöhnlich trieben sich nur Männer auf Übungsplätzen herum. Frauen verließen sich für gewöhnlich auf ihre Takrane.
Die Kämpfe wurden eingestellt, keiner wollte es sich entgehen lassen, die Neue in ihrem Kampfgeschick zu beobachten. Vermutlich erwarteten sie einen kurzen und vor allem amüsanten Kampf, indem sie wieder einmal beweisen konnten, dass Frauen den Männern hoffnungslos unterlegen waren.
Jedoch war schon nach kurzer Zeit zu erkennen, wer das Schwert am besten führen konnte. Sahinja war jedem, trotz ihrer Schwäche weit überlegen. Manche trugen Geschicklichkeits-Takrane, Intuitions-Takrane, oder wie sie Stärke-Takrane, um ihre Schwertkunst zu verstärken, doch gegen Sahinja‘s Takran der Perfektion hatten sie keine Chance. Sie bewegte sich wie ein Wirbelsturm und jeder Schlag auf das Schwert ihres Kontrahenten war exakt getroffen und paralysierte zudem noch aufgrund ihres Stärke-Takrans dessen Hand. Vier Männer hatte sie in kürzester Zeit in den festgetretenen Schnee gelegt, davon hatte sie zweien das Schwert aus der Hand geschlagen und dem letzten sein Schwert mit einem kraftvollen Hieb zerschlagen. Das Schwert welches Vorcar geschmiedet hatte, leistete gute Arbeit.
Den Männern war klar, dass sie Sahinja nicht gewachsen waren und sie merkte unter ihnen ein mutloses Aufstöhnen. Der Andrang mit ihr die Klinge zu kreuzen verebbte. Schließlich rief sie aus, dass sie mit ihrer linken Hand kämpfen würde und der Andrang wurde wieder größer. Doch auch die Schwertkunst mit der linken Hand beherrschte sie perfekt, der einzige Unterschied war jener, dass sie ohne den Stärke Takran kämpfte. Der Kampf dauerte nun länger. Sie ließ sich auch mehr Zeit und spielte mit ihren Herausfordern, dennoch war jedem klar, dass sie haushoch überlegen war und dass sie ihr immer noch nicht das Wasser reichen konnten. Selbst der Schwertmeister, welcher angeblich der beste dieser Kunst sein sollte, wurde von ihr wie ein unerfahrener Jüngling durch den Schnee gehetzt.
„Wie wäre es, wenn du gegen jemandem antrittst, der dir gewachsen ist.“
Erfreulicher Beifall waren zu hören. Die Stimme selbst, gehörte Eogil. Anscheinend hatte er mitbekommen, dass sie seine Männer wie Kleinkinder herumschubste und hatte entschieden ihr eine Lektion zu erteilen. Seine drei legendäre Takrane gegen ihre beiden. Diesmal würde sie ihn schlagen.
„Nur zu großer Lord, wenn du dich umbedingt vor deinen Männern lächerlich machen willst.“, sagte Sahinja spöttisch.
„Hochmut kommt vor dem Fall.“, sagte er lächelnd.
Eine solch neunmal kluge Rede musste ja kommen. Am liebsten hätte sie ihm eine stinkende Socke in den Mund gesteckt. Sahinja wog ihre Möglichkeiten ab. Sie besaß neben ihrem Perfektions-Takran noch einen Lauf-Takran und einen Stärke-Takran, der ihr im Kampf gegen Eogil von großen Nutzen sein würde. Auf den Takran der Realität, den Eogil ihr vor kurzen gegeben hatte, konnte sie sich nicht verlassen. Die einzigen Takrane die Eogil helfen konnten, wären sein Realitäten-Takran, und der Takran mit dem er ihre Gedanken lesen konnte. Den Takran der Perfektion welchen er von ihr erhalten hatte, zählte sie bei ihm ebenso nicht mit und den Lauf-Takran den er vor kurzem noch gehabt hatte und der ihm ebenfalls von Nutzen hätte sein können, hatte er gegen einen Veränderungs-Takran getauscht. Auch das würde ein weiterer Vorteil für sie sein. Ihre Schwerttechnik war perfekt, zudem geschwind und zerstörerisch. Eogil müsste sich flink bewegen, um nicht getroffen zu werden und durfte zudem ihre Schwertschläge nicht parieren, ansonsten würde er, wie all seine Männern, sein Schwert nicht lange genug in Händen halten können. Er dürfte nahezu keine Chance haben. Die einzige Möglichkeit die ihm noch verblieb, war die der List, und darauf verstand sich Eogil wie kein zweiter.
Eogil nickte ihr lächelnd zu und Sahinja wurde sich ihres Fehlers bewusst. Er hatte wieder einmal ihre Gedanken gelesen. Sie überlegte für kurze Zeit, ob sie an die Schmerzen der Folter zurückdenken sollte, aber das würde sie genauso wie Eogil auf den Boden werfen und keiner hätte einen Vorteil.
Eogil gab ihr mit einer klaren Geste zu verstehen, dass er ihr den Angriff überließ. Etwas anderes hätte Sahinja auch nicht getan. Sie stürzte auf ihn zu, was durch die Beschleunigung ihres Lauf-Takrans, einem Wimpernschlag glich und schlug mit dem Schwert seitlich nach oben. Eogil machte nicht den Fehler wie seine Männer den Schlag zu parieren, sondern wich diesem aus. Er tänzelte leichtfüßig um sie herum und führte einen Schlag gegen sie, den sie mit geübter Hand abfing. Sahinja setzte ohne zu zögern zum nächsten Schlag an. Eogil konnte sich jedoch in dieser kurzen Zeit nicht mehr in Verteidigungsstellung bringen und die Klinge raste mit der flachen Seite und mit zielsicherer Geschwindigkeit, auf seine Schläfe zu. Plötzlich passierte etwas. Eogil änderte die Realität ab. Sie zielte trotz ihres Perfektions-Takrans viel zu hoch und Eogil konnte sich zusätzlich leicht ducken. Um Haaresbreite hatte sie ihn verfehlt. Sahinja ließ ein verächtliches Schnauben von sich. Eogil lächelte. Sie setzte zu einer heimtückischen Kombination aus Schlägen an, denen Eogil allen geschickt auswich, doch dann hatte sie plötzlich keine Lust mehr und brachte sich selbst in Verteidigungsposition. Sie wollte Eogil nicht verletzen. Dann wurden ihre Gedanken klarer. Eogil hat entweder seinen Charisma-Takran eingesetzt, oder beherrschte den Takran der Gedanken bereits so weit, dass er sie manipulieren konnte. In beiden Fällen musste sie versuchen ihren Geist zu schließen und entschlossener ans Werk gehen. Wieder griff sie an und wieder hätte sie ihn getroffen, aber abermals änderte er die Realität ab.
Mittlerweile wurde der Andrang am Übungsplatz größer und alle feuerten ausnahmslos Eogil an. Er selbst hatte großes Gefallen an diesem Duell. Niemand in seinem Lager konnten ihm das Wasser reichen und er freute sich, in Sahinja eine würdige Gegnerin gefunden zu haben. Sahinja hingegen wollte nur gewinnen, vor allem gegen diesen heuchlerischen Charismatiker.
„Du solltest dir deine Kräfte einteilen, du gerätst außer Atem.“, sagte Eogil noch immer mit einem heiteren Lächeln an den Lippen und tänzelte leichtfüßig umher.
Sahinja ignorierte seinen Kommentar und schlug mit erneuter Wucht auf ihn ein, doch Eogils Realitäten-Takran, ließ sie jedes Mal ins Leere treffen. Eogil konnte die Realität immer nur ein bisschen abändern und auch nicht für längere Zeit. Ähnlich einem Schachmatt, musste sie einen Schlag führen, der ihn treffen würde, selbst wenn er die Realität abzuändern versuchte.
Doch Eogil war ein geschickter Kämpfer und ließ sich nicht in diese Falle locken. Er hatte sich sein Kampfgeschick mit langen Übungen angeeignet. Gleich zu Beginn hatte er verstanden, dass er ihre Schläge nicht parieren durfte. Er benutze sein Schwert nur, um ihre Schläge abzulenken. Hin und wieder, wenn er eine Lücke in ihrer Verteidigung fand, nutzte er seine Chance. Dennoch war es für sie kein Problem sich aus dieser Lage zu befreien. Wie es schien waren sie sich ebenbürtig.
Doch Eogil hatte wieder einmal Recht behalten. Die ständigen Angriffe, die sie gegen ihn führte, verausgabten sie. Ihr Atem glich nun mehr einem Keuchen. Anscheinend hatte Eogil, nicht wie sie auf einen schnellen Sieg gesetzt, sondern auf einen längeren Kampf, indem sie ihre gesamte Kraft aufbrauchte. Eogil selbst war noch kein bisschen außer Atem. Wenn das seine List war, würde er auf lange Sicht den Kampf gewinnen. Sie musste sich zurückhalten und ihre Energie nachhaltiger einsetzen. Doch in genau diesem Moment tat Eogil etwas vollkommen Unerwartetes. Er umfasste sein Schwert mit beiden Händen und parierte ihren Hieb aus voller Kraft. Sahinja schoss, durch die Vibration des Aufschlages beider Schwerter, ein stechender Schmerz in die Hand. Um wie viel mehr mussten jetzt wohl Eogils Hände schmerzen? Er hätte ihren Schlag leicht ablenken können, dennoch hatte er sich dafür entschieden ihn zu parieren und jetzt wurde ihr auch klar wieso er es getan hatte. Er drehte sich aus seiner Position hoch und zielte mit der Schwertseite auf ihre Schläfe. Sahinja duckte sich gegen ihren Willen. Eogil versuchte es wieder mit dem Charisma-Takran. Er wollte sie treffen und da es sein Wunsch war, wollte sie ihm diesen gewähren. Sie schaffte es aber dennoch, sich seinen Einfluss entgegen zu setzen und duckte sich erfolgreich. Eogil aber änderte die Realität ab und traf sie. Sahinja flog ungelenk in den zertretenen Schnee. Der Kampf war vorüber. Eogil hatte gewonnen und die umstehenden Männer und Frauen jubelten. Sahinja hatte ein drittes Mal gegen Eogil verloren.
Für kurze Zeit sah sie nur Schwärze, dann klärte sich ihr Blick. Eogil hatte sie nur leicht getroffen, dennoch dröhnte und pochte ihr Schädel. Als ihr Blick klarer wurde, verstand sie für kurze Zeit das Verhalten Eogils nicht. Er eilte schnellen Schrittes ziellos umher, schüttelte seine Hände und stöhnte als hätte er kochendes Wasser verschluckt. Dann verstand sie wieso. Es musste ihm mehr Schmerzen bereitet haben ihren Schlag zu parieren als sie anfangs gedacht hatte. Dann kam er zu ihr. Er hatte seine beiden Hände unter seine Oberarme geklemmt um den Schmerzen entgegen zu wirken. Er sah aus wie eine fußkranke Ente. Sein Kopf war knallrot und seine Augen waren glasig. Sie musste trotz ihrer Niederlage und gegen ihren Willen vor Schadenfreude lächeln.
„Ich würde dir ja gern meine Hand anbieten“, sagte er mit feuchten Augen und gequälter Stimme, „aber du würdest sie ja doch nicht annehmen.“
Damit hatte er recht. Von Eogil würde sie sich niemals aufhelfen lassen, stattdessen erhob sie sich selbst. Eogil sah auf seine Hände. Sie waren rot wie Tomaten.
„Lord Eogil?“, sagte eine Frau aus der Menge fragend.
„Xansa, dich schickt der Himmel.“
Ohne ein weiteres Wort richtete die Frau ihre rechte Hand über die Eogils und ein funkelndes Licht erstrahlte. Langsam begann Eogils Hand wieder seine natürliche Farbe anzunehmen.
Der Kampf zwischen ihr und Eogil hatte anscheinend das ganze Lager auf sie aufmerksam gemacht. Um sie herum stand nun eine riesige Ansammlung von Menschen. Das einzige Gesprächsthema war Eogils Sieg und zu diesem gratulierten sie ihm herzlich.
„Soll ich mir eure Verletzung ansehen?“
Das Wort war an sie gerichtet gewesen. Es war ein Mädchen, das im Begriff war eine Frau zu werden. Teile ihrer kindlichen Züge waren verschwunden und zeigten ein junge gut aussehende Frau. Sie wartete mit erwartungsvollem Blick auf ihre Antwort.
„Nein. Ich komme schon klar.“, sagte Sahinja schroff und entfernte sich von der Menge, aus dem Lager und in Richtung Wald. Die Dämmerung war bereits eingebrochen. Erst jetzt merkte sie, wie lange der Schlagabtausch gegen Eogil gedauert hatte. Sie lehnte sich gegen einen Baum und dachte über den Kampf nach. Eogil hatte gewonnen - schon wieder! Mit dem Eingeständnis kam auch der Zorn, aber nicht auf Eogil, sondern auf sie selbst. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass Eogil sie nur mit einer List besiegen konnte und dennoch hatte sie nicht darauf geachtet. Eogil hatte sie in Sicherheit gewogen und den richtigen Moment abgewartet. Ein Anfängerfehler und sie hatte ihn begangen. Ihr Schädel schmerzte noch immer und sie spürte ihren Pulsschlag schmerzhaft in den Adern ihres Kopfes. Ein gerechter Schmerz, wie sie fand.

Die Zeit verstrich und die Nacht war hereingebrochen. Der Selbstheilungs-Takran hatte seine Arbeit erfolgreich ausgeführt. Der Schmerz gehörte der Vergangenheit an und das Pochen in ihrem Kopf war wie ausgelöscht. Es wäre schneller gewesen, sich von dem Mädchen heilen lassen, aber ihr Stolz hatte dies nicht zugelassen.
Ihr Zorn war verflogen, Endtäuschung hatte sich in ihr breit gemacht. Sie war noch nie von jemandem besiegt worden. Mit Ausnahme von Eogil, der es nun schon zum dritten Mal geschafft hatte. Nicht einmal wütend konnte sie auf ihn sein, es war ihre Schuld gewesen. Er hatte ihr eine Falle gestellt und sie ist festen Fußes darauf gesprungen. Sie versuchte sich einzureden, dass er nur gewonnen hatte, da er einen legendären Takran mehr als sie besaß, aber letztendlich wusste sie, dass sie Aufgrund ihrer Unachtsamkeit verloren hatte.
Im Lager angekommen, saßen sie alle in der Nähe eines Feuers und redeten in dessen Schein ausgiebig miteinander. Über dem Feuer war ein Kessel angebracht, in dem die Frauen das abendliche Mahl zubereitet hatten. Sie ging darauf zu, nahm sich eine Schale und schöpfte sich aus dem Kessel ein. Dazu nahm sie ein großes Laib Brot und setzte sich auf einen, von den anderen abgelegenem Baumstamm.
„Du bist Sahinja.“, sagte jemand zu ihrer rechten und setzte sich neben ihr. Es war das Mädchen, dass ihr schon zuvor Hilfe angeboten hatte.
„Da erzählst du mir nichts neues.“, antwortete sie mit vollem Mund, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
„Du bist eine starke Kämpferin.“
„Hat aber nicht gereicht.“
„Niemand kann Lord Eogil besiegen, er ist der stärkste von allen.“
Sahinja sagte nichts. Wenn das Mädchen sie reizen wollte, wählte sie genau die richtigen Worte.
„Suchst du auch nach den ganz starken Takran, wie unser großer Lord Eogil?“
Sahinja ließ genervt die Luft aus, sie hatte keine Lust sich mit dem Mädchen zu unterhalten und wenn sie noch einmal ,großer Lord Eogil‘ hörte, könnte es sein, dass zwei Elternteile ein Kind weniger hatten.
„Ja.“ antwortete sie schließlich, um das Gespräch so kurz wie möglich zu halten.
„Du bist eine Einzelgängerin, reist durch die Welt, kämpfst für das Gute, wirst von jedem respektiert und geachtet und erlebst die erstaunlichsten Abenteuer... Das muss doch total aufregend sein.“, sagte sie schwärmerisch.
Am liebsten hätte sie ihr widersprochen. Was hatte dieses Gör denn für eine Ahnung? Das Leben als Einzelgängerin war einsam, obwohl sie es genoss auf niemandem achten zu müssen. Für das Gute kämpfte sie schon gar nicht. Sie kämpfte für die Seite, welche ihr den größten Vorteil versprach, was momentan Eogils Seite war. Respektiert und geachtet wurde sie in den seltensten Fällen, eher gemieden und gefürchtet und ihre Abenteuer endeten meist brutal und vor allem mit viel Blut. Alles was sie wollte, war die übrigen Takrane zu finden und so lange wie möglich zu überleben. Doch anstelle sie zu belehren nickte sie einfach nur teilnahmslos.
„Weißt du, mein Vater sagt ständig, ich solle mich aus den Kriegssachen und dem Kampfgetümmel heraushalten. Ich soll ein besseres Leben führen als er, meine Pflichten als Frau erfüllen und einen anständigen Mann heiraten. Ich hasse das. Ich will das alles nicht. Ich will wie du sein, durch die Welt ziehen und Abenteuer erleben.“
Sahinja musste sich etwas einfallen lassen, ansonsten würde dieser Quälgeist ihr noch ihre ganze Lebensgeschichte erzählen. Das war das letzte was sie jetzt brauchte.
„Weißt du, ich habe mich gefragt, ob ich dich nicht viellicht auf deinen Reisen begleiten könnte. Ich bin eine ausgezeichnete Heilerin und ich lerne schnell. Einen Heiler kann man doch immer brauchen, oder?“
„Ich habe einen Selbstheilungs-Takran und ich gehe meine Wege alleine, deshalb heißt es auch ,Einzelgängerin‘.“
„Aber da könnte man doch einmal eine Ausnahme machen. Ich würde dir auch sicher nicht zur Last fallen und wenn du mit mir nicht zufrieden bist, dann schickst du ich einfach wieder zurück.“
Das letzte was Sahinja wollte, war für dieses Mädchen die Babysitterin zu spielen. Sie musste sich etwas einfallen lassen um sie loszuwerden.
„Ich werde es mir überdenken, reden wir morgen weiter, jetzt brauche ich einen Augenblick für mich.“
„Natürlich.“, sagte sie hoffnungsvoll. „Du wirst es nicht bereuen.“
Dann verschwand sie endlich. Was sie nicht wusste war, dass Sahinja bereits morgen, sobald die Sonne aufgeht, von hier verschwunden sein würde.
Sahinja aß in Ruhe zu Ende, als sie kurz darauf ein weiteres Mal unterbrochen wurde.
„Terana bewundert dich.“
Es war Eogil. Sie seufzte auf. Hatte sich die ganze Welt gegen sie verschworen? Ihn konnte sie nicht so leicht abschütteln. Deshalb ließ sie sich zwangsweise mit ihm auf ein Gespräch ein.
„Das Mädchen von vorhin?“, fragte sie teilnahmslos.
„Ja. Du hast sie schwer beeindruckt. Sie hasst es wie ein kleines Kind behandelt zu werden, während die Jungen in ihrem Alter in Kampfgeschick unterrichtet werden. Sie sieht alles als großes Abenteuer aus dem sie ausgeschlossen wird.“
„Solltest du nicht bei deinen Leuten sitzen und über deinen glorreichen Sieg labern.“
„Ich bin sicher, das können sie auch ohne mich.“, sagte Eogil schwungvoll und setzte sich neben sie.
Sahinja stöhnte auf.
„Jetzt habe ich es endlich geschafft diese Nervensäge loszuwerden und was geschieht? Es kommt eine noch größere.“
„Ich habe schließlich einen Ruf zu wahren, den kann ich mir von Terana doch nicht nehmen lassen.“, sagte Eogil gespielt empört.
„Was willst du, Eogil.“
„Wieso glaubst du, dass ich etwas von dir will? Kann es nicht sein, dass ich mich mit dir einfach nur freundschaftlich unterhalten will?“
„Nein kann es nicht, also komm endlich auf den Punkt.“
„Direkt wie eh und je. Also gut. Wie sieht dein Plan aus? Reist du nach Nefarin oder zu den Daugus Höhlen?“
Sahinjas hatte vorgehabt, Eogil die Information, wohin sich der König bewegte, zu beschaffen, damit er sich um die Angelegenheit kümmert. In der Zwischenzeit hätte sie sich den Takran der Gedanken besorgt und wäre anschließend zu Eogil zurückgekehrt um sich den anderen zu holen. Jedoch hatte sie nicht mit den Schwierigkeiten gerechnet, welche der Takran der Gedanken mit sich bringt. Tugendhafte und ehrenvolle Gedanken. Wer dachte sich so einen Blödsinn aus?
„Ich werde nach Nefarin reisen“, fing Eogil an „aber es wird zu lange dauern ohne einen Lauf-Takran. Vor kurzen hatte ich noch einen besessen und ich könnte ihn leicht wieder beherrschen, allerdings müsste ich dafür den Veränderungs-Takran geben.“
„Was soll das? Willst du mich erpressen?“
„Ach, Erpressen ist so ein böses Wort. Bezeichnen wir es als einen Vorschlag. Du beherrscht deinen Lauf-Takran perfekt. Wenn du morgen früh aufbrichst, kannst du Horior noch einholen. Ansonsten müsste ich mich ihm in den Weg stellen. Jemand muss es tun.“
Und wieder versuchte Eogil sie nach seinen Wünschen zu manipulieren. Entweder würde jeder ihren Takran auf Eogils Arm sehen können, oder sie müsste ein weiteres Mal nach seiner Pfeife tanzen. Wie sehr sie ihn doch hasste. Mit der Bedingung, dass er einen Veränderungs-Takran tragen muss, hatte sie sich selbst ein Ei gelegt. Jetzt hatte er sie in der Hand. Warum hatte er sich den Veränderungs-Takran nicht an einer anderen Stelle machen lassen? Aber nein, er hatte umbedingt seinen Lauf-Takran eintauschen müssen.
Andererseits hatte sie ohnehin nichts besseres zu tun. An den Gedanken-Takran würde sie nicht gelangen. Wieso also nicht Nefarin. Das war die einzig vernünftige Alternative, auch ohne Eogils Vorschlag.
„Horior besitzt vierzehn Tage Vorsprung und wir wissen, dass er ebenfalls keinen Lauf-Takran trägt. Nefarin liegt zweiundzwanzig Tagesmärsche entfernt und wenn du dich beeilst und morgen aufbrichst, könntest du es noch vor ihm schaffen.“
Sahinja wusste, dass er Recht hatte, doch sie hasste es, dass Eogil sie nach seinen Wünschen beeinflusste und sie somit genau das tat, was er von ihr wollte. Am liebsten hätte sie ihm widersprochen, nur um ihm eines auszuwischen. Sie benahm sich wie ein störrisches Kind, doch es fiel ihr schwer über ihren eigenen Schatten zu springen.
„Gut, dann werde ich eben nach Nefarin reisen.“, sagte sie trotzig. „Aber was stellst du dir eigentlich vor, was ich dort machen soll? Mich dem König stellen und hoffen, dass er mir unterliegt?“
Eogil fing an zu lachen.
„Horior besiegen? Er besitzt zwei legendäre Takrane mehr als du, unter anderem den Takran der Unverwundbarkeit und sicherlich eine Hand voll Soldaten, die er um sich geschart hat. Außerdem wird er sicher nicht fair kämpfen. Glaub mir, ich kenne ihn.“, Eogil legte eine kurze Pause ein. Anscheinend dachte er an eine vergangene Szene zurück. „Nein. Finde einfach den- oder diejenige und versuche ihn von Horior fern zu halten. Wir können es uns nicht leisten, dass er noch mächtiger wird. Du nicht und wir nicht. Außerdem will er oder sie sicher nicht den Rest des Lebens hinter Gittern verbringen.“
Und wieder einmal hatte Eogil genau das erreicht was er wollte. Sie hasste es, aber sie würde das tun, um was er sie bat.
„Ich bin müde und habe morgen eine lange Reise vor mir. Ich geh schlafen.“, sagte sie um endlich von ihm weg zu kommen.
„Ich begleite dich.“, bot Eogil ihr an. „Weißt du, da du dich jetzt vollkommen erholt hast, dachte ich mir, du könntest in einem anderen Zelt schlafen, sodass ich endlich wieder mein Bett benutzen kann. Ich werde dich zu deiner neuen Unterkunft führen. Außerdem werde ich dafür sorgen, dass morgen beim ersten Sonnenstrahl ein Rucksack mit genügend Proviant für deine Reise bereit steht. Einen Tag darauf, sobald alles im Lager während meiner Abwesenheit geregelt ist, werde ich dir mit ein paar Freien nach Nefarin folgen.“

Kapitel 04 - Nefarin




Der Rucksack mit Proviant stand, wie Eogil es versprochen hatte, als sie aufwachte, bereit. Schon bei den ersten Sonnenstrahlen war Sahinja aufgebrochen, hatte das Haupttor, an denen zwei übermüdete Wachen standen passiert und hatte sich auf die Reise begeben. Drei Tage waren seitdem vergangen und die Hälfte des Weges war geschafft. Die einzigen Pausen, welche sie sich gönnte, waren die um Atem zu schöpfen, zu schlafen oder um zu essen. Es herrschte weit unter Null Grad und auch wenn Sahinja kälteunempfindlich war, ihr Essen war es nicht. Das Brot und der Käse, welchen Eogil ihr eingepackt hatte, musste sie mehr lutschen als kauen. Sie hatte auch keinen passenden Takran oder Gegenstand um es zu wärmen. Da reiste sie schon so lange alleine und vergaß immer noch auf die einfachsten Dinge.
Zu ihrem Lauf-Takran hätte sie auch einen Ausdauer-Takran benötigt. Damit hätte sie ohne eine Pause einlegen zu müssen, unter vollster Geschwindigkeit laufen können. So musste sie hin und wieder gehen, um Atem schöpfen zu können. Leider hatte niemand, in Eogils Lager, einen solchen besessen.
Unter rasender Geschwindigkeit passierte sie eine enge Schlucht. Hier war sie von Wind geschützt und der Schnee hatte es ebenfalls nicht geschafft, sich in dieser Enge zu sammeln. Plötzlich blieb sie in der Luft stecken. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Sofort merkte sie, was hier gespielt wurde. Irgendein Spinner hatte einen Fesselungs-Takran auf den Boden kopiert. Um Takrane auf Wände, oder auf den Boden zu kopieren, benötigt man einen eigenen, ganz besonderen Takran welcher sehr selten war und zudem einen enormen Wert hatte. Auch der Fesselung-Takran war nicht häufig zu finden. Mit der selben Kombination aus Takranen hatte sie der Foltermeister gefesselt gehabt. Sahinja befürchtete schlimmes. Sie versuchte ihre Füße zu bewegen, doch sie rührten sich keinen Millimeter. Auch die Position ihre Hände und ihres Kopfes konnte sie kein Stück verändern. Sie saß in einer Falle. Ohne Zweifel in der, eines Takran-Jägers. Die Umgebung schien zu passen. Der Weg durch die Schlucht war eng und die Wahrscheinlichkeit war groß, dass ein Unachtsamer auf genau diese Stelle trat, auf welcher sich der Takran befand. Wie um ihre Vermutungen zu bestätigen, trat ein Mann mittleren Alters aus einem Felsvorsprung hervor und grinste ihr überlegen ins Gesicht.
„Sieh einer an.“, sagte dieser mit hämischer Stimme. „Was für ein hübscher Fang.“
Ein Takran-Jäger. Dieses Gesindel verbreitete sich immer mehr in Venundur und weder Eogil noch Horior hatten genug Ressourcen um ihnen ihnen Einhalt gebieten. Jeder behielt seine Truppen zurück, um sich vor einem möglichen Angriff des jeweils anderen zu schützen. Der Takran welchen Sahinjas Gegenüber auf der Stirn trug, entpuppte ihn sofort als einen Jäger. Ein Takran, mit welchem man andere Menschen aufspüren konnte. Sobald sich jemand in der Nähe befand wusste er, wo dieser sich befand. Er hatte sich in dieser Schlucht verborgen und auf den erstbesten gewartet. Und wie jeder andere fragte er erst im Nachhinein und hoffe, dass er einen guten Fang gemacht hatte. Wenn er Sahinja am Sklavenmarkt verkaufen würde, wäre er ein Krösus unter seinesgleichen. Doch so weit würde sie es nicht kommen lassen.
Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht gegrinst. Dieser Takran-Jäger war ein Feigling, er scheute, wie so viele, den offenen Kampf. Er war alleine und er wusste nicht mit wem er sich anlegte. Sahinja visierte den Stein vor ihr an und ließ ihn mit Hilfe ihrer telekinetischen Fähigkeiten auf sich zufliegen. Der Stein traf sie hart, aber er schleuderte sie aus den unsichtbaren Fesseln. Langsam und mit Überlegenheit in ihrem Blick richtete sie sich auf. Dem Takran-Jäger hingegen stand jedoch nicht die Furcht im Gesicht, wie sie es erwartet hatte. Er wirkte erstaunt.
„Das muss weh getan haben“, sagte er amüsiert. „war aber sehr kreativ. Du bist die erste die dieser Falle entkommen ist. Ich gratuliere.“
Mit einer Handbewegung und mithilfe ihres Erd-Elements ließ sie die Erde an der Stelle beben, wo sich der Takran befand, bis er schließlich verschwunden war.
„Du fängst an mir auf die Nerven zu gehen.“, schrie er sie plötzlich los und schlug mit der Faust gegen die Felswand. Im selben Moment flog zu ihrer linken ein faustgroßer, zylinderförmiger Strahl, bestehend aus Gestein auf ihren Kopf zu.
Dieser Jäger war gut, anscheinend besaß er ebenfalls einen Erd-Takran. Dennoch hatte er sich mit der Falschen angelegt. Sahinja hatte die Gesteinsmasse, welche auf sie zuflog, rechtzeitig bemerkt und war ohne Zögern auf ihn zugestürmt. Im Laufen zog sie ihr Schwert. Nun hatte auch der Unbekannte erkannt, dass sein Angriff ins Leere gegangen war. Er stellte sich aufrecht ihr gegenüber und sein ganzer Körper verwandelte sich in eine Steinstatue.
Anscheinend besaß er auch einen Erd-Takran auf seinem Bauch. Die Erde war das mächtigste Element, es war sehr selten und noch viel schwerer zu beherrschen. Wer jedoch viele ähnliche, oder gar gleiche auf seinem Körper trug, beherrschte jeden einzelnen umso schneller und umso besser. Anscheinend beherrschte der Fremde seine Erd-Takrane meisterhaft, dennoch konnten er ihr nichts entgegensetzen. Sahinja besaß schließlich zwei der legendären Takrane und etliche andere mächtige.
Sahinja entglitt, noch während sie auf ihn zustürmte, ein entzückendes Lächeln von den Lippen. Sie rannte mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf ihn zu, holte weit mit ihrem Schwert aus und traf ihn, mit der vollen Wucht ihres Stärke-Takrans, auf der Brust. Drei Dinge passierten zugleich. Erstens: Der Aufschlag des Schwertes auf seine steinerne Brust, ließ einen riesigen Funkenregen auf beide nieder. Zweitens: Der Steinkoloss selbst, flog mehrere Schritte zurück und landete mit dem Hintern voran, unsanft auf den felsigen Boden. Und Drittens: Sahinjas Schwertklinge brach vom Heft ab und flog in hohen Bogen über sie hinweg. Ihre Hand schmerzte fürchterlich. Soviel zu der Stabilität von Vorcars Schmiedekunst. Diesen Angriff hatte sie sich anders vorgestellt. Sie hatte erwartet, dass die Klinge des Schwertes, trotz seiner steinernen Verteidigung, durch seinen Körper, wie durch warme Butter gleiten würde und ihn in zwei Teilen auf den Boden hinterlässt.
„Aua.“, schrie der Steinkoloss sie zornig und überrascht zugleich an und hielt sich die Brust. „Das hat Weh getan.“
Unglaublich! Er stand wieder auf! Sie hatte diesen Takran-Jäger schwer unterschätzt. Ab jetzt würde sie härtere Geschütze auffahren müssen. Mithilfe des Erd-Elements brach sie schädelgroße Gesteinsbrocken aus den Wänden und ließ diese mittels ihrer telekinetischen Fähigkeiten um sich, in enormer Geschwindigkeit, kreisen.
„Ich hoffe, du bist den Aufwand wert!“, stieß er zornig hervor, als er die kreisenden Steine sah.
Er richtete seine rechten Hand auf einem, am Boden liegenden Felsbrocken und ließ diesen, in rasender Geschwindigkeit, auf Sahinja zufliegen. Nur einen Augenblick später, hatte auch Sahinja einen ihrer Steine auf den seinen zufliegen lassen. Es gab einen ohrenbetäubenden Aufschlag und es regnete Staub und Gesteinssplitter. Bei einem solchen Duell war Sahinja im Vorteil, da sie Aufgrund ihrer telekinetischen Fähigkeiten den Verlauf der Steine beeinflussen konnte. Die steinerne Figur konnte lediglich einen Impuls geben und hoffen, dass dieser Impuls richtig gesetzt war, sodass er sein Ziel erreichte.
Der Unbekannte war nun sichtlich entnervt. Anscheinend war er, wie Sahinja, nicht umbedingt einer der geduldigsten Menschen. Sahinja ließ nun einen Stein nach dem anderen auf ihn zufliegen. Im selben Moment erneuerte sie ihren steinernen Schild mit weiteren Gesteinsbrocken aus der Felswand. Der Takran-Jäger war zwar gegen physischen Schaden gewappnet, doch er war nicht umbedingt der Schnellste. Er wehrte die auf ihn zufliegenden Steine mit beiden Händen ab, doch durch die enorme Anzahl, welche auf ihn zuflog, konnte er sich nicht vor allen schützen.
Trotz des Staubes, welcher in der Schlucht immer dichter wurde, konnte sie erkennen, wie der zuvor noch mit Steinen beschossene Unbekannte in den Boden versank. Das es möglich war in die Erde abzutauchen war Sahinja neu. Anscheinend besaß er auch auf seinen Füßen Erd-Elemente. Genervt ließ sie die Luft aus. Gut, wenn er nach unten geht, würde sie nach oben gehen.
Sie richtete ihre linke Hand auf das Stückchen Erde unter ihren Füßen und eine Steinsäule schoss unter ihr, anderthalb Körperlängen in die Höhe. Einen Schritt hinter ihr, wo sie zuvor noch gestanden hatte, tauchte der Steinkoloss auf.
„Wie eine Katze, die hilflos vor einem Hund wegläuft.“, sagte er hämisch und schlug mit der Faust auf die Steinsäule unter ihr ein.
Noch im Sturz ließ Sahinja sämtliche Steine, welche sie umkreisten auf ihn hinabstürzen. So, dass er von allen Seiten gleichzeitig getroffen wurde. Sie selbst zielte mit der Faust, in Kombination des Stärke-Takrans auf sein Gesicht. Doch Sahinja hatte ihn immer noch unterschätzt, zudem hatte sie eine riesige Dummheit begangen. Was ihr jedoch erst jetzt klar wurde. Er war durch seine Erd-Takrane nahezu von jeglichem physischen Schaden immun. Die Gesteinsbrocken prallten an seinem Körper ab und der Faustschlag mit dem sie auf seinen Schädel zielte, würde ebenfalls keinerlei Wirkung zeigen. Zudem hatte der Steinkoloss zu einen Faustschlag angesetzt und diesem konnte sich im Fall nicht mehr entgehen. Er würde sie mit voller Wucht treffen und sie bewusstlos schlagen. Panik machte sich in ihr breit. Sie besaß zwei der legendären Takrane und schaffte es nicht, sich gegen einen einzelnen Takran-Jäger zu behaupten.
Was dann geschah, war für Sahinja neu. Es war der erste Moment, in dem sie Eogils Takran einsetzte. Instinktiv wusste sie was sie zu tun hatte. Sie änderte die Realität ab und während der Steinkoloss nun weiter rechts zuschlug, fiel sie ein Stückchen weiter links zu Boden. Es funktionierte, doch sie beherrschte diesen Takran nicht annähernd so gut wie Eogil. Die steinerne Faust streifte sie quer über den Rücken, zerriss ihre Kleider und schürfte ihre Haut auf. Sahinja kam ungelenk auf den Beinen auf und rollte sich weg. Die wandelnde Statue sah ihr verwirrt nach. Mit einem Nichttreffen hatte er nicht gerechnet. Blut rann Sahinja vom Rücken und sie musste die Zähne zusammenbeißen um den Schmerzen entgegen zu wirken.
„Schön“, sagte er genervt „bringen wir es zu Ende.“
Sahinja hob die Steine um sich erneut an, doch gleich darauf ließ sie diese wieder auf den Boden fallen. Mit physischen Angriffen konnte sie gegen ihn nichts anrichten. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen. Sie brauchte andere Elemente oder Geist-Angriffe. Doch das einzige, was sie zu bieten hatte, war der Kälte-Takran auf ihrem Fuß. Diesen trug sie jedoch nur um sich vor den eisigen Temperaturen zu schützen. Möglicherweise konnte sie ihn mit ein paar gezielten Tritten zu Boden schicken. Sofort verwarf sie diesen Gedanken. Er war zwar langsam, aber irgendwann würde ihm ein glücklicher Schlag gelingen. Sahinja konnte sich nicht darauf verlassen, dass der Realitäten-Takran von Eogil, ihr ein weiteres Mal das Leben retten würde.
„Betrachten wir es als ein Unentschieden.“, sagte Sahinja.
Die Steinfigur fing an zu lachen.
„Okay, diesmal werde ich dich gehen lassen, doch das nächste Mal bringen wir es zu Ende.“
Mit dieser Wendung hatte Sahinja nicht gerechnet. Ließ er sie wirklich gehen? Vermutlich war ihm klar, dass er sie nicht einholen konnte, wenn sie erst einmal losgerannt war und versuchte erst gar nicht sie aufzuhalten. Doch er könnte sie mit Steinwänden aufhalten, welche ihr den Weg versperren würden, oder sie mit dem Fesselungs-Takran zurückhalten. Doch die Steinwände konnte sie einfach mit ihrem eigenen Takranen beseitigen und wenn er den Fesselungs-Takran von Hand nutzen wollte, konnte er sich selbst nicht mehr bewegen.
Die Steinschichten um ihn verschwanden und vor ihr stand nun wieder der Mann mittleren Alters, aus Fleisch und Blut.
„Verlass dich drauf.“, sagte Sahinja und setzte ihren Weg, nach dieser Zeitverzögerung fort.
„Verrate mir noch vorher, welchen Takran du besitzt, damit ich weiß, ob ich meine Entscheidung bereuen soll.“, rief er ihr nach.
Sahinja blieb stehen und drehte sich lächelnd zu ihm um.
„Ich werd es dir nicht verraten“, sagte Sahinja in ruhigem Tonfall „aber du kannst davon ausgehen, dass du soeben ein Vermögen verloren hast.“
Dann lief sie weiter.
„Man nennt mich den Steinmann! Merk dir diesen Namen, du wirst ihn noch zu hören bekommen!“, rief er ihr nach.
Steinmann? - Welch selten dummer Name. Etwas dämlicheres hätte er sich wohl nicht ausdenken können. Sie rechnete mit einer weiteren Falle, welche der ,Steinmann‘ ihr noch gelegt hatte, doch er hielt Wort und ließ sie ihrer Wege ziehen.

Die Wunde auf ihrem Rücken schloss sich durch den Selbstheilungs-Takran in kürzester Zeit und nach zwei weiteren Nächten erreichte sie gegen Abend Nefarin.
Nefarin gehörte bereits zum Königreich Isbir und wird von einem Jarl verwaltet. Wie dieser Jarl hieß wusste Sahinja nicht. Es war ihr auch egal, sie würde nicht lange bleiben und sich, wenn möglich, auf keinen Streit einlassen.
Jarle waren ehrenwerte Männer und Frauen, die größere Städte verwalteten. Der König stand zwar über ihnen, aber da er sich nicht um alles kümmern konnte, brauchte er vertrauenswürdige Menschen, die vor Ort waren und sich in seinem Namen der Probleme annahmen.
Nefarin gehörte zwar nicht zu den größten Städten, dennoch tummelten sich hier weitaus mehr Menschen, als in Eogils Lager. Sahinja wusste nicht wonach sie Ausschau halten sollte, deshalb entschied sie sich erstmals ein Zimmer für die Nacht zu mieten. Doch dafür brauchte sie Geld und Geld hatte sie keines. Also musste sie es stehlen.
Es dauerte keine halbe Stunde und sie hatte genügend erbeutet. Dank ihrer Perfektion hatte sie niemand erwischt. Sie mietete für eine Woche ein Zimmer in einer Gaststätte und da sie noch genügend Geld übrig hatte, bestellte sie sich eine warme Mahlzeit. Das Essen, welches Eogil ihr mitgegeben hatte, war immer noch gefroren und sie freute sich, endlich wieder eine warme Mahlzeit zu sich nehmen zu können. Schon die Tatsache, dass sie nichts gefrorenes essen musste, ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Sahinja zog viele Blicke auf sich. Zum einen vermutete sie, weil sie eine Fremde war und zum anderen, was ihr jedoch erst später bewusst geworden war, durch ihre Kleidung. Ihr Oberteil war an ihrem Rücken total zerrissen und es hing ihr in Fetzen herab, sodass man ihre nackte Haut darunter sehen konnte. Sie überlegte, ob sie bei einem Schneider einbrechen sollte, um sich etwas passendes zu holen. Mit ihrem Stärke-Takran wäre es ihr ein leichtes, die Türe aufzudrücken und sich im Schatten der Finsternis etwas passendes zu nehmen. Doch dies würde man merken. Man würde wissen was gestohlen worden wäre und wenn sie durch die Straßen mit der gestohlenen Wahre lief, würde man sie früher oder später verdächtigen. Gleich morgen würde sie noch ein paar Leute ausrauben und sich ganz legal etwas bei einem Schneider kaufen. Jetzt würde sie sich erstmal schlafen legen. Die Reise war lang und anstrengend gewesen und sie war dementsprechend müde.

Sie erwachte erst spät am Morgen. Die vorangegangenen Nächte, welche sie im Schnee und auf hartem Boden verbringen hat müssen, hatten nie zu einen erholsamen Schlaf geführt. Jetzt genoss sie es lange das Bett zu hüten. Der Takran würde ihr schon nicht weglaufen.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als sie die Stufen von den Räumlichkeiten hinunterstieg und in Richtung Bar ging. Sie setzte sich auf einen Hocker, suchte in ihrer Tasche die letzten Münzen zusammen und legte sie auf den Tresen.
„Bekomme ich dafür noch was zu essen?“, sprach sie den Barmann an.
Dieser sah sie genervt an, nahm aber dennoch das Geld und ging in Richtung Küche.
„Bist du auch ne Neue?“
Sie war von dem Mann, am Hocker neben ihr angesprochen worden. Es war einer der beiden Männer, welchen sie am Tag zuvor den Geldbeuten abgenommen hatte. Er war am späten Morgen schon betrunken.
„Ja.“, antwortete Sahinja knapp.
„Alles, ham se mir gestohlen. Es war net viel, aber es war alles. Verstehst du?“
Sahinja gab keine Antwort.
In diesem Moment kam der Barmann und stellte ihr einen Teller hin. Es war das selbe Essen des gestrigen Tages. Sie hatte nicht viel für das bisschen Geld bekommen, aber es würde genügen. Notfalls hatte sie immer noch ein wenig Proviant von Eogil und mittlerweile war dieser sogar aufgetaut.
„Mehr gibt‘s nicht.“, sagte er mit fester Stimme, als erwarte er von ihr, dass sie nach mehr betteln würde.
„Ey, ich rede mit dir“, sagte der Betrunkene neben ihr „oder gehörst du auch zu diesem diebischen Gesindel?“
„Ich hatte gerade einmal genug Geld übrig, um mir ein Essen zu kaufen.“, zischte Sahinja ihm zu. „Also halt die Klappe.“,
Diese Antwort genügte ihm. In seinem betrunkenen Zustand kam er nicht auf den Gedanken, dass sie sein Geld schon wieder ausgegeben haben könnte. Zudem verdächtigte er irgendwelche anderen. Sie war aus dem Schneider, doch erstmals würde sie sich hüten weiteres zu stehlen. Für gewöhnlich betrat sie eine Stadt, stahl die Dinge welche sie benötigte und verschwand auch gleich wieder, ohne sich große Gedanken über Konsequenzen zu machen. Vielleicht verdächtigte man sie, vielleicht auch nicht. In jedem Fall war Sahinja bereits verschwunden, bevor man den Diebstahl bemerkt hatte. Hier allerdings musste sie womöglich mehrere Tage verbringen und durfte sich keine Feinde machen.
„Die Leute aus Venundur sind doch alles Diebe, noch schlimmer als die Edoraner, das hab ich immer schon gewusst. Immer hab ich das gewusst!“
Leute aus Venundur? War das ein Zufall, oder war Horior bereits in Nefarin?
„Welche Leute meinst du?“, hakte sie nach.
„Soldaten! Sie sagen, sie wollen uns von einer Verbrecherbande schützen. Aber in Wahrheit sind sie selber die Verbrecher. Ja das sind sie. Das sag ich dir!“
Also stimmte es. Der König war bereits in Nefarin und er gab sich als einfacher Soldat aus. Ansonsten wüsste dies bereits die ganze Stadt und der Betrunkene hätte es nicht unerwähnt gelassen. Wie es das Schicksal wollte, hatte sie trotz der schlechten Nachricht eine Idee.
„Ja, die Leute aus Venundur sind alle verrückt.“, begann sie „Sie haben ihren eigenen König getötet. Die Menschen fliehen aus ihrem Reich und das Volk kämpft ums tägliche Überleben. Kein Wunder, dass sie stehlen müssen.“
Wenn Horior schon hier war, dann würde sie ihm seinen Aufenthalt so unangenehm wie möglich machen. Womöglich konnte sie die ganze Stadt gegen ihn aufhetzen. Gut, eigentlich war sie an allem Schuld, sie hatte das Geld gestohlen. Aber wenn sich die Gelegenheit so offenherzig erbot, sollte man sie doch am Schopf packen.
„Ja, das muss es sein! Das muss es sein!“
„Nein.“, mischte sich der Barmann ein. „Auf mich machen die einen ganz guten Eindruck. Sie übernachten zwar drüben bei Dromen, aber sie haben bei mir schon das ein oder andere Glas gehoben und sie haben sich ganz ordentlichen verhalten.“
„Ach, bei dir macht doch jeder einen guten Eindruck, solange er dir genügend Geld auf den Tresen legt.“, schrie der Betrunkene plötzlich los. „Aber woher ham sie das Geld? Na, wo ham sie‘s wohl her? Sie arbeiten nicht! Sie müssen essen, trinken und schlafen. Jetzt ist ihnen das Geld ausgegangen und da ham sie‘s bei mir geholt. Ja das ham sie! Das sag ich dir! Diebisches Gesindel!“
Der Barmann schwieg, er wog die Worte des Betrunkenen genau ab.
„Wie viele sind es?“, versucht Sahinja so beiläufig wie möglich zu fragen.
„Acht.“
„Und wie lange sind sie schon hier?“
„Drei Tage.“
Anscheinend hatte Sahinja falsche Informationen erhalten. Den Takran haben sie noch nicht gefunden, ansonsten wären sie schon wieder verschwunden. Drei Tage ist für acht Männer genügend Zeit, eine Stadt in der Größe von Nefarin zu durchstöbern. Möglicherweise wusste der-, oder diejenige, dass er oder sie gesucht wurde und hielt sich versteckt. Es könnte auch sein, dass dieser Takran Fähigkeiten verlieh, welche es erlaubten ungesehen zu bleiben. In welcher Form auch immer. Die legendären Takrane waren mächtig und vielseitig, es konnte viele Erklärungen geben. Nach einer kurzen Pause und mit dem Ende ihres Essens, redete sie den Barmann abermals so beiläufig wie möglich an.
„Mir scheint“, fügte ich hinzu, um die Schlinge um des Königs Hals enger zu ziehen. „dass es keine gute Vorgehensweise ist, auf eine Verbrecherbande zu warten und es gleichzeitig überall herumzuerzählen. Das würde die Verbrecher doch darauf aufmerksam machen und sie würden Nefarin erst gar nicht Nahe kommen.“
Jetzt würde ihre eigene Lüge, gegen sie verwendet werden. Raub und Schwindel, das würde ihnen erst einmal einen Riegel vorschieben.
Nun schien auch der Barmann überzeugt zu sein. Der Betrunkene hingegen hatte seinen Entschluss nun endgültig gefestigt und wankte aus der Bar. „Diebe, elendiges Gesindel, Räuberpack, Schurkenschweine.“, schrie er dabei. Doch er kam nicht weit. Noch bevor er zur Tür raus war, klappte er zusammen und schlief ein. Na Toll. Dieser würde Sahinja in nächster Zeit nicht weiterhelfen können, aber die Saat war gesät und schon bald würde sie Früchte tragen. Der Barmann war überzeugt und spätestens gegen Abend, wenn sich ein paar Männer zu einer hemmungslosen Sauferei in seiner Schänke zusammentreffen, würde dieses Gerücht nahezu ganz Nefarin kennen. Die acht Männer würden sicher nicht unerledigter Dinge verschwinden und wenn sie Glück hatte, würde es sogar soweit ausarten, dass der Jarl eingreifen musste.

Den Rest des Tages verbrachte sie damit, durch die Straßen zu streunen. Sie beobachtete die Soldaten aus Venundur, welche in Vierergruppen ebenfalls durch die Straßen zogen. Möglicherweise befand sich Horior auch inkognito in der Stadt und ließ die Soldaten in der Stadt herumgehen, um im Notfall für seinen Schutz zu sorgen. Ansonsten waren die Straßen großteils leer, mit Ausnahme eines Bettlers, dem sie verdächtig oft begegnete. Meistens hielten sich die Soldaten im Nordteil, an der höchsten Stelle Nefarins auf. Hier konnten sie einen Großteil der Stadt überblicken. Das verstärkte bei Sahinja den Verdacht, dass sich Horior irgendwo versteckt hielt.
Von den männlichen Bewohnern der Stadt konnte Sahinja massenweise anzügliche Blicke sammeln. Sie gehörte nicht zu der Sorte Frau, welche eine Tüte über dem Kopf tragen musste und zudem betonte die eng anliegende Kleidung Eogils ihre Figur. Vor allem war es jedoch das am Rücken aufgerissene Oberteil, welches die Fantasie der Männer anregte. Sollte auch nur einer von ihnen es wagen ihr ein anzügliches Wort an den Kopf zu werfen, würde er mit einer gebrochenen Nase zu seiner Frau zurückkehren.
Mittlerweile brach die Nacht herein und Sahinjas Saat war herangereift und im Begriff Früchte zu tragen. Schon zum zweiten Mal wurde eine Gruppe der königlichen Soldaten von wagemutigen Dorfbewohnern angepöbelt. Sie wurden als Diebe und Betrüger beschimpft, doch hatten sie stets genügend Argumente gefunden, um sich aus dieser heiklen Situation herauszuwinden. Es würde nicht mehr lange dauern und man würde sie aus der Stadt jagen. Ein schadenfrohes Grinsen erschien auf Sahinjas Lippen.
Nun war auch schon die Nacht hereingebrochen und sie hatte noch immer keinen Anhaltspunkt bezüglich des Takrans. Zuerst wollte sie sich in der Stadt umsehen und das tägliche Leben beobachten, um so vielleicht das eine oder andere aufzuschnappen. Erst dann hätte sie ein offenes Wort gesprochen. Der Weg der Diplomatie war der Eogils, Sahinja war im Umgang mit Menschen grauenvoll und das wusste sie auch. Was sie nun tat musste überlegt und vorsichtig sein.
Sie entschied einen nächtlichen Spaziergang zu machen und schlug die Richtung zur höchsten Erhebung der Stadt ein. Vielleicht würde sie etwas des Nachts bemerken, was ihr des Tages über verborgen war. Dort angekommen blickte sie lange Zeit auf das Dorf herab. Im Armenviertel schien sich etwas zu regen, doch so gut sie auch sehen konnte, sie merkte nichts. Es war auch nichts zu hören. Sie sah noch einmal genauer hin, aber da war nichts und doch war sie sich sicher, dass hier irgendetwas vor sich ging. Skeptisch betrachtete sie jenes Haus, welches mehr einer Ruine glich. Irgendetwas war da, aber was? Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Besitz zweier Takrane verlieh ihr die Fähigkeit, die Fäden welche durch die Welt gezogen waren, zu sehen und das war es auch, was ihr dort so ungewöhnlich erschien. Hier kräuselten sie sich wirr und anders als es üblich war.
Sie rannte ohne zu zögern darauf los. Das so etwas von legendäre Takrane herrühren konnte war ihr unklar. Bei Eogil und ihr verhielt sich alles ganz normal. Einmal hatte Eogil gesagt, dass sich die Fäden bei den Alchemisten anders verhielten und dass er dadurch ihre Gedanken nicht lesen konnte. Ob hier ein Alchemist vor Ort war? Und ob er etwas mit den legendären Takranen zu tun hatte? Wie auch immer, es war eine mögliche Spur und auch wenn die Hoffnung nur gering schien, war es einen Versuch wert.
Dort angekommen, schlich sie sich an der Hausmauer, des verdächtigen Gebäudes entlang.
„Und ich sage dir, ich glaube es nicht! Also, wie kommt ein solcher Wurm wie du, einer bist an solche Informationen?“, hörte Sahinja eine gedämpfte, aggressive Stimme aus dem Inneren des Gebäudes.
Sie lugte durch den Schlitz, des mit Holz vernagelten Fensters und erkannte, durch den schwachen Lichtschein im Inneren, zwei der königlichen Soldaten Horiors. Diese redeten auf jemanden ein, welchen sie von ihrem Blickwinkel aus nicht erkennen konnte. Vermutlich befanden sich noch weitere Soldaten in der Bruchbude.
„Ich habe es euch doch gesagt. Ein Freund hat ein Gespräch belauscht und es mir erzählt.“
„Und dann hast du gedacht, du könntest einfach mal hierher kommen und uns nach dem legendären Takran fragen?“
„Ja.“, sagte dieser kleinlaut.
Sahinja wurde plötzlich mulmig zumute. Auch dieser Unbekannte wusste von den legendären Takranen bescheid, der sich hier in Nefarin befinden soll? Sie wusste, dass der König diese Information nur den vertrauenswürdigsten Personen weitergegeben hatte. Der Foltermeister hatte zu diesem Kreis gehört und sie hatte geahnt, dass dieser es ausplaudern würde, um sie bei der Folterung ein wenig zu demütigen. Dass Eogils Spion auch an diese Information gekommen war, hatte sie zwar verwundert, aber manchmal hatte man auch einmal Glück im Leben. Aber es war mehr als verdächtig, dass ein weiterer an diese geheimen Informationen gekommen war. Entweder war die Geheimhaltung des Königs löchriger als ein Nudelsieb, oder irgendetwas war faul.
„Mir kommt da gerade ein Gedanke, Hemmor.“, er machte eine Kunstpause. „Irgendwer hat in diesem Dorf zwei Männer bestohlen und will es uns anhängen. Auf Dauer würde es unserem Vorhaben schaden. Aber wäre es nicht viel nahe liegender, wenn ein Bettel das Geld gestohlen hätte? Er würde es viel dringender als wir benötigen. Außerdem ist auch er ein Fremder hier und niemand würde sich etwas um ihn scheren.“
„Aber das könnt ihr nicht machen.“, bettelte der Gefangene.
Sahinja hätte fast lachen müssen, wenn die Situation nicht so prekär gewesen wäre. Sie schob den Diebstahl den Soldaten Horiors zu und diese schoben ihn an einem Bettler weiter. Während die Männer beratschlagen wie sie genau vorgehen wollten, schlich Sahinja zur Tür.
„Hakal, so etwas verschlagenes hätte ich dir gar nicht zugetraut.“, sagte nun eine dritte Stimme. „Du hast Recht, der König würde uns teeren und federn lassen, wenn wir unerledigter Dinge nach Venundur zurückkehren.“
Der König war nicht in Nefarin? Wie sollten normale Soldaten denn den richtigen Takran finden? Wollen sie auf gut Glück herumlaufen und wenn sie den- oder diejenige zufällig gefunden hätten festbinden und, wie einen Sklaven der Takran-Jäger, in den Königspalast schleifen? Außerdem würde jemand, mit einem legendären Takran einfachen Soldaten viel zu leicht entkommen. Wieder drängte sich in Sahinja der Verdacht auf, das hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
„Wir haben noch genügend Geld übrig. Wenn wir es diesem Wurm zustecken und ihn Jarl Osmond übergeben, wären wir sogar Helden. Man müsste sich bei uns entschuldigen und vielleicht werden uns ein paar Preise erlassen.“
„Wir sollten nur dafür sorgen, dass er uns nicht verpetzen kann.“, vollendete ein anderer seinen Gedanken.
Sahinja hatte die Türe erreicht. Sie war aus den Angeln gehoben und lehnte nur noch am Türrahmen. Sie schielte mit einem Auge hinein und betrachtete den Raum. Vier Männer befanden sich darin. Drei Soldaten, welche mit dem Rücken zu ihr standen und derselbe Bettler, welcher ihr schon ein paar Mal auf den Straße begegnet war. Er lag gefesselt am Boden, den Blick starr auf denjenigen gerichtet, welcher ihm am nächsten stand. Jetzt wusste sie auch wieso sie ihm so oft begegnet war. Er war ebenfalls, ziellos durch die Straßen geirrt, auf der Suche nach dem Takran. Als er es satt hatte, beging er den Fehler, die Soldaten danach zu fragen. Aber was hatte ein Bettler mit einem legendären Takran zu schaffen?
„Das könnt ihr doch nicht machen.“, fing er wieder an. „Ich hab euch nichts getan. Ich wollte euch doch nie etwas Böses.“
„Tja, mein kleiner Freund, das Leben läuft nicht immer fair.“
Schlagartig kam Sahinja eine Idee. Sollte es wirklich einmal zu einem Kampf kommen, hatte sie gegen vier, oder mehrere, in der Kampfkunst ausgebildete Soldaten nur wenig Chancen. Aber diese waren nur zu dritt und sie hatten keine Ahnung von ihrer Anwesenheit. Einen könnte sie mit einem gezielten Treffer eines beschworenen Wurfmessers sofort ausschalten. Die anderen beiden wären keine wirkliche Herausforderung mehr. Wenn alles schnell und leise von statten ging, würde niemand etwas merken. Keiner würde sich um den Tod dreier Diebe scheren.
„Wie viel Geld hast du einstecken?“, fragte der Soldat, der nahe des vernagelten Fensters stand.
Sahinja hatte sich nun ganz ins Haus geschlichen und war noch immer unbemerkt von jedermann. Das Haus war abgesehen von einer Kerze, die in der Nähe des Gefesselten stand und den Raum ausleuchtete, leer. Sahinja beschwor ein Messer und nach einem gezielten Wurf, hatte sie den ihr am nächsten Stehenden, ein weiteres Loch in den Kopf geschossen. Sie wollte nun einzelne Ziegelsteine, aus den Wänden, auf die übrigen beiden Männern schleudern, doch musste sie mit Entsetzen feststellen, dass sie nicht mehr über den Erd-Takran verfügte um sie aus den Wänden zu lösen. Ausgerechnet jetzt musste er sterben? Dabei war er doch noch ein ganz junger Mann gewesen.
Die beiden übrigen Männer blickten sich entsetzt um und genauso entsetzt musste Sahinja ausgesehen haben, als sie bemerkte, dass ihr der Takran fehlte. Die beiden Soldaten hatten vor Sahinja die Fassung zurückerlangt. Derjenige in der Nähe des Bettlers, schuf um sich herum Geisterklingen, die um seinen Körper rotierten. Der andere hatte einen Feuerball geschaffen, welchen er gerade auf Sahinja warf. Blitzartig tauchte sie unter seinem Angriff hinweg. Gerade noch rechtzeitig. Er verfehlte sie nur knapp. Sie ließ mithilfe ihrer telekinetischen Fähigkeiten die Geisterklingen in dessen Besitzer fahren. Dieser sackte zu Boden. Mit seinen eigenen beschworenen Waffen niedergestreckt zu werden, musste wohl der Gipfel der Peinlichkeit sein. Schlagartig wurde ihr kalt. Sie spürte die Kälte um ihr herum, in ihrer vollen Härte. War nun auch diejenige gestorben, welche ihr den Kälte-Takran gegeben hatte? Das konnte doch nicht sein! Wie viel Pech konnte ein Mensch haben?
Der verbleibende Soldat hatte sein Schwert gezogen und ging auf sie los. Sahinja überraschte dieser Zug. Schwerter waren Waffen zweiter Wahl. Sie duckte sich geschickt unter seinem präzise gezielten Schlag hinweg und schlug ihn mit ihrer übermächtigen Kraft des Stärke-Takrans zu Boden. Der Kampf hatte nur wenige Augenblicke gedauert und wenn sie Glück hatte, war er unbemerkt geblieben. Der Soldat, welchen sie mit dem Messer getroffen hatte war tot und denjenigen welchen sie mit seinen eigenen Geisterklingen niedergestreckt hatte, sowie derjenige welchen sie zu Boden geschlagen hatte war bewusstlos. Sie ging auf einen der Bewusstlosen zu. Sie mussten sterben. Eine bessere Gelegenheit würde sich ihr nicht mehr bieten.
„Bitte. Hilf mir.“, sagte der Bettler.
Ihn hatte sie ganz vergessen. Für einen kurzen Moment überlegte sie ob sie ihn einfach ignorieren sollte, ging schließlich aber doch auf ihn zu und machte sich am Knoten zu schaffen. Mittlerweile hatte ihr Körper wieder zu Zittern begonnen und sie bekam den Knoten nicht richtig zu fassen. Vor allem auf dem Teil ihres Rückens, wo sich kein Stoff mehr befand war ihr furchtbar kalt.
„Hast du keinen Kälte-Takran?“, fragte der Gefangene, während sie ihn zu befreien versuchte.
„Bis vor kurzem hatte ich noch einen.“, sagte sie sauer und mit zitternder Stimme „Wieso starrst du mich so an?“
„Der Takran auf deiner Stirn ist gerade verschwunden.“
Instinktiv griff sie sich an die Stirn, als könnte sie nach ihm tasten. Sie versuchte die Kerze anzuheben, aber es gelang ihr nicht. Ihre telekinetischen Fähigkeiten waren ebenfalls verschwunden.
„Na toll.“, sagte sie jetzt noch genervter und mit einem leichten Zittern in der Stimme. Sie stand ruckartig auf und nahm sich eins der Schwerter, der gefallenen Soldaten. Sie ging auf den Bettler zu und holte aus.
„Nicht bewegen!“, sagte sie knapp.
Der Gefesselte zuckte leicht zusammen und verkniff die Augen, blieb ansonsten aber ruhig. Mit einem schwungvollen und gut gezielten Hieb zertrennte sie seine Fesseln.
„Bist du vollkommen verrückt?“, sagte er heiser und mit fassungsloser Stimme.
Sahinja hörte gar nicht auf ihn, stattdessen betrachtete sie ihren Körper und stellte mit Entsetzen fest, dass ihr Selbstheilungs-Takran, ihr Lauf-Takran und ihr Stärke-Takran ebenfalls verschwunden waren. Ihre Gedanken überschlugen sich.
„Eogils Lager wird angegriffen.“, sagte sie fassungslos.
„Du weißt wo Eogils Lager ist?“, fragte der Bettler verblüfft.
„Halt die Klappe, ich muss nachdenken.“
Eogils Takran war noch nicht verschwunden. Aber sofort besserte sie sich im Gedanken aus. Eogil befand sich auf der Reise nach Nefarin, er konnte seinen eigenen Läuten im Kampf nicht einmal beistehen. Außerdem würde man sich hüten Eogil zu töten. Wäre er tot, würde der König, und ebenso Sahinja, seinen Takrane verlieren. Jetzt verstand sie auch das rätselhafte Verhalten der Soldaten. Sie suchten nicht nach einem legendären Takran. Sie warteten auf Eogil. Aber Eogil würde nicht kommen. Er würde in diesem Moment zu seinem Lager zurückkehren.
„Was ist los?“, fragte der Bettler vorsichtig.
Sahinja winkte ihm ab. Es war eine Falle gewesen. Der König hatte diese Informationen absichtlich durchsickern lassen. Er hatte wohl damit gerechnet, dass Eogil einen Lauf-Takran besitzt und selbst nach Nefarin kommt. Dort angekommen, hätten seine Soldaten ihn festgenommen und vermutlich hätte das ganze Dorf ihnen dabei auch noch geholfen. Aber Eogil besaß keinen Lauf-Takran. Den hatte er auf ihrer Bedingung hinauf gegen einen Veränderungs-Takran getauscht. Und anstelle Eogils war sie hierher gekommen. Da die Soldaten nach einem Mann Ausschau gehalten hatten, war sie nicht von ihnen verdächtigt worden. Vermutlich wussten sie auch wie Eogil aussah. Jetzt verstand sie auch wieso die königlichen Soldaten nach einer Verbrecherbande gesucht hatte. Niemand hätte bei der Festnahme Eogils und seinen Freien Fragen gestellt.
In diesem Moment verschwand der Messer-Takran. Der Bettler hatte es ebenfalls bemerkt und sah sie mit entsetzten Augen an. Auch ihm war klar, dass soeben ein weiterer gestorben war und dass Sahinja die jahrelang antrainierten Fähigkeiten des Takrans verloren hätte. Mittlerweile besaß sie nur noch Eogils Takran, den Veränderungs-Takran und ihren eigenen. Vermutlich würde der Veränderungs-Takran ebenfalls bald verschwinden. Mit einem kurzen Blick überprüfte sie, ob die Körperstellen auf welchen sich die legendären Takrane befanden auch gut verdeckt waren, sollte dies eintreffen.
Eogils Lager wurde soeben dem Erdboden gleich gemacht. Sie konnte Eogil nicht ausstehen und sie hatte keinen vernünftigen Grund zurückzukehren, aber sie musste sich sofort auf dem Weg zu ihm machen. Dass sie vielleicht der Anstand dazu bewegte, oder dass sie ihm diesen Gefallen schuldig war, wollte sie sich nicht eingestehen. Wie um ihre Gedanken zu bestätigen sprach sie die Worte aus.
„Ich muss zurück zu Eogil.“
„Ich komme mit.“, sagte der Bettler gleich darauf.
Ihn hatte sie in der kurzen Zeit schon wieder vergessen gehabt. Sie wollte ihn nicht belehren und somit ihre kostbare Zeit verschwenden, sie würde ihm einfach davonlaufen und die Sache wäre erledigt. Zu der eisigen Kälte lief ihr auch noch der kalte Schweiß über den Rücken, als ihr das völlige Ausmaß ihrer Situation klar wurde. Ihr Lauf-Takran war verschwunden. Sie würde frühestens in zweiundzwanzig Tage in Eogils Lager eintreffen. Sahinja stürzte zu demjenigen, welchen sie mit seinen eigenen Geisterklingen niedergestreckt hatte. Der Nachteil, dass man mit Geist-Fähigkeiten niemandem töten konnte, entpuppte sich in dieser Situation als Vorteil. Solche Angriffe bezogen sich lediglich auf den Geist. Die Schmerzen waren zwar unverändert, aber man starb nicht an ihnen, man verlor lediglich für eine längere Zeit das Bewusstsein.
Natürlich besaß er die Geisterklingen, ein mächtiger, aber in ihrer jetzigen Lage ein vollkommen unnützer Takran. Dennoch kopierte sie diesen auf ihre Stirn. Der zweite besaß einen Geschicklichkeits-Takran. Jetzt war ihr auch klar warum dieser sie mit dem Schwert attackiert hatte. Der Geschicklichkeits-Takran war für den Schwertkampf die beste Kombination. Er war sehr selten, aber meistens trug sie einen auf ihrem rechten Arm, denn mit ihrem Perfektions-Takran und dem Geschicklickkeits-Takran war sie im Schwertkampf und in vielerlei anderer Dinge nahezu unbesiegbar. Vermutlich hätte sie Eogil damit auch besiegen können, aber niemand hatte einen solchen in seinem Lager besessen. Sie kopierte ihn sich auf dem rechten Arm. Den dritten Soldaten hatte sie mit ihrem Messer getötet, von ihm würde sie nichts erhalten. Der König hatte sicher nur seine besten und stärksten Männer nach Nefarin geschickt und Sahinja war sich sicher, dass auch der Tote einen mächtigen Takran besessen hatte, aber sicher keinen Laut-Takran.
„Wie machst du das?“, fragte der Bettler verblüfft. „Müssen nicht beide damit einverstanden sein?“
„Was hast du für einen?“, fragte sie ihn, ohne auf seine Frage einzugehen.
Nach kurzen Zögern schob er sein rechtes Hosenbein hoch. Ein Veränderungs-Takran. Der sinnloseste Takran von allen und ausgerechnet noch an so einer ungünstigen Stelle. Kein Wunder, dass er für sein Essen betteln musste. Selbst wenn der Veränderungs-Takran auf Sahinjas Fuß verschwinden würde, könnte sie den Takran von ihm nicht auf ihr Bein kopieren. Auf ihrem linken Bein befand sich bereits der von Eogil und auf dem rechten benötigte sie einen Lauf-Takran.
„Wenn du einen Eis-Takran suchst kann ich dir helfen. Ich weiß wo einer ist.“, sagte der Bettler
„Ich brauch einen Lauf-Takran“, fuhr sie ihn barsch an. „und einen Eis-Takran.“, fügte sie hinzu.
„Vielleicht weiß Elfir wer einen Lauf-Takran hat.“
„Und wer ist Elfir?“
„Ein Freund. Er hat einen Eis-Takran.“
Vielleicht war der Bettler doch nicht so unnütz.
„Dann los. Wie heißt du eigentlich?“
„Mepanuk und du?“
„Das geht dich nichts an.“
Sahinja nahm sich eines der Schwerter und steckte es in ihren Waffengurt, dann nahm sie den dreien Männern den Geldbeutel ab. Glück für die beiden Soldaten. - Da Sahinja keine Angriffs-Takrane besaß und sie zudem mächtige hatten durften sie weiterleben. Unter der Führung Mepanuks eilten sie zu einem abgelegeneren Teil des Armenviertels. Hier befanden sich mehrere Bettler. Natürlich, welche Freunde hatte ein Bettler schon außer andere Bettler.
„Elfir, wach auf.“, sagte er und rüttelte einen hageren, älteren Mann wach, welcher in der Ecke einer eingestürzten Mauer, auf dem eisigen Lager bestehend aus Schnee schlief.
„Mepanuk? Was zum Teufel willst du hier? Lass mich verdammt noch mal schlafen.“, sagte er schlaftrunken und drehte sich von ihm weg.
„Eine Freundin braucht deine Hilfe.“
„Wie zur Hölle soll ich schon jemandem helfen können?“
„Ich brauche deinen Takran.“, meldete sich Sahinja drängelnd und mit zitternder Stimme zu Wort. „Du bekommst diesen Beutel voll Münzen dafür.“
Sahinja wusste nicht wie viel sich im Beutel befand, aber es würde sicherlich reichen, zumal Eis-Takrane nahezu wertlos waren und der Bettler sicherlich das Geld brauchte konnte. In seinen Augen blitzte es auf, er wollte danach greifen, aber sofort zog Sahinja den Beutel weg. Am liebsten hätte sie ihn einfach niedergeschlagen und sich seinen Takran genommen, doch dann hätte er ihr nicht mehr sagen können wo sich ein Lauf-Takran befand.
„Zuerst der Takran!“
Er zog seinen Mantel von Arm und hielt ihn ihr auffordernd hin. Na Toll! Ausgerechnet am Arm. Sie hatte es soeben geschafft, einen Geschicklichkeits-Takran zu erhalten und musste diesen für einen schlichten Eis-Takran vertun. Ihr blieb nichts anderes übrig. Sie musste ihn an sich nehmen, ansonsten würde sie erfrieren.
Der ältere Mann machte große Augen als sie seinen Takran über den andern kopierte. Die Kälte in ihr verschwand schlagartig und damit auch ihr Zittern. Sahinjas Körper entspannte sich.
„Mädchen, das war eine blöde Idee, deiner muss ein Vermögen gekostet haben“, sagte er als würde er mit einem dummen Kind reden. „und jetzt gib mir sofort das Geld!“
„Erst verrätst du mir, wer einen Lauf-Takran hat.“
Er wollte zu einem verärgerten Wort ansetzen, besann sich dann aber eines besseren.
„Was ist los mit dir Mädchen? Sammelst du die wertlosesten Takrane zusammen?“
Sahinja schmiss ihm zwei Geldbeutel hin und holte den dritten hervor.
„Den bekommst du wenn du mir endlich sagst, wer einen Lauf-Takran hat.“
Mepanuk sah sie an als hätte sie den Verstand verloren. Elfir gierte nach den beiden Geldbeuteln. Für Sahinja hingegen war Geld wertlos. Wenn sie etwas brauchte, nahm sie es sich einfach. Und sie war der einzige Mensch, der sich auch einen Takran ohne weiteres nehmen konnte. Auch für so etwas musste sie nicht zahlen.
„Hemil hat einen. Er arbeitet bei Greggar auf der Farm. Sein Haus steht im unteren Teil der Stadt. Es ist das kleine und hat ein kaputtes Fenster. Am Hauptweg das“, er fing im Geiste an zu zählen „sechste. Das sechste ist es. Daneben steht ein großes Haus, vollkommen aus Lehmziegeln und vor dem Eingang gibt es oft Essensreste zu finden.“
Sahinja warf ihm den letzten Beutel in den Schoß und Elfir freute sich wie ein Schneekönig.
„Wenn das eine Lüge sein sollte, komme ich zurück.“, sagte sie drohend.
„Das war die reine Wahrheit, das schwöre ich.“ sagte er beteuernd, während Sahinja und Mepanuk sich schon wieder von ihm entfernten. „Wenn du wieder einmal Hilfe benötigst, bei was auch immer. Elfir wird dir helfen. Egal was. Ich helfe dir...“
Die letzte Worte hatte sie nur noch erahnen können.

Die Beschreibung Elfirs passte exakt. Sahinja und Mepanuk standen am Hauptweg vor dem sechsten Haus, welches ein eingeschlagenes Fenster hatte und neben einem Haus aus Ziegeln stand. Keiner war auf der Straße und sie hoffte, dass es in nächster Zeit auch so bleiben würde. Sie zog das gestohlene Schwert aus dem schäbigen Waffengurt welchen sie von Vorcar erhalten hatte.
„Was hast du vor?“, fragte Mepanuk ängstlich.
„Halt die Klappe.“
Sahinja zwängte das Schwert unter dem kaputte Fenster hindurch und hebelte es hoch. Der metallene Verschluss verbog sich mit einem leichten Quietschen und mit einem sachten Ruck hatte sie das Fenster vollständig geöffnet.
„Das ist Einbruch, was du da machst.“, sagte der Bettler entsetzt.
„Reg dich ab, ich hab vorhin Mord begangen. Jetzt halt endlich die Klappe und pass auf, dass niemand kommt.“
Kurze Zeit später kam Sahinja mit einem Lauf-Takran aus dem Fenster geschlüpft. Seine Frau hatte einen Blitz-Takran, am Arm getragen, nichts was Sahinja brauchen konnte. Die beiden würden am nächsten Tag mit erheblichen Kopfschmerzen aufwachen. Anschließend holte sie den Rucksack mit Proviant, welcher sich noch im Zimmer der Gaststätte befand.
„Und jetzt zu Eogil?“, fragte Mepanuk hoffnungsvoll.
„Wenn du mir folgen kannst, darfst du mitkommen.“, sagte Sahinja hämisch.
Sie besaß den Takran der Perfektion und beherrschte somit den Lauf-Takran wie kein zweiter. Mepanuk würde sie nach nicht einmal zwei Minuten abgehängt haben.

Doch weit gefehlt. Knapp zwei Tage und zwei Nächte waren vergangen, in denen sie pausenlos gerannt waren und Mepanuk lief immer noch an ihrer Seite. Unvorstellbarer Weise war er sogar schneller als sie und er musste nie eine Pause einlegen. Offensichtlich besaß Mepanuk einen Ausdauer-Takran, welcher dafür sorgte, dass er keine Rast machen musste. Aufgrund seiner Geschwindigkeit musste er schlussfolgernd einen Lauf-Takran am Bein besitzen, der ihn aber höchstens ebenso schnell machen konnte wie sie selbst. Am anderen Bein trug er bereits seinen Veränderungs-Takran. Sie wusste von keinem anderen Takran, welcher es ihm erlaubt hätte, schneller zu laufen als sie es konnte. Dass ihm dies gar nicht möglich sein durfte, wollte sie nicht sagen. Um ihre Worte zu untermauern hätte sie ihm verraten müssten, dass sie den legendären Takran der Perfektion besaß.
Sahinja hatte den Verdacht, dass Mepanuk einen ihr unbekannten, sehr mächtigen Takran trug, oder sogar einen der legendären. Sein eigener Takran war ein Veränderungs-Takran, also musste er den weiteren von einer anderen Person erhalten haben. Außerdem konnte Mepanuk auch alle seine anderen Takrane durch seinen eigenen verändert haben. Er hätte nie das Leben eines Bettler annehmen müssen, Mepanuk war schneller als jeder Bote. Mit seinen Fähigkeiten hätte er sogar für eines der Königreiche arbeiten können. Das Leben als Bettler hatte er sich selbst ausgesucht, so viel konnte sie mit Sicherheit behaupten.
Mit der Zeit drängte sich Sahinja immer mehr der Gedanke auf, dass Mepanuk einen legendären Takran tragen musste. Wie sonst hätte er davon erfahren? Wenn sie damit richtig lag, würde er ihr sagen von wem er diesen bekommen hatte und Sahinja würde ihn sich holen. Sie hatte Mepanuk vor den Machenschaften der Soldaten gerettet. Er musste es ihr einfach sagen. Aber darüber würde Sahinja sich erst Gedanken machen, wenn sie zurück in Eogils Lager war, oder zumindest das was davon übrig war. Wenn Mepanuk ebenfalls nach den legendären Takranen suchte musste er sicherlich auch davon gehört haben, dass Eogil einen solchen trug und somit war es nur verständlich, dass er zu ihm wollte. Er suchte ebenfalls nach den legendären Takranen und seine Tarnung war die eines Bettlers. Sie hatte ihn durchschaut.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Sie hatte soeben ein Déjà-vu. Diese enge Steinschlucht kannte sie und in diesem Augenblick, trat sie auch schon wieder in die Falle des Steinmannes. Diesmal konnte sie sich jedoch nicht mehr mit ihren telekinetischen Fähigkeiten befreien und selbst wenn sie es könnte, sie hätte keine passenden Takrane mit denen sie sich dem Steinmann stellen konnte. Auf Mepanuk konnte sie sich ebenfalls nicht verlassen, der war genauso in eine Falle getreten und war wie sie völlig bewegungsunfähig.

Kapitel 05 - Die Rückkehr




Wieder war es Eogils Takran, der Sahinja aus ihrer misslichen Lage rettete. Sie änderte die Realität ab und stürzte seitlich über den am Boden liegenden Fesselungs-Takran hinweg. Der Sturz war ungeschickt und Sahinja schabte sich dabei ihre rechte Schulter auf. Nun war nicht nur ihr Rücken zerrissen, sondern auch ihr rechter Ärmel. Blut sickerte leicht aus den Kratzern hervor. Blitzartig richtete sie auf und zog ihr Schwert.
„Bist du wirklich so dumm, oder einfach nur lebensmüde?“, fragte der Steinmann, welcher soeben aus dem Schatten eines Felsvorsprunges hervortrat.
Sahinja drehte sich nach Mepanuk um. Er stand regungslos im Lauf, unter ihm der Fesselungs-Takran.
„Ich hab jetzt wirklich keine Zeit für so etwas. Wir müssen weiter.“
„Haben wir nicht ausgemacht, dass wir es das nächste Mal zu Ende bringen?“
„Ja, ich weiß. Aber ein Freund von mir braucht dringend Hilfe.“
Hatte sie ernsthaft Eogil als einen Freund bezeichnet? Auf einen Kampf durfte sie sich nicht einlassen. Mit Ausnahme ihres Schwertes waren ihre beiden Hände leer und auf ihrem Bauch trug sie keinen Takran, der sie schützen konnte.
„Sag mal seh ich da richtig, oder trägst du etwa einen neuen Takran auf deiner Stirn? Und deine Hände sind auch leer. So dumm kannst du doch nicht sein. Du kommst zurück ohne mich angreifen zu können und trägst einen neuen Trakan, den du nicht einmal benutzen kannst?“
Dass Sahinja den Takran der Perfektion trug wusste er nicht, somit wusste er auch nicht, dass sie die Geisterklingen bereits jetzt schon wie kein zweiter beherrschte. Der Steinmann hielt sie anscheinend für vollkommen wehrlos. Dennoch konnte sie es sich nicht leisten ihn zum Kampf herauszufordern. Wozu er fähig war, hatte sie vor ein paar Tagen zuvor am eigenen Leibe zu spüren bekommen.
Sahinja steckte ihr Schwert in den Waffengurt, eilte schnellen Schrittes zu Mepanuk und stieß ihn aus dem Fesselungs-Takran. Der Steinmann, welcher immer noch in Fleisch und Blut vor ihr stand hielt die Arme verschränkt und sah ihr verwundert zu.
„Dir ist schon klar, dass ich dich hier nicht vorbei lassen werde.“
„Das wollen wir mal sehen.“
Sie gab Mepanuk ein Zeichen, welches er sofort verstanden hatte. Gleichzeitig rannten sie los. Sahinja war viel zu schnell für den Steinmann und Mepanuk erst recht. Sie mussten nur an ihm vorbei kommen, alles andere würde von diesem Punkt an kein Problem mehr sein. Mepanuk war atemberaubend schnell. Jetzt, wo er nicht mehr hinter Sahinja herlief, zeigte er sein volles Potential. Etwas Vergleichbares hatte sie noch nie gesehen. Neben ihm wirkte selbst sie wie eine lahme Krücke. Zielgenau setzte Sahinja ihre Schritte auf leicht vorstoßende Felsvorsprünge. So konnte sie an der Felswand hochlaufen und genügend Höhe erreichten, um über den Steinmann hinweg zu laufen. Zu ihrem Erstaunen, machte er keine Anstalten sie aufzuhalten. So einfach hatte sie es sich nicht vorgestellt. Wie der Wind rannte sie den ihr verbleibenden Weg aus der Schlucht heraus.
Plötzlich war eine Felswand vor ihr, wo zuvor noch keine gewesen war. Sahinja prallte im vollen Lauf dagegen. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie stürzte ungelenk zu Boden. Sahinja schüttelte die Dunkelheit ab und je mehr sich ihr Blick klärte, umso mehr spürte sie die Verletzungen des Aufpralls. Jeder Knochen in ihrem Leib protestierte und ihr Schädel dröhnte fürchterlich. Von ihrer linken Augenbraun lief Blut herab. Mühselig richtete sie sich wieder auf und wischte das Blut beiseite. Der Kampf hatte noch nicht begonnen und sie trug schon mehrere Verletzungen an sich.
„Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, hatte ich dich für eine große Kämpferin gehalten.“, sagte eine Stimme hinter ihr, die sich langsam auf sie zubewegte. „Ich respektiere Menschen, die etwas aus ihrem Leben machen, die sich dem Kampf widmen. Deshalb hab ich dich gehen lassen. Ich finde es schade, dass die Besten stets die Ersten sind welche ihr Leben verlieren, oder gefangen werden und in Käfigen dahinvegetieren. Eigentlich total dumm was ich mache. Aber so bin ich nun mal.“
Sahinja drehte sich um und sah ihn, wie er sie mit verschränkten Armen musterte. Da kam ihr eine Idee.
„Weißt du“, sprach der Steinmann weiter. „du hast es geschafft diesen Eindruck in einem einzelnen Augenblick zunichte zu machen. Ab jetzt werde ich nicht mehr so gnädig sein und dir eine Chance zum flüchten geben. Ich werde dich gefangen nehmen und dich am erstbesten Sklavenhändler verkaufen.“
Mit einer Handbewegung schloss sich der steinerne Boden um ihre Füße. Der Steinmann ging weiter auf sie zu.
„Weißt du was dein Problem ist?“, fing nun Sahinja an.
Er sah sie auffordernd an.
„Du redest zu viel.“
Der Steinmann musste lachen.
„Und weißt du was dein Problem ist?“, fragte er.
Doch er kam nicht dazu, ihr die passende Antwort zu geben, da die Geisterklingen, welche Sahinja hinter seinem Rücken beschworen hatte, in ihm fuhren. Es ist weitaus schwieriger Dinge weiter entfernt zu beschwören und es kostete auch entsprechend viel Zeit, doch er hatte ihr mit seinem unsinnigen Gerede genug Zeit dafür gelassen. Jetzt lag er bewusstlos vor ihr. Sahinja musste über diese Ironie lächeln. Das erste Mal war sie perfekt ausgerüstet gewesen, trug ein paar der wertvollsten Takrane und hatte ihn mit Schädelgroßen Gesteinsbrocken beworfen und dennoch hatte sie es nicht geschafft ihn zu besiegen und jetzt lässt er sich durch ein paar Geisterklingen niederstrecken. Diesmal hatte er sie unterschätzt und war durch einen einfachen Trick übertölpelt worden. Tricks und Listen waren gewöhnlich Eogils Masche, für sie zählte nur der offene Kampf, doch jetzt erkannte sie deren Vorteil.
Dummerweise steckten ihre Füße immer noch in einem Gesteinsblock und sie hatte keinen passenden Takran, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Sie musste sich etwas einfallen lassen um von hier wegzukommen.
Sahinja hatte begonnen den Stein um ihre Füße mit ihren Schwertknauf zu bearbeiten, doch damit dies auch Wirkung gezeigt hätte, bräuchte sie einen Stärke-Takran. Da tauchte plötzlich Mepanuk auf.
„Brauchst du Hilfe.“, fragte er.
„Frag nicht so dämlich, tu etwas.“
„Ich hab keinen passenden Takran.“
Das gibt‘s doch nicht. Diese Situation konnte nun wirklich nicht dümmer sein. Die Takrane, welche er am Körper trug passten wirklich nicht, aber Sahinja vermutete ohnehin, dass er in Wirklichkeit andere trug. Sie fragte ihn erst gar nicht danach. Ihr war soeben eine andere Idee gekommen.
„Schleif den Typen da her.“
Mepanuk schien zuerst nicht zu verstehen, doch dann erinnerte er sich daran wie sie die Takrane der bewusstlosen Männer, ohne weiteres auf ihren Körper kopiert hatte. Es dauerte nicht lange und Mepanuk hatte getan, was sie von ihm verlangt hatte. Der Takran des Steinmannes war ein Erd-Takran am Bauch, wie Sahinja es vermutet hatte. Etwas umständlich und zugleich mühsam aus ihrer Position heraus, kopierte sie sich seinen Takran. Gleich darauf verwandelte sie sich in eine Steinstatue. Sie verstärkte die Steinschichten um ihren Körper und der Stein mit dem ihre Füße gefesselt waren brach auf.
„Wie machst du das?“, fragte Mepanuk „du kannst dir einfach so seinen Takran nehmen und beherrscht diesen als würdest du ihn schon dein ganzes Leben lang tragen.“
„Das ist mein Geheimnis.“, sagte sie und beendete mit diesen Worten das Gespräch.
Sahinja überlegte ob sie den Steinmann von seinem Leben lösen sollte. Für gewöhnlich tötete sie jeden Takran-Jäger der ihr über den Weg lief. Nur manchmal, wenn dieser einen wirklich ganz besonderen Takran besitzt, eignet sie sich diesen an und ließ denjenigen somit am Leben. Dieser Typ besaß zwar einen mächtigen Takran, der sie gegen physische Angriffe schützte, doch der Großteil aller Angriffe war elementarer, magischer und geistiger Natur. Es kostete ihr Überwindung ihn am Leben zu lassen, doch ein Erd-Takran am Bauch war immer noch besser als gar keiner, zumal sie keinen Takran auf den Händen trug und sie nicht wusste was in Eogils Lager antreffen würde.

Es verging nur wenig Zeit bis Sahinja und Mepanuk erneut auf ein paar Menschen stießen. Noch von Ferne erkannte sie diese und hielt vor ihnen an.
„Sahinja, was für eine freudige Überraschung dich zu sehen.“, sagte Eogil überschwänglich „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell wieder sehen würden. Und wer ist dein neuer Begleiter?“
Es war das breite und fröhliche Lächeln, wie sie es von ihm gewohnt war. Sein Gefolge bestehend aus zwei Männern und einer Frau betrachteten die Situation eher teilnahmslos.
„Eogil, verdammt was machst du hier?“, drängelte Sahinja entsetzt und verwirrt.
Eogil wirkte irritiert und verwirrt. Auf den Gesichtern der beiden Männer und der Frau, spiegelten sich eben diese Züge wider. Mepanuk wollte ebenfalls ins Gespräch eingreifen, doch Eogil hatte vor ihm das Wort ergriffen.
„Was meinst du?“, fragte er zögerlich mit unsicherem Lächeln.
„Dein Lager wird angegriffen!“, sagte Sahinja mit dringlicher Deutlichkeit.
„Das kann nicht sein“, fing Eogil an, aber dann schien er die Wahrheit ihrer Worte aus ihren Gedanken zu lesen. „aber, dass...“, setzte er an und seine Stimme war nun hilflos und wurde mit jedem Wort schwächer.
„Eogil, ich habe alle meine Takrane verloren!“, sagte sie nun leiser, jedoch immer noch mit der selben Dringlichkeit.
Sahinja fiel ein, dass sie am Fuß immer noch den Veränderungs-Takran von Eogils Spion Arum trug.
Hatte er überlebt? War er entkommen oder schnüffelte er zu dieser Zeit gerade nach weiteren Informationen in Venundur? Oder war es gerade er gewesen, der sie Verraten hatte? Nein, die Alchemistin war es gewesen, dessen war sie sich vollkommen sicher. Das mit ihr etwas nicht stimmte, hatte sie schon von Anfang an gewusst und als Eogil sagte, er könne ihre Gedanken nicht lesen, hatte sich dieser Verdacht erhärtet. Jetzt war es so weit gekommen, dass sie ihn verraten hatte.
„Ich habe noch alle meine Takrane.“, fing Eogil an. Seine Stimme war unsicher, von seiner Autorität und der üblichen Fröhlichkeit war nichts mehr zu hören. „Rodink, Pilok, Emilla, was ist mit euch?“
„Wir auch.“, sagten diese nacheinander.
Dass Eogil noch all seine Takrane besaß war einfach erklärt. Er trug keinen einzigen von seinen Läuten. Selbst der Veränderungs-Takran auf seinem Bein war von jemand außerhalb seines Lagers. Sahinja vertraute niemandem schon gar nicht auf das Stillschweigen eines seiner Untergebenen. Somit hatte er sich diesen Takran von einem Fremden für viel Geld machen lassen. Dies war eine weitere ihrer Bedingungen gewesen. Die anderen Takrane welche sich auf seinem Körper befanden, hatte er von der Zeit, als er als Rat unter Pontion gedient hatte. Warum sein Gefolge noch alle Takrane besaßen, war nicht so leicht zu erklären. Sie trugen zwar großteils die gleichen, doch war es möglich, dass sie viele der Takrane schon besessen hatten, bevor sie sich Eogil angeschlossen hatten. Aber mit Sicherheit trugen sie auch genügend Takrane von anderen Freien. Entweder hatte Sahinja unheimliches Pech mit der Wahl ihrer Takrane gehabt und alle von denen sie sich Takrane kopiert hatte waren gestorben, oder, man hatte ebendiese am Leben gelassen, von denen Eogils Gefolge seine Takrane erhalten hatten. Dann aber müsste es ein Verräter aus Eogils Reihen gewesen sein. An solch spezifischen Informationen wären die Soldaten Horiors nicht gekommen. Aber Eogil konnte die Gedanken seiner Leute lesen, er hätte es sicherlich gemerkt. Die zweite Möglichkeit schien nur Sinn zu ergeben, wenn er von der Alchemistin verraten worden wäre. Und da die Alchemistin glaubte Eogil besaß noch weiterhin seinen Lauf-Takran, hatte sie diese falschen Informationen weitergegeben und so war es dazu gekommen, dass Horiors Falle nicht zugeschnappt hatte. Alles schien sich zusammenzufügen. Die Alchemistin musste es gewesen sein. Der Gedanken, dass jeder andere über die selben falschen Informationen wie die Alchemistin verfügt, schien Sahinja gar nicht in den Sinn zu kommen.
„Bitte, Sahinja“, fing Eogil an. Seine Bitte glich mehr einem betteln „lauf ins Lager zurück und sieh ob du noch irgendwie helfen kannst. Wir tragen keine Lauf-Takrane.“
Seine Sorge war auch auf seine Gefährten übergesprungen. Sie hatten Angst um ihre Familien und ihre Freunde und redeten eindringlich aufeinander ein.
„Gebt mir noch vorher noch eure Takrane!“, forderte Sahinja. „Ich besitze fast keine mehr und ich weiß nicht was mich erwartet.“
„Du könntest sie doch gar nicht rechtzeitig beherrschen.“, fing die Frau, Emilla, an, doch sie wurde sogleich von Eogil unterbrochen.
„Tut was sie sagt, wir haben keine Zeit zu verlieren.“
Den Takran der Frau konnte sie nicht nehmen, es war ein Glücks-Takran am Arm. Sie hätte somit ihren Eis-Takran verloren. Sahinja hielt Glücks-Takrane ohnehin für unsinnig, aber irgendwie vermutete sie, dass gerade dieser ihr das Leben gerettet hatte. Der größere Mann mit den struppigen Kinnbart, hatte einen Blitz-Takran für die Hand, den Sahinja freudig entgegen nahm und auf beide Hände kopierte. Jetzt hatte sie endlich wieder einen Takran mit dem sie töten konnte. Der dritte hatte einen Wasser-Takran für die Stirn. Elementare Takrane auf der Stirn gehörten zu den mächtigsten, doch ohne Wasser in der Nähe konnte sie keines beeinflussen. Selbst gefrorenes Wasser, konnte sie trotz ihres Perfektions-Takrans nicht bewegen oder verändern. Somit behielt sie die Geisterklingen auf ihrer Stirn.
„Sahinja.“, war alles was Eogil sagte, doch durch den mitschwingenden Unterton in seiner Stimme wusste sie genau was er damit ausdrücken wollte.
Er wirkte wie ein gebrochener Mann. Sahinja hatte ihn noch nie gemocht und seitdem sie ihn kannte, versuchte sie ihm stets seine nervende Fröhlichkeit auszutreiben und sein dämliches Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen. Jetzt war sein Lachen gestorben, aber so wie es gekommen war, war es nicht richtig.
Sahinja nickte nur. Sie hasste es immer noch, dass Eogil sie stets dazu brachte, alles zu tun was er wollte, aber dies war eine Ausnahme. Mepanuk wollte noch etwas sagen, er hatte während des Gespräches kein einziges Wort gesprochen und Sahinja war sich sicher, dass er sich liebend gern mit Eogil unterhalten hätte, aber er erkannte selbst, dass der Zeitpunkt nicht schlechter gewählt hätte sein können. Nach dieser kurzen Unterbrechung machten sich Mepanuk und Sahinja wieder auf den Weg, zu den Überresten von Eogils Lager, gefolgt von einem zutiefst erschütterten Eogil und seinem ebenso kläglichem Gefolge.

Das Lager war, wie sie es vermutet hatte, vollkommen verwüstet. Die Holzmauern waren, von der zerstörerischen Kraft verschiedenster Takrane, großteils eingefallen. Die Zelte, welche Eogils Lager schmückten waren zerrissen und von den Halterungen gelöst. Vermutlich hatte hier jemand einen Sturm beschworen. Hie und da hatten sich die Überreste der Zelte, an Steinen und Baumstümpfen festgefangen. Ein paar lagen noch umgestürzt auf ihren ursprünglichen Positionen, der Rest war vom Wind weggeweht worden. Der erste Eindruck war schrecklich und Sahinja machte sich wenig Hoffnung auf Überlebende.
Nach einer näheren Begutachtung bestätigte sich ihre Befürchtung. Alle waren tot. Sogar Frauen und Kinder lagen leblos und gefroren im Schnee. Man hatte sich anscheinend ins Lager geschlichen und einen großen Teil der Schlafenden die Kehle durchgeschnitten. Irgendwann hatte dies jemand bemerkt und es war zu einem Kampf gekommen, welcher das ganze Lager verwüstet hatte.
Sahinja, drehte eine weitere Frau um, welche im Schlaf das Leben verloren hatte. Anstelle eines Auges hatte sie einen Takran. Es war Ellira, die Alchemistin. Sahinja fuhr das Entsetzen in die Glieder. Diese Frau hatte ihr das Leben gerettet, sie war von Sahinja wie eine Vebrecherin behandelt worden und zu Letzt wäre sie von ihr auch noch für dieses Massaker verantwortlich gemacht worden. Mit diesen Gedanken fiel ihr auch ein, dass sie sich nie bei ihr bedankt oder entschuldigt hatte.
Sahinja seufzte. Sie kannte all diese Menschen nicht wirklich, dennoch ging es ihr nahe, inmitten von hunderten Leichen zu stehen. Vor allem war der Tod der Alchemistin für sie schwer. Sie schluckte ihre aufkeimende Traurigkeit nieder und ging zielstrebig weiter. Sie hatte schon viele Menschen getötet. An den Tod den sie hinter sich zog, hatte sie sich gewöhnt und bei diesem Gemetzel würde es nicht anders sein. Eigentlich kannte sie diese Menschen ja nicht. Was bedeuteten sie ihr schon. Das war Eogils Problem, nicht ihres.
Sahinja stapfte weiter. Sie glaubte zwar nicht mehr daran, aber vielleicht war doch noch jemand unter den Lebenden.
Hier lag der Schwertmeister, blutig und tot auf der Erde. Getroffen von einer beschworenen Waffe, welche schon wieder verschwunden war. Natürlich war er mit dem Schwert in der Hand gestorben.
Die nächste Szene war rührend, dachte sich Sahinja anfangs, als sie auf ein Mädchen zuging, welches tot über einem Mann gebeugt lag. Mit ihrem Fuß stieß sie das Mädchen von der Brust des Mannes. Schlagartig verschlug es ihr den Atem. Das Mädchen war Terana. Sie war diejenige gewesen, welche Sahinja ihre Hilfe angeboten hatte und ihre Verletzung heilen wollte. Gegen Abend dieses Tages, hatte sie Sahinja gefragt, ob sie diese auf ihrer Reise begleiten dürfe. Sahinja hatte sich wie ein kleines Kind benommen um sie loszuwerden. Vermutlich war der Mann, über dem sie gebeugt war, ihr Vater, eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu bestreiten. Vermutlich hatte Tenara die tiefe Wunde auf seinem Bauch zu heilen versucht und war dabei selbst ums Leben gekommen. Hätte Sahinja sie mitgenommen, würde sie jetzt noch leben.
Sahinja schniefte auf. Erst jetzt bemerkte sie die Tränen auf ihrer Wange. Schnell wischte sie diese weg, als hätte sie Angst, irgendwer könnte sie sehen. Sie war Sahinja, redete sie sich ein, sie gehörte zu den Menschen, welche sich nicht von ihren Gefühlen leiten lassen. Sie hatte den Tod schon hundertfach gesehen, was war dazu im Vergleich schon ein kleines unwichtiges Mädchen.
Sahinja hatte genug, von der Suche nach Überlebenden. Sollte doch Mepanuk weitersuchen. Sie zwang sich dazu, erhobenen Hauptes das Lager zu verlassen und schluckte dabei ihre aufkeimenden Tränen hinunter. Sie schlug den Weg in Richtung Wald ein, den sie auch schon eingeschlagen hatte, als sie den Schwertkampf gegen Eogil verloren hatte. Dabei kam sie an der Schmiede vorbei, wo sie von Vorcar ihr Schwert erhalten hatte. Vermutlich war auch er tot. Sie machte sich nicht mehr die Mühe seinen Tot festzustellen. Sollte Mepanuk es doch tun.
Der Tod von Terana ging ihr ungewöhnlich nahe. Eogil hatte zu ihr gesagt, dass Tenara sie bewundert hatte. Sahinja war noch nie von jemandem bewundert worden. Sie wurde gewöhnlich von jedermann gerhasst und gefürchtet. Sie setzte alles daran keine Beziehung zu Menschen einzugehen, schließlich war sie eine Einzelgängerin. Sie brauchte nichts und niemanden. Jetzt wurde ihr wieder einmal überdeutlich klar, wie sehr sie doch ein solches Leben vorzog. Und das Schlimmste würde noch kommen. Eogil, ein gebrochener Mann, der den Tod seiner Liebsten betrauern würde. Sahinja wurde schlecht bei diesem Gedanken. Schon die Vorstellung daran, wie Eogil mit den Kindern gespielt hatte und mit ihnen gelacht hatte. Jetzt lagen sie tot im Schnee. Am liebsten wäre sie weglaufen. Das war ihre übliche Vorgehensweise mit schwierigen Situationen, aber irgendetwas zwang sie hier zu bleiben.
Die Müdigkeit machte sich nun in Sahinja breit. Sie war fünf Nächte und vier Tage pausenlos durchgerannt und sie und Mepanuk hatten nur angehalten, wenn es umbedingt nötig war. Wenn es für Sahinja umbedingt nötig war. Mepanuk, wurde nie müde und er hatte auch noch einen Takran, der es ihm erlaubte, nicht essen zu müssen. Er wurde durch den Schlafentzug ebenfalls müde, was man ihm auch ansah, doch im Gegensatz zu ihr, wirkte er noch ungewöhnlich ausgeruht. Für gewöhnlich waren immer alle anderen diejenigen, welche Schwäche zeigten. Neben Mepanuk war sie es. Er war garantiert nicht der, für den er sich ausgab. Dafür besaß er viel zu wertvolle Takrane.
Die Zeit verstrich und Sahinja erkannte, dass Mepanuk ein Feuer entfacht hatte. Sie atmete ein letztes mal kräftig aus und zwang sich festen Fußes, in das zerstörte Lager zurück. Mepanuk saß am Feuer, welches er aus ein paar unnütze Holzstücken, aus den Überresten des Lagers zusammengetragen hatte. Sahinja setzte sich zu ihm auf den Baumstamm.
„Keine Überlebenden?“, fragte sie.
„Keine Überlebenden.“, bestätigte er.
Das mochte sie an Mepanuk. Er war wie sie, ein Freund weniger Worte. Nicht so wie Eogil, die Quasselstrippe, der in einer Tour faselte und Schlussendlich doch nichts gesagt hatte. Sahinja vermutete, dass Mepanuk ebenfalls ein einsames Leben führte. Sie stützte ihre Ellenbogen auf ihre Knie ab und blickte gedankenverloren ins Feuer. Eogil würde in ein paar Tagen hier ankommen und ihr wurde schon bei dem Gedanken daran schlecht. Was würde er für einen Gesichtsausdruck machen? Was würde er sagen? Und was sollte sie darauf antworten? Noch einmal überlegte Sahinja, ob sie einfach weglaufen sollte, aber sie verwarf den Gedanken sogleich wieder. Da musste sie durch, das war sie Eogil schuldig. Noch im Sitzen überkam ihr vollends die Müdigkeit und sie schlief ein. Dabei merkte sie nicht, wie sie kopfüber nach vorne auf den Boden kippte.

Bei den ersten Morgenstrahlen wachte Sahinja auf. Sie hatte den übrigen gestrigen Tag und die darauf folgende Nacht geschlafen. Ihre Müdigkeit war noch nicht vollständig von ihr gefallen und sie spürte immer noch das bleierne Gewicht ihrer Augenlieder, dennoch zwang sie sich aufzustehen. Sie war auf Decken gebettet und war mit weiteren zugedeckt worden. Neben ihr und dem ausglühenden Feuer schlief Mepanuk. Ebenfalls auf Decken, die er vermutlich im Lager gefunden hatte. Anscheinend hatte Mepanuk den Kavalier gespielt und ihr eine angenehme Schlafstätte bereitet.
Sahinja entschied sich für einen Morgenspaziergang. Nun sah sie die Situation mit anderen Augen. Nach ein paar Schritten war der Großteil ihrer Müdigkeit verflogen und durch den Schlaf konnte sie die Dinge ein wenig distanzierter betrachten. Es war schlimm und Eogil würde sich sicher riesige Vorwürfe machen. Aber darüber mussten sie hinweg. Sie richtete ihre Schritte langsam durchs Lager. Überall auf der Erde lagen Leichen.
Mepanuk benötigte kein Essen und Sahinja würde noch zwei Tag mit ihrem eigenen Proviant auskommen, doch das würde nicht bis zu Eogils Ankunft reichen. Sie suchte in den Überresten aus Zelten, jenes indem die Nahrung aufbewahrt wurde. Es gab zwei dieser Zelte: Das eine war vollständig herabgebrannt, das andere jedoch vollkommen zerstört, die Nahrung darin aber wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Für die nächste Zeit würden sie nicht verhungern. Sahinja fand außerdem noch ein neues Oberteil in ihrer Größe, das sie sich sofort anlegte. Zudem nahm sie eines der edel geschmiedeten Schwerter Vorcars und ließ das von Horiors Soldaten, wie das ungeliebte Spielzeug eines Kindes fallen. Das erste Schwert welches sie von Vorcar erhalten hatte, war zwar beim ersten ernsthaften Kampf zu Bruch gegangen, aber sie vertraute darauf, dass dieses länger an ihrer Seite bleiben würde. Diesmal hatte sie keinen Stärke-Takran, mit dem sie brutal auf eine Steinmauer einschlug.
Sahinja kehrte zu dem schlafenden Mepanuk zurück. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie ihm die ganze Zeit über vertraut hatte. Einem Wildfremden! Ein Bettler, von dem sie wusste, dass er nicht die Wahrheit sagte. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Wurde sie schon zu vertrauensselig, oder hatten die Müdigkeit und der Schock ihr Urteilsvermögen getrübt? Sie wusste immer noch nicht, was sie von ihm halten sollte. Er sagte zwar nicht die Wahrheit, oder zumindest nicht die gesamte Wahrheit, aber das tat sie auch nicht. Für Gewöhnlich war es Sahinjas Art mit der Tür ins Haus zu fallen, aber hier wollte sie behutsamer ans Werk gehen. Sahinja war sich sicher, dass Mepanuk Eogils Takran wollte und da würde sie einhaken. Sie musste nur abwarten und das war für gewöhnlich auch nicht Sahinjas Art. Was war nur los mit ihr? Im Umgang mit Mepanuk verhielt sie sich vollkommen eigenartig. Die Symbole der Takrane welche auf Mepanuk zu sehen waren, zeigten zwar nur einfache Fähigkeiten, aber sie war sich ohnehin sicher, dass sich hinter dem Veränderungs-Takran weitaus mächtigere verbargen. Möglicherweise solch mächtige, dass er sie mit diesen sogar beeinflussten konnten.
Die folgenden Tage verbrachten Sahinja und Mepanuk damit Gräber auszuheben. Sie tat Eogil damit zwar einen Dienst, aber noch mehr hasste sie es tatenlos auf ihren Hintern zu sitzen. Mepanuk hatte natürlich den größten Teil der Arbeit geleistet. Durch seinen Ausdauer-Takran wurde er nie müde. Ihr erster Eindruck ihm gegenüber, hatte sie schwer getäuscht. Er war weitaus fähiger als alle anderen die sie zuvor kennen gelernt hatte und vor allem war er weitaus fähiger als er es vorgab zu sein.
Nach dem Ausheben der Gräber, hatten sie alle Leichen zusammengetragen, diese aber noch nicht begraben. Sie wusste nicht ob dies in Eogils Sinn war. Es waren erschreckend viele von Eogils Freie und nur wenige Soldaten Horiors. Erst jetzt wurde ihr klar, über wie viele Menschen Eogil die Verantwortung trug. Es war schrecklich, hunderte von Menschen tot nebeneinander aufgehäuft zu sehen.
Anschließend nahmen, sie den Leichen alles Geld und alle anderen noch brauchbaren Gegenstände ab. Vielleicht konnte man dieses noch gebrauchen, es wäre schließlich eine Verschwendung diese mit zu begraben. Dann durchsuchten sie noch das Lager, ob sich noch irgendetwas finden ließ, was man noch benötigen konnte und errichteten aus den Überresten ein provisorisches Zelt. Als alles vollbracht war, blieb ihnen nichts anderes mehr übrig als auf Eogil zu warten. Sahinja hasste es zu warten! Hätte sie sich doch nur nicht mit diesem Schönredner eingelassen, dann wäre ihr all das erspart geblieben.
Mit Mepanuk redete sie nur das Nötigste. Sahinja sprach für gewöhnlich nie Menschen an, es sei denn es war umbedingt nötig, außerdem hasste sie es Fragen zu stellen. Sie hatte den Verdacht, dass es sich bei Mepanuk genauso verhielt. Ihr gefiel diese Haltung an ihm, aber es vertrieb die Langeweile kein Bisschen.
In ihrer Langeweile drängelten sich Sahinja weitere Gedanken auf. So prekär der Umstand auch war. Eogil war der Gefangenschaft nur aufgrund ihrer Paranoia entkommen. Wer auch immer ihn verraten hatte, er war davon ausgegangen, dass er einen Lauf-Takran besaß und dieses falsche Wissen hatte jeder der Freien geglaubt. Somit konnte jeder der Verräter sein, mit Ausnahme der Toten natürlich, zu denen auch die Alchemistin gehörte. Doch wer letzt endlich in Frage kam, konnte sie nicht sagen. Sahinja kannte kaum eine Person aus seinem Lager und sie konnte auch nicht sagen, wer zu den Überlebenden gehörte. Den einzigen Überlebenden, den sie kannte, war Arum. Aber genauso hätte es jeder andere sein können. Vielleicht hatte er Glück gehabt und hatte sich nach Venundur aufgemacht, um weitere Informationen einzuholen. Doch wieso hatte er von dem Angriff nichts gewusst? Eine mögliche Erklärung wäre, dass der Angriff eine spontane Entscheidung gewesen war. Da Arum sich zu diesem Zeitpunkt in Eogils Lager aufgehalten hatte, wusste er auch nichts davon. Aber wie man es auch drehte und wendete, ob sich die Waagschale für seine Gunsten neigte, oder dagegen, genaueres konnte nur Eogil wissen. Nicht umsonst konnte er Gedanken lesen, außerdem gab es noch andere, die für den Verrat in Frage kamen.

Und dann kam Eogil. Er trug tiefe schwarze Ringe unter den Augen, genauso wie die letzten drei verbliebenen Freien. Auch sie waren Tag und Nacht gewandert. Wortlos führten Sahinja und Mepanuk sie zu den Leichen. Eogil stand nur reglos vor ihnen. Er betrachtete sie müde und traurig, sagte aber kein Wort. Hin und wieder schüttelte er seinen Kopf, als könne er nicht glauben was seine Augen erblickten. Ganz anders war es bei den beiden Männer und der Frau, diese weinten hemmungslos um ihre Familie. Diesen Anblick wollte Sahinja sich nicht antun und flüchtete abermals in den Wald. Auch Mepanuk verließ die Trauernden.
Der Wald um Eogils Lager wurde langsam Sahinjas neues Zuhause. Immer wieder fand sie sich darin und immer wieder war sie zuvor von etwas geflüchtet.
Es waren nun schon eine Stunde vergangen und Sahinjas Beine zitterten jedes Mal bei dem Gedanken zurück zu Eogil zu gehen. Sie wollte es sich zwar nicht eingestehen, aber sie hatte bittere Angst, was sie dort vorfände. Würde Eogil wie ein kleines Kind weinen? Würde er hemmungslos fluchen und Horior den Tod wünschen? Oder würde er gleich zu Horior in den Königspalast marschieren und eine riesige Dummheit begehen. Sahinja wollte es nicht wissen und somit blieb sie und ließ die Zeit weiterhin verstreichen.
Es vergingen noch weitere Stunden und ohne genau darüber nachzudenken was sie tat, ging Sahinja zurück ins Lager. Eogil, und seine drei Freunde waren nun daran, zusammen mit Mepanuk, die Toten zu beerdigen. Die Leichen waren bereits in die dafür vorgesehenen Aushebungen gelegt worden, welche sie mit Erde bedeckten. Keiner sprach ein Wort. Mit Ausnahme der Geräusche, welche die Schaufeln verursachten, herrschte eine fürchterliche Stille. Jeder war tief in seine eigenen Gedanken versunken. Sahinja nahm sich ebenfalls eine Schaufel und half ihnen.
Als ihre Arbeit beendet war, gingen Sahinja und Mepanuk zurück zu der Feuerstelle und entfachten diese wieder. Nach einiger Zeit kamen Rodink, Pilok und Emilla zu ihnen. Sie aßen eine Kleinigkeit, und sprachen hin und wieder ein Wort miteinander. Sahinja allerdings war froh, dass sie von ihnen nicht angesprochen wurde.
Viel später, als es bereits dunkel war, gesellte sich Eogil zu ihnen. Er setzte sich ans Feuer, sprach jedoch kein Wort und aß auch keinen Bissen. Er starrte lediglich ins Feuer und war tief im Gedanken versunken. Das ausdruckslose Gesicht, seine schwarzen Augenringe und seine herabhängenden Schultern, machten ihn um zwanzig Jahre älter. Der sonst so gesprächsfreudige Eogil, brachte keinen Ton hervor. Alles was er tat war ins Feuer zu starren. Irgendwie machte ihr dieses Verhalten an ihm Angst. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?
Die Zeit zog sich hin wie dickflüssiger Honig. Rodink, Pilok und Emilla hatten sich einen Schlafplatz gesucht und hatten sich ihrer Müdigkeit ergeben. Sahinja, Mepanuk und Eogil saßen immer noch am Feuer, noch immer hatte keiner von ihnen ein Wort gesprochen. Die Situation hätte unbehaglicher nicht sein können.
Dann, nach einer endlos lang scheinenden Zeit, brach Eogil das Schweigen und für Sahinja schien es, als würde sich die dichte Wolkendecke lichten.
„Du hast mir deinen neunen Freund noch gar nicht vorgestellt.“, sagte er.
Seine Stimme war schwach und unsicher und sein Blick war noch immer starr auf das Feuer gerichtet. Er zwang sich zu einem Lächeln, welches mehr einer Grimasse der Traurigkeit glich. Vermutlich machte er es nur noch aus Gewohnheit.
„Ja, das ist Mepanuk“, fing Sahinja an, doch sie wusste nicht was sie weiter darauf sagen sollte. Mepanuk war ihr einfach nachgelaufen. Es war eigentlich eine total sinnlose Idee ihn mit hierher genommen zu haben. Wieso hatte sie das eigentlich getan?
„Und du willst mehr über die legendären Takrane erfahren?“, fragte er Mepanuk und sah diesem das erste Mal ins Gesicht.
„Ja, aber von woher weißt du das?“, fragte er verwirrt.
Eogil tippte nur auf seine Stirn.
„Gedankenlesen.“, warf Sahinja ein und sagte dies weitaus abfälliger als sie es gewollt hatte.
„Ich werde versuchen deine Fragen zu beantworten. Ich muss dich aber warnen, ich weiß auch nicht besonders viel.“
Mepanuk wusste nicht wo er ansetzen sollte.
„Ich weiß nicht mal was ich fragen soll.“, fing er an „Was hat es eigentlich mit diesen Takranen auf sich?“
Eogil seufzte. „Das weiß ich nicht genau. Ich kann dir nicht sagen, warum unsere Takrane in blauer Farbe leuchten und die der anderen rot. Ich kann dir auch nicht sagen, was passiert, wenn man alle zehn legendären beisammen hat. Aber ich kann verstehen, warum Horior so versessen nach ihnen sucht.“
Sahinja wusste genau wovon Eogil sprach, auch sie hatte dieses Verlangen umbedingt nach den anderen Takranen zu suchen. Mepanuk hörte ihm aufmerksam zu.
„Sobald man im Besitz zweier dieser legendären Takrane ist, kann man die Fäden sehen, von denen ich glaube, dass sie die Grundstruktur unserer Welt symbolisieren. Es ist eine Art sechster Sinn, den man erhält und mit diesem Sinn kommt ein unbändiges Verlangen nach den anderen zu suchen. Keiner weiß was passiert wenn man alle zehn beisammen trägt, aber es muss etwas Großes sein. Diese speziellen Takrane sind mächtig und wenn sie alle vereint sind, wird irgendetwas passieren, das fühle ich.“
Besser hätte Sahinja es auch nicht ausdrücken können. Aber wieso musste Eogil ihm das erzählen? Sahinja war davon ausgegangen, dass Mepanuk längst über dieses Wissen verfügt, wieso sollte er sonst auf der Suche danach sein. Das hätte Eogil doch sicher in seinen Gedanken gelesen. Die Neugierde in Sahinja wurde immer größer. Sie fragte sich schon seit langen welche Takrane Mepanuk wirklich trug. Auf alle Fälle hatte er einen legendären, oder zumindest sehr viele mächtige.
Sahinja hatte nicht bemerkt wie Eogil sie musterte und nun war auch Mepanuk seinem Blick gefolgt.
„Was ist?“, fragte er schließlich.
„Ich bin gerade Sahinjas Gedanken gefolgt.“
Sahinja stöhnte auf. Sie hätte beinahe vergessen wie sehr sie diesen Takran auf Eogils Stirn hasste.
„Und?“, fragte nun Mepanuk Sahinja.
„Ich frage mich welche Takrane du wirklich trägst.“, sagte sie schließlich. Sie wollte nicht mehr auf eine passende Gelegenheit warten. Sie wollte es jetzt wissen. Geduld war für sie noch nie eine Tugend gewesen.
„Das frage ich mich bei dir auch.“, sagte Mepanuk eindringlich an sie gewandt.
„Wie meinst du das?“
„Du kannst dir jeden Takran nehmen, ohne dass andere damit einverstanden sind und du beherrscht jeden Takrane, als würdest du ihn schon seit Dekaden tragen.“
„Und du kannst schneller laufen als es möglich ist.“, warf Sahinja ein.
Eogil betrachtete sie ohne ein Wort zu sprechen. Hier haben sich zwei Menschen getroffen, die keinerlei Vertrauen in andere hatten.
„Ich zeige dir meine, wenn du mir deine zeigst.“, sagte Mepanuk auffordernd.
Alles in ihr widersprach diesem Angebot. Wenn Mepanuk mit offenen Karten spielen wollte, musste sie mitspielen, ansonsten würde er ihr nicht sagen wo sich der legendäre Takran befand. Mepanuk konnte aber auch einfach die Symbole seiner falschen Takrane ändern, wenn er glaubte Sahinja damit zu überzeugte. Doch sollte Mepanuk nicht einen legendären Takran auf seinen Körper vorzeigen, würde sie ebenfalls nur das Symbol über ihres eigenen Takrans in ein weiteres falsches abändern.
„Ihr benehmt euch wie Kinder“, fing Eogil an „habt ihr vergessen, dass einer von uns dreien Gedanken lesen kann. Entweder zeigt ihr beide eure wahren Takrane, oder ihr braucht erst gar nicht damit anzufangen. Übrigens kenne ich bereits eure beiden Takrane, mir braucht ihr nichts mehr vorzuschwindeln.
Mepanuk ließ die Schultern hängen. Sahinja machte dies nichts aus. Eogil kannte bereits ihr Geheimnis, aber er hatte soeben Mepanuks herausgefunden.
„Du fängst an.“, sagte Mepanuk zu Sahinja.
„Von ihr bekommst du nichts raus“, fing Eogil an „wenn du ihr nicht deinen Takran zuerst zeigst, würde sie dir den ihren nicht einmal unter Folter anvertrauen.“
Mepanuk schien die Worte Eogils abzuwägen. Schließlich veränderten sich die Symbole auf seinem Körper. Auf seiner Stirn war nun ein Charisma-Takran zu sehen und sofort wurde Sahinja klar, wie Mepanuk es geschafft hatte, sie so zu beeinflussen. Dieser Mepanuk war genauso hinterlistig wie Eogil. Auf seinen Händen trug er immer noch den Blitz- und den Schutzschild-Takran, welche nahezu wertlos waren und auf den Armen trug er nun einen Ausdauer- und einen Nahrungs-Takran welche Sahinja bereits vermutet hatte. Mehr konnte sie nicht erkennen. Mepanuk zog sein Hosenbein hoch, wie er es schon ein paar Tage zuvor getan hatte, um seinen Veränderungs-Takran herzuzeigen. Jetzt jedoch befand sich dort aber ein anderer Takran und zwar einer der legendären. Mepanuks eigener Takran war einer der legendären! Sofort wurde Sahinja klar, welcher es war. Der Takran der Zeit. Doch wie war das möglich? Sein eigener Takran war doch ein Veränderungs-Takran.
„Ich trage den wahren Veränderungs-Takran am Fuß.“, sagte Mepanuk auf ihren fragenden Blick hin.
Mepanuk hatte Mittels eines Veränderungs-Takrans seinen eigenen in einen weiteren Veränderungs-Takran verwandelt. Entweder war das das Klügste oder das Dümmste was sie jemals gesehen hatte. Sie musste sich nur noch für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden.
„Ein Bettler, der einen Veränderungs-Takran am Bein trägt“, fing Mepanuk lächelnd an. „niemand würde mich jemals verdächtigen, oder auf den Gedanken kommen, ich besäße mächtige Takrane.“, dann wandte er den Blick auf Sahinja „Du bist dran.“
Um an seinen Takran heranzukommen musste sie nun wohl oder übel mitspielen.
„Schlafen die drei auch wirklich?“, fragte sie Eogil.
Dieser seufzte. Nickte dann aber.
„Du warst ja dabei, als ich mir die anderen kopiert habe, also brauch ich dir diese nicht zu zeigen.“, sagte sie und krempelte dabei ihren linken Ärmel hoch und brachte dabei ihren eigenen veränderten Takran zum Vorschein. Dann verwandelte sie ihn zurück und der Takran der Perfektion war in der üblichen blau schimmernden Farbe der legendären Takrane zu sehen. Mepanuk staunte und Sahinja fühlte sich enorm unwohl dabei.
„Was ist das für einer?“, fragte er und Sahinja wurde klar, dass sie die einzige war, welche aufgrund ihres Perfektions-Takrans alle anderen sofort erkannte und außerdem auch wusste wofür sie sich eigneten.
„Das ist der Takran der Perfektion. Mit diesem beherrsche ich sofort alle gewöhnlichen Takrane. Ich habe eine perfekte Körperkontrolle und beherrsche somit jegliche Kunst wie Schwertkampf, Bogenschießen, Schleichen, Schlösser knacken und mehr und nebenbei kann ich mir auch noch die Takrane von Bewusstlosen aneignen.“
Mepanuk staunte.
„Ich beherrsche die Zeit.“, entgegnete er schlicht. „Ich kann sie verlangsamen und beschleunigen und mich darin bewegen wie ich will.“
Aber auch das war Sahinja bereits klar. Ein sehr mächtiger Takran und sie freute sich schon darauf ihn am Körper zu tragen.
„Was bewirkt dein Takran Eogil.“, fragte Mepanuk.
„Ich kann die Realität ein wenig abändern.“, sagte dieser kurz, was Mepanuk abermals zum Staunen brachte.
„Willst du tauschen?“, fragte Sahinja ein wenig gereizt.
„Wenn ihr meinen haben wollt gebe ich ihn euch, aber ich kann eure nicht gebrauchen.“
Sahinja machte große Augen. Er kann die legendären Takrane nicht gebrachen?
„Bei dir Eogil, würde ich meinen Lauf-Takran geben müssen und bei dir, Sahinja entweder meine Ausdauer oder den Takran, welcher mir die Nahrung ersetzt. Außerdem brauche ich den Takran der Perfektion gar nicht, ich beherrsche meine schon perfekt und es würde mir viel zu lange dauern, bis ich eure vollständig beherrsche.“
Damit hatte Sahinja nicht gerechnet, sie war sich sicher gewesen, dass Mepanuk nach den legendären Takrane gierte wie sei es tat.
„Dann gib ihn mir.“, sagte Sahinja ungeduldig und fing bei diesen Worten Eogils Blick auf.
Sie benötigte nicht die Fähigkeit Gedanken lesen zu können, um zu wissen, was in ihm vorging. Mepanuk trug seinen Takran am Bein. Wenn Eogil seinen Takran wollte, und den wollte er auch, würde er dafür seinen Veränderungs-Takran eintauschen müssen. Sofort stieg der Unmut wieder in ihr hoch. Anscheinend lief nie etwas nach ihren Willen. Sollte sie es Eogil verbieten? Nein, das würde nicht gut gehen.
„Wenn du meinen verdeckt hältst und du dir sofort einen anderen Veränderungs-Takran machen lasst.“
Eogil nickte. Sahinja hingegen kam es vor, als hätte sie soeben einen riesigen Fehler begangen. Ihr Takran musste im Verborgenen bleiben, um jeden Preis!
Nachdem sich Eogil und Sahinja die Takrane von Mepanuk kopiert hatten, stellte Sahinja ihm die Frage welche ihr schon lange auf der Zunge brannte.
„Von woher weißt du eigentlich von den legendären Takranen?“
„Meinen Eltern war sofort klar, dass ich einen ganz besonderen Takran besaß und dies vermuteten sie nicht nur von der Farbe her. Sie rieten mir schließlich zu einem Veränderungs-Takran. Ich hörte das erste Mal von den legendären Takranen, viele Jahre später, als ich noch Eilbote in Isbir war. Einmal überbrachte ich eine Botschaft an das Königreich Venundur und da sprach man im königlichen Palast von nichts anderem, als von den legendären Takranen. Schließlich gab ich meinen Beruf als Eilbote auf und reiste nach Venundur um mehr zu erfahren. Ich wollte lieber im Verborgenen bleiben und keine Aufmerksamkeit auf mich lenken, da ich bereits davon gehört hatte, dass der König jemanden mit einem legendären Takran gefangen hält. Ich habe auch erfahren, dass er dies mit allen anderen machen wollte, welche einen solchen besitzen. Da ich diesem Schicksal entgehen wollte, gab ich mich als einer des gemeinen Volkes aus. Damals herrschte eine Hungersnot und keiner hatte mehr in irgendeiner Form Besitz. Auch mein Geld war unter dieser erbärmlichen Herrschaft schnell aufgebraucht und ich musste ein Leben als Bettler führen. Ich erkannte die negativen Vorurteile die man gegenüber Bettler hatte und machte sie mir zu Nutze. Schließlich freundete ich mich mit ein paar einflussreiche Personen Venundurs an und trug somit immer mehr Informationen zusammen. Letztendlich erfuhr ich, dass sich einer der legendären Takrane in Nefarin befand. Ich wollte dem König vorauseilen um denjenigen vor Horior zu warnen und ebenso mehr über diese Takrane erfahren. Dass dies alles eine Falle war, merkte ich erst als Sahinja mich vor den Soldaten gerettet hatte.“
Eogil nickte.
„Was denkst du Eogil. Könnte es einer aus deinen Reihen gewesen sein?“, fing Sahinja unverblümt an.
Eogil seufzte traurig.
„Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Ich habe mir die Toten genau angesehen. Nur eine paar Wenige haben überlebt. Es waren diejenigen, von denen Rodink, Pilok, Emilla und ich Takrane trugen. Alle anderen hatten sie aufgespürt und ermordet. Jeder von ihnen hatte die Möglichkeit gehabt mich zu verraten. Ja, auch Arum.“, sagte er auf Sahinjas Gedanken hinweg „Aber das kann ich einfach nicht glauben. Er war mir immer ein treuer Freund gewesen und hat mir schon viele Jahre gedient. Arum war es gewesen, der Pontion und mir damals zur Flucht verholfen hatte. Er hat uns schon mehrmals Informationen verschafft, die unser aller Leben gerettet hatten und er war seit Pontions Tod mein treuester Freund. Es würde keinen Sinn ergeben wenn er uns verraten hätte. Jeder andere würde eher in Frage kommen.“
Sahinja dachte nach. Überzeugungen änderten sich, das kannte sie aus eigener Erfahrung. Aber sie hütete sich davor weitere Person zu verdächtigen. Sahinja hatte eine schlechte Menschenkenntnis und das wusste sie auch.
„Aber du kannst doch Gedanken lesen, warum hast du nicht gemerkt, dass es einen Verräter gibt?“
„Du darfst dir das nicht so einfach vorstellen.“, fing Eogil an. „Es sind viele Dinge zu berücksichtigen. Einerseits waren es zu viele als dass ich die Gedanken jedes Einzelnen lesen hätte können und andererseits sind Gedanken immer schwer zu verstehen, da die meisten Menschen in Bilder denken und ich bis jetzt nur gut formulierte Worte verstehen kann. Schließlich beherrsche ich diesen Takran erst wenige Jahre. Zudem leben die meisten Menschen in der Vergangenheit, was es mir schwer fallen lässt die richtige Interpretation daraus hervorzuheben. Für gewöhnlich versuche ich mich möglichst aus den Gedanken meiner Mitmenschen herauszuhalten. Es sind schließlich meine Freunde und ich vertraue ihnen. Ich möchte sie nicht wie Marionetten herumschubsen. Zudem kannte jeder, meine Grenzen im Gedankenlesen und hätte seine Gedanken in meiner Gegenwart einfach abändern können.“
Na toll, dachte sich Sahinja. Erzählte der ach so große Lord all seinen Leuten seine Schwächen und auch noch wie man diese ausnutzen konnte. So dämlich konnte nur Eogil sein. Das war der Preis für seine übermäßige Gutgläubigkeit.
„Wie schön, dass du meine Gedanken immer respektiert hast.“, sagte sie sarkastisch.
„Du hast es mir auch viel zu einfach gemacht. Dein einziges Ziel ist es an die legendären Takrane zu kommen, was deine Handlungen leicht vorhersagen lässt. Du denkst nie in Bilder, nur in Worten, als müsstest du stets das bestätigen, was du zu tun gedenkst und du achtest penibel darauf, dass du keinen einzigen Gedanken in deine Vergangenheit lenkst. Du richtest deine Blicke stets nur auf die gegenwärtige Situation und dein Ziel. Es ist als würdest du neben mir stehen und mir deine Gedanken ins Ohr brüllen.“
„Freut mich, dass ich dir so wenig Schwierigkeiten bereite.“, sagte Sahinja gereizt und brachte damit erstmals ein flüchtiges Lächeln auf Eogils Lippen.
„Bei dir kostet es mir sogar Anstrengungen wegzuhören. Wie als würdest du wollen, dass ich sie lese.“
„Es genügt schon, ich habe verstanden.“, sagte Sahinja durch zusammengebissenen Zähne.
„Aber genug von mir.“, sagte Eogil „Was ist mit euch? Was werdet ihr nun tun?“
„Ich werde mir ein sicheres Plätzchen vor Horior suchen“, sagte Mepanuk nachdenklich „mich irgendwo verstecken.“
„Und ich werde endlich zu den Daugus Höhlen gehen.“, sagte Sahinja, als ihr plötzlich eine Idee in den Sinn kam. „Wieso begleitest du mich nicht?“, sagte sie zu Mepanuk „Da wo ich hingehe befindet sich ein weiterer legendärer Takran. Derjenige welche ihn besitzt lebt in einem Labyrinth und er kann die Menschen, die sich in sein Labyrinth bewegen, so weit manipulieren, dass sie niemals zu ihm finden.“, so waren zumindest die Worte Eogils gewesen. „Bei ihm wärest du vor Horior garantiert in Sicherheit.“
Mepanuk schien diese Idee zu gefallen während Eogil in ihren Gedanken wieder einmal erkannte was ihre tatsächlichen Absichten hinter diesem hilfsbereiten Vorschlag waren. Sahinja würde zu diesem komischen Kauz nur mit tugendhaften und ehrenhaften Gedanken kommen. Somit war es im vornherein klar, dass sie dafür nicht in Frage kommt und nicht bis zu ihm vorzudringen würde können. Sie war diejenige an deren Hände das Blut hunderter klebte. Aber mit Mepanuk an ihrer Seite würde sie sicher bis zu ihm vordringen können. Er wollte sich doch nur verstecken und wenn er wirklich so viel auf Ehere und Tugend legte, würde er Mepanuk sicherlich helfen und sie würde sich an Mepanuk hängen. Wie sie weiter vorgehen wollte wusste sie noch nicht. Notfalls würde sie ihn niederschlagen und sich seinen Takran nehmen.
„Aber wie wollen wir denn zu ihm kommen“, fragte Mepanuk „wenn er die Menschen soweit manipuliert, dass diese niemals zu ihm finden.“
„Er lässt nur tugendhafte und ehrenwerte Menschen zu ihm.“, antwortete Eogil Mepanuk „Und du Sahinja solltest daran denken, dass ich dich schicke und binde auch in deinen Gedanken ein, dass ich dir vertraue. Als ich das letzte mal bei ihm war, denke ich, habe ich bei ihm Eindruck hinterlassen. Er wird sich sicher an mich erinnern. Vielleicht schafft ihr es damit.“
Und wieder hatte Eogil es geschafft, ihr das Gefühl zu geben, ihm etwas schuldig zu sein.
„Danke.“, sagte Mepanuk.
Sahinja nickte ihm nur zu. Dieses furchtbare kleine Wort wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen.
„Und was wirst du tun?“, fragte Mepanuk anschließend.
Eogil seufzte. „Die gefangenen Freien befreien, was sonst?“, ein mitleidsvolles Lächeln glitt ihm von den Lippen.
Natürlich. Immer den Helden spielen, so war nun einmal der glorreiche Eogil. Pfui Spinne.
Der Tag war nun schon weit in die Nacht gebrochen und Eogil nickte von Zeit zu Zeit kurz weg, schnappte dann aber sofort wieder hoch. Sahinja hatte den Verdacht, dass er den Schlaf so lang wie möglich hinauszuzögern versuchte. Sie war sich sicher, dass er sich für den Tod seiner Leute verantwortlich machte und mit dem Schlaf würden auch die Träume kommen. In Eogils Fall mussten diese sicherlich grauenhaft sein.
Schließlich legten sich auch Sahinja, Mepanuk und Eogil zur Ruhe. Eogil war sofort eingeschlafen, was sie an seinem tiefen Atem erkannt. Er hatte viele Nächte wach verbracht und er brauchte dringend Schlaf. Bei Sahinja dauerte es ein wenig länger, doch sie hatte keinen guten Schlaf. Sie wurde ständig von dem Schluchzen und Wimmern Eogils wach. Es war schrecklich mit anzusehen, wie der Mensch, welcher ansonsten wie der personifizierte Sonnenschein durch das Leben zog, seinen Träumen hoffnungslos ausgeliefert war und wie ein kleines Kind die Nacht in Schluchzen verbrachte. Er hatte alles was ihm wichtig war an einem einzelnen Tag verloren. Morgen würde sie endlich von hier verschwinden.

Kapitel 06 - Täuschung




Vier Tage waren mittlerweile verstrichen, seitdem sie dem gezeichneten Eogil den Rücken gekehrt hatten. Mepanuk und Sahinja waren gleich am frühen Morgen des nächsten Tages aufgebrochen, um dem Tod und der Trauer zu entgehen. Jetzt hatte Sahinja allerdings Schuldgefühle und sie ärgerte sich darüber, dass sie ihre eigenen Gefühle nicht so beherrschen konnte. Die Geschichte ihres Lebens hatte sie gelehrt hart zu bleiben, niemandem zu vertrauen und keine Beziehungen zu Menschen einzugehen. Gut, eigentlich hatte sie die Geschichte ihres Lebens vergessen, doch die Quintessenz daraus war noch vorhanden. Zu viel Schreckliches war geschehen, als dass sie damit leben hätte können. Somit hatte sie ihr Leben in Unwissenheit bevorzugt.
Die vier Tage der Wanderung hatte sie in Frustration verbracht. Sahinja wünschte sich einen Kampf, in dem sie ein paar Menschen das Leben aushauchen konnte und sich somit von ihren eigenen, geringschätzigen Sorgen über Eogil lösen zu können. Aber niemand kam ihnen in die Quere und dabei steuerten sie ihren Weg direkt in das edoranische Königreich. Edoran war bekannt für die Verbrechenstaten ihrer schwarzen Schafe. Der Krieg gegen die Alchemisten hatte vor allem in Edoran große Opfer gefordert. Die Schwäche der Armee wurde regelrecht ausgenutzt und der Sklavenhandel hatte sich prächtig entwickelt. Nicht wenige der Soldaten des edoranischen Reiches hatten ihren Sinn für Gerechtigkeit an den Nagel gehängt und sich den besser bezahlten, aber ruchlosen Geschäfts des Sklavenhandels angeschlossen.
Sahinja hatte ihre vergangenen Jahre im Reich Edoran verbracht. Sie war vielen Takran-Jägern begegnet und fast alle hatte mit ihrer Begegnung das Leben verloren. Es sei denn einer von ihnen hatte einen nützlichen Takran für sie, dann hatte er weiterleben dürfen. Man hätte Sahinja als eine freischaffende Kämpferin des Guten bezeichnen können, welche die Lande vor dem Bösen reinigte. Aber das war sie nicht. Sahinja tötete nicht für das Gute, sie tötete um ihren eigenen Vorteil zu vergrößern. Wenn sie jemandem gleich in den Tod schickte, würde sie diesem kein zweites Mal über den Weg laufen.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie die edoranische Grenze passiert hatten. Da es hier keinen Fluss, Berg oder Wald gab, welcher die Grenze eindeutig zog, konnte nur ein Stadtverwalter sagen, wo das Reich Venundur endete und das Reich Eodoran begann.
Mepanuk war der perfekte Begleiter für Sahinja - Still. Er sprach wie immer nur das Nötigste und das nur in kurzen Sätzen. Er hatte sie noch nicht einmal kritisiert, dass sie ihren Lauf-Takran gegen den Zeit-Takran eingetauscht hatte und sie somit neben ihm wie eine Schnecke herging. Wäre die Situation umgekehrt gewesen, hätte sie ihn dafür maßlos verurteilt. Das rechnete Sahinja ihm hoch an, dennoch würde sie es ihm nicht mitteilen. Mepanuk schleppte sogar einen Teil der Nahrung mit, welchen Sahinja verzehrte. Da Mepanuk selbst nichts benötigte und er sich freiwillig einen Rucksack umgelegt hatte, würden sie nicht so oft ein Dorf ansteuern müssen, um Nachschub zu holen.
Die Reise verlief weiterhin ruhig und um der Langeweile entgegen zu wirken, versuchte sie die legendären Takrane zu beherrschen. Der von Mepanuk bereitete ihr noch Schwierigkeiten, aber Eogils Realitäten-Takran war ihr schon das eine oder andere Mal geglückt. Mepanuk betrachtete sie immer wie ein Esel, wenn sie plötzlich an einer anderen Stelle stand. Zudem war ihr aufgefallen, dass sie die Fäden der Welt weitaus deutlicher erkennen konnte. Sie waren kräftiger und sie konnte die Umrisse der Linien exakt wahrnehmen. Es war, als wollten sie ihr etwas sagen. Ihr Hinweise geben.

Die Tage verstrichen nur langsam und mit ihnen ging auch ihr Vorrat zur Neige. Sie mussten ihren Weg in das nächstgelegene Dorf einschlagen. Bis zum übernächsten würden ihre Vorräte nicht mehr reichen.
„Zwei Zimmer für die Nacht.“, sagte Sahinja zum Wirten des Gasthofes.
Das Dorf trug den Namen Orduun. Es war einfach und die Läute waren unfreundlich, wie man es von den Edoraner gewohnt war. Die ungewöhnlich hohe Verbrechensrate ließen sie stets skeptisch auf Fremde wirken. Hier, unter ihresgleichen, fühlte Sahinja sich wohl. Mepanuk hingegen schien die Gesellschaft eher zu beängstigen. Aber er besaß einen Charisma-Takran, den er zudem perfekt beherrschte. Notfalls konnte er die Menschen nach seinem Willen ein wenig formen. Außerdem ging man Bettlern für gewöhnlich aus dem Weg. Eine gute Tarnung, musste Sahinja sich eingestehen, doch ihr Stolz gewährte es ihr nicht in Bettlersgewänder durch die Straßen zu gehen.
Der Wirt des Gasthofes betrachtete sie mit grimmigen Blicken. Anstelle dass er sich über die Kundschaft freute, ließ er seinem Misstrauen freien Lauf. Sahinja schien es, als wollte dieser ihr ein paar warnende Worte zuflüstern, doch er ließ sie unausgesprochen. Anscheinend hatte er gemerkt, dass man mit ihr und Mepanuk keine angenehmen Gespräche führen konnte.
Als sie ihre Zimmer bezogen und ihre Taschen abgelegt hatten, machten sie sich für eine warme Speise in der Wirtsstube bereit. Die toten Männer Eogils hatten ihnen genug Geld hinterlassen, sodass sie sich königlich auftischen lassen konnte. Mepanuk aß natürlich nichts, er hatte einen Nahrungs-Takran. Schweigend saß er neben ihr am Tisch und betrachtete skeptisch seine Umgebung. Sahinja verspeiste ihre Mahlzeit mit Genuss. Den Proviant, welchen sie von Eogil mitgenommen hatte bestand nur aus Brot, Käse und Fleisch. Diesmal musste sie es nicht mehr gefroren essen. Mit ihren Blitz-Takran bearbeitet Sahinja solange ein paar Holzscheite, bis diese Feuer fingen. Doch die eintönige Nahrung wurde ihr von Tag zu Tag mehr zuwider.
„Hallo Süße, dich kenn ich doch von irgendwoher.“, hatte ein brutal aussehender Mann zu ihr gesagt, der sich in eben diesen Moment zu ihnen an den Tisch setzte.
Es war keine plumpe Anmache, sie kannten sich wirklich. Aber anscheinend wusste er nicht mehr woher sie sich kennen gelernt hatten, ansonsten hätte er sie niemals angesprochen. Der Perfektions-Takran ließ sie nie vergessen, es sei denn sie wollte es. Der Mann welcher vor ihr stand war ein Takran-Jäger. Offenbar wusste niemand davon, ansonsten hätte sich sämtliche Bewohner auf ihn gestürzt und ihn mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt.
Dieser wagemutige Irre war Sahinja zusammen mit seinen beiden Freunden aufgelauert und wollte sie für ein Kopfgeld gefangen nehmen. Die Situation verlief aber gänzlich anders als er erwartet hatte. Nach einer kurzen Auseinandersetzung waren seine Freunde tot und er bewusstlos. Er hatte überlebt weil er einen mächtigen Takran besessen hatte.
Sahinja überlegte wie sie weiter vorgehen sollte. Taktisch klug und so tun als würde sie ihn nicht kennen und somit keine weitere Aufmerksamkeit auf sich regen, oder sich ein wenig Spaß erlauben und damit einen offenen Kampf in der Schänke riskieren. Nach einer kurzen Abwägung hatte sie ihre Entscheidung getroffen.
„Ich bin diejenige, die deine beiden Freunde umgebracht hat.“, dabei setzte sie ein breitestes Lächeln auf und versuchte es so überlegen wie möglich darzubieten.
Schlagartig erinnerte er sich, was sie seinem entsetzen Gesichtsausdruck entnehmen konnte. Er schreckte wie von der Tarantel gebissen von seinem Stuhl hoch und eilte mithilfe seines Lauf-Takrans aus der Stube. Diese feige Reaktion hatte sie nicht erwartet, aber zumindest war sie ihn jetzt los.
„Du hast Eindruck hinterlassen.“, bemerkte Mepanuk anerkennend.
Es waren seine ersten Worte des heutigen Tages. Sahinja erwiderte ihm nur ein hämisches Lächeln und somit war das Gespräch auch schon wieder beendet.
Während Mepanuk durch die Straßen streunte, füllte Sahinja ihren Proviant bei einem Krämer. Auch dieser war misstrauisch. Sei es aufgrund dessen weil sie eine Fremde war, oder weil es sich herumgesprochen hatte, dass sie mit wenigen Worten diesen feigen Takran-Jäger verscheucht hatte. Ihr war es egal. Die Fäden, welche Sahinja nun aufgrund der legendären Takrane erkennen konnte, gaben ihr genug Gewissheit, um mögliche Konflikte im Vorhinein erkennen zu können. Von dem Krämer hatte sie nichts zu befürchten.
Der weitere Tag verlief ereignislos, da sie jeden möglichen Kontakt mit Menschen mied. Schließlich legten sie sich schlafen, gewiss, dass sich niemand heimlich in ihr Zimmer schleichen konnte, da Sahinja es sofort, aufgrund ihrer geschärften Sinne, merken würde.

Sechs Tage später und nachdem sie den Großteil des Weges hinter sich gelegt hatten, war es so weit: Der erste Takran-Jäger stellte sich ihnen in den Weg.
„Sieh an, die Unbekannte, die uns so viele Unannehmlichkeiten bereitet.“, sagte ein Mann ihres Alters und lächelte siegesgewiss.
„Werdet ihr Takran-Jäger denn nie klüger? Und seit wann rennt ihr ständig einzeln in der Gegend herum?“
„Du beurteilst die Situation vollkommen falsch meine Liebe. Ich bin kein Takran-Jäger, ich bin ein Kopfgeld-Jäger und ich bin viel zu gut, als dass ich es nötig hab mein Kopfgeld teilen zu müssen.“
Ein Kopfgeld-Jäger? Ihren Namen kannte doch nur Mepanuk und Eogil. Welcher Idiot hatte ein Kopfgeld auf sie angesetzt? Entweder verwechselte dieser Einfallspinsel sie gerade, oder man hatte sie letzten Endes doch aufgespürt. In jedem Fall musste sie herausbekommen wer das Kopfgeld ausgestellt hatte, bevor sie diesen Verrückten tötete. Anschließend würde sie auch den anderen töten müssen, um das Kopfgeld aus der Welt zu schaffen.
„Ich glaube du täuscht dich.“, entgegnete sie ihm „Wer könnte schon etwas gegen mich haben. Ich bin doch nur eine einfache Frau.“
„Eine einfache Frau, in Kampfgewändern, die ein Schwert mit sich führt und die den Hochmut besitzt mir respektlos zu kommen. Die Beschreibung passt genau: Deine Gesichtszüge stimmen, die Haarfarbe und Länge passt ebenfalls und du hast auch diesen irren Blick, den man dir nachsagt. Außerdem trägst du keinen einzigen mächtigen Takran. Ohne Zweifel trägst du einen Veränderungs-Takran. So konntest du zumindest alle anderen täuschen.“
„Du bist derjenige, der sich täuscht. Die Zeiten sind härter geworden und es treibt sich immer mehr Gesindel, wie du eines bist herum. Kampfgewand und Schwert sollten eine Selbstverständlichkeit für jeden Reisenden sein. Und jetzt hör auf unsere kostbare Zeit zu verschwänden und verschwinde.“
„Weißt du was man als Kopfgeld-Jäger am meisten von seine Opfer zu hören bekommt? Winseln, Betteln, Flehen,.... Deine Furchtlosigkeit und deine Überheblichkeit ist erstaunlich für eine einfache Frau.“
Ihr Gegenüber war ein guter Beobachter. Nun musste sie sich eingestehen, dass sie einem Kampf nicht mehr entrinnen konnte.
„Verschwinde.“, sagte sie zu Mepanuk, der auf dieses Wort nur gewartet hatte. Schon war er mittels seiner übernatürlichen Fähigkeiten verschwunden.
„Ich deute dieses Verhalten von euch als eine Bestätigung meiner Worte.“
„Okay, gut, du hast mich. Verrat mir aber noch vorher wer mich tot sehen will.“
„Darauf habe ich gewartet. Warum wollen das immer alle wissen? Du stirbst doch ohnehin gleich.“
„Ich warte auf eine Antwort.“
Der Unbekannte tat genervt, machte ihr jedoch den Gefallen.
„Die ganze Gilde will dich tot sehen. Du vermasselst ihre Geschäfte. Es ist mittlerweile für sie sogar kostengünstiger wenn du tot bist, als wenn du unter einer großen Anzahl an Opfer gefangen wirst. Sie können nun mal keine selbsternannten Rächer ausstehen. In deinem Fall haben sie sogar den Besten geschickt, du darfst dich geehrt fühlen“, er lächelte überlegen.
Die ganze Sklavenhändler-Gilde also. Das war heftig. Sie hätte nicht gedacht, dass sie sich schon einen solch enormen Ruf aufgebaut hatte. Alle konnte sie nicht töten.
„Wie habt ihr von mir erfahren?“
„Ach denkst du wir kennen dein Markenzeichen noch nicht?“
Sie hatte ein Markenzeichen?
„Alle die einen mächtigen Takran besitzen dürfen weiterleben. Tja, dummerweise haben sich genau diese über dich beschwert.“
Na Toll, jetzt war das also ihr Markenzeichen. Bei ihm würde sie nicht auf ihr neues Markenzeichen achtgeben, dafür hatte er schon gesorgt.
„Wie hast du herausgefunden, wo ich bin?“
„Was wird das hier? Ein Frage- Antwortspiel?“
Dieser Kopfgeld-Jäger hielt sich für den Besten und für gewöhnlich waren die Besten auch gleichzeitig die größten Angeber. Er würde ihre Frage schon beantworten. Auch wenn man bereits ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt hatte, eines musste sie sicherstellen: Wenn er sie gefunden hatte, konnten sie auch andere finden. Dem musste sie entgegenwirken.
„Also, wie habt ihr mich gefunden?“
„Irgend so eine Kakalake aus Orduun hat dich verpfiffen und die Information für einen guten Preis der Gilde gesteckt. Das wars schon.“, er klatschte bei seinem letzten Wort in die Hände und weg war er.
Sahinja war erstaunt und wütend zugleich. Wütend, da sie sich durch diesen kleinen Spaß den sie sich in Orduun erlaubt hatte, die ganze Gilde auf sich aufmerksam gemacht hatte. Und erstaunt, da der Kopfgeld-Jäger vor ihren Augen verschwunden war. Sie kannte keinen Takran, mit dem er sich einfach in Luft hätte auflösen können.
Doch da war etwas und diesmal wurde es ihr sofort klar. Die Fäden! Durch den dritten Takran konnte sie diese noch besser erkennen. An einer bestimmten Stelle verliefen sie unregelmäßig und diese Stelle schien sich zu bewegen. Der Unbekannte hatte es geschafft sich unsichtbar zu machen. Er wollte sie überlisten, aber Sahinja würde den Spieß umdrehen und ihren Nachteil zu ihrem Vorteil machen. Er wusste nicht, dass sie die Fäden sehen konnte und somit bot sich ihr eine einmalige Gelegenheit ihn zu übertrumpfen.
Sahinja zog ihr Schwert, beschwor um sich ein paar Geisterklingen und sah absichtlich in die falsche Richtung. Der Unbekannte kam ihr immer näher, aber Sahinja würde es sofort an den Fäden erkennen, wenn er sie anzugreifen versuchte. Die zusätzlichen Fähigkeiten, welche sie mit den legendären Takranen erworben hatte, schienen in diesem Fall mehr von Nutzen zu sein als die eigentlichen Fähigkeiten selbst.
Nun, als sie wusste womit sie zu rechnen hatte und sie darauf achtete, konnte sie sogar seine Schritte hören. Da sie nicht wusste welche Art von Überraschung sie zu erwarten hatte, durfte sie ihn nicht näher herankommen lassen. Sie verwandelte sich in eine Steinstatue, damit sie jeglichen physischen Angriffen entgehen konnte und schleuderte gleichzeitig die Geisterklingen direkt auf ihn zu. Damit hatte er bestimmt nicht gerechnet.
Aber es geschah ganz anders als sie es erwartet hatte. Er wurde für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar und mit seinem Erscheinen tauchte auch ein Schutzschild auf, welches alle Klingen abwehrte. Na Toll, vereitelt durch einen so wertlosen Takran. Für gewöhnlich trägt man an den Händen Angriffs-Takrane und keine Takrane zur Verteidigung. Mit einem solchen Zug hatte sie nicht gerechnet. Sahinja hatte auch nicht mit ihrem Schwächeanfall gerechnet. Ihre steinerne Rüstung verschwand, ihre Knie knickten unter ihr weg, das Schwert fiel zu Boden und der Eis-Takran verlor für kurze Zeit seine Wirkung.
Er musste einen Schwäche-Takran auf der anderen Hand tragen. Ein sehr wertvoller Takran, aber ebenfalls kein Angriffs-Takran. Dieser Typ hielt sich anscheinend nicht an die üblichen Zusammenstellungen an Takranen. Sahinja musste aufpassen und bei ihm mit dem Unerwarteten rechnen. Ihr Vorteil war es, dass er keine Angriffs-Takrane besaß, der Nachteil war, dass sie besonders aufzupassen hatte, da er andere Kampfregister zog. Und vor allem jetzt musste sie Acht zu geben. Sie hatte einen Schwächeanfall, lag am Boden ohne jegliche Verteidigung und vor ihr stand ein Mann, der gerade mit einem Dolch auf sie einzustechen drohte. Anscheinend war ihm klar, dass der Sieg sein war und war erst gar nicht mehr unsichtbar geworden. In Sahinja stieg die Panik hoch. Durch ihre Schwäche konnte sie sich nicht verteidigen und auch nicht bewegen. Sie musste umbedingt gegen ihre Schwäche ankämpfen, doch die Zeit würde dazu nicht mehr reichen.
Unendlich langsam bewegte er sich auf Sahinja zu. War er verrückt geworden, oder war er so siegesgewiss und von sich selbst überzeugt, dass er den Moment des Triumphes in elendiglicher Langsamkeit auskostete. Die Wahrheit war eine ganz andere. Der Schock und ihr Bitten nach mehr Zeit, ließ sie nicht alles langsamer erscheinen, sondern, es war alles langsamer. Sie setzte soeben zum ersten Mal Mepanuks Zeit-Takran ein. Mühsam versuchte sie sich ihrer Schwäche habhaft zu werden. Für das Wegrollen war es zu spät. Ihre einzige Rettung vor dem Dolch war ihre steinerne Rüstung und diese setzte sie auch ein. Noch während er mit dem Dolch auf sie eindrang verwandelte sie sich wieder in eine Steinstatue. Unterdessen versuchte sie sich dennoch wegzurollen und dabei an ihr Schwert zu gelangen.
Der Dolch traf sie an der Seite und hinterließ, auf der sich versteinernden Haut, einen dünnen Schnitt. Der Unbekannte hätte sie damit getötet, hätte sie die Zeit nicht manipuliert.
Sahinja rollte sich trotz des leichten Schmerzes vollständig weg und richtete sich ihm gegenüber auf und beschoss ihn mit einer dauerhaften Ladung aus Blitzen. Aber auch er hatte sich in unglaublicher Geschwindigkeit aufgerichtet und den Schutzschild ein weiteres Mal errichtet. Sahinja kannte diese Art von Schutzschild: Es war eine andere Form Mepauks Schild. Damit konnte man jegliche Wirkung von Takranen negieren. Ein simples Schwert, oder andere physische Angriffe konnte ihn, im Gegensatz zu Mepanuks Schild, dennoch durchbrechen. Und das war ein weiterer Grund, warum man immer noch Schwerter mit sich trug. Schwerter waren wie gesagt nur Waffen zweiter Wahl, doch in solchen Situationen konnten sie Leben retten.
Der Unbekannte durfte sich nicht bewegen, da Sahinja ansonsten eine Lücke in seinem Schild finden konnte und Sahinja durfte ihren Angriff nicht einstellen, um dem Unbekannten keinen weiteren Trumpf ausspielen zu lassen. Dieses Dilemma konnte sie sich zunutze machten.
Noch während sie ihn weiterhin mit Blitzen beschoss, holte sie mit dem Schwert aus um es ihm entgegen zu werfen. Im entscheidenden Moment bekam sie jedoch einen erneuten Schwächeanfall. Ihr Schwert fiel augenblicklich zu Boden, ihr steinerner Schutz verschwand abermals, der Blitz-Angriff endete und ihre Knie knickten unter ihr weg. Wieder befand sich Sahinja schutzlos, unbewaffnet und bewegungsunfähig am Boden und wieder eilte der Unbekannte auf sie zu und war daran sie mit dem Dolch zu erstechen. Er war verdammt gut, anscheinend gehörte er wirklich zu den Besten.
Diesmal reichte die Zeit um sich von der Schwäche zu erholen. Jetzt war sie darauf vorbereitet und glücklicherweise nicht auf den Zeit-Takran angewiesen, denn diesmal blieb die Zeitverzögerung aus, obwohl sie versucht hatte den Takran einzusetzen. Sie rollte sich weg, konnte diesmal ihr Schwert jedoch nicht ergreifen und der Dolchangriff ging ins Leere. Wieder beschoss Sahinja ihn mit Blitzen und wieder hatte er den Schutzschild errichtet.
„Du bist wirklich so gut, wie man von dir behauptet.“, sagte er höchst erfreut über ihren Angriff hinweg.
Sahinja musste sich eingestehen, dass auch er so gut war, wie er von sich behauptet hatte, jedoch würde sie den Teufel tun und ihm dies auf die Nase binden.
Dummerweise hatte sie diesmal ihr Schwert nicht mehr zur Verfügung um einen zweiten Versuch durch den Schild zu wagen. Vielleicht konnte sie mit ein paar Geisterklingen eine Schwachstelle finden. Ihn mit den Klingen von der Rückseite angreifen, während sie ihn von der Vorderseite mit Blitzen traktierte.
Doch noch in diesem Moment geschah etwas Unmögliches: Der Unbekannte warf einen Feuerball nach ihr! Er besaß einen Schild-Takran auf der einen Hand und auf der anderen einen Schwäche-Takran, es war unmöglich einen dritten Takran auf der Hand zu tragen!
Sahinja musste zur Seite hechten. Dabei hatte sie die Richtung so eingeschlagen, dass sie im Abrollen ihr Schwert ergreifen konnte. Irgendetwas war faul, das sagten ihr die Fäden. Jedoch konnte sie nicht sagen, um was es sich dabei handelte. Instinktiv beschwor sie wieder ihre Geisterklingen. Dann geschah wieder etwas Unmögliches. Nun richtete er doch tatsächlich einen Eis-Strahl nach ihr. Wieder musste Sahinja wegspringen und verlor dabei die Kontrolle über ihre Geisterklingen. Sie lösten sich in Luft auf. Es war bereits unmöglich drei Takrane auf den Händen zu tragen, noch unmöglicher war es vier zu tragen.
Wie bei dem Feuerball spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Dann passierte eine weitere Unmöglichkeit: Der Kopfgeld-Jäger trug, wie jeder andere Kopfgeld- oder Takran-Jäger, einen Takran, mit dem man Menschen wahrnehmen und aufspüren konnte, dennoch hatte er Messer um sich herum beschworen, die er mittels seiner Gedanken kontrollieren konnte und auf Sahinja zufliegen ließ. Das konnte nicht sein und doch tat er es. Wieder sagten die Fäden ihr, dass etwas faul war. Wenn sie doch nur genau wusste welche Takrane er trug, dann könnte sie ihn besser einschätzen. Jedenfalls trug er einen der mächtigsten Takrane überhaupt. Vielleicht war dieser Takran sogar einem legendären ebenbürtig. Dass er einen legendären trug glaubte sie nicht, so viel Glück hatte Sahinja nicht.
Fünf Messer zählte sie, welche um sie kreisten und jederzeit auf sie niederzustechen drohten. Sie befürchtete Grauenhaftes: Sobald sie wieder einen Schwächeanfall erlitt, würde sie durch die Messer getötet werden. Vor fünf Messern gleichzeitig konnte sie nicht ausweichen, nicht einmal mit einem ihrer legendären Takranen.
Wie um ihre Befürchtungen zu bestätigen, erlitt sie einen Schwächeanfall. Ihre Knie knickten weg, das Schwert fiel zu Boden und der steinerne Schutz existierte nicht mehr. Alle fünf Messer rasten auf sie zu und zu allem Übel drang auch noch der Kopfgeld-Jäger mit seinem Dolch auf sie ein. Wieder bekam es Sahinja mit der Panik zu tun und wieder konnte sie einen legendären Takran einsetzen. Diesmal der von Eogil.
Anscheinend konnte man Takrane am besten in Situationen der Not beherrschen. Aber diese Erkenntnis würde Sahinja nicht mehr nützen. Auch wenn sie die Realität so abändert, dass sie vor dem Dolch des Unbekannten in Sicherheit war, eines der Messer würde sie treffen und dann würde er den Rest erledigen.
Sahinja wusste nicht wieso sie es tat, vielleicht war es aus Stolz, oder aus Eitelkeit, jedenfalls wollte sie es nicht zulassen, dass der Unbekannte sie mit seinem Dolch abstach und somit änderte sie die Realität ab, sodass der Angriff des Kopfgeld-Jägers ins Leere ging und sie von einem der beschworenen Messer getroffen wurde. Genauso geschah es auch: Der Angriff des Unbekannten ging ins Leere und sie wurde von einem der beschworenen Messer getroffen. Sahinja schaffte es aber dennoch sich wegrollen und wieder aufstehen. Dann hielt Sahinja inne. Komisch, sie hatte gar keine Schmerzen. Sie sah auf ihren Bauch wo das Messer sie erwischt hatte, sah aber keine Wunde, auch kein Messer, dass sich an dieser Stelle befinden sollte. Verwirrt blickte sie zu den Unbekannte.
„Mist.“, sagte dieser „Ich habe verfehlt.“
Er hatte ganz bestimmt nicht verfehlt, das wusste Sahinja. Was für ein Spiel spielte er mit ihr?
Der Unbekannte beschwor diesmal mit seinen Händen einen Flammenstrom und zielte damit direkt auf Sahinja. Wieder etwas, das unmöglich war und wieder war etwas faul daran. Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihr alles klar. Der Feuerball von vorhin, der Strahl aus Eis, die fünf Messer und der jetzige Flammenstrom. Immer kam ihr daran etwas faul vor und jetzt wusste sie auch was es war. Es hätte so einfach für ihn sein können, sie einen Schwächeanfall erleiden zu lassen und sie darauf mit einem Feuerball abzuschießen, dennoch tat es nicht. Auch jetzt hatte sie keinen Schwächeanfall. Hätte sie einen, hätte sie dem Flammenstrom selbst mit ihren drei legendären Takranen nicht entgehen können.
Sahinja blieb an Ort und Stelle stehen und ließ sich von dem erschaffenen Feuer umhüllen. Die Flammen züngelten an ihr, jedoch verspürte sie keinerlei Schmerz. Wie sie es gedacht hatte, es gab keine Flammen. So schnell das Feuer gekommen war, so schnell war es auch wieder verschwunden.
„Zwei zu Null.“, sagte er. „Du bist wirklich gut. Nur schade, dass ich nur einen einzelnen Punkt brauche um zu gewinnen.“
Einen Teil seiner Kampftechnik hatte sie bereits durchschaut: Er musste einen Takran besitzen, mit dem er ihr allerlei Dinge vorgaukeln konnte. Sahinja wurde unwohl zumute. Ihr war klar, dass er seine Taktik ein weiteres Mal ändern würde und diesmal würde sie von neuem ums Überleben kämpfen müssen. Sie konnte diesen Typen nicht einschätzen und sie wusste nicht, ob sie auch seinem nächsten Trick überleben würde. Der Takran der Gedanken wäre in dieser Situation von erheblichen Vorteil für sie gewesen. Dieser Idiot von Eogil war nie vor Ort, wenn man ihn einmal brauchte.
Plötzlich standen um sie herum hunderte Menschen die dem Kopfgeld-Jäger auf das Haar glichen. Wo sie auch hinsah, überall stand ein Ebenbild seinesgleichen. Ein weiterer Täuschungsversuch. Dann fingen alle mithilfe ihres Lauf-Takrans in enormer Geschwindigkeit wirr umherzulaufen. Sahinja war klar, dass einer von ihnen der Echte war, aber wer? Manche liefen durch sie hindurch, andere im Kreis und wieder andere im Zick-Zack. Hoffnungslos und wie Wild schlug sie mit ihrem Schwert um sich. Jedoch immer ins Leere. Irgendwann würde der Richtige durch sie hindurchlaufen und dabei würde sie einen Schwächeanfall erleiden und durch seinen Dolch getötet werden.
Dann besann sie sich und beruhigte sich. So übel die Situation auch war, Sahinja hatte dennoch einen Trumpf, den er nicht kannte: Die Fäden. Sie konnte deren Verlauf unterscheiden und wusste somit welcher der Richtige sein musste, oder um genau zu sein: Wo er sich ungefähr befand. Trotz diesen Vorteils, durfte sie ihn nicht zu Nahe kommen lassen. Sobald sie einen Schwächeanfall erlitt und sie ihm nicht rechtzeitig entkommen konnte, würde dies ihr Tod sein.
Um dem Abfolge zu leisten schoss sie in die Richtung, in der sich die Fäden am meisten unregelmäßig verhielten Geisterklingen. Sahinja hatte sich dazu entschieden ihn, wenn möglich am Leben zu lassen. Was auch immer er für einen Takran besaß, er war mächtig. Sie glaubte zwar nicht an so viel Glück, dass sie so schnell schon wieder einen weiteren der legendären fand, aber einen so mächtigen Takran wie dieser einen trug, durfte sie sich nicht entgehen lassen. Auch wenn sie damit rechnen musste ihm ein weiteres Mal zu begegnen.
Ihre Angriffe zeigten die gewünschte Wirkung: Den Schild, mit dem er die Geisterklingen abwehren musste. So sehr seine Taktik jedem anderen das Leben gekostet hätte. Aufgrund der Fäden, hatte dieses Vorgehen bei ihr keine Wirkung. Dies sah auch der Unbekannte ein und all seine Ebenbilder verschwanden augenblicklich von der Bildfläche.
„Drei zu Null.“, sagte er. Dann rannte er mit der zusätzlichen Geschwindigkeit seines Lauf-Takrans weg.
Sahinja konnte ihm nicht folgen. Sie selbst hatte ihren Lauf-Takran für den Zeit-Takran eingetauscht und den konnte sie noch nicht richtig benutzen. War er wirklich so feige, dass er von ihr weglief? Das wollte sie nicht glauben: Wenn er sich wirklich für den Besten hielt, war Flucht keine Option für ihn. So etwas würde sein Ego sicherlich nicht verkraften können. Viel wahrscheinlicher war es, wenn er erneut mit einer weiteren List zurückkehrte. Nur welche würde es diesmal sein? Sahinja musst auf alle Fälle gefasst sein und sie musste endlich eine Lücke in seiner Verteidigung finden. Irgendwann würde sie einem seiner Tricks nicht mehr rechtzeitig durchschauen können.
Natürlich hatte sich Recht behalten. Mepanuk kam zu Sahinja angerannt, gefolgt von dem Kopfgeld-Jäger. Na Toll. Anscheinend wollte er ihren Freund töten um sie moralisch zu schwächen. Wäre es jeder Andere gewesen, hätte sie das keinesfalls gestört. Aber Mepanuk trug einen legendären Takran. Wenn er starb, würde sie den Takran der Zeit verlieren und das durfte keinesfalls geschehen. Wohl oder Übel musste sie auf Mepanuk aufpassen und für ihn den Babysitter spielen.
Sahinja rannte ihm entgegen um sich zwischen die beiden zu stellen. Im Lauf zu ihm wurde sich Sahinja einer weiteren Täuschung bewusst. Der Kopfgeld-Jäger, der hinter Mepanuk rannte, war ebenfalls nur eine Illusion. Diesen besonderen Verlauf der Fäden kannte sie noch von seiner wundersamen Vermehrung. Was für ein Idiot, läuft wie ein Irrer um sein Leben. Aber wo befand sich der wahre Kopfgeld-Jäger?
Der Unbekannte hingegen hatte sein Ziel erreicht. Er hatte Mepanuk zu ihr gelockt. Jetzt musste Sahinja nicht nur auf ihr eigenes Leben Acht geben, sondern auch noch auf das von Mepanuk. In Sahinja stieg der Zorn hoch. Das war ein Grund warum sie stets alleine reiste.
„Hilfe.“, schrie Mepanuk. „Er ist hinter mir her. Er kann sich unsichtbar machen.“
So ein Idiot. Das war ihr schon lange klar.
„Mepanuk, du Idiot.“, schrie sie ihm entgegen. „Das hinter dir ist nur eine Illusion.“
Mepanuk blieb abrupt stehen und sah sie verwirrt an.
„Woher weißt du das?“, fragte er irritiert.
„Die Fäden!“, sagte sie nur, aber ohne näher darauf einzugehen, was sie genau damit meinte.
Wo steckte er bloß? Er hatte sich wieder irgendwo verkrochen und wartete darauf eine neue List auszuspielen.
Mepanuk war das letzte Stück zu ihr gegangen und Sahinja erschlich ein ungutes Gefühl. Was auch immer er geplant hatte, der erste Teil seines Plans war geglückt. Mepanuk stand neben ihr und sie musste nun auch noch auf ihn Acht geben.
„Was sollen wir tun?“, fragte er ängstlich.
„Sieh ob du etwas verdächtiges erkennst und wenn du eine Gelegenheit findest läufst du weg, aber diesmal so weit, dass er dir nicht zu nahe kommt.“
Mepanuk nickte.
„Da ist er!“, schrie Mepanuk und Sahinja drehte sich ruckartig in die Richtung, in welche er deutete. Doch das war ein Fehler gewesen, der Sahinja erst jetzt klar wurde. Durch die Anspannung hatte Sahinja ein paar falsche Schlüsse gezogen und diesmal war sie der List des Kopfgeld-Jägers erlegen.
Sie hatte nicht berücksichtigt, dass Mepanuk sowohl einen Lauf-Takran, als auch einen Zeit-Takran besaß. So schnell wie Mepanuk konnte niemand laufen. Der Unbekannte hätte niemals so Nahe an ihn herankommen können. Sahinja hatte auch nicht auf den verwirrenden Tonfall von Mepanuk reagiert als er sie gefragt hatte von woher sie wisse, dass nur eine Illusion hinter ihm herlief. Er hatte nicht gefragt: ,Von woher willst du das wissen?‘, sondern ,Von woher weißt du das?‘ Doch den dümmsten Fehler hatte Sahinja begangen als sie dem Dolch, welchen Mepanuk in seiner Hand trug, keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Es war derselbe Dolch, welchen der Kopfgeld-Jäger zuvor gegen sie eingesetzt hatte.
Diesmal war Sahinja auf seine Täuschung hereingefallen: Der Kopfgeld-Jäger hatte das Ebenbild Mepanuks angenommen. Der echte Mepanuk steckte noch irgendwo verkrochen. Wie um ihrer Erkenntnis Ausdruck zu verleihen, erlitt sie einen weiteren Schwächeanfall. Ihr steinerner Schutz verschwand, das Schwert fiel ein weiteres Mal zu Boden und ihre Knie knickten unter ihr weg und der Kopfgeld-Jäger stach zu.
Der erneute Schock welcher dieser Erkenntnis folgte, verlieh Sahinja die Fähigkeiten ihrer legendären Takrane. - Jedoch zu spät.
Trotz des Schwächeanfalls verlief die Zeit wesentlich langsamer und durch die gewonnene Zeit, konnte sie die Realität so abändern, dass der Dolch nicht von hinten ihr Herz durchbohrte, sondern ein tiefe Wunde an der Seite hinterließ. Daraufhin passierte mehreres gleichzeitig: Während sie geschwächt zu Boden sackte und sich die Hand auf die stark blutende Wunde presste, fiel auch der falsche Mepanuk neben ihr zu Boden. Über ihm stand der richtige Mepanuk und hielt einen dicken Ast in der Hand.
„Als ich gesehen habe, dass ich zu dir gelaufen kam, war mir klar, dass da etwas nicht stimmte. Tut mir leid, dass ich nicht schneller konnte.“
Mepanuk war wahnsinnig schnell angerannt gekommen und er hatte sich auch richtig entschieden: Anstelle ihn mit seinem Blitz-Takran anzugreifen und einen Kampf zu entfachen, in dem er unterliegen würde, hatte er ihn bewusstlos geschlagen. Sahinja wünschte sich nur, dass er schon früher gekommen wäre.
„Das sieht schlimm aus.“, sagte er zu ihr, als er das Blut sah, welches ihre Kleider in rasanter Geschwindigkeit durchtränkte und den Schnee rot färbte.
Sahinja biss die Zähne zusammen und verwandelte ihre Haut zu Stein. Das würde die Blutung aufhalten. Die Schmerzen und die Schwäche würden jedoch bleiben. Sie hatte Glück, dass er nicht ihre Lunge durchstoßen hatte, ansonsten hätte sie einen langen und qualvollen Tod erleiden müssen. Dennoch war die Verletzung schlimm und sie mussten schnell handeln. Würde man die Wunde nicht rechtzeitig heilen, wäre ihr der Tod sicher.
Sahinja kannte diese Gegend. Das nächste Dorf war mehrere Tagesmärsche entfernt. Der Weg war weit und die Chancen standen schlecht, als dass sie dort lebend ankommen würde. Sie hatte zwar einen steinernen Schutz, jedoch würde die Schwäche irgendwann die Oberhand gewinnen und sie würde die steinerne Schutzschicht nicht mehr aufrecht erhalten können. Hoffentlich würde das Fieber lange genug auf sich warten lassen. Wenn sie es bis ins Dorf nicht schaffte sollte, musste Mepanuk ihr einen notdürftigen Verband anlegen. Ob ihm so weit zu vertrauen war, dass er sie sicher in das Dorf brachte? Ironischerweise musste sie jetzt an das Mädchen aus Eogils Lager denken. Hätte Sahinja sie mitgenommen, würde sie noch leben und sie hätte ihre Wunde heilen können.
Sahinja versuchte sich unter qualvollen Schmerzen aufzurichten. Aus Gewohnheit untersuchte sie den Kopfgeld-Jäger nach seinem Takran. Er würde sterben, selbst wenn er einen mächtigen Takran besaß. Auf einen weiteren Kampf durfte sie sich nicht mit ihm einlassen. Das nächste Mal wäre Mepanuk nicht mehr an ihrer Seite und Sahinja beschlich das Gefühl, als hätte er noch ein paar andere Tricks in der Tasche gehabt. Gut, die Takrane die sie trug waren allesamt alles andere als gut und die legendären Takrane beherrschte sie immer noch nicht ordnungsgemäß, dennoch war er das Risiko nicht wert.
Als sie den Kopfgeld-Jäger untersucht hatte und seinen Takran erblickte, blieb ihr der Atem weg. Er trug ebenfalls einen legendären Takran! Kein Wunder, dass er der beste war und kein Wunder, dass er es mit ihr aufnehmen konnte. Es war der legendäre Takran der Täuschung. Sahinja war zugleich höchst erfreut und zutiefst enttäuscht. Höchst erfreut, so viel Glück zu haben, einen weiteren der legendären Takrane durch puren Zufall gefunden zu haben und zutiefst enttäuscht von der Stelle an der ihn der Kopfgeld-Jäger trug: Am Arm. Wenn Sahinja ihn an sich nehmen wollte, müsste sie dafür ihren Kälte-Takran geben. Und wenn sie das tat, würde sie die Reise bis ins nächste Dorf garantiert nicht überleben.
„Das schaffst selbst du nicht.“, sagte Mepanuk, der die selben Schlussfolgerungen gezogen hatte.
„Doch, das schaffe ich.“, sagte sie instinktiv.
,Sie war Sahinja, sie schaffte alles!‘, redete sie sich ein. Aber das war nur ihr Stolz der aus ihr sprach. Sie wusste genauso wie Mepanuk, dass sie das nicht überleben konnte.
Sahinja rührte sich nicht und auch Mepanuk sagte kein Wort. Sie wollte den Takran um jeden Preis, doch der Preis dafür der Tod. Jeder vernünftige Mensch würde davon ablassen, jedoch gehörte Sahinja nicht zu den vernünftigen Menschen. Sie beugte sich auf ihn zu und kopierte ihn sich auf den Arm.
„Bist du irre?“, schrie Mepanuk und riss sie zurück. Doch es war bereits zu spät. Der Kälte-Takran war verschwunden und auf die eisige Kälte hinauf und die heftigen Schmerzen, die ihr Mepanuk bereitete, als er sie zurückgerissen hatte, verlor sie für kurze Zeit die Kontrolle über ihren Erd-Takran und die Steinschicht um sie herum verschwand. Erneut sickerte Blut aus ihrer Wunde und sofort wurde diese wieder durch eine Steinschicht geschlossen.
„Das war dein eigenes Todesurteil.“, sagte Mepanuk und war jetzt zum ersten Mal, seitdem sie ihn kennengelernt hatte wütend.
Wieso hatte sie das bloß getan? War sie wirklich so dumm? War sie so besessen nach diesen Takranen, dass sie dafür sterben würde? ,Nein‘, redete sie sich ein ,das war dieser unbändige Wunsch die anderen legendären Takranen zu tragen, welcher mit den Fäden gekommen war‘. Aber irgendwie konnte sie diese Ausrede selbst nicht glauben.
„Gib mir seine Kleider.“, sagte Sahinja bibbernd, ohne auf Mepanuk einzugehen.
Wortlos tat er, was sie von ihm verlangte und sie warf sich die Kleider des Kopfgeld-Jägers über. Mepanuk gab ihr auch seinen Mantel und übernahm die Last von Sahinjas Schwert und dem Waffengurt.
„Wir müssen in diese Richtung.“, sagte Sahinja mit zusammengebissenen Zähnen durch die Kälte und die Schmerzen hinweg.
Es war die entgegengesetzte Richtung vom Dorf. Sahinja wusste nicht genau warum sie diese Richtung wählte. Etwas in ihr drängelte sie dort hin. Es waren nicht die Fäden, jedoch etwas ähnliches. Etwas, dass sie mit dem vierten legendären Takran dazu erhalten hatte. Hoffentlich leitete ihre neue Intuition sie nicht fehl. Aber sie hatte keine andere Wahl, den Weg ins Dorf würde sie ohnehin nicht überleben. Ihre einzige Chance war es, zu hoffen, dass in dieser Richtung, was auch immer sich dort befand, die Rettung auf sie wartete.
Mepanuk tat wie immer das um was sie ihm bat. Mühsam und auf Mepanuk gebeugt schleppte sie sich in die gezeigte Richtung. Den Rucksack mit Proviant, den Sahinja getragen hatte ließen sie zurück. Sobald der Kopfgeld-Jäger von seiner Bewusstlosigkeit erwachte, würde er eine schöne Überraschung erleben: Er war noch am Leben, er war nackt und man hatte ihm zu essen zurückgelassen. Und er würde diese Beweggründe nicht nachvollziehen können.
Sahinja hatte kein Kraft diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Es war die erste Situation in der sie sich wünschte Eogil um sich zu haben. Er hätte sie heilen können. Auch das kleine Mädchen, Terana, wäre für sie eine lebensrettende Hilfe gewesen.
Sahinja knickten kurz die Füße weg und sie stützte sich schwer auf Mepanuk. Die Stunden vergingen und jetzt merkte sie, dass die Verletzung schlimmer war, als sie gedacht hatte. Die Schwäche drückte auf ihr mit unheimlich schweren Gewicht. Wo auch immer sie hingingen, hoffentlich kam sie rechtzeitig dort an, lange würde sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können.

Sahinja wachte auf. Mepanuk trug sie am Rücken. Er hatte ihr einen Verband aus zerrissenen Kleidern angelegt um ihre Blutung notdürftig zu stoppen. Er lief mit ihr in seinem unnatürlich schnellen Tempo, aber dennoch darauf bedacht ihr durch seinen Lauf keine weiteren Verletzungen beizubringen. Sahinja hatte schweres Fieber und sie hatte bestimmt schon viel Blut verloren. Ihr Körper brannte und ihr war eisig kalt. Ihr war übel und ihre Augen schmerzten. Sie würde sterben, dennoch gab sie nicht auf und versuchte mithilfe ihrer neugewonnenen Fähigkeit herauszufinden ob die Richtung in die sie liefen immer noch stimmte. So gut es ging versuchte sie sich auf das vorhin Gefühlte zu konzentrieren.
„Mehr rechts.“, sagte sie schwach und Mepanuk tat was sie von ihm verlangte.
Sie waren dem Ziel näher gekommen, das konnte sie mit Bestimmtheit behaupten, aber sie hatte bei dieser Art von Fähigkeit kein Gefühl zu Ferne und Nähe. Wie lange hatte Mepanuk noch zu laufen? Stunden? Tage? Wochen?
Es war dunkel, dennoch konnte sie im Mondschein erkennen, dass sie auf einer Ebene liefen auf der weit und breit nichts anderes als eine ebene Schneelandschaft zu sehen war.
Wie gut, dass Mepanuk nie müde wurde und so unglaublich schnell laufen konnte. Dann trat Sahinja erneut weg. Doch kurz zuvor kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Als sie in Eogils Lager angekommen war, hatte es kein Heiler geschafft sie zu heilen, als sie bewusstlos war. Sie hatte sich gegen die Heilung gewehrt, hatte er ihr gesagt. Wo auch immer sie hingingen, sie würde bewusstlos dort ankommen. Und da war noch etwas was ihr klar wurde: Sie hatte eine unvergleichbare Körperkontrolle durch ihren Perfektions-Takran und war unglaublich widerstandsfähig. Dennoch hatte ihre Wunde sie so schnell zusammenbrechen lassen, als wäre sie ein Kleinkind. Dieser Gedanke ließ nur eine logische Schlussfolgerung zu: Der Dolch war vergiftet gewesen.

Kapitel 07 - Alchemisten




„Jetzt müsste sie bei Bewusstsein sein.“
Irgendetwas wurde ihr in den Mund geleert und ihr Schluckreflex zwang sie die Flüssigkeit hinunterzuwürgen. Es schmeckte nach Fäulnis, jedoch war ihr Geschmackssinn außer Gefecht, sodass der Würgereiz nicht eintrat.
„Das wird die Verkalkung des Gehirns auflösen. Damit der Trank wirkt, muss sie im Wachzustand sein.“
Zustimmendes Gemurmel war zu hören.
Nur sehr wenige der gesprochenen Worte drangen bis zu ihr durch und das was sie verstand war so schnell vergessen wie es gekommen war. All ihre Sinne hatten sie verlassen. Sie war wie eine Marionette, zu keinerlei eigenständigen Handlungen fähig.
„Die Wirkung des Gifts ist erstaunlich widerstandsfest. Wir müssen ihr eine weitere Dosis verabreichen.“
Wieder wurde etwas in ihren Mund geleert und wieder musste sie es hinunterschluckten, um daran nicht zu ersticken.
„Jetzt kämpft sie dagegen an. Die zweite Phase haben wir ebenfalls für uns entschieden. Sie hat einen sehr starken Willen. Jeden anderen hätte dieses Gift schon längst getötet.“
„Das beste wird sein, wenn wir ihr die Betatur verabreichen, solange sie sich noch im Wachzustand befindet.“
Abermaliges zustimmendes Gemurmel.
Wieder wurde ihr etwas in die Kehle geleert und sie schluckte es hinunter und gleich darauf musste sie eine weitere Flüssigkeit hinunterschlucken. Mit der zweiten Flüssigkeit überkam ihr eine tiefe Woge der Müdigkeit.
„Es scheint als würden wir die dritte Phase ebenfalls für uns entscheiden. Hominkel verabreiche ihr einen weiteren Trank um das Immunsystem erneut erneut in Gang zu setzen und du öffnest diese Ader und leitest eine...“

„Vermutlich kannst du uns jetzt verstehen. Wir haben es geschafft das Gift aus deinem Körper zu entfernen, aber ein paar der Tränke, die wir dir verabreicht haben, hatten unerwünschte Nebeneffekte, die noch zu kurieren sind. Manche davon müssen wir erst brauen und in dieser Zeit musst du versuchen wach zu bleiben. Wenn du jetzt einschläfst, wirst du nicht mehr aufwachen können und in einer Traumwelt gefangen sein. Um dem vorzubeugen gebe ich dir einen Trank der dich wach hält, jedoch wirst du dabei in eine Art Wachtraum fallen. Alles was du darin erleben wirst entspricht deiner Phantasie.“
Wieder wurde etwas in ihren Hals geleert und wieder schluckte sie es hinunter. Dann drifteten ihre Gedanken ab, aber es war kein Einschlafen, es war viel mehr das Gegenteil davon. Es war eine Art Aufschlafen.

Alles war schwarz. Nur langsam lichtete sich der dunkle Nebel und sie konnte einige Umrisse erkennen. Sie befand sich in einem Raum, aber sie hatte keinen Körper. Jetzt konnte sie erkennen, dass eine schwarze Nebelgestalt mit der Hand auf eine kleinere Nebelgestalt zeigte. Was auch immer sie war, ihr Wesen schien den Raum zu verlassen. Es kam ihr so vor, als bewegte sie sich rückwärts, alles schien kleiner zu werden, aber die Formen der beiden Nebelgestalten veränderte sich keineswegs. Irgendetwas ließ sie glauben, dass sie aus dem Raum gezogen wurde, aber sie blieb fest an Ort und Stelle, den Blick auf die beiden Nebelgestalten gerichtet.
Es wurde geredet. Sie konnte keine Wörter oder Stimmen verstehen, aber konnte dennoch mit Sicherheit behaupten, dass gesprochen wurde. Diese Situation kam ihr unheimlich bekannt vor, als hätte sie diese schon einmal durchlebt. Es war eine Art Déjà-vu. Wie ein übermächtiges Puzzle, setzten sich die einzelnen Teile zusammen. Dennoch hatte sie keine Ahnung was hier vor sich ging. Nur ein Gefühl, eine Art Gewissheit, welche sie selbst nicht deuten konnte, blieb. Sie wusste nicht mehr wer sie war, oder was sie war. Sie wusste gar nichts. Gefangen in einem reißenden Fluss, dessen Strom sie sich hingegeben hatte und der sie führte.
Die Nebelgestalten nahmen nun detailliertere Formen an. Sie wusste nun, obwohl sie es nicht erkennen konnte, dass die größere Nebelgestalt ein Buch in der Hand hielt und daraus las. Die kleinere Nebelgestalt wollte seinen Worten nicht lauschen. Furcht ging von dem Buch aus.
Die große Nebelgestalt bekam nun Gesichtszüge und obwohl sie diese noch nicht genau erkennen konnte, wusste sie instinktiv, dass es die Gesichtszüge eines Mannes waren. Er schrie, denn er war zornig. Und jetzt war auch die kleine Nebelgestalt zornig. Anfangs hatte nur Angst in ihr geherrscht, doch nun hatte sich die Angst in Zorn gewandelt. Sie beherbergte unerschöpfliche Ausmaße des Zorns in sich. Es war, als würde die kleinere Nebelgestalt der Zorn selbst sein und ihr eigenes Wesen schien sie von innen heraus auffressen.
Obwohl sie noch immer keine Laute verstehen konnte, wusste sie, dass die kleine Nebelgestalt nun aufschrie und ihren unbändigen Zorn freiließ. Und dabei holte sie eine Erkenntnis ein. Das Puzzle fügte sich zusammen und sie wusste um welches Déjà-vu es sich handelte: Sie selbst, war die kleine Nebelgestalt. Es war ihr Zorn.
Die kleine Nebelgestalt hatte sich in das Abbild eines Mädchens verwandelt, welche ihre eigenen, jüngeren Gesichtszüge geformt hatten. Auch die größere männliche Nebelgestalt hatte nun Form angenommen. Was jetzt geschah verstand sie nicht und doch wusste sie was das Mädchen getan hatte. Sie nahm dem Mann seine Macht. Sie gierte förmlich nach dieser Macht.
Die Zeit machte einen Sprung und sie hatten den Raum verlassen. Sie musste sich verstecken. Dann lief sie. Weitere Nebelgestalten tauchten auf. Manche tötete sie, von anderen eignete sie sich ihre Kräfte an. Ihr Zorn war noch immer ungebrochen und in ihre dunkle Wesensart mischte sich eine Art unkontrollierter Blutrausch ein. Dann verließ sie die Schattenwelt und Licht strömte in ihre Augen.

„Ruhig, ruhig.“, sagte eine Stimme.
Sahinja war übel. Sie erbrach. Noch währenddessen wurde ihr etwas vor dem Mund gehalten. Ihre Gedanken gingen steif und monoton. Sie versuchte sie in eine Richtung zu navigieren, doch damit hatte sie genauso viel Erfolg, als wolle sie sich einem reißenden Fluss mit bloßen Händen entgegenstellen. Ohne es genau zu verstehen, hatte sie den Verdacht, dass jemand ihre Gedanken kontrollierte. Sie musste dagegen ankämpfen
„Dein Augenlicht wird als letztes zurückkehren. Vorher kehren noch Geruchs- und Geschmackssinn zurück.“
Sahinja konnte nicht antworten, sie hatte vergessen, dass sie dazu in der Lage war. Schleichend wurde ihr klar, dass sie nicht mehr lag, sondern aufrecht saß. Mühselig versuchte sie gegen den reißenden Strom in ihrem Kopf anzukommen.
„Deine Gedankenbahnen müssen ihre ursprüngliche Form erst wieder annehmen. Es muss vermutlich so sein, als hättest du einen riesigen Knoten in deinen Gedanken.“
Lachen.
Ihre Zunge war schwer, matschig und schleimig. Sie schmeckte etwas, konnte aber nicht sagen was es war. Sie hatte keine Erinnerung an etwas das sie zum Vergleich herziehen konnte - noch nicht. Es war auch egal, sie musste den Wasserstrom zurückhalten, darauf sollte sie sich konzentrieren. Sie musste dagegen ankämpfen.

Der Kampf schien endlich gewonnen zu sein. Nun realisierte sie erstmals, dass sie mit ihrem Kopf hin und her wippte. Sie wusste nicht wieso sie es tat, aber jetzt wo sie es bemerkt hatte, verstärkte sie das Wippen.
„Das dürfte reichen. Geben wir ihn ihr.“, sagte eine fremde Stimme.
„Hier trink das und dir wird es besser gehen.“, sagte eine andere Stimme.
Jemand hielt ihr etwas an die Lippen und sie trank widerwillig. Ihre Zunge war ständig im Weg. Dann schien ihr Schädel zu explodieren. Eine Woge gleißendes Licht durchflutete sie und dann war alles vorbei.
„Wo bin ich?“, sagte Sahinja erschrocken.
„Du bist in Sicherheit.“, antwortete ihr ein junger Mann.
Er hatte anstelle des rechten Ohrs einen alchemistischen Takran. Zum ersten Mal erkannte sie, dass die Fäden um alchemistische Takran fehlerhaft verliefen. Sie wusste nicht genau wie sie dies beschreiben sollte, aber es schien so, als seien diese Fäden krank.
Rechts von ihm standen noch zwei weitere Alchemisten. Einer hatte sein rechtes Auge und sein rechtes Ohr gegen Takrane eingetauscht und dem anderen fehlte das linke Auge sowie seine Nase. Zudem hatte seine Haut eine unnatürlich grüne Farbe. Anscheinend hatte er auch den Tastsinn eingetauscht. Die Fäden um diese Menschen sahen allesamt krank aus, schrecklich krank. Mit Ausnahme eines weiteren, bei dem noch alle Fäden in seinen Gewohnten Bahnen verliefen. Dieser saß schweigend im Hintergrund. Mepanuk.
„Moradur, Hominkel, ruht euch aus.“, sagte der junge Mann dessen rechtes Ohr ein Takran war. „Ihr habt gute und lange Arbeit geleistet. Ich werde alles weitere erledigen.“
„Was ist hier los?“, fragte Sahinja nach, während die beiden anderen Alchemisten das Zelt verließen.
„Du wurdest schwer vergiftet und verwundet. Wir haben dich geheilt.“
Panik machte sich in Sahinja breit. Sie war von Alchemisten umzingelt. Im gleichen Moment versuchte sie sich wieder zur Ruhe zu bewegen. Diese Menschen hatten ihr das Leben gerettet genauso wie die Alchemistin damals in Eogils Lager. Vermutlich konnte sie ihnen vertrauen, aber sie hatte noch immer ein enormes Misstrauen ihnen gegenüber. Die Vergangenheit hatte sie gelehrt diesen Menschen nicht trauen zu können und die Vorurteile ihnen gegenüber hatten sich stark in ihrer Wesensart verankert. Sie hatte die Erinnerung nicht mehr daran, da sie alle ihre schmerzhaften Erinnerungen unterdrückte, doch die Erkenntnis, dass Alchemisten zwieträchtige Menschen waren, denen man nicht trauen konnte, war geblieben.
Sie waren für den Krieg verantwortlich gewesen. Sie hatten tausende von Menschen auf dem Gewissen. Sie waren diejenigen, denen niemand mehr vertraute und sie waren diejenigen die keinen klaren Bezug zur Realität mehr hatten. Man konnte ihnen einfach nicht trauen. Niemand konnte das.
Sahinja wünschte sich die Erinnerung zurück, die ihr die Beweise liefern, diesen Menschen nicht zu vertrauen. Doch sie hatte es erfolgreich aus ihrem Gedächtnis entfernt und so schnell würde sie dieses Wissen nicht mehr zurückerlangen. Darüber war sie auch froh. Es war ihr noch immer klar, dass diese Erinnerungen zu schmerzhaft waren und dass sie daran zerbrechen würde.
Sie entschloss sich ein neues Urteil über sie zu bilden. Diese Menschen hier und ebenso die Alchemistin, Ellira, aus Eogils Lager, hatten ihr das Leben gerettet. Ihr hatte Sahinja Unrecht getan und obwohl sie nicht viel für ihre Mitmenschen übrig hatte, wollte sie diesen Menschen zumindest eine Chance geben. Außerdem waren nicht alle Alchemisten vollkommen verrückt. Alchemisten mit nur einem Takran konnten die Realität noch annähernd klar beurteilen. Schlimm wurde es erst ab zwei dieser verfluchten Dinger. Jedoch konnte man sich nie vollkommen im sicher darüber sein. Ein gewisses Risiko, im Umgang mit solchen Menschen bestand stets. Die Charakterstärke und das Selbstbewusstsein, der Menschen spielte ebenfalls eine wichtige Rolle, um die Wurzeln zur Realität beibehalten zu können. Dennoch würde sie diesen Menschen mit größter Vorsicht gegenübertreten.
Der Alchemist welcher ihr gegenüber saß hatte ihre Abwägungen beobachtet und schien die richtigen Schlüsse gezogen zu haben.
„Ich kann verstehen, wenn du uns misstraust. Jeder tut das. Wir haben eine üble Vergangenheit hinter uns.“
,Eine üble Vergangenheit?‘, Sahinja musste in sich auflachen. Es war noch keine Dekade vergangen, als der Krieg noch voll im Gange war.
„Ja, ein paar wenige von uns konnten der Machtgier und dem Irrsinn keinen Einhalt gebieten und haben schlimme Taten begangen. Viele weniger Irregeleitete, hatten sich diesen Menschen angeschlossen. Es war eine Zeit des Grauens. Für euch und auch für uns. Obwohl man gestehen muss, dass wir die weitaus größeren Verbrechen begangen haben.“
Solch ehrliche und selbstkritische Worte hatte Sahinja nicht erwartet.
„Und ihr gehört natürlich nicht zu diesen Irregeleiteten.“, hackte Sahinja nach.
„Schon unsere Väter haben sich aus dem Krieg ferngehalten. Wir leben seither ein Zigeunerleben. Wir haben uns nie für eine Seite der Front entschieden und haben nie die Faust gegen einen Menschen erhoben. Wir lebten als Geächtete unter beiden Seiten. Nun, bis jetzt. Eine Seite hat schließlich den Krieg verloren und wir zahlen den Preis ihrer Niederlage.“
Sahinja wusste nicht ob sie seinen Worten glauben schenken sollte. Ihr Misstrauen ihnen gegenüber war zu groß. Sie würde sie jedenfalls nicht außer Augen lassen.
„Mein Name ist übrigens Yaffel. Darf ich deinen erfahren.“
„Hat mein Freund ihn euch noch nicht genannt?“
„Nein, Mepanuk sagte, du solltest deinen Namen selbst aussprechen.“
So viel Diskretion hatte sie ihm gar nicht zugetraut. Anscheinend war Mepanuk genau die Art von Gefährte, die sich Sahinja wünschen konnte. Der Gedanke an Diskretion ließ Sahinja ein weiteren durch den Kopf schießen. Ihre Takrane! Hatte sie die Kontrolle über den Veränderungs-Takran verloren und waren ihre legendären Takrane nun sichtbar geworden? Ein kurzer Blick auf ihren Arm genügte um die Umrisse eines rot leuchtenden Symbols zu erkennen. Erleichterung überkam ihr. Trotz ihrer Schwäche und ihrer Vergiftung hatte sie die falschen Symbole aufrecht erhalten können. Dem Takran der Perfektion und der Angst vor Enthüllung sein Dank.
„Mein Name ist Terana.“, sagte Sahinja schließlich.
Es war der erste Name, der ihr in den Sinn gekommen war. Dieses junge Mädchen hatte anscheinend Eindruck hinterlassen.
„Terana“, wiederholte der Alchemist. „ein schöner Name, auch wenn es nicht der deinige ist. Aber was bedeutet schon ein Name.“
„Von woher willst du...“, begann Sahinja, unterbrach sich aber selbst, als sie dem Zeigefinger von Yaffel zu seinem abscheulichen Takran folgte. Das eingetauschte Ohr musste ihm wohl Fähigkeiten verleihen, mit denen er unter anderem auch Lügen heraushören konnte.
„Nun Terana, uns würde interessieren wie es zu dieser Situation gekommen ist.“
Auch das hatte Mepanuk ihm nicht gesagt? Eine solche Verschwiegenheit hatte sie diesem Bettler gar nicht zugetraut.
„Du hast einen sehr stillen Freund.“, warf Yaffel ein, der ihren Gedankengängen ein weiteres Mal richtig gefolgt war.
„Wir wurden von einem Kopfgeld-Jäger angegriffen.“, antwortete ihm Sahinja. Sie versuchte so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Lügen würde er ohnehin erkennen.
Nun schien der Alchemist ein wenig die Fassung zu verlieren.
„Ich hoffe doch ihr seit keine gesuchten Verbrecher, denen man versucht das Handwerk zu legen. Wir wollen uns nicht zwischen irgendwelchen Fronten drängeln und somit selbst zur Zielscheibe werden.“
„Ich habe ein paar Takran-Jäger auf dem Gewissen und jetzt ist die Sklavenhändler-Gilde sauer auf mich.“
Nun würde er die Wahrheit aus ihren Worten erkennen und sie für einen ehrenwerten Menschen halten. Für jemanden der für Gerechtigkeit kämpft oder so. Das war sie zwar nicht, aber sie hoffte, er würde diese falschen Schlüsse aus ihren ehrlichen Worten ziehen.
Yaffel seufzte auf. Anscheinend beurteilte er die Situation anders, als sie erhofft hatte.
„Gewalt führt zu noch mehr Gewalt. Es ist als würde man Feuer mit Feuer bekämpfen.“, er sah sie abwesend an und horchte zugleich auf irgendein Geräusch, das selbst Sahinja mit ihren Perfektions-Takran nicht vernehmen konnte. Vermutlich eine weitere Besonderheit seines alchemistischen Takrans.
„Ich nehme an“, sprach er weiter „dass dies der Grund eures falschen Namens ist.“
Das entsprach zwar nur zum geringeren Teil der Wahrheit, aber das würde er ihr schon durchgehen lassen.
„Ich versuche im Verborgenem zu bleiben.“, sagte sie diplomatisch, ohne direkt auf seine Frage zu antworten.
„Wer auch immer etwas gegen euch hat. Er hat es ernst gemeint. Das Gift, mit dem er euch vergiftet hat, hatte jeglichen Heilungsprozess verhindert. Kein Heiler hätte es geschafft die Wunde zu schließen und auch keiner unserer Tränke hat gewirkt. Nicht einmal die üblichen Gegenmittel, die wir in solchen Fällen verabreichen, hatten Wirkung gezeigt. Wir mussten das Gift vergiften, um dein Leben zu retten. Du kannst froh sein, dass wir ein paar der erfahrensten Alchemisten unter uns haben, die solche Wunderwerke brauen können.“
Sahinja nickte anerkennend.
„Nun, wer auch immer versucht hat euch zu töten, er wird mit Sicherheit denken, dass es ihm gelungen ist. Du könntest einen Neuanfang machen. Ein Leben in Frieden.“
„Ich werde es mir überlegen.“, sagte sie um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Natürlich würde sie es sich nicht überlegen. Sie war eine Kämpferin, jemand der den Tod brachte. Das war ihr Lebensweg. Einen anderen kannte sie nicht und einen anderen würde sie niemals gehen. Aber eine Diskussion mit diesem hirnlosen Alchemisten wollte sie nicht führen. Was konnte so ein Suppenkoch von ihrem Leben der Einsamkeit schon verstehen?
„Es hatte auch für uns ein Gutes.“, wechselte Yaffel das Thema „Durch solche Situationen lernen und unterrichten wir. Ich habe viel gelernt und wir konnten die Wirkung vieler Tränke an dir erproben.“, plötzlich unterbrach er sich. „Tut mir leid, das klingt ein wenig respektlos dir gegenüber, aber so ist der gewohnte Gesprächsgang von uns Alchemisten. Wir mussten viel improvisieren, da wir nicht immer die passenden Gegenmittel hatten. Es war mehr ein Experimentieren als eine professionelle Heilung.“
Sahinja wurde bei diesen Worten ganz flau in der Magengegend. Er sprach über sie, als wäre sie eines seiner Mixturen, die er mit den einen oder anderen Zutaten verfeinerte. Anscheinend war es wirklich schlimm um sie gestanden und diese Alchemisten hatten sie mit diversen Kunstgriffen von der Schwelle des Todes zurückgeholt.
„Wie lange war ich außer Gefecht?“
„Einen knappen Tag.“
Ein knappen Tag? Sie hatten nur einen Tag gebraucht um sie von der Vergiftung zu heilen und sie wieder auf die Beine zu bringen? Ellira, die Alchemistin aus Eogils Lager hatte elf Tage gebraucht, um sie von ihrer Schwäche zu befreien. Aber Ellira hatte ihr nur einen alchemistischen Takran verabreicht, der ihre körpereigenen Kräfte stärkte. Von Yaffels Alchemisten-Freunde, hatten manche sogar drei alchemistische Takrane. Zumindest hatte sie einen mit drei das Zelt verlassen sehen. Vielleicht gab es auch einen, der mehr als drei trug. Nicht auszudenken, welchen Substanzen sie ihr zugeführt hatten. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, aber es kamen ihr vereinzelte Erinnerungen ins Gedächtnis, wie sie verschiedene Flüssigkeiten hinuntergeschluckt hatte.
„Du solltest ein wenig essen.“, sagte Yaffel „Hunger ist eines der wenigen Dinge, die wir nicht mit Tränken kurieren können. Wir haben zwar deinen Hungerreiz unterbunden, aber du solltest dennoch etwas zu dir nehmen. Die Reise zu uns, die Krankheit und manch einer unserer Tränke haben dich ausgezehrt.“
Bei diesen Worten betrachtete sich Sahinja zum ersten mal genauer. Sie hatte wirklich an Gewicht verloren. Man konnte sogar sagen, sie sei regelrecht ausgemergelt. Probeweise hob sie ihre Hand und versuchte das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Als ihr das nicht gelang, ließ sie ihre Hand zurück in ihren Schoß fallen. Es war eine Art Reflex: Niemand sollte ihr Schwäche anmerken. Ihre ruckartig Bewegung wurde jedoch sowohl von Yaffel als auch von Mepanuk bemerkt und diese bildeten sicher wieder das richtige Urteil.
„Ich hole dir etwas.“, sagte Yaffel und verließ das Zelt.
Sahinja wäre sicher zu schwach gewesen, um sich auf den Beinen zu halten. Sie fühlte sich zwar durch die Tränke, welche sie ihr gegeben hatten quicklebendig, aber ihr war klar, dass ihre Füße sie noch nicht tragen konnten.
„Schön, dass du wieder da bist.“, sagte nun Mepanuk erstmals, der das gesamte Gespräch schweigsam verfolgt hatte.
„War es wirklich so schlimm?“, fragte Sahinja nach.
Eigentlich wollte sie es nicht wissen. Sie hatte keine Ahnung warum sie danach fragte. Alles was zählte, war, dass sie wieder genesen war. Wie das genau vonstatten gegangen war interessierte sie nicht.
„Ja.“, antwortete Mepanuk knapp.
Dieses eine Wort reichte auch. Diesen Alchemisten vertraute sie nicht. Wenn sie meinten, dass es schlimm gewesen war, konnten sie genauso gut gelogen haben. Aber wenn Mepanuk ihr dies bestätigte, dann war es auch wirklich schlimm gewesen.
Wieder war das Gespräch zwischen ihr und Mepanuk verstummt. Sie waren nun mal zwei Menschen, welcher der Worte nur wenig bedürfen. Sahinja sollte sich bei ihm bedanken, das war das Mindeste was sie tun konnte. Mepanuk hatte sich schon mehrmals als ein treuer Gefährte erwiesen. Aber Sahinja schreckte davor zurück. Bei diesem einzelnen Wort, würde sie ihm ihre Schwäche eingestehen. Wer weiß wie dies die Situation verändern konnte. Es wäre wohl besser, sie sagte nichts, dann würde auch alles so bleiben wie es war. Aber dann entschied sie sich doch anders.
„Danke.“, sagte sie zu Mepanuk und biss sich, sobald sie dieses Wort ausgesprochen hatte, auf die Lippen.
In diesem Moment kam auch Yaffel zurück ins Zelt. Mepanuk sah sie als Antwort nur anerkennend Nicken. Verdammt, warum war dieser dämliche Alchemist nicht einen Moment früher erschienen, dann hätte sie sich nicht dieser Blöße hingeben müssen. Aber das Missgeschick war begangen und damit musste sie nun leben.
„Hier, eine Wurzelsuppe.“
Wurzelsuppe, das war eine typisch alchemistische Speise. Niemand sonst konnte die verschiedenen Wurzeln so gut auseinander kennen und ein genießbares Gericht daraus zubereiten. Vor allem in dieser Jahreszeit, wo alles mit Schnee überdeckt war, wäre es bestimmt für jeden anderen schwer gewesen, die passenden Zutaten in der Erde zu finden. Nicht zu vergessen, die vielen giftigen und ungenießbaren, aber vollkommen gleichaussehenden Wurzeln zu unterscheiden. Ja, Wurzelsuppe war etwas typisch alchemistisches.
Aber Sahinja brauchte etwas zum essen. Ihr geschwächter Körper verlangte danach. Nun, sie hatten ihr das Leben gerettet, warum sollten sie es ihr jetzt wieder nehmen wollen? Und doch war das Misstrauen groß, als sie den ersten Bissen davon nahm.
Es schmeckte wider allen Erwartungen unverblümt gut. Natürlich schmeckte es gut. Alchemisten beherrschten es wie keine anderen, die richtigen Zutaten für ihre Tränke auszuwählen, da war das Kochen für sie nichts anderes, als ein Kinderspiel. Gierig leerte sie die Schale und sie fühlte wie die Stärke in ihre Glieder zurückkehrte. Hunger hatten sie keinen, dieses Empfinden hatten sie ihr genommen, dennoch verlangte ihr Körper nach Nahrung.
„Ich hole dir noch eine Schale.“
Yaffel verschwand wieder aus dem Zelt und ein unangenehmes Schweigen herrschte zwischen ihr und Mepanuk, bis Yaffel das Zelt wieder betrat. Als sie diese Schale ebenfalls geleert hatte, fühlte sie sich endlich wieder kräftig genug um das Zelt aus eigenen Stücken zu verlassen.
„Du trägst keinen Eis-Takran.“, fing Yaffel an.
Das stimmte. Jetzt wo Yaffel es erwähnt hatte, merkte Sahinja, dass sie keine Kälte spürte und das obwohl es innerhalb des Zelt sicherlich nicht wärmer war als außerhalb. Wie konnte es sein, dass ihr geschwächter Körper der Kälte so zu trotzen vermag?
„Wir haben dir einen Trank verabreicht, der dich vor der Kälte schützt.“, folgte er wieder ihren Gedankengängen und Sahinja hatte das Gefühl, dass auch dies eine der zusätzlichen Fähigkeiten seines alchemistischen Takrans war. „Er wird aber bald seine Wirkung verlieren. Wir könnten dir einen weiteren Trank verabreichen, doch das würde das Problem nur hinauszögern. Du brauchst einen Takran. Bartus besitzt einen Eis-Takran, aber du müsstest dafür einen anderen geben.“
Sahinja wusste nicht ob das gute oder schlechte Nachrichten waren. Sie brauchte dringend einen Eis-Takran, ansonsten würde sie die Reise nicht zu Ende führen können. Aber sie würde unter keinen Umständen einen der legendären Takrane dafür eintauschen. Würde Bartus den Eis-Takran am Bein, oder am Arm tragen, würde sie das Angebot ausschlagen.
„An welcher Stelle trägt er ihn?“
„An der Stirn.“
An der Stirn? Dieser Alchemist besitzt einen elementaren Takran an der Stirn? Mit einem solchen Takran, hätte er sich eine goldene Nase verdienen können. Vor allem in dieser kalten Gegend, wo Schnee und Eis allgegenwärtig war. Diesen Takran wollte er ihr einfach so geben?
„Den wollt ihr mir wirklich überlassen?“
„Ja, wir halten uns nicht an die Sitten und Gebräuche aller anderen. Geld hat für uns keinen Wert. Für uns ist es ein Takran wie jeder andere.“
Sie müsste dafür ihre Geisterklingen eintauschen, aber das war nur ein kleines Opfer, dafür würde sie etwas viel mächtigeres erhalten. Erstaunlich, dass jemand mit einem solch mächtigen Takran den Weg eines Alchemisten bestreitet.
Sollte sie allerdings das Daugus Gebirge erreichen und den Takran der Gedanken erhalten, würde sie ihren Eis-Takran eintauschen müssen. Dabei würde sie nicht nur einen der mächtigsten Takrane verlieren, sondern auch noch vor Kälte bibbern. Doch darüber wollte sie sich erst Gedanken machen wenn es so weit war.
Wenn für diese Menschen solch mächtige Takrane wertlos waren, konnte sie vielleicht auch noch bei anderen ein paar nützliche ergattern. Der Kampf gegen den Kopfgeld-Jäger, hatte ihr, ihre Überheblichkeit vor Augen geführt. Früher war Sahinja immer mit den besten Takranen aufgerüstet gewesen und wenn sie einen oder zwei verloren hatte, machte dies keinen Unterschied. Sie übertrumpfte ihre Kontrahenten stets mit ihrer Perfektion. Aber nun musste sie sich eingestehen, dass sie zwar vier der legendäre Takrane besitzt, aber drei davon nicht richtig einsetzen konnte. Zudem trug sie auch noch einen Veränderungs-Takran auf ihrem linken Fuß, der ihr in einem Kampf keinerlei Nutzen brachte, ihr rechte Fuß war leer und den Blitz-Takran trug sie zwei mal. Kein Wunder, dass sie der Kopfgeld-Jäger so fertig machen konnte. Sie benötigte umbedingt Takrane, die ihr in einem möglichen Kampf auch hilfreich waren und nicht diese erbärmliche Zusammenstellung eines Flickenteppichs.
„Es würde zwar ein wenig dauern bis du seinen Eis-Takran beherrscht, aber er würde dir zumindest einen kleinen Schutz vor der Kälte bieten.“, sprach Yaffel weiter.
„Ich lerne ziemlich schnell.“, entgegnete ihm Sahinja und Yaffel wog ihre Worte anerkennend ab.
Der alchemistische Takran vermittelte ihm anscheinend auch eine tiefere Bedeutung ihrer Worte.
„Nun, dann wollen wir mal.“, sagte Yaffel und erhob sich von seinem Stuhl.
Jetzt stand auch Sahinja zum ersten Mal auf. Ihre Beine waren noch immer schwach und sie musste sich erst wieder an diesen Umstand gewöhnen, aber sie hatte schlimmeres befürchtet. Mepanuk folgte ihr wie immer still und leise im Hintergrund.
Als sie das Zelt verließen, stach ihr das helle Licht in die Augen. Die Sonne schien stark auf den weißen Schnee, welcher das Licht reflektierte und ihre geschwächten Augen tränen ließ.
„Ich sollte euch vielleicht vorwarnen. Bartus ist ein Medium. Er hat beide Ohren gegen Takrane eingetauscht. Vermutlich wird er euch ein bisschen wirr erscheinen.“
Damit war zu rechnen. Alchemisten waren nun mal verrückt und je mehr Sinne man gegen Takrane eintauschte, umso verrückter wurde man. Über Medien wusste sie nicht viel. Was sie mit Bestimmtheit von ihnen sagen konnte, war, dass sie aufgrund ihres fehlenden Gehörs taub waren und zudem sollen sie auch noch irgendwelche Stimmen in ihrem Kopf hören, die mit ihnen redeten. Das würde ein lustiges Unterfangen werden, wenn sie mit jemandem sprechen sollte, der taub war.
Sahinja hatte noch nie ein alchemistisches Lager betreten. Dieses hier war nicht groß, höchstens dreißig Menschen konnten darin leben. An einem Baum hatten sie ihre Pferde angebunden, welche die Kutschen für ihr Hab und Gut zogen. Sie führten anscheinend tatsächlich ein Zigeunerleben, so wie Yaffel es ihr berichtet hatte. Ihr Lager hatten sie in der Nähe eines Waldes aufgeschlagen. Der Grund war womöglich die Tatsache, dass sie in einem Waldstück vermehrt ihre besonderen Zutaten fanden.
Yaffel hatte Sahinja und Mepanuk zu einem Mann geführt, der energisch im Kreis ging und sich anscheinend mit etwas auseinanderzusetzen versuchte. Wie Yaffel gesagt hatte, fehlten ihm beide Ohren. Stattdessen trug er diese alchemistischen Takrane, die unheimlich grün leuchteten. Auch bei ihm sahen die Fäden ungesund aus. So etwas sollte einfach nicht sein.
„Bartus“, redete Yaffel ihn an und obwohl er Yaffel nicht gehört hatte, sah er ihn und beendete seinen energischen Gang.
„Hier ist eine junge Frau, die deinen Takran benötigt.“
„Ja, auch ich finde, dass sie ein großes Geheimnis in sich trägt.“
Mit wem redete er? Alchemisten, sie waren nun mal allesamt verrückt.
„Für gewöhnlich versteht er uns.“, sagte Yaffel an Sahinja gewandt.
Yaffel zeigte auf seine Stirn, um zu verdeutlichen, dass er von seinem Takran sprach.
„Ja.“, sagte Bartus geistesabwesend „Da habt ihr recht. Sie ist zu Großem bestimmt. Der Seher hatte recht behalten, aber sie wird sterben. Aber das ist doch ganz normal, wir müssen alle sterben.“
Es schien so, als würde Bartus mit irgendwelchen Stimmen sprechen, die nur er hören konnte.
„Nicht wir können ihr den Weg bereiten, der Weg bereitet sich ihr. Es ist der Wegbereiter, der dies veranlasst. Nein, ich kennen den Wegbereiter ebenfalls nicht. Er muss mächtig sein, der Seher hatte recht behalten. Sie ist zu uns gekommen. Die Präzision seiner Wahrsagung ist, wie ich schon erwähnte, famos.“
Dieser Alchemist, oder Medium, wie auch immer man ihn bezeichnen wollte, hatte vollkommen ein Rad ab. Vermutlich hatte er schon wieder vergessen, dass sie vor ihm standen. Er unterhielt sich lieber mit seinen Hirngespinsten als mit reellen Personen.
„Ihr müsst wissen“, sagte Yaffel nun wieder an Sahinja und Mepanuk gewandt „dass wir vor ein paar Tagen bei dem großen Seher waren. Er hatte den Zeitpunkt präzise, wie Bartus eben erwähnte, vorhergesagt, an dem wir mit eurer Begegnung zu rechnen hatten. Er hatte uns auch ungefähr von der Art eurer Vergiftung berichtet, sodass wir uns auf das Nötigste vorbereiten konnten. Zu einem Teil habt ihr auch ihm euer Leben zu verdanken.“
Der große Seher - von ihm hatte selbst Sahinja schon gehört. Es soll schon ein hohes Alter erreicht haben und war im Krieg stets neutral geblieben. Man sagte er habe nur deshalb überlebt, da er immer genau wusste wann er sich zu verbergen hatte und wann und wo er sich zeigen konnte. Niemand konnte so exakt die Zukunft voraussagen wie er, da er zusätzlich zu den alchemistischen Takranen auch die effektivsten Takrane ausgewählt hatte, um seine Sicht in die Zukunft zu verdeutlichen. Zusammen mit der Jahrzehnte langen Erfahrung, war er ein Seher, wie es keinen zweiten gab. So sagte man zumindest unter dem gemeinem Volk. Für einen Alchemisten, musste dies natürlich umso mehr von Bedeutung sein. Natürlich sagte man ihm auch nach, dass er vollkommen irre war. Bei ihm soll es sogar noch weitaus schlimmer sein, als bei gewöhnlichen Alchemisten.
„Ich verstehe deine Worte klar und deutlich, mein Freund.“, sagte Bartus plötzlich laut zu Yaffel „aber was ich nicht verstehen kann, ist, warum du ihre Zunge verknotet hast.“
Yaffel, Sahinja und Mepanuk sahen ihn verwirrt an, dann wandte sich Yaffel wieder an Sahinja.
„Ich glaube er meint damit, dass du diese Bitte selbst vorbringen sollst.“
Da Sahinja von dieser Situation vollkommen überfordert war, tat sie was Yaffel ihr geraten hatte.
„Ich hätte gerne deinen Takran.“, sagte Sahinja laut und deutlich und versuchte jedes Wort so klar wie möglich zu formulieren, als könnte sie der Taube dadurch besser verstehen.
„Habt ihr sie verstanden meine Freunde.“, sagte Bartus wieder zu den Stimmen in seinem Kopf und wandte sich von Sahinja ab, die gerade daran war das letzte Stückchen Geduld zu verlieren. „Ich vernehme ihre Worte und verstehe doch etwas tiefer liegendes. Es ist so klar wie der Grund eines stillen Sees. Sie beschreitet den ihr bereiteten Pfad und sie kennt ebenso wie wir, nicht den Wegbereiter. Wer um Himmels Willen ist bloß der Wegbereiter?“
Am liebsten hätte Sahinja ihn bewusstlos geschlagen und sich seinen Takran einfach genommen, aber das hätte sicher einen schlechten Eindruck bei den anderen Alchemisten hinterlassen und von denen wollte sie auch noch ein paar Takrane ergattern. Und was hatte dieses Geschwätz von dem Weg und dem Wegbereiter zu bedeuten? Vermutlich nur Einbildungen, es war ohnehin klar, dass er den Bezug zur Realität schon fast verloren hatte.
„Ich sage, wir geben ihr unser Zeichen, auf dass es ihr den Weg der Vernunft erleuchtet und ihren Pfad in hellen Schein tränkt.“
Sahinja wollte diese Unterredung schon aufgeben, als Bartus plötzlich zu ihr kam und seinen Takran auf ihre Stirn kopierte. Sahinja stand noch immer irritiert auf dem selben Fleck, während sich Bartus seinem Irrsinn abermals hingegeben hatte.
„Auch wenn wir sie nicht auf den rechten Wege bringen können, wird sie der falsche Pfad ebenfalls ans Ziel führen. Doch wird das Ziel noch immer das selbe sein? Ich glaube nicht!“
Mit diesen Worten entfernte sich Bartus taumelnd in den Wald und gab sich vollkommen seinen inneren Stimmen hin.
„Auch wenn ihr ihn für einen Narr haltet, kann ich ihn durchaus verstehen. Die alchemistischen Takrane geben uns zusätzliche Fähigkeiten unsere Welt besser verstehen zu können. Doch indem wir einen unserer Sinne dafür eintauschen, können wir manch eine Situation nicht mehr ordnungsgemäß beurteilen. Je mehr wir verstehen, umso weniger kommen wir mit unserer Welt zurecht. Es ist ein Fluch und ein Segen zugleich. Ich selbst giere nach anderen Takranen um meine unzähligen Fragen beantwortet zu bekommen, aber der Preis dafür ist einfach zu hoch. Nicht alle sind stark genug um den Bezug zur Realität aufrecht erhalten zu können und somit ist mir auch klar, wie manch ein Alchemist solch grausame Taten begehen konnte. Für gewöhnlich hat sich Bartus allerdings unter Kontrolle. Wir haben sogar zwei Alchemisten, die drei Takrane besitzen und dennoch klar bei Verstand sind. Vor allem hast du diesen beiden deine Heilung zu verdanken.“
Sahinja nickte nur. Sie wollte nicht erwähnen, dass sie alle Alchemisten für unzurechnungsfähig und geisteskrank hielt und auf die man sich nicht verlassen konnte. Sie wollte auch nicht sagen, dass sie keinem einzigen über den Weg traute und sich jede Sekunde vor einem unerwarteten Angriff zu verteidigen versuchte.
„Ich habe mich gefragt, ob ihr nicht auch noch andere Takrane besitzt, die ihr vielleicht entbehren könntet.“
Yaffel lachte.
„Diese Frage habe ich schon lange gehört. Noch bevor du sie gestellt hast. Natürlich werden wir dir helfen wo wir können.“
Alchemisten...

Kapitel 08 - Unter Verrückten




Nach einer kurzen Unterredung mit Yaffel wusste Sahinja welche Takrane sie noch von den Alchemisten ergattern wollte. Yaffel war ganz in Ordnung befand sie. Da er nur einen alchemistischen Takran trug, konnte er die Welt noch richtig einschätzen, jedoch waren Sahinja seine zusätzlichen Fähigkeiten nicht ganz geheuer.
Auf dem Weg zu einem anderen Alchemisten, der über einen nützlichen Takran verfügte versuchte Yaffel ihr den Blickwinkel der Alchemisten näher zu erläutern. Mepanuk hatte die einzig vernünftige Entscheidung getroffen und sich unauffällig entfernt.
„Man nimmt die Welt anders wahr. Es sind Wahrheiten zu erkennen, die für andere im Verborgenen liegen. Doch da wir diese Wahrheiten selbst nicht genau verstehen können, schätzen wir sie oft falsch ein. Natürlich könnten wir uns mehrere alchemistische Takrane machen, um diese Wahrheiten besser zu deuten. Doch es hätte den Preis unserer Vernunft. Es ist als gäbe es da draußen noch eine andere Welt, in der andere Gesetze herrschen. Je mehr wir in diese andere Welt eintauchen, umso mehr verlieren wir den Bezug zu dieser. Unwissend und dafür bei klarem Verstand, oder Weise und dafür von allen Sinnen verlassen. Wenn man einmal in dieses neue Wissen eingetaucht ist, verlangt die Neugierde mit jedem Mal nach mehr. Ein Teufelskreis, gegen den wir tag täglich ankämpfen.“
Sahinja entgegnete ihm nichts. Was hätte sie schon darauf antworten können? So wie Yaffel es beschrieb, könnte man fast meinen, sie seien bemitleidenswert. Als wären sie die Opfer ihrer eigenen Bedürfnisse. Jedoch sollte man nicht vergessen, dass sie diesen Weg selbst gewählt hatten.
„Manche hatten sich zu weit in diesen Teufelskreis gewagt. Sie hatten das zusätzliche Wissen falsch gedeutet und konnten es aufgrund ihrer fehlenden Sinne nicht mehr richtig beurteilen. Sie lebten zwischen zwei Welten und wussten nicht mehr welcher sie angehörten. Das waren diejenigen welche den Krieg begonnen hatten. ,Dem großen Bösen muss Einhalt geboten werden‘, hatten sie gesagt. Einerseits hatten sie Recht, was das ,große Böse‘ betraf, aber nur aus ihrem verschrobenen Blickwinkel. Das was sie wahrgenommen hatten existierte, dessen ist sich jeder Alchemist bewusst, aber es existierte in einer anderen Form. Vermutlich existiert es auch gar nicht, sondern ist nur eine fehlerhafte Beurteilung aus der Sicht zweier verschiedener Welten. Du musst eines Beachten“, warf Yaffel plötzlich ein „Auch wenn ich von zwei Welten spreche, so meine ich das nur metaphorisch. Es haben schon viele, mächtige Alchemisten den Fehler begangen diese andere Welt als existent zu betrachten. Sie alle haben vergessen, dass es sich hierbei um unsere Welt handelt, nur dass sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet wird.“, Yaffel seufzte „Es ist schwer die Perspektive eines Alchemisten verständlich zu machen.“
Obwohl Sahinja versucht hatte Yaffel zu folgen, hatte sie kein Wort verstanden. Was er von sich gab machte einfach keinen Sinn. Da redet er irgendetwas von zwei verschiedenen Welten und sagt dann es seien ohnehin die selbe? Kein Wunder, dass man Alchemisten für verrückt hält.
Mittlerweile waren sie auch bei einer Frau angelangt, welche über einen Dehnungs-Takran am Fuß verfügen soll. Mit dem Dehnungs-Takran, würde sie ihren rechten Fuß wie ein Gummiband verlängern können. Es gab zwar wesentlich nützlichere Takrane an dieser Stelle, jedoch nicht im Lager der Alchemisten. Sie musste sich nehmen was sie sich nehmen konnte, außerdem war ein nutzloser Takran besser als gar keiner.
„Darf ich die Randa vorstellen.“, sagte Yaffel zu Sahinja „Randa, das ist Tenara, unser Gast.“
Randa war mittleren Alters und besaß anstelle ihres rechten Auges einen Takran. Sie schien mit ihrem Schicksal gar nicht glücklich zu sein. Sie saß melancholisch auf einen Baumstumpf vor ihrer Unterkunft und starrte in die Ferne. Wie bei jedem andern Alchemisten, verliefen auch bei ihr die Fäden fehlerhaft.
„Hallo.“, entgegnete ihr Randa interesselos.
Ihre Mundwinkel hoben sich leicht, jedoch drang das Lächeln nicht bis zu ihre Augen, was es mehr als nur falsch aussehen ließ.
„Hallo.“, tat Sahinja es ihr gleich.
Nach einer kurzen Unterredung hatte die melancholische Alchemistin ihr ihren Takran gegeben.
„Sie hat einen sehr schmerzhaften Lebensweg hinter sich.“, erklärte Yaffel Sahinja, als er sie zu einem anderen Takran führte.
Langsam hatte Sahinja das Gerede Yaffels satt. Er war schon fast so schlimm wie Eogil, er redete in einer Tour. Anscheinend versuchte er der perfekte Gastgeber zu sein, um ihr zu beweisen, dass die Alchemisten doch nicht ein so verschrobenes Pack sind, wie sie immer gedacht hatte. Doch er merkte nicht, dass er mit jedem Wort die Schlinge um seinen Hals enger zog. Je mehr er sprach umso unsympathischer wurde er ihr. Sahinja wollte sich jedoch nichts anmerken lassen. Sie versuchte so freundlich wie möglich zu wirken. Schließlich war sie von Alchemisten umrundet. Sie fühlte sich wie in einer Schlangengrube. Die kleinste falsche Bewegung und sie würde den nächsten Tag nicht mehr erleben.
„Randa, war eine einfache Frau und Mutter gewesen. Sie hatte ihre gesamte Familie bei einem Angriff der Homunculi verloren.“
Sofort rief sie sich ihr Wissen über diese Wesen ins Gedächtnis. Homunculi, waren künstlich im Reagenzglas geschaffene menschenähnliche Wesen, die für gewöhnlich die Schlachten der Alchemisten austrugen. Sie besaßen keine Takrane, waren jedoch viele, äußerst widerstandsfähig, da sie kein Schmerzempfinden hatten, und gut im Umgang mit Schwert und Bogen. Es waren damals gemeine und hinterhältige Kämpfe gewesen, da die wahren Drahtzieher sich nicht am Kampfgeschehen beteiligten.
„Wie durch ein Wunder hatte sie ihr Leben behalten. Nach wenigen Tagen haben wir ihr Dorf aus reinen Zufall angesteuert und sie gefunden. Wir haben sie gepflegt, doch ihr Auge vermochten wir nicht zu heilen. Sie hat sich uns angeschlossen, da sie ihr vorangegangenes Leben verloren hatte. Nach einer Zeit hatte sie sich ein neues Urteil über uns gebildet und hatte ihr blindes Auge gegen einen Takran getauscht. Sie trauert jedoch immer noch ihrer Familie nach und ist mit ihrem neuen Lebensweg nicht zufrieden. Manchmal denke ich...“
Sahinja hatte seinen letzten Worten nicht weiter zugehört. Etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Im hinteren Teil des Lagers konnte sie einen Alchemisten wahrnehmen, der etwas tat, was sie bis jetzt für unmöglich gehalten hatte. Er veränderte bewusst den Verlauf der Fäden. Sie hatte immer gedacht, dass die Fäden in fixen Bahnen verliefen und dass sie auf die Handlungen von Menschen reagieren würden. Doch dieser konnte darauf zugreifen und sie nach seinen Willen formen. Es war etwas, das einfach nicht sein durfte, als ob er den großen und weisen Bauplan der Welt zu ändern versuchte. Sie bemerkte auch, das seine eigenen Fäden weit fehlerhafter verliefen und um vieles zerstörter waren, als die der anderen Alchemisten. Fast schon so ,als würden sie verfaulen.
„Wer ist das?“, fragte Sahinja Yaffel und zeigte auf den Unbekannten.
„Das ist Moradur.“, sagte Yaffel und blieb stehen „Vorwiegend hast du es ihm zu verdanken, dass du noch unter den Lebenden bist. Er besitzt drei alchemistische Takrane und hat somit ein weitaus tieferes Verständnis für die Alchemie als wir.“
Drei alchemistische Takrane, dachte Sahinja ironisch. Also war er noch verrückter als dieser Bartus, der ständig etwas von irgendeinem Weg und von irgendeinem Wegbereiter gesprochen hatte. Dennoch war ihre Neugierde groß. Was tat er, dass er die Fäden verändern konnte? Sie musste es unbedingt herausfinden. Es war wichtig, jedoch wusste sie nicht wieso es wichtig war.
„Können wir zu ihm gehen.“, sagte Sahinja vorsichtig.
Es glich mehr einem Entschluss als einer Frage.
Yaffel schien an dieser Idee nur wenig Gefallen zu haben. Jedoch spielte er weiterhin den perfekten Gastgeber und versuchte sie in einer diplomatischen Form von ihrem Vorhaben abzuraten.
„Moradur hat Takrane gewählt, die für gewöhnlich nicht üblich sind. Normalerweise wird der Verzicht eines Auges oder eines Ohres bevorzugt, da wir glücklicherweise über ein zweites verfügen. Moradur hat allerdings neben seinem linken Auge, seine Nase und seinen Tastsinn eingetauscht. Er ist ein Sensitiver und ein Mirakel zugleich.“
Immer diese verwirrenden Bezeichnungen der Alchemisten. Wenn man seine beiden Augen eingetauscht hatte, galt man als Seher, bei dem Verzicht seiner Ohren war man ein Medium und wenn man seinen Tastsinn eintauschte ein Sensitiver. Die Bezeichnung ,Mirakel‘, war Sahinja allerdings noch neu. Das war man anscheinend, wenn man seinen Geruchssinn eingetauschte.
Was ein Sensitiver für spezielle Eigenschaften hatte, war Sahinja klar. Durch den Verlust des Tastsinnes empfanden sie keinerlei Schmerzen und konnte auch nichts anderes mehr erfühlen. Sie waren am gesamten Körper taub. Vor allem trugen die Sensitiven die Schuld daran, dass der Krieg ausgebrochen war. Denn zu ihrer physischen Gefühllosigkeit, hatten sie ein unbändiges Verlangen, einer bestimmten Sache nachzugehen. Niemand konnte ihre neugewonnenen Antrieb nachvollziehen. Sie alle hatten eine Art Lebenswerk zu vollbringen, als hätte man ihnen das Schicksal ihres Daseins offenbart. Während manche energisch nach der Liebe ihres Lebens suchten, waren andere in den Kampf gegen das ,große Böse‘ gezogen und hatten somit den Krieg ausgelöst. Dieser Moradur hatte es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht, die Fäden zu kontrollieren. Nebenbei sollte man nicht unerwähnt lassen, dass Sensitive ein unglaubliches zwischenmenschliches Verständnis haben.
Was allerdings die Wesensart eines Mirakels war wusste Sahinja nicht. Dieser Begriff war ihr noch neu.
„Was ist ein Mirakel?“, wollte sie von Yaffel wissen.
Yaffel fing an zu lachen.
„Das weiß niemand so genau. Weißt du, niemand versteht uns Alchemisten, keiner kann unsere Handlungen nachvollziehen. Und genauso ist es uns Alchemisten mit den Mirakeln. Wir können wiederum ihre Beweggründe nicht verstehen. Sie sind uns um zu viele Schritte voraus. Ab einer solch hohen Stufe gibt es keine Worte mehr, die ein solches Verständnis beschreiben könnten. Man sollte erst gar nicht versuchen sie zu verstehen. Das bereitet nur Kopfschmerzen und diejenigen die über keinen alchemistischen Takran verfügen, sollten erst gar nicht daran denken es zu versuchen.“
„Ich würde mich gerne bei ihm für meine Heilung bedanken.“, sagte sie zu Yaffel.
Das war natürlich nicht der Fall, sie wollte nur mehr über seine besondere Fähigkeiten im Umgang mit den Fäden erfahren. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Yaffel sie davon abzuhalten versuchte.
„Ach, wenn du das möchtest.“, sagte Yaffel zweideutig.
Sahinja biss sich auf die Zunge. Sie hatte vollkommen vergessen, das Yaffel ihre Lügen sofort erkennen konnte. Das Lügen war für Sahinja so selbstverständlich geworden, dass es ihr gar nicht mehr bewusst war.
„Nun, dann sollten wir uns auf dem Weg machen.“, sagte Yaffel immer noch in der selben zweideutigen Sprachweise. Aber wenigstens spielte er immer noch den perfekten Gastgeber und stellte sie nicht bloß. „Ich muss dich jedoch vorwarnen, er wird dir vermutlich ein wenig eigenartig vorkommen. Vielleicht noch eigenartiger als Bartus. Wie schon gesagt, er besitzt drei alchemistische Takrane und selbst wir Alchemisten können die Handlungen von Mirakeln nicht nachvollziehen. Vielleicht treffen wir ihn auch in einem geselligen Gemütszustand an.“
Was konnte sie am heutigen Tage noch schockieren? Sie war von einer Vergiftung geheilt worden und in einem alchemistischen Lager erwacht. Jetzt schloss sie Bekanntschaften mit den eigenartigsten Menschen, denen sie jemals begegnet war.
„Ich dachte, du wolltest dich ausruhen.“, sagte Yaffel Moradur zum Gruß.
„Der Schlaf ist der erste Schritt auf dem Weg in das Reich des Todes, mein Freund.“, entgegnete Moradur ihm mit seiner hypnotischen Stimme.
Moradur machte auf Sahinja einen äußerst beängstigenden Eindruck. Dadurch, dass er seinen Tastsinn eingetauscht hatte, wirkte seine gesamte Haut grünlich. Besonders abnormal war diese Farbe, an der Stelle, an der seine Nase und sein linkes Auge hätte sein sollen. Diese Takrane schienen in einem noch stärkerem Grün, welche in Sahinja eine Art Übelkeit erweckten. Doch der größte Teil ihres Unbehagens ging von seinen zerstörten Fäden aus.
„Terana möchte sich bei dir für ihre Genesung bedanken.“, sagte Yaffel respektvoll.
Man merkte Yaffel sofort an, dass er Moradur Bewunderung entgegenbrachte. Vermutlich gab es auch unter den Alchemisten eine Art Rangordnung.
„Terana also?“, sagte Moradur noch immer mit der selben hypnotischen Stimme. Zweifelsohne, wusste auch er, dass dies nicht ihr richtiger Name war. Bei ihm hatte sie sogar das Gefühl als kannte er ihren wahren Namen. Es war die Art wie er sie anblickte, als würde er durch sie hindurchsehen.
„Yaffel, mein guter Freund. Würdest du uns für einen kurzen Augenblick das Gespräch unter drei Augen fortführen lassen?“
„Natürlich.“, antwortete dieser sofort auf seine hypnotische Stimme, schüttelte dann aber seinen Kopf und sah Sahinja fragend an.
Immer darauf bedacht, den perfekten Gastgeber zu spielen... Sahinja gab ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie damit einverstanden war. Obwohl das Unbehagen in ihr immer größer wurde, kam ihr dieser Moradur aufgrund seiner sensitiven Fähigkeiten vertrauenswürdig vor. Dennoch sträubte sie sich vor dieser trügerischen Vertrauenswürdigkeit. Er war ein Alchemist und besaß drei dieser verfluchten Takrane. Bei ihm musste sie mit allem rechnen.
„Ich habe mit deinem Erscheinen gerechnet.“, sagte Moradur als Yaffel außer Hörweite war.
Sahinja kam es vor, als würde Moradur zwar mit ihr reden, aber dabei jemand anderes meinen.
„Ihr habt mit meinen Erscheinen gerechnet?“, fragte Sahinja verwirrt nach.“
„Wir sind beides Mirakeln, wir können beide die Strukturen der Welt sehen.“
Sahinja verstand kein Wort. Sie soll ein Mirakel sein? Moradur verwechselte sie wohl. Und was hat es mit den Strukturen der Welt auf sich?
„Auch wenn unser Zugang ein anderer ist, so ähneln wir uns doch. Wir verstehen die Welt auf einer tieferen Ebene. Ich kann die Strukturen an dir deutlich ablesen.“
„Sprecht ihr von den Fäden?“, fragte Sahinja nach.
War es möglich, dass dieser Alchemist ebenfalls über die zusätzlichen Fähigkeiten verfügte, die sie durch den Erwerb der legendären Takrane erhalten hatte? Er konnte die Fäden aktiv verändern, also musste er auch wissen, dass es sie gab. Er wusste mit Bestimmtheit über die Fäden bescheid, nur dass er sie als ,Struktur der Welt‘ bezeichnete.
Moradur fing an zu lachen.
„Daran erinnere ich mich noch sehr genau. Es war einzigartig wie du seinem übermächtigen Schatten entkommen bist.“
Nicht schon wieder. Zuerst so ein verrückter Alchemist der von einem Wegbereiter gesprochen hatte, jetzt ein anderer der von irgendeinem Schatten sprach.
„Du hast recht.“, sagte Moradur erfreut und immer noch in seiner hypnotischen Sprechweise. Sahinja hatte ihm doch noch gar keine Antwort gegeben! „Doch in dieser Welt habe ich einen anderen Zugang darauf. Lass mich dich in meine Experimente einführen.“
Sahinja wusste nicht was hier vor sich ging. Auch wenn Moradur seine Aufmerksam auf Sahinja konzentrierte, sprach er dennoch mit jemand anders. Als würde er in ihr einen anderen Menschen sehen.
„Hier, sie her welche Fähigkeiten ich in dieser Welt trage.“
Sahinja seufzte. Anscheinend hatte sich dieses Gespräch verselbstständigt. Moradur zeigte ihr die Takrane welche er auf den Händen trug. Es war ein Zerstörungs-Takran, den er sich ebenfalls auf seine andere Hand kopiert hatte. Ein starker Angriffs-Takran, der mit jedem Treffer schwere Verletzungen hinter sich zog. Jedoch hatte dieser Takran den Nachteil, dass man nicht aus der Ferne angreifen konnte. Somit kam er für Sahinja nicht in Frage. Sie verstand immer noch nicht was Moradur vor hatte? Konnte man einen Alchemisten überhaupt verstehen? - Natürlich nicht!
„Ich konnte diese Fähigkeit so abändern, dass ich auf die Struktur zugreifen kann. Doch die Struktur ist stark verankert. Ich kann sie immer nur ein wenig manipulieren, aber nicht vollkommen zerstören.“
„Du willst die Fäden zerstören?“, fragte ihn Sahinja verständnislos.
Allmählich hatte sie von diesem Irren genug. Doch Moradur schien sie nun gar nicht mehr wahrzunehmen.
„Du musst größer denken. Hier gibt es andere Regeln. Lass es mich an einem Beispiel veranschaulichen.“
Sahinja hatte es aufgegeben. Sie hätte genauso gut mit einer Wand sprechen können. Mit dem Unterschied, dass die Wand der vernünftigere Gesprächspartner wäre, da sie nicht so sinnloses Geschwätz von sich geben würde. Sie hatte die Arme verschränkt und folgte dem ihr gebotenem Schauspiel.
Moradur holte einen Trank hinter seinem Umhang hervor und träufelte sich von der Flüssigkeit etwas auf die Hände. Das natürliche rote Leuchten der Takrane erstarb und fing plötzlich in der selben widerlichen grünen Farbe der alchemistischen Takrane an zu scheinen. Das weitaus schlimmere jedoch war, dass die Fäden, welche um seine Hände verliefen, zu verfaulen begangen. Sahinja war so entsetzt, von dem was sich hier abspielte, dass sie vor lauter Schock zu atmen vergaß. Wieso tat er das? Was war in ihm gefahren, dass er solch frevelhafte Taten begann? Yaffel hatte Recht behalten. Ein Mirakel war noch verrückter als alle anderen Alchemisten. Das was Moradur hier tat, durfte einfach nicht sein!
„Die Wirkung hält leider nicht lange an.“, sagte der Wahnsinnige zu ihr „Die Struktur hat einen festen Verlauf und dieser versucht sie sich ständig anzugleichen. Mir gelingt es einfach nicht sie zu zerstören.“
Mit ihren erweiterten Sinnen konnte Sahinja wahrnehmen wir Moradur eine Hand voll Fäden packte und sie zu zerreißen versuchte. Jedoch entglitten sie immer seinen Händen und fügten sich wieder an den üblichen Stellen zusammen.
Was um alles in der Welt war in Moradur gefahren, dass er die Fäden der Welt zerstören wollte? So geistesgestört konnten, doch nicht einmal ein Mirakel sein. Doch irgendwie hatte Sahinja eine Vermutung, wie er zu dieser schwachsinnigen Idee gekommen war. Moadur war schließlich ein Sensitiver und dies musste zu seiner neuen Lebensaufgabe geworden sein.
„Ich schaffe es einfach nicht.“, sagte Moradur und blickte ihr diesmal wieder in die Augen, sprach jedoch immer noch mit einer anderen Person „Sollte die Zeit wirklich zu knapp werden, so werde ich meinem Vorhaben auf die Sprünge helfen müssen und mir einen weiteren Takran aneignen.“, er zog seinen Umhang ein Stück zur Seite und brachte einen weiteren Trank zum Vorschein.
Das war Sahinja zu viel, sie musste von diesem Irren fort. Noch im Weggehen vernahm sie seine letzten geistesgestörten Worte:
„Doch sollte ich diesen Trank wirklich zu mir nehmen, werde ich den Bezug zu dieser Realität vollkommen verloren haben.“
Sarkastisch musste Sahinja in sich auflachen. Den Bezug zur Realität hatte er doch jetzt schon vollkommen verloren.
Yaffel hatte sie anscheinend beobachtet, denn er war sofort wieder an ihrer Seite.
„Moradur ist auf dem Weg in eine andere Welt, schon weit vorangeschritten.“, sagte er verlegen.
„Ich dachte es gibt diese andere Welt nicht?“, sagte Sahinja gereizt.
Dass es diese ,andere Welt‘ nicht gab und dass Yaffel davon nur in metaphorischen Sinne sprach, war ihr klar. Sie war jedoch so entsetzt von Moradurs Vorhaben, dass sie diesen Gefühlen freien Lauf lassen musste. Yaffel war nun mal derjenige, der zur falschen Zeit in ihrer Nähe war. Doch der perfekte Gastgeber ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
„Natürlich gibt es diese Welt nicht. Doch das zusätzliche Wissen, das Moradur besitzt ist so umfassend, so eigenartig und so anders, dass es nicht zu unserem Leben zu passen scheint. Und doch vollbringt er mit ebendiesem Wissen alchemistische Höchstleistungen. Im Vergleich zu den Erinnerungen aus seiner Vergangenheit, ist die neue Betrachtungsweise mit seinen zusätzlichen Fähigkeiten und seinen fehlenden Sinnen so verändert, dass er davon fest überzeugt ist, dass es es sich dabei um eine andere Welt handeln muss. Je mehr alchemistische Takrane man besitzt umso mehr fehlerhafte Schlussfolgerungen trifft man. Jedoch hat man sich zu diesem Zeitpunkt schon so weit in diesen Teufelskreis gewagt, dass man sich der fehlerhaften Schlussfolgerungen nicht mehr im klaren ist.“
Sahinja verschränkte die Arme und grummelte. Sie hatte genug von den abstrusen Erklärungen eines Alchemisten über einen anderen Alchemisten. Oder besser gesagt, über ein Mirakel, der zudem auch noch ein Sensitiver war.
Verlegen führte sie Yaffel weiter. Weiter, zu einem anderen Alchemisten, von dem sie einen Wind-Takran erhalten würde. Dafür musste sie einerseits ihren Erd-Takran, den sie am Bauch trug, eintauschen, andererseits war ein Wind-Takran ohnehin weitaus nützlicher. Während man sich mit einem Erd-Element am Bauch nur vor physischen Schäden schützen konnte, vermochte ein Wind-Takran beinahe jeden Angriff ins Leere gehen zu lassen.
Auch der Träger des Wind-Takrans soll ein Sensitiver sein und auch er soll ein unbändiges Verlangen nach ein nicht nachvollziehbares Ziel haben. Im Gegensatz zu Moradur, würde dieser nicht so verrückt sein, da er aufgrund nur eines alchemistischen Takrans die richtige von der falschen Welt noch unterscheiden konnte.
Alchemisten, man konnte sie doch alle unter einen Hut stecken. Auch wenn sie ihr gastfreundlich entgegen kamen und sie es wirklich gut mit ihr meinten, konnte sie nie die Gewissheit haben, dass sie ihr im nächsten Moment nicht grundlos in den Rücken fallen. Sahinja wollte nur so schnell wie möglich von hier weg und den Takran der Gedanken an sich bringen. Dummerweise war ihr Körper immer noch von dem Gift ausgezehrt und ihre Beine konnten sie den langen Marsch nicht tragen. Sie würde noch eine weitere Nacht unter diesen Verrückten verbringen müssen.
Der einzige der die Situation sofort richtig eingeschätzt hatte war Mepanuk. Er war bei der erstbesten Gelegenheit verschwunden und musste sich somit nicht wie sie mit diesen Pack Geistesgestörter herumschlagen. Sahinja hätte es ihm gleich getan, wenn sie nicht umbedingt neue Takrane gebraucht hätte.

Obwohl die Fäden bei den Alchemisten alle sonderbar ungesund wirkten, konnten sie ihr doch zeigen, dass ihnen zu vertrauen war. Jedoch machte sich Sahinja trotz dieser Gewissheit stets auf das Unerwartete gefasst. Stets waren ihre Hände verkrampft und jederzeit war sie auf einen möglichen Angriff gefasst.
Yaffel hatte noch mit ihr den Rundgang durch ihr Lager beendet und sie mit dem Lebensweg des einen oder anderen Alchemisten vertraut gemacht. Dabei war ihr der eine oder andere Wahnsinn mancher nicht entgangen. Der Großteil besaß nur einen Takran und bewahrte somit den Bezug zur Realität, aber ein paar wenige übermittelten ihr, wie Moradur, ein vollkommen irres Bild. Viele sprachen auch vom großen Seher, dem sie vor ein paar Tagen einen Besuch abgestattet hatten und der ihnen prophezeit hatte, dass sie bei ihnen ins Lager eintreffen würde. Es musste hierbei wohl um das übliche Geschwätz von Alchemisten handeln.
Gegen Abend war Mepanuk wieder ins Lager zurückgekehrt. Insgeheim beneidete sie ihm dafür, dass er den Tag alleine verbringen hat können und somit noch einen klaren Kopf hatte. Sie hingegen war immer noch geschwächt und stand stets unter Anspannung. Alles was sie noch brachte war eine ordentliche Mahlzeit und eine Nacht Schlaf, dann wäre sie wieder annähernd bei genügend Kräften, um ihre Reise fortzusetzen und endlich von hier verschwinden zu können. Ihre restlichen Energien würde sie am Weg zum Daugus Gebirge zurückerhalten. Hier wollte sie keinen Augenblick länger als nötig verbringen.
Im Laufe des Tages hatte sie auch noch einen Puls-Takran erhalten. Diesen hatte sie sich auf ihre linke Hand kopiert und somit einen ihrer Blitz-Takrane überschrieben. Es war ohnehin sinnlos zwei gleiche Angriffs-Takrane zu tragen. Für normale Menschen waren zwei gleich Takrane zwar schneller zu erlernen, aber sie hatte dies nicht nötig. Und würde der Besitzer dieser Takrane sterben, würde sie gleich beide Angriffs-Takrane verlieren. Außerdem war es ohnehin besser sich für zwei unterschiedliche Angriffsweisen zu entscheiden.
Mit ihrem neuen konnte sie nun ihre Feine einfach mit einer Pulswelle zurückschleudern. Er würde sie zwar nicht töten, aber dies konnte ihr einen erheblichen Vorteil im Kampf verschaffen.
Gegen Abend hatte Sahinja noch eine weitere Wurzelsuppe verspeist. Diesmal war das Unbehagen weitaus größer, etwas Essbares von Alchemisten zu sich zu nehmen, doch sie hatte das aufkeimende Misstrauen niedergerungen und das Gericht zaghaft verspeist. Die Wurzelsuppe war diesmal anders zubereitet worden, schmeckte jedoch immer noch so gut wie ihre vorherige Mahlzeit. Nach dem abendlichen Mahl hatte sie sich so schnell wie möglich zur Ruhe gelegt, um von dieser eigenartigen Gesellschaft fort zu kommen. Eine erholsame Nacht würde jedoch ausbleiben. Sie fühlte sich immer noch wie ein Kaninchen in einer Schlangengrube. Jeden Moment befürchtete sie einen unvorhergesehenen Angriff. Vor allem dieser Moradur hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Am nächsten Morgen, trotz des schlechten Schlafes, fühlte Sahinja sich soweit bei Kräften, dass sie ihre Reise fortsetzen konnte.
Es war die Zeit des Abschieds. Als Dank wollte Sahinja ihnen eine großen Teil des Geldes überlassen, welchen sie von Eogils verstorbenen Freien mitgenommen hatte. Yaffel, sowie einige andere schlugen diesen Dank jedoch aus. Geld war für sie nicht von Bedeutung. Alles was sie brachten fanden sie in der Erde, auf den Sträuchern und auf Bäumen. Also würde Sahinja auch diesen Alchemisten etwas schuldig bleiben. Genauso wie sie der verstorbenen Alchemistin aus Eogils Lager etwas schuldig geblieben war. Doch Sahinja hatte auch bei diesen Menschen nicht vor ihre Schuld zu begleichen. Sie vermutete ohnehin, dass diese verrückte Gesellschaft es nicht von ihr verlangte.
Sahinjas Fähigkeiten mit dem Erwerb des Takrans der Täuschung war weiter angewachsen. Sie konnte die Fäden weit stärker wahrnehmen als zuvor und durch die Ungleichmäßigkeiten die sich daraus ergaben, wusste sie schon von Weitem, wann ihr andere Reisende begegnen würden. Dies würde sie nützen, um einen großen Bogen um weitere Takran-Jäger oder Kopfgeld-Jäger zu machen.
Zudem war da auch noch diese verwirrende übernatürliche Intuition, welche sie zuversichtlich zu den Alchemisten geführt hatte. Auch diese erweiterte Fähigkeit würde bei ihrer Reise zum Daugus Gebirge von unschätzbaren Wert sein.
Ein letztes Mal drehte sie sich zu Yaffel um, verabschiedete sich und machte sich mit Mepanuk auf den Weg zu Zaroir, der laut Eogil den legendären Takran der Gedanken besitzen soll.

Kapitel 09 - Zaroir




Endlich, Mepanuk und Sahinja hatten ihr Ziel erreicht. Sahinja hatte sich von der folgenden Schwäche der Vergiftung schnell erholt und war schon bald wieder festen Fußes durch den hohen Schnee gestapft. Der Weg zum Daugus Gebirge war grob betrachtet ereignislos geblieben. Einmal hatten sie angehalten um ihren Proviant aufzufüllen, aber das hatte sie nur kurze Zeit beansprucht. Da sie gegen der Mittagsstunde das Dorf erreicht hatten, nahmen sie sich kein Zimmer für die Nacht, sondern reisten noch am selben Tag weiter. Sahinja hatte sich eine neue Tasche gekauft, um die zu ersetzen, welche sie bei dem Kopfgeld-Jäger zurückgelassen hatte.
Vielleicht wäre es auch noch interessant zu erwähnen, dass sie einer Gruppe dreier Menschen aus dem Weg gegangen waren. Ob es sich dabe um einfache Reisende gehandelt hatte, die der Gefahr von diversen Takran-Jägern trotzten, oder ob es Takran-Jäger gewesen waren, konnte sie nicht sagen. Sie war zwar so nahe an sie herangegangen um ihre Fäden wahrzunehmen, aber nicht soweit, als dass sie diese hätte sehen können.
Jetzt waren sie daran das verschneite Gebirge emporzuklettern, in dessen Felswand sie eine Höhlenöffnung gefunden hatten.
„Wir nehmen diese hier.“, hatte Sahinja gesagt und hatte dabei auf ein ganz bestimmte der unzähligen Löcher gezeigt, welche sich allesamt ihren Weg in das Gebirge schlängelten.
Sie konnte nicht genau sagen wieso sie gerade dieses ausgewählt hatte, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass dies der richtige Weg war. Diese verwirrende Intuition, welche sie mit dem vierten legendären Takran erhalten hatte, hatte sich in der Vergangenheit schon oft als zuverlässig erwiesen und sie hoffte, dass es sich auch diesmal so ereignen würde.
Zaroir, welcher den legendären Takran der Gedanken trägt, soll sich laut Eogil hier versteckt halten und er hatte die Macht sie in die Irre zu führen. Sie würden es nicht einmal bemerken, wenn er Herr über ihre Gedanken wurde. Vermutlich würde sie irgendwann aus einem Tagtraum erwachen und sich in einem Tunnelsystem an der tiefsten Stelle des Gebirges wieder finden.
Eogil hatte gesagt, dass sie bei der Suche nach Zaroir an seine Worte denken solle. Sie solle daran denken, dass Eogil sie schickte und dass er ihr vertraute. Als Sahinja sich an die Situation zurückerinnerte, in der Eogil ihr das gesagt hatte, wurde ihr unwohl zumute. Es war der Tag gewesen an dem Eogil all seine Freunde und Getreuen begraben hatte. Alle Menschen die ihm lieb waren, sind gestorben und er hatte sich darauf bestimmt irrsinnig große Vorwürfe gemacht. Das war nun mal typisch Eogil. Was wohl aus ihm geworden war?
Sofort lenkte Sahinja ihre Gedanken wieder in die richtigen Bahnen. Daran wollte sie nicht denken. Das war Eogils Problem, nicht ihres! Außerdem sollte sie ohnehin an ganz andere Dinge denken.
,Eogil schickt mich, Eogil vertraut mir. Eogil schickt mich, Eogil vertraut mir.‘
Mepanuk und Sahinja hatten nun den Eingang betreten, welchen Sahinja vorhin ausgewählt hatte. Er glich wie einem dem anderen. Sie und Mepanuk formten jeweils eine Blitz-Kugel, welche die Wände des Höhlensystems nur mäßig beleuchtete. Das schwache Licht eines Blitzes war dem Schein des Feuers nicht ebenbürtig aber immerhin reichte es, um das Nötigste zu beleuchten und um nicht Gefahr zu laufen in ein tiefes Loch zu stürzen.
,Wieder zurück zu Eogil‘, dachte Sahinja ,Eogil schickt mich, Eogil vertraut mir. Eogil schickt mich, Eogil vertraut mir.‘, bei diesen Gedanken kam sie sich vollkommen bescheuert vor. Aber wenn dies der Weg war, um zu diesen verrückten alten Kauz vorzudringen, hatten sie keine andere Wahl.
Mepanuk kam zu ihm, um sich bei ihm vor Horior zu verkriechen. Feigling. Er war jemand, der sich noch nichts zu Schulden kommen lassen hatte. Zumindest dachte sie das von ihm. Viele Informationen über ihn hatte sie nicht. Er sprach schließlich genauso wenig, wie sie. Er war ihr den ganzen Weg über, der bestmögliche Begleiter gewesen. Er sagte nur selten ein Wort, hatte ihr zweimal das Leben gerettet und tat stets, was sie von ihm verlangte. Welche Beweggründe dahinter steckten mochten wusste sie nicht. Vermutlich hatte er keine Ahnung was er mit seinem Leben anstellen sollte und war deshalb zu allem bereit. Oder ihm war klar gewesen, dass er es mit ihr keinesfalls verscherzen durfte, denn ohne ihrer Hilfe wäre er nie so weit gekommen.
Die Höhle erstreckte sich unendlich lange ins Erdinnere. Es gab viele Abzweigungen und ein Weg schien dem anderen zu gleichen. Sahinja folgte zwar ihrer inneren Stimme, doch mittlerweile war sie sich nicht mehr so sicher darüber, ob es noch ihre Stimme war, oder die Stimme Zaroirs, welche sie führte. In jedem Fall folgte sie dieser Stimme. Ob Zaroir sie nun irreleitete, oder sie geradewegs zu seinem Versteck führte, wenn sie zu ihm wollte, musste sie dieser Stimme folgen.
Sollte Zaroir wirklich nur ehrenwerte und ehrliche Menschen zu sich lassen, würde er sicherlich Mepanuk gewähren zu ihm zu gelangen und sie würde an seinen Fersen bleiben. Oder konnte er die Gedanken zweier Menschen gleichzeitig manipulieren, sodass Mepanuk das Ziel erreichte und sie in die Irre geleitet wurde. Noch stand ihr Gefährte neben ihr und noch hatte sie die Kontrolle über ihre Gedanken. Zumindest glaubte sie das.
Ehre und Tugendhaftigkeit waren nicht gerade Eigenschaften mit denen sich Sahinja rühmen konnte, eher das Gegenteil war der Fall. Sie fand sogar, dass diese beiden Charakterzüge vollkommen überschätzt wurden. Und damit war sie sicherlich nicht die einzige. Alleine ein Blick auf die Welt genügte, um zu erkennen für welche Charakterzüge sich die Menschen entschieden. Der Krieg gegen die Alchemisten, die Jagt nach mächtigen und seltenen Takranen, die Sklavenhändler, der Kleinkrieg zwischen Horior und Eogil,... Nein, Ehre und Tugendhaftigkeit waren bestimmt keine häufig zu findende Eigenschaften.
Wie konnte man diese Charakterzüge beibehalten, wenn man von Lug und Trug umgeben war? Zaroir konnte das natürlich, der verkroch sich in einem Loch. Niemand könnte ihm dort diese Eigenschaften streitig machen. Und wie Eogil es fertig brachte in dieser grausamen Welt seinen Idealen treu zu bleiben verstand sie auch nicht. Nun, das würde sich jetzt, mit dem Tod seiner Männer garantiert geändert haben. Aber genug davon, sie musste an andere Dinge denken. Hoffentlich hatte Zaroir nicht ihren Gedanken gelauscht und falsche Schlüsse daraus gezogen.
,Eogil schickt mich, Eogil vertraut mir. Eogil schickt mich, Eogil vertraut mir.‘, und noch immer kam sie sich ungeheuer dämlich bei diesen Gedanken vor.
Nach einem ewig langen Marsch, der sich nun schon über Stunden hinzog, legten Sahinja und Mepanuk eine Pause ein. Mepanuk brauchte natürlich keine Pause und Hunger hatte er auch keinen, aber Sahinja brauchte umbedingt etwas zu essen und so aß sie ein wenig Brot und ein bisschen von dem Fleisch, das den Eindruck machte, als sei es nicht mehr genießbar. Obwohl es ordentlich gesalzen worden war und sich stets in der Kälte befunden hatte, machte es einen üblen Eindruck. Vermutlich war es schon älter und der Verkäufer hatte an ihr eine Dumme gefunden, der er es andrehen konnte.
Hier in der Tiefe der Höhle, herrschten keine eisigen Temperaturen mehr. Es war angenehm kühl, die eisige Luft an der Erdoberfläche schienen den konstanten Temperaturen des Erdinneren nichts auszumachen. Doch auch den kühlen Temperaturen der Höhlengänge trotzte sie, ihr Eis-Takran schützte sie vor jeglicher Kälte.
Weitere Stunden verstrichen. Sie erreichten Sackgassen und mussten umkehren. Dann erstreckte sich plötzlich ein Weg wieder bergauf, dem sie solange folgten, bis er endete und sie erneut umkehren mussten und einen anderen Pfad einschlugen. Manchmal mussten sie einen steilen Weg hochklettern, ein anderes Mal mussten sie aufpassen, dass sie den Halt auf dem abschüssigen Hang nicht verloren. Mit den stundenlangen ziellosen Umherwandern kam auch die Frustration. Sahinja wünschte sich das Ende der Wanderung herbei.
Ihnen war nun klar, dass sie sich vollkommen verirrt hatten und den Weg alleine nicht mehr hinausfinden würden. Sie hatten nicht einmal den Gedanken daran verschwendet, ihren Weg mit Zeichen zu markieren, sodass sie den Ausgang wieder fanden. Einmal mehr hatte Sahinja sich ihrer Überheblichkeit hingegeben und Mepanuk war auch nicht besser: Er war ihr wie immer blindlings gefolgt. Nur noch Zaroir konnte ihnen den richtigen Weg zeigen. Oder Sahinjas neu gewonnene Intuition, mit der sie stets die richtigen Entscheidungen zu treffen schien. Aber hierbei durfte Zaroir sie nicht beeinflussen und sie irreleiten.
Dann erreichten sie ihr Ziel. Sahinja schreckte aus einem Tagtraum hoch, der sich wie eine dicke Nebeldecke um ihren Verstand gelegt hatte. Vor ihr stand ein alter Mann mit langen weißen Haaren und einem ebenso langen weißen Bart. An seiner Stirn prangte das selbe Symbol, das sie auch von Eogil kannte. Neben ihr stand Mepanuk, der wie immer still an ihrer Seite war. Der Höhlengang glich einem jeden anderen. Nichts ließ darauf schließen, dass Zaroir sich hier häuslich eingerichtet hatte. Vermutlich wollte er noch manche seiner Geheimnisse wahren, aber immerhin hatte er sich gezeigt. Doch an seinem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass er mehr verärgert als erfreut über ihren Besuch war.
„Was wollt ihr hier?“, redete er Sahinja barsch an.
Er hatte mit seinen Worten zwar beide angesprochen, den Blick aber stur auf Sahinja geheftet und die Frage wie eine Drohung formuliert.
„Eogil schickt mich. Eogil vertraut mir.“, sprach sie die Worte laut aus, die sie zuvor hunderte Mal in ihrem Gedanken formuliert hatte und die sie schon wie ein Mantra aufsagen konnte.
„Ja das hab ich schon oft genug gehört. Du willst nur meinen Takran hab ich recht?“
Was nutzte es schon zu lügen, er würde es ohnehin merken.
„Ja.“
„Wusst‘ ichs doch. Wieso sollte ich ihn dir geben? Du mordest, du lügst, du stiehlst und hast noch nie in deinem Leben etwas getan, an dem du dich selbst nicht bereichern konntest.“
Anscheinend hatte er schon mehr über sie in Erfahrung gebracht als ihr lieb war. Diese verdammten Gedankenleser. Bei Eogil war es nicht anders gewesen. Sahinja wusste nicht was sie auf seine Feststellungen antworten sollte. Er hatte natürlich recht, aber er hatte sie doch zu sich geführt, also musste es eine Chance geben.
„Und denk ja nicht daran mich bewusstlos zu schlagen. Glaub mir, ich würde es noch rechtzeitig bemerken und dich noch vorher unter meine Kontrolle bringen.“
Auch das hatte er bereits durchschaut? Damit hatte er ihr, ihre Notlösung genommen. Diese verdammten Gedankenleser. Ihre einzige Möglichkeit an den Takran ranzukommen war die der Diplomatie und darin war sie so begabt wie ein Sack Kartoffel. Reden ist etwas für Menschen die sich gerne in Glorie hüllen, oder nicht Manns genug für den Kampf sind. Kurz: Reden ist etwas für Menschen wie Eogil.
„Ich habe mich lange mit Eogil beratschlagt.“, fing er an. Seine Worte waren mehr kein Knurren.
„Ihr habt mit Eogil gesprochen?“, fragte Sahinja verwirrt.
„Ja. Herr der Gedanken - schon vergessen?“, sagte er gereizt und zeigte auf seine Stirn „Ich kann mit jedem sprechen, dem ich schon einmal begegnet bin.“
Das war Sahinja neu. Das hatte ihr Eogil wohl verschwiegen. Und dabei war es doch gerade er, der kein Stillschweigen bewahren konnte und jedes Geheimnis sofort ausplauderte.
„Der wusste davon nichts.“, beantwortete er ihren Gedanken.
Mepanuk setzte einen verwirrenden Blick auf, als er der unerwarteten Wendung des Gespräches nicht mehr folgen konnte.
„Er hält große Stücke von dir. Er meint, du handelst zwar nur aus egoistischen Motiven und deine Ziele seien einfach gestrickt, aber du seist dennoch vertrauenswürdig und seist auf dem richtigen Weg.“
Das war typisch Eogil. Er vertraute einfach jedem. Nur so hatte es soweit kommen können, dass er alle seine Getreuen verloren hatte. Und zu allem Übel vertraute er auch noch ihr. Sahinja würde ihm bei jeglicher Gelegenheit in den Rücken fallen, die für sie von Vorteil sein konnte. Dass sie Eogil geholfen hatte, war nicht aus Nächstenliebe gewesen, sondern aus dem einfachen Grund, dass es auch ihrem Zweck gedient hatte. Dieser Strahlemann mit dem dämlichen Grinsen konnte einem ordentlich auf die Nerven gehen. Jetzt hatte sie auch noch einen weiteren Grund Eogil dankbar zu sein. Aber was dachte sie da bloß? Zaroir kann ja ihre Gedanken lesen.
Das Missgeschickt war bereits begangen und vor ihr stand Zaroir, der nun die Hände verschränkt hatte und sie mit finsteren Blicken strafte. Gut bis jetzt, war das Aufeinandertreffen wohl alles andere als gut verlaufen. Sahinja versuchte trotz allem so zu tun als sei nichts weiter vorgefallen.
„Soll das heißen ich bekomm den Takran?“
„Wieso sollte ich ihn dir geben? Weil Eogil es sagt? Die Meinung von Eogil interessiert mich nicht die Bohne.“
Zumindest in diesem Punkt war Sahinja mit Zaroir einer Meinung.
„Du bist selbstsüchtig, arrogant, skrupellos, aggressiv, stur, eigensinnig, rechthaberisch, überheblich,... Kurz: Du bist alles was ich verabscheue. Wieso sollte ich gerade dir meinen Takran geben? Wieso sollte ich dich nicht in die tiefste Höhle schicken und darauf achten, dass du nie wieder raus kommst? Dann wäre die Welt endlich von dir befreit und die Menschheit hätte eine ruchlose Mörderin weniger.“
Sahinja hatte keine Antwort auf sein dämliches Geschwätz. Irgendwie hatte er mit all dem was er sagte recht, dennoch konnten seinen Worte sie nicht verletzen. Sie wollte diesen Takran, koste es was es wolle. Es war eine Art innerer Drang, der sie dazu zwang ihn an sich zu reißen. Aber sie hatte kein Argument, mit dem sie Zaroir überzeugen hätte können.
„Gibt es vielleicht irgendeine Aufgabe, die ich für dich erledigen könnte?“, fragte sie vorsichtig.
„Was könnte ich schon erledigt haben wollen? Ich kann jeden manipulieren von dem ich etwas brauche. Das selbe könnte ich auch mit dir machen. Ich bin auf deine Hilfe nicht angewiesen.“
In Sahinja stieg die Wut hoch. Gegen diesen eingebildeten Wicht konnte sie einfach nicht ankommen. Sie war schließlich eine Frau der Tat und nicht eine der Worte.
„Aber was könnte ich tun, damit wir uns einigen können?“, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen um sich selbst unter Kontrolle zu halten.
Gelassenheit gehörte nun mal nicht zu ihrem Repertoire und wenn dieses Gespräch weiterhin so ziellos verlief, hatte sie die Befürchtung etwas Dummes zu begehen.
„Nichts könntest du tun. Nichts!“, sagte er, vollführte eine ausladende Geste mit seinen Händen und drehte sich von ihr weg. „Ich gebe ihn dir trotzdem.“, fügte er kleinlaut hinzu
Mit dieser Wendung hatte sie nicht gerechnet. Ihr Zorn war verflogen, Verwirrung war erschienen.
„Ihr gebt ihn mir trotzdem?“, fragte sie verwirrt und hoffnungsvoll zugleich nach.
„Ja. Ich habe eine alte Schuld zu begleichen.“, knurrte er „Ich habe vor langer Zeit einem Freund ein Versprechen gegeben dir diesen Takran zu überlassen.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Das wundert mich nicht. Sei einfach froh, dass ich früher ein solcher Thor war und jetzt gegen meinen Willen seinen Worten folge leisten muss. Ich bin ein Ehrenmann und werde meine Schuld begleichen.“
Zaroir musste sie verwechseln. Sie baute nie eine Beziehung zu Menschen auf. Niemand kannte sie besser als Mepanuk und Eogil und diese kannten sie nicht wirklich. Mit Ausnahme von Zaroir, der sie sicherlich am besten zu kennen schien und ihre dunkle Seite sofort richtig eingeschätzt hatte. Die meisten Menschen hassten und fürchteten sie, niemand würde ihre etwas Gutes wollen. Und hatte Zaroir nicht gesagt, dass er eine alte Schuld zu begleichen habe? Von wie vielen Jahren sprach er? Wie viele es auch waren, er musste sie verwechseln.
„Du kannst mir ruhig glauben, ich irre mich nicht.“, beantwortete er abermals ihre Gedanken „Denkst du, du seist die einzige in dieser Welt, die über große Macht verfügt? Nein. Es gibt Dinge die selbst über deinen beschränkten Horizont liegen.“, er machte eine theatralische Geste mit seinen Händen „Niemals hätte ich mir dieses Versprechen, dir den Takran zu geben, abringen lassen sollen. Meine Kräfte sind zu mächtig. Wenn sie in die falschen Hände geraten, kann das furchtbare Auswirkungen haben. Und du gehörst mit Bestimmtheit genau zu der Sorte Mensch, von der ich nicht will, dass sie über eine solche Macht verfügen. Aber was sollte ich machen? Damals war ich noch ein unerfahrener Thor gewesen. Mir fehlten fünfundzwanzig Jahre der Erfahrung.“
Dieses Versprechen soll er vor fünfundzwanzig Jahren gegeben haben? Das konnte nicht sein. Sahinja kannte ihr wahres Alter nicht, doch vor fünfundzwanzig Jahren musste sie gerade mal ein Kleinkind gewesen sein, wenn nicht im Alter eines Babys. Soweit konnte sie sich nicht einmal zurück erinnern. Sie hatte unter Einsatz ihres Perfektions-Takrans ihre Erinnerungen geblockt. Es war eine Zeit des Leidens und des Grauens gewesen und obwohl das Wissen darüber nicht mehr vorhanden war, wusste sie dennoch, dass es für sie besser war, nicht in diese Zeit zurückzublicken. Was sie aber wusste war, dass sie damals noch nicht auf der Suche nach den legendären Takranen gewesen war. Vermutlich wusste sie zu dieser Zeit noch nicht einmal, dass sie selbst einen dieser Takrane besaß. Wie konnte jemand anders schon damals gewusst haben, dass sie danach suchen würde und genau dem Menschen ein Versprechen abringen, von dem sie eines brauchte?
Nein, das ergab alles keinen Sinn. Wenn Zaroir sie nicht mit irgendjemandem verwechselte, war es plausibler, wenn ihm die Jahre der Einsamkeit und der Isolation in dieser Höhle den Verstand geraubt hatten.
„Natürlich, jetzt hältst du mich auch noch für verrückt.“, sagte er als er ihren Gedanken abermals folgte. „Ach denk doch was du willst, du hast noch nicht einmal halb so viele Jahre auf dem Buckel wie ich! Vielleicht bin ich ja auch verrückt. Wenn ich dir wirklich meinen Takran überlasse, muss ich ja wohl verrückt sein. Und was ist mit dir?“, sagte er nun an Mepanuk gerichtet, als wäre ihm erst jetzt aufgefallen, dass er ebenfalls vor ihm stand. „Du willst dich bei mir verkriechen?“
„Ja.“, entgegnete ihm Mepanuk auf die ihm übliche Art: Mit so wenig Worten wie möglich.
Mepanuk sah ein wenig verunsichert aus. Mit einem barschen alten Greis hatte er wohl nicht gerechnet und jetzt schien es ihm erstmals in den Sinn gekommen zu sein, dass seine Entscheidung sich bei Zaroir vor Horior zu verstecken, doch keine so gute Idee gewesen war.
„Du scheinst ein gefälliger Mensch zu sein... Still, aber... Naja, was solls... Ach von mir aus, solange du mir nicht auf die Nerven gehst. Ein wenig Gesellschaft würde mir sicher gut tun. Kommt mit.“
Zaroir führte sie durch einen aufsteigenden Seitengang.
„Glaubt mir, wenn ich es nicht gewollt hätte, ihr hättet mich nie gefunden. Viele hatten es schon versucht und viele standen schlussendlich an genau der Stelle, an der sie zu suchen begonnen hatten. Dieses Höhlensystem führt tief ins Erdinnere hinab, nicht einmal ich kenne alle Wege. Ich habe euch schon Stundenlang beobachtet und mir ein Bild über euch gemacht. Mir könnt ihr nichts mehr vormachen. Und du Sahinja schon gar nicht.“
Eingebildeter alter Greis.
Nach ein paar Abzweigungen hatten sie einen größeren Höhlenraum erreicht, in dem sich Zaroir anscheinend notdürftig eingerichtet hatte. Ein paar Fackeln waren an den Wänden befestigt und spendeten Licht. Er hatte eine Feuerstelle an der er sein Essen zubereitete und eine Schlafstelle aus den Fellen verschiedener Tiere.
Zaroir bot ihnen einen Platz auf ein paar Steinen an.
„Also, Mepanuk. Wenn du bei mir bleiben willst, musst du für dein Essen selber sorgen. In diese Höhle verirren sich nur selten Tiere. Ich kann sie zwar soweit manipulieren, dass sie bis zu mir laufen und sich von mir freiwillig abschlachten lassen, aber mit dieser Technik habe ich schon fast alle Tiere erlegt die sich in meiner Reichweite befinden.“
„Ich brauche nichts zu essen.“, sagte Mepanuk, zog seinen Umhang beiseite und der falsche Takran verwandelte sich in den Takran, der ihm die Fähigkeit verlieh keinerlei Nahrung zu sich nehmen zu müssen. „Wenn du willst, kann ich auf die Jagt gehen, ich bin schnell.“
„Junge, zumindest du gefällst mir.“
Zaroir stellte Mepanuk noch ein paar Bedingungen die Mepanuk einzuhalten hatte, falls dieser bei ihm bleiben wollte. Mepanuk, der von einfachem Gemüt war, nahm all diese bereitwillig an. Sahinja schienen sie in dieser Zeit vollkommen vergessen zu haben. Sie vermutete, dass Zaroir es so lange wie möglich hinzuzögern versuchte ihr seinen Takran zu geben.
Sahinja hatte keine Ahnung wie lange das noch dauern sollte. Auf Smalltalk war sie nicht aus. Darauf verstand sie sich genauso gut wie Mepanuk, und Zaroir wollte sie sicherlich auch nicht um sich haben. Eigentlich war sie hier unerwünscht. Nur durch einen total prekären Umstand, den sie nicht verstand, war sie so weit gekommen. Zaroir sollte ihr endlich seinen Takran geben, damit sie verschwinden und ihre Suche fortsetzen konnte. Dieser verrückte alte Greis wäre sicherlich auch froh sie endlich nicht mehr am Hals zu haben.
„Ja schon gut ich habe verstanden.“, sagte Zaroir aus heiterem Himmel.
Mepanuk und Sahinja schreckten hoch. Sahinja hatte wieder einmal vergessen, dass Zaroir ihre Gedanken lesen konnte. Sie wusste zwar nicht mehr genau was sie gedacht hatte, aber sie war sich sicher, dass diese von nichts Gutem gehandelt hatten.
„Du solltest dir ein Beispiel an Mepanuk nehmen. Der denkt genauso viel wie er spricht. Das ist ein echter Segen für meine Gabe. Aber deine vergifteten Gedanken zu hören bereitet mir echt Übelkeit.“
Zaroir kam ihr näher und kopierte widerwillig seinen Takran auf ihre Stirn, was zur Folge hatte, das ihr Eis-Takran verschwand. Sahinja spürte die kalte Temperaturen der Höhle. Es war sicherlich nicht so eisig wie außerhalb des Gebirges, aber dennoch sträubten sich ihr die Härchen.
„Ja, das hast du nun davon. Sollst du doch auf deine Habgier hinauf erfrieren.“
Vielleicht benahm sich Zaroir ehrlich, aber ehrenhaft war dieses Verhalten keinesfalls. Es war viel mehr das Verhalten, das Sahinja an den Tag legte. Ein greiser alter Wicht, das war er, nichts anderes.
Wieder erntete Sahinja böse Blicke von Zaroir. Mist, sie hatte in dieser kurzen Zeitspanne abermals vergessen, auf ihre Gedanken zu achten.
„Ich gab zwar das Versprechen dir den Takran zu überlassen, aber nicht dich aus diesem Gebirge zu führen. Ich bin mir sicher du findest den Weg auch alleine. Auf nimmer Wiedersehen!“
Seine letzten Worte ließen keine Widerrede zu. Sie hatte, obwohl sie versucht hatte sich zurückzuhalten, es zu weit getrieben. Den Weg musste sich ohne Zaroirs Hilfe aus der Höhle finden. Aber das sollte für sie kein Problem sein. Wenn Zaroir sie nicht irreleitet, würde ihre Intuition den richtigen Weg finden. Und Zaroir würde sie sicher nicht irreleiten, schließlich hielt er sich für einen Mann der Ehre. Ja, diesen Gedanken hatte sie absichtlich deutlich formuliert und Sahinja war sich sicher, dass Zaroir auch weiterhin ihren Gedanken lauschte.
Dies war also der Ort an dem sie sich von Mepanuk trennte und sie ihren Weg wieder als Einzelgängerin fortsetzte. Sie wusste nicht ob sie sich freuen sollte. Mepanuk war ein angenehmer Begleiter gewesen. Er war ihr nie auf die Nerven gegangen und hatte stets das getan, um was ihn gebeten hatte. Aber es war besser, wenn sie sich nicht mehr um ihn zu kümmern hatte. Mepanuk war nun einmal kein Kämpfer und ihre Reise würde sie noch des öfteren zu einem Kampf führen. Mit wenigen Worten verabschiedete sie sich von Mepanuk, dann kehrte sie ihm und dem alten Wicht den Rücken.
Während Sahinja einen Weg nach dem anderen durch das Tunnelsystem nahm, bemerkte sie etwas sonderbares. Wieder einmal hatte sie mit einem weiteren legendären Takran etwas Zusätzliches erhalten. Sie konnte im Geiste noch immer Mepanuk und Zaroir spüren, oder um es genauer auszudrücken: Sie konnte ihre Takrane spüren. Sie wusste welchen Takran Mepanuk besaß und welche er erhalten hatte. Nicht einmal sein Veränderungs-Takran konnte den Schein wahren. Sie konnte jeden einzelnen Takran Mepanuks vor Augen sehen und sie wusste ebenso welche Takrane Zaroir trug. Von nun an würde sie stets über die Takrane der anderen bescheid wissen und sich damit einen ungeheuren Vorteil verschaffen. Sahinja musste grinsen. Welche Fähigkeiten sie wohl mit dem sechsten legendären Takran dazu erhalten würde?
Sie hatte den Ausgang der Höhle schnell erreicht und der Wind schnitt ihr eisig in die Haut. Der Weg zu Zaroir war nicht weit gewesen. Anscheinend hatte er sie ein paar Stunden in die Irre geleitet um seine Entscheidung genauestens abzuwiegen, oder er hatte sich von Eogil stundenlang Honig ums Maul schmieren lassen. Jetzt musste sie sich beeilen. Obwohl die winterliche Zeit schon fast vorüber war und der Frühling einher zog, war es noch immer bitter kalt und wenn sie sich nicht beeilte, würde sie der Kälte unterliegen.
Ihre Kleidung war noch immer die selbe, welche sie von Eogil erhalten hatte. Sie war aus dünnem Stoff und passte sich ihren Bewegungen an, sodass sie in einem Kampf keinesfalls einschränkt wurde. Leider war sie auch darauf ausgelegt, dass ihr Besitzer einen Eis-Takran trug. Leider war ihre Kleidung durch das Kampfgetümmel mit dem Kopfgeld-Jäger stark beschädigt worden und war mit etlichen Rissen überseht. Es spendete, wenn überhaupt, nur noch wenig Wärme. Jetzt bereute Sahinja, dass sie die Kleider des Kopfgeld-Jägers bei den Alchemisten zurückgelassen hatte.
Sahinja biss die Zähne zusammen und lief los. Wenn sie der Kälte trotzen wollte, musste sie in Bewegung bleiben. Sie kannte diese Gegend nicht genau, aber sie vermutete, aufgrund ihrer übernatürlichen Intuition, dass wenn sie ihre Richtung Nord-Westlich ansteuerte, sie auf ein Dorf stoßen würde. Spätestens, wenn sie mittels ihrer neuen Fähigkeiten auf einen Menschen stieß, würde sie diesen nach dem genauen Weg fragen. Sei es ein Takran-Jäger oder ein armer Bauer, sie besaß nun fünf der legendären Takrane, sie war mächtig genug es mit jedem aufzunehmen.
Im Lauf schmiedete sie ihr weiteres Vorgehen. Die Nacht würde bald einbrechen und die eisigen Temperaturen würden noch weiter sinken. Bis dahin muss sie dieses kahle Gebirge verlassen haben und ein Waldstück erreichen, wo sie genug Feuerholz zusammen sammeln konnte, um ein Feuer zu entzünden. Auch wenn sie keinen Feuer-Takran besaß, mit dem sie das Holz entfachen Brennen konnte, war sie froh, dass sie mit dem Blitz-Takran das Holz solange bearbeiten konnte, bis es Feuer fing.
Wie um diesen Gedankengang abzuschließen sah sie auf ihre rechte Hand. Doch anstelle sich zu beruhigen, schreckte sie hoch. Der Blitz-Takran war verschwunden und das hatte sie nicht einmal bemerkt. Von wem hatte sie ihn noch einmal erhalten? Es war einer der drei Gefährten, der dem Angriff auf Eogils Lager entgangen war. Anscheinend war auch er vor kurzer Zeit gestorben. Jetzt hatte Eogil nur noch zwei Freie die ihm geblieben waren. Vielleicht waren sie nun auch alle tot. Zu dem Schock über das Fehlen ihres Blitz-Takrans, ereilte sie ein weiterer. Sahinja zog die Hose ein Stück hoch, soweit, dass sie den Takran erkennen konnte. Gut, Eogil lebte noch. Es war nicht die Sorge um das Ableben Eogils, sondern die Sorge um den Verlust eines legendären Takrans. Sollte Eogil sterben, würde ein anderer mit seinem Takran geboren werden. Doch diesen musste man erst einmal ausfindig machen.
Aber was sollte sie nun tun um sich vor der Kälte zu schützen? Sahinja verlangsamte ihr Tempo um ihre Energie zu sparen. Die Antwort war so schlicht wie unmöglich: Sie musste die Tage und Nächte durchlaufen und hoffen, dass die Schwäche sie nicht übermannte, sie zusammenklappte und seelenruhig erfror. Hoffentlich würde ihr jemand entgegnen, der ihr helfen konnte. Selbst ein Takran-Jäger, den sie töten konnte um sich seiner Kleider zu bedienen, wäre ihr jetzt recht gewesen. Mutlos setzte sie ihren Lauf fort, in die Richtung in welche sie ihre Intuition leitete.

Kapitel 10 - Die Erkenntnis




Sahinja wachte auf. Sie befand sich im Zimmer eines Gashofes. Wie sie genau dort hingegelangt war, wusste nicht mehr. Sie dachte an die letzten Tage zurück.
Sie war drei Tage und drei Nächte durchgerannt. Natürlich war ihr keine Menschenseele begegnet. Die Überanstrengung ihres Körpers hätte sie fast zusammenklappen lassen. Aber Sahinja war es gewohnt ihren Körper bis an seine Grenzen zu treiben. Den letzten Tag hatte sie sogar ohne Nahrung zurücklegen müssen, da sie all ihre Vorräte aufgebraucht hatte.
An die Ankunft im Dorf konnte sie sich nur noch schemenhaft erinnern. Als sie die Wirtsstube betrat, wäre sie fast zusammengeklappt. Die Wärme des Gasthofes hatte sich, wie eine schwere Decke umgehüllt und sie beinahe vor Müdigkeit zu Boden gezogen. Aber Sahinja hatte sich der herrlichen Geborgenheit entgegengestellt, in ihren Geldbeutel gegriffen, eine wahllose Anzahl von Münzen auf den Tresen geschmissen und nur das Wort „Zimmer“ genannt. Wie sie es erreicht hatte wusste sie nicht mehr. Vermutlich hatte sie in diesem Moment ihrer Schwäche und ihrer Müdigkeit keinen Einhalt mehr gebieten können und war vor allen Besuchern der Gaststube zu Boden gestürzt.
Sahinja richtete sich auf. Alles drehte sich und ihr war schlecht. Sie hatte Hunger und sie spürte die Anspannung jedes Muskels in ihrem Leib. Wie lange sie geschlafen hatte wusste sie nicht. Es war ihr auch egal. Zeit hatte für Sahinja nur wenig Bedeutung. Sie orientierte sich weder nach Tagesplänen oder Tagesabläufen.
Nach einer kurzen Zeitspanne hatte sie das Schwindelgefühl einigermaßen unter Kontrolle gebracht. Jetzt war es an der Zeit sich etwas in den Magen zu schlagen. Mit einem letzen Blick betrachtete sie ihr Hab und Gut. Auf einem Sessel lag ihr Waffengurt in dem sich das prachtvoll geschmiedete Schwert Vorcars befand. Daneben lag ihr Geldbeutel. Ein kurzer Blick hinein genügte um festzustellen das sich noch genügend Münzen darin befanden. Sie wusste nicht wie viel sie besessen hatte. Es war ihr auch egal, ob sich der Wirt ein paar daraus genommen hatte, sie war nur froh, dass sich noch genügend darin befanden, um sich etwas zum essen zu kaufen und genügend Proviant für ihre weitere Reise anzuschaffen. Notfalls konnte sie wieder etwas stehlen. Es war nur weniger anstrengend und weniger zeitaufwändig für die Dinge die sie brauchte zu zahlen.
Vor dem Stuhl lag ihr Rucksack, daneben ihre Schuhe. Das war der Beweis, dass man sie ins Zimmer getragen hatte. Sahinja zog nie ihre Schuhe aus, selbst nicht wenn sie schlief. Sie fand es eine dumme Angewohnheit. Wieso sollte man gerade wenn man sich schlafen legte die Schuhe ausziehen? Das ergab doch keinen Sinn. Sobald man aufstand zog man sie ja doch wieder an. Das ist verschwendete Zeit. Außerdem war man schneller einsatzfähig wenn in der Nacht überrascht wurde.
Sahinja hatte ihre Schuhe wieder angezogen und den Waffengurt mit dem Schwert angelegt. Es war zwar nicht gerne gesehen, wenn man bewaffnet durch die Straßen lief, aber Sahinja scherte sich einen Dreck darum was andere Menschen von ihr dachten. Ihr war trotz der leichten Wärme in ihrem Zimmer kalt. Ihr fehlte noch immer ein Eis-Takran und ihr geschwächter Körper brauchten dringend Nahrung um Wärme zu produzieren und sie mit Kraft zu versorgen.
In der Wirtsstube angekommen, setzte sie sich an den Tresen und legte acht Kupferlinge vor die Nase des Wirts. Dafür würde sie ein königliches Mahl erhalten.
„Das Beste was ihre mir zu speisen und zu trinken auftischen könnt.“
Der Wirt sah für einen Edorananer viel zu freundlich aus. Das gewöhnliche Misstrauen, welches die Edoraner mit sich trugen, schien diesem Wirt nichts anzuhaben. Irgendwie erinnerte er sie an Eogil, aber dann entschied sie sich anders. So dämlich war sein Grinsen nun auch wieder nicht. Mit knurrendem Magen wartete sie auf ihr Mahl. Sie war noch immer gerädert und die Müdigkeit schien einfach nicht von ihr abzufallen.
Nach einer nicht allzu langen Zeit, brachte ihr der Wirt ein Mahl, dass ihrem Hunger gerecht wurde. Damit hätte er eine Großfamilie durchfüttern können. Aber vermutlich war er nur auf ihr Geld aus und hatte ihr so viel aufgetischt, um keines der Kupferlinge zurückgeben zu müssen. Gierig machte Sahinja sich über das zarte, warme Fleisch her. Unterdessen stellte der Wirt ihr ein großes Glas Bier neben den Teller, das sie sogleich packte und einen großen Schluck daraus machte. Gewöhnlich trank sie keinen Alkohol. Es war ein dummes Getränk, welches die Sinne vernebelte und aus dem gebildetsten Menschen einen bemitleidenswerten Tölpel machte. Daran störte sich Sahinja eher weniger, aber ihr Kampfgeschick wurde von diesem Getränk stark beeinflusst. Doch gegen ihren Willen musste sie sich eingestehen, dass es unverblümt gut schmeckte. Viel zu gut.
„Du hast wohl eine anstrengende Reise hinter dir.“, versuchte der Wirt ein Gespräch mit ihr aufzubauen.
Sahinja hasste es, wenn man sie während des Essens störte. Umso mehr hasste sie es wenn sie zudem noch hungrig war und das war sie meistens wenn sie aß. Aber das war nun mal das typisches Verhalten eines Wirten. Durch ein einfaches Gespräch ließ sich schnell herausfinden, ob der Gast welchen man beherbergte zu der Sorte Mensch gehört welche man mögen oder fürchten sollte.
Für gewöhnlich war es Sahinjas Art ein schlechtes Bild von sich zu vermitteln. Menschen die sie nicht mochten gingen ihr aus dem Weg und diese Sorte Mensch mochte Sahinja wiederum am meisten. Aber wie es bei Wirten so üblich war, waren sie auch die größten Klatschmäuler des Dorfes und da Sahinja noch ein paar Takrane brauchte, würde er ihr sicher die nötigen Informationen geben, wenn sie sich für ein braves Mädchen ausgab.
„Anstrengend, ja.“, sagte Sahinja mit vollem Mund, während sie zugleich einen weiteren Brocken Fleisch in sich hineinstopfte.
„Du bist einfach zusammengeklappt als du ein Zimmer gemietet hast.“
Sahinja antwortete nicht. Anstelle dessen griff sie in ihren Beutel, holte drei weitere Kupferlinge hervor und legte ihn auf den Tresen.
„Für deine Hilfsbereitschaft und dafür, dass du mich nicht bestohlen hast.“
Jetzt hatte sie ihn. Das sah sie in seinen Augen. Mit Geld konnte man nun mal alles erreichen. Sie wusste zwar nicht ob sie mit der Vermutung, dass sie nicht bestohlen worden war, recht hatte, aber der Wirt schien ihr ein ehrlicher Mensch zu sein.
„Du hast übrigens ein Zimmer für vier Wochen gemietet, wenn dir die Zeit...“
Sahinja hatte ihn mit einem Handwink unterbrochen. Es war zwar unüblich, dass ein Gastwirt jemandem das Angebot machte, das bereits bezahlte Geld zurückzuerstatten, aber wenn sie darauf bestand sich das Geld wieder ausbezahlen zu lassen, hätte sie seine Gunst verloren. Es wäre besser ihm in dem Glauben zu lassen, sie würde die restlichen Tage bei ihm als Gast verbringen und reichlich Geld für die Bewirtung dalassen. Ein zahlungsfähiger Kunde mit einem großen Geldbeutel war immer gern gesehen und wurde stets mit dem höchsten Maß an Freundlichkeit behandelt. Sollte er doch glauben sie hätte Geld wie Heu, das würde vieles leichter machen. Vermutlich würde er ihr jeden Gefallen von den Lippen ablesen, um auch noch die letzte Münze aus ihrem Beutel zu erhaschen. Aber soweit würde sie es nicht kommen lassen. Sahinja war keine Wohltäterin, es sei denn es half ihren Zweck. Und notfalls, konnte sie das Geld bei ihrer Abreise immer noch zurückfordern.
Während des restlichen Mahls unterbrach er sie nicht mehr. Dafür war sie ihm dankbar. Sie hatte beinahe alles verschlungen. Einen solchen Appetit hatte sie sich selbst nicht zugetraut. Selbst der Wirt hatte ihre letzten Bissen mit großen Augen verfolgt. Dass eine solche Menge in eine solch grazile Gestallt passt, hätte er wohl nicht gedacht.
„Ein köstliches Mahl. Mein Empfehlung an die Küche.“
Ein kleines Lob schadete nie. Aber nun war genug mit der Arschkriecherei. Sie war nicht hier, um dem Wirten Honig ums Maul zu schmieren. Für so etwas gab es Idioten wie Eogil.
„Ich werde es selbstverständlich ausrichten.“, sagte er mit einem Lächeln, dann wurde seine Miene ernster „Darf ich euch fragen was auch nach Grauagger führt.“
Auf diese Frage hatte sie gewartet und während des Essens hatte Sahinja sich schon eine plausible Lüge zurechtgefeilt.
„Ein Freund hat nach mir geschickt. Wir waren eine Gruppe aus drei Männern und zwei Frauen. Doch dann sind uns ein paar Takran-Jäger aufgelauert. Wir waren in der Überzahl und konnten sie in die Flucht schlagen, aber ich war die einzige die überlebt hatte. Dabei hatte ich einen Blitz- und einen Eis-Takran von meinen Freunden verloren, als sie gestorben sind.“
Mittleidsschiene - Das würde sicher helfen. Ihre zerrissene Kleidung und ihr Schwächeanfall in der Gaststube ließen zumindest darauf schließen, dass sie in einem Kampf verwickelt war. Zudem war es auch eine perfekte Überleitung zu den Takranen und erklärte warum sie so fror.
„Gibt es in eurem Dorf jemanden, der einen Eis-Takran am Fuß trägt und einen Blitz-Takran an der Hand?“
Es wäre zu auffällig gewesen nach irgendwelchen anderen Takranen für die Hände zu fragen, da jeder andere erst lernen musste diese zu beherrschen. Der selbe Takran an der selben Körperstelle war jedoch gleich einsatzbereit und das war auch der Grund warum die meisten nach immerzu den selben Takranen suchten und nur selten neue erlernten.
Der Wirt schien nachzudenken und als er das tat geschah etwas seltsames. Sahinja fing Gedankenfetzen auf. Worte, die sie aber nicht genau verstehen konnte, weil sie zu undeutlich waren. Dies war das erste Mal, dass sie den Takran der Gedanken unbewusst einsetzte.
„Ja, da fällt mir jemand ein, der einen Eis-Takran am Fuß trägt, bei der Hand muss ich dich leider enttäuschen, da kenn ich niemanden.“
Sahinja hätte vor Freude innerlich aufschreien können. Obwohl sie behauptete, dass ihr Fuß leer war, trug sie noch immer den Dehnungs-Takran, welchen sie von den Alchemisten erhalten hatte. Jetzt konnte sie ihn endlich für einen Eis-Takran eintauschen. Und auf ihrer Hand konnte sie sich mit ein bisschen Redegeschick einen anderen, vielleicht sogar besseren, aussuchen.
„Das ist schade.“, versuchte sie so glaubhaft wie möglich zu sagen. „Ich muss die Reise zu meinem Freund jedoch unter allen Umständen fortsetzen, vielleicht besitzt irgendjemand anders einen nützlichen Takran. Es wäre zumindest besser einen Takran zu besitzen den man nur bedingt einsetzen kann, als gar keinen zu tragen.“
Sahinja hatte erreicht was sie wollte. Der Wirt fraß ihr aus der Hand. Besser hätte es nicht einmal Eogil machen können. Naja, vielleicht doch. Er hätte einfach seinen Charisma-Takran eingesetzt und der Wirt wäre zahm wie ein Baby geworden.
Wieder dachte der Wirt eine Weile nach und wieder fing Sahinja ein paar Gedankenfetzen auf. Erstaunlicherweise konnte sie den Takran der Gedanken schneller beherrschen als irgend einen anderen der legendären.

Nach einer kurzen Weile hatte Sahinja alle Informationen die sie brauchte. Den Eis-Takran würde sie von einer Frau, dessen Mann der Besitzer einer Webstube ist bekommen und für die Hand würde sie sich einen Feuer-Takran holen. Bei elementaren Takranen konnte man nie etwas falsch machen. Sie waren mächtig, häufig zu finden, schnell zu erlernen und günstig. Außerdem musste Sahinja mit einem Feuer-Takran ihren Proviant nicht in gefrorenem Zustand verspeisen. Dummerweise verlangte der Besitzer des Feuer-Takrans Geld und Sahinja musste sich zwischen den Proviant und dem Takran entscheiden. Entweder brach sie beim Krämer ein, oder bei dem Bergarbeiter, welcher der Besitzer des Feuer-Takrans war.
Sahinja entschied sich beim Bergarbeiter einzubrechen. Seine Haus lag abgelegener und niemand würde sie verdächtigen einen Takran gestohlen zu haben, da niemand wusste, dass irgendjemand dazu in der Lage war.
Von der Frau des Webmeisters erntete sie das Misstrauen, welches ihr beim Wirten entgangen war. Zumindest ihr kannte man ihr edoranisches Gemüt an. Sahinja hatte es aber dennoch geschafft sie dazu zu überzeugen ihr den Takran zu überlassen. Ansonsten hätte sie in der Nacht wieder kommen müssen uns sie wäre am nächsten Morgen mit starken Kopfschmerzen erwacht.
Mittlerweile war die Schwärze der Nacht über das Dorf eingebrochen und Sahinja machte sich im Schutze der Dunkelheit auf den Weg zum Haus des Bergarbeiters. Ihren Rucksack, mit dem frisch gekauften Proviant hatte sie in ihrem Zimmer zurückgelassen. Am nächsten morgen, sobald sie ausgeruht war, würde sie ihre Reise fortsetzen. Sie hatte sich dazu entschieden in Eogils Lager zurückzukehren. Vermutlich würde er es schon längst verlassen haben, aber das ruhige Herumsitzen und das Warten auf mögliche Ereignisse verabscheute Sahinja. Vielleicht hatte sie ja Glück und er, oder ein paar seiner Leute befanden sich dort, die wussten wo er sich aufhielt. Eogil war ein Mann, der stets eine Lösung fand und vielleicht wusste er auch schon wo sich der nächste legendäre Takran befand.
Sahinja musste lächeln. Diesmal besaß sie einen Takran mehr als Eogil. Auf ihrer Reise zum dem Takran der Gedanken war sie zufällig auf den Takran der Täuschung gestoßen und mit diesen beiden Takranen trug sie einen legendären mehr als Eogil. Jetzt war sie es, die im Vorteil war.
Sie war nun an ihr Ziel gekommen. Mit Freude nahm sie wahr, dass die Kerzen im inneren des Hauses erloschen waren. Sahinja versuchte an den Fäden abzulesen ob der Bergarbeiter und seine Frau bereits schliefen. Die Fäden waren ruhig und bewegten sich um den Bergarbeiter und seiner Frau kaum. Entweder schliefen sie, oder sie waren in einem sehr entspannten Zustand nahe des Einschlafens. Aber genau konnte sie es nicht sagen, da sie diese Fähigkeit noch nicht lang genug besaß und sie diese noch nicht exakt deuten konnte.
Die Türe war natürlich verschlossen und Sahinja sah sich um, ob auch niemand ihren Einbruch bemerken würde. Da passierte plötzlich etwas vollkommen neues. Sie wurde unsichtbar. Jetzt setzte sie zum ersten Mal den Takran der Täuschung ein. Entweder beherrschte sie den Takran der Gedanken und den der Täuschung um vieles besser als den der Realität und den der Zeit, oder aufgrund der Tatsache, dass sie nun fünf legendäre Takrane in Kombination trug, beherrschte sie jeden einzelnen besser. Genauso war es auch, wenn man mehrere elementare Takrane des selben Typs trug. Doch das war etwas was sie nach dem Einbruch nachgehen sollte. Jetzt war sie erstmal froh darüber, dass sie niemand sehen konnte.
Sie legte ihre linke Hand auf das Schloss und mit einer genau abgeschätzten Pulswelle ihres Takrans verbog sie den eisernen Mechanismus des Schlosses. Schlösser hatten für Sahinja noch nie ein Hindernis dargestellt. Es wunderte sie, dass sich die Menschen immer noch einsperrten. Wenn jemand einen Weg ins Innere sucht, würde ihn ein schlichtes Schloss ganz bestimmt nicht daran hindern.
Sahinja hatte in den wenigen Räumen des kleinen Hauses, das Bett des Bergarbeiters schnell gefunden. Er schlief zusammen mit seiner Frau tief und fest und beide schnarchten sie um die Wette. Mittels Sahinjas neuer Fähigkeit Takrane zu spüren wusste sie, dass seine Frau einen Irritierungs-Takran am Arm trug. Einer dieser wertlosen Takrane, die niemand tragen wollte. Ein gezielter Faustschlag auf den Schädel ihres schlafenden Gatten ließ ihn vollkommen wegtreten und sein Schnarchen verstummte. Die Frau drehte sich, bei dem Geräuschs des Faustschlages auf das Gesicht ihres Mannes, schmatzend zur Seite. Wäre sie erwacht, hätte Sahinja auch sie bewusstlos schlagen müssen. Glück für sie. Ein kurzer Griff nach der Hand des Bergarbeiters und schon war der Feuer-Takran in Sahinjas Besitz.
Jetzt wo sie alles in Grauagger erledigt hatte, legte Sahinja sich zur Ruhe. Es befanden sich noch ein paar Trunkenbolde in der Gaststube, aber diese schienen kaum Notiz von ihr zu nehmen. Sobald sie am nächsten Tag erwachte, würde sie dieses armselige Dorf den Rücken kehren. Vermutlich wird dies eines der wenigen Dörfer sein, die sie gut in Erinnerung behielten. Hier hatte sie sich keine Feinde gemacht. Wahrscheinlich würde man sie verdächtigen, bei dem Bergarbeiter eingebrochen zu sein, aber wenn dieser feststellte, dass ihm an nichts fehlte, würde man nicht mehr darüber sprechen. Andererseits, was andere von ihr dachten, interessierte Sahinja so sehr, wie die Unterseite ihrer Stiefel.

Sahinja hatte am frühen Morgen Grauaggar verlassen. Sie trat den Weg Richtung Eogils zerstörten Lagers an und versuchte während der Reis sich mit den legendären Takrane vertraut zu machen. Enttäuscht musste sie feststellen, dass sie den Takran der Täuschungs nicht so gut einsetzen konnte wie sie es erhofft hatte. Es machte anscheinend einen großen Unterschied wenn man diese Takrane unbewusst oder bewusst einsetzte. Doch mit der Vermutung, dass sie je mehr legendäre Takrane sie besitzt, jeden einzelnen umso besser beherrscht, hatte sie Recht behalten. Sie brauchte noch immer viele Versuche um Eogils Takran, oder einen der anderen einzusetzen, aber es gelang ihr mittlerweile wesentlich öfters.
Obwohl Sahinja nun vier Takrane besaß die sie nicht richtig einsetzen konnte, freute sie sich schon auf ihren nächsten Kampf. Sie hatte festgestellt, dass sie in angespannten Situationen einen besseren Zugang zu den Takranen hatte und ein Kampf bat ihr in diesem Falle die beste Option. Eigentlich wollte sie nur ihrer Langeweile entgegen wirken, ihre neuen Fähigkeiten ausprobieren und ein paar Takran-Jäger in den Tod schicken. Als sie den Takran der Gedanken erhalten hatte, war der Drang, auch die anderen legendären Takrane in den Besitz zu bekommen, größer in ihr geworden. Mit diesem Drang war auch ihr Machthunger gewachsen. Sie wollte sich beweisen. Zeigen wozu sie fähig war. Sie wollte einen Kampf.
Wie der Zufall es wollte, nahm sie die Präsenz einer Person in der Ferne wahr. Eine einzelne Person wäre nie, in einer Gegend wo es von Takran-Jägern wimmelt, freiwillig unterwegs gewesen. Viel wahrscheinlicher war es, wenn diese Person ein Takran-Jäger war und dazu die Belohnung mit niemand anderem teilen wollte. Wie dumm diese Takran-Jäger doch waren. Verwickeln sich in Kämpfe und hoffen später darauf, wenn ihr Opfer noch lebte, einen guten Fang gemacht zu haben. Doch dann fiel Sahinja ein weiterer Grund ein, warum man ganz alleine durch die verschneiten Wege unterwegs war und den möglichen Gefahren trotzte. Man fühlte sich ebenso unbesiegbar wie Sahinja.
Doch die Wahrheit schlug alle Thesen, welche Sahinja aufgestellt hatte, zunichte. Ihr kam eine einfache Frau entgegen, die keinen Takran trug, der ihr irgendwie in einem Kampf behilflich hätte sein konnte. Und das wusste sie mit Bestimmtheit, da sie mit ihrer neu gewonnenen Fähigkeit schon von der Ferne aus wusste welche Takrane sie besaß. Vielleicht spekulierte sie darauf, dass kein Takran-Jäger etwas von ihr wollte, da sie ohnehin nur Müll an sich trug.
„Du bist die Frau, die sich Terana nennt“, rief ihr die Unbekannte entgegen und winkte ihr.
Sahinja war im ersten Moment verwirrt, dann erinnerte sie sich an die Zeit zurück, die sie bei den Alchemisten verbracht hatte. Nur ihnen hatte sie gesagt, dass ihr Name Terana sei. Aber irgendwas schien in Sahinja aufzuschreien. Es wären zu viele Zufälle gewesen, als dass diese Frau zufällig bei den Alchemisten gewesen war, sie zufällig von ihr erfahren hatte, zufällig den Weg zu ihr einschlug, sie Sahinja zufällig getroffen hatte und sie zufällig auch noch erkannt hatte. Nein, eindeutig zu viele Zufälle. Sahinja wollte der Sache auf den Grund gehen.
„Von woher willst du das wissen?“
„Der große Seher hatte mir gesagt, dass ich dir auf meiner Reise begegnen werde. Er hatte mir meine Reise so genau beschrieben, wie es kein zweiter hätte tun können. Er hatte gesagt, dass ich niemandem zum Opfer fallen würde und dass ich einer Frau begegnen werde, die sich selbst Terana nennt. Er hatte mir exakt beschrieben wie du aussiehst und wie der Ort aussieht an dem ich auf dich treffen werde. Er hat mir sogar gesagt, dass du diese Frage stellen wirst.“
Plötzlich fügte sich in Sahinja ein Puzzle zusammen. Es war ein Puzzle, von dem sie selbst nicht wusste dass sie es zusammenstellte, aber jetzt hatte sie alle Teile beisammen.
Als sie bei den Alchemisten war, hatten auch sie von dem großen Seher gesprochen. Er hatte vorausgesehen, dass Sahinja bei ihnen eintreffen würde und er hatte ihnen Hinweise zu ihrer Vergiftung gegeben. Womöglich war sie nur aufgrund der Vorhersehung des Sehers noch am Leben.
Und dann war da dieser alte verrückte Greis, der sich in den Daugus Höhlen versteckte und den legendären Takran der Gedanken besitzt. Hatte er nicht gesagt, das er jemandem ein Versprechen gegeben hatte, ihr den Takran zu überlassen? Sahinja hatte ihn für verrückt gehalten, denn niemand hätte dies so genau vorausplanen können. Es sei denn man war ein Seher. War es möglich, dass er so weit in die Zukunft gesehen hatte und alles bis zu diesem Zeitpunkt in die Wege geleitet hatte? Wenn jemand dazu in der Lage war, dann konnte es nur ein Seher sein. Es konnte nur der große Seher gewesen sein. Viele behaupteten, er sei der mächtigste aller Alchemisten. Nicht umsonst trug er diesen Titel.
Und dann diese Frau, die ihr so unerwartet, vom Seher geleitet entgegenkommt. Sollte auch das nur ein Zufall gewesen sein? Oder fügten sich gerade alle Teile des Puzzles zusammen und ergaben das Bild des Sehers?
Es wären wiederum zu viele Zufälle gewesen. Je mehr sie darüber nachdachte umso mehr Sinn schien es zu ergeben. Der Seher war das fehlende Stück, welches alle Fragen beantwortete.
Er hatte all das geplant und er hatte all dies in die Wege geleitet. Was das bedeuten musste war Sahinja sofort klar. Ihr nächstes Reiseziel war nicht Eogils Lager, sondern der Aufenthaltsort des Sehers.
Während sie darüber nachdachte, schien es gar nicht mehr so abwegig, dass der Seher einen der legendären Takrane besaß. Niemand sonst konnte die Zukunft so exakt deuten wie er. War dies nicht der Beweis dafür, dass er einen legendären Takran besaß? Es könnte auch sein, dass er Takrane gesammelt hatte, welche es ihm erlaubten seine alchemistischen Takrane weitaus besser deutlicher zu können, als es seine Alchemisten-Kollegen konnten. Oder hatte er diese Weisheit nur aufgrund seines hohen Alters? Auch dann wäre es nur logisch, die Reise zum Seher einzuschlagen. Vielleicht konnte er ihr sagen wo sich ein weiterer legendärer Takran befand.
Ja, alles schien Sinn zu ergeben. Ihr nächstes Reiseziel würde der Seher sein und diese Frau würde ihr sagen wo er sich befand.
„Wo finde ich den Seher?“
„Auch diese Frage hatte der Seher vorausgesehen. Seine Genauigkeit ist bemerkenswert.“, sagte sie entzückt.
Das lieferte Sahinja einen weiteren Beweis. Der Seher hatte diese Situation vorausgesehen, also hatte er auch vorausgesehen, dass sie zu ihm kommen würde. Vermutlich hatte es auch der Seher so geplant, dass diese Frau sie auf dieser Straße traf und sie Sahinja auf genau diese Entscheidung brachte. Zaroir hatte recht, als er sagte, sie sie nicht die einzige die über eine solche Macht verfügte. Und wieder schien sich ein Teil des Puzzles zusammenzufügen. Zaroir hatte mit dieser Aussage den Seher gemeint.
„Wo finde ich ihn?“, hakte Sahinja nach.
„Er lebt in Idon, das befindet sich nahe an der Grenze des Königreichs zu Venundur.“
Anscheinend hatte diese Frau einen langen Weg hinter sich. Sahinja kannte Idon, dort hatte sie sich schon einmal ein paar Geldbörsen und Takrane geholt. Natürlich hatte sie es mit den Dorfbewohnern des Dorfes zu weit getrieben und sie würden Sahinja sicherlich nicht mit offenen Armen empfangen. Aber zumindest redete man sie nicht an und ließ sie in Ruhe. Gut, dass Idon nicht groß genug war und von einem Jarl verwaltet wurde.
Bis zu Eogils Lager hätte sie über zwanzig Tagesmärsche benötigt. Sie war froh, dass ihr neues Ziel nun Idon war, denn diese Reise würde nur in etwa sechzehn Tage dauern.
In dem Moment in dem sie den festen Entschluss gefasst hatte, die Reise nach Idon anzutreten, war auch ihre Intuition wiedergekehrt. Wie eine innere Kompassnadel zeigte sie ihr klar und deutlich den Weg, den sie zu beschreiten hatte.
Sahinja verabschiedete sich von der Frau und war froh, dass der Seher ihr ihren falschen Namen genannt hatte. Hätte er ihr ihren richtigen Namen gesagt, hätte Sahinja sie töten müssen. Niemand sollte ihren Namen erfahren. Auch diese kleine Nebensächlichkeit, schien ein weiterer Beweis dafür zu sein, dass ihre Vermutungen stimmten und der Seher all dies in die Wege geleitet hatte.

Die hälfte der Zeit war verstrichen und stets war sie stur ihrer Intuition gefolgt. Sahinja wollte sich endlich in einem Kampf erproben. Sie wollte ihre Macht unter Beweis stellen. Mit fünf legendären Takranen, deren zusätzlichen Fertigkeiten und ihre andern überaus mächtigen Fähigkeiten, fühlte sie sich unbesiegbar. Sie war jedem überlegen. Das war für sie zwar nichts neues, aber sie fragte sich um wie viel mächtiger sie nun mit ihren neuen Fähigkeiten war.
Wie gut, dass sie eben die Präsenz dreier Takran-Jäger spürte. Sie wusste dass sie Takran-Jäger waren, aus dem simplen Grund, da einer von ihnen einen Takran auf der Stirn trug, mit dem man Menschen aufspüren konnte. Ein Takran, der üblicherweise nur von dieser Sorte Mensch getragen wurde.
Die drei Jäger lagen nicht auf ihrem Weg und sie hätte sie ohne weiters passieren können. Niemand hätte von ihr Notiz genommen, vermutlich wäre es auch vernünftiger gewesen sich nicht unnötigerweise in einen Kampf zu verwickeln, aber Sahinja war nun mal nicht vernünftig und so änderte sie ihrer Weg in Richtung der Takran-Jäger ab. Das würde ihr zwar ein bisschen Zeit kosten, dafür hatte sie aber endlich wieder einmal ein bisschen Spaß.
Die Takrane der drei Jäger waren mächtig und überaus gut aufeinander abgestimmt. Bei diesen Menschen handelte es sich nicht um Freiberufliche, die ihren Münzvorrat ein wenig aufstocken wollen. Nein, das waren richtige Profis, die sich auf die Jagt von Menschen spezialisiert hatten und als Team fungierten. Viele ihrer Takrane waren ein kleines Vermögen wert.
Der erste war eine interessante Kombination aus elementaren Takranen. Er trug am Bauch, an der Stirn, an beiden Händen und auf seinem rechten Arm einen Feuer-Takran, lediglich auf seinem linken Arm war ein Eis-Takran. Er musste ein wahrer Meister im Umgang mit dem Feuer sein. Auf seinen Beinen und Füßen trug er Wind-Takrane, was aus ihm auch einen Meister des Elements Wind machte.
Der zweite war ein Fallensteller und ein Defensiver zugleich. Er hatte für jeden Angriff die passende Verteidigung und trug sogar einen Heilungs-Takran. Obwohl er keinen Angriffs-Takran auf den Händen hatte. Trug er an der Stirn einen Takran der mächtiger war als sämtliche elementaren Takrane zusammen. Nach einen solchen Takran hatte Sahinja jahrelang gesucht. Nur dieser eine konnte an die Macht eines legendären Takrans herankommen. Es war ein Beschwörungs-Takran auf der Stirn. Er konnte einen Dämon beschwören, den er kontrollieren konnte und der für ihn den Kampf austrug. Es war zu schade, dass Sahinja nun den Takran der Gedanken an der Stirn hatte, ansonsten hätte sie sich diesen angeeignet.
Der dritte Jäger hatte sich wie der erste auf eine bestimmte Klasse spezialisiert. Er trug sämtliche Takrane die seine Fähigkeiten als Schwertkämpfer verstärkten. Wie der Steinmann, trug er einen Erd-Takran am Bauch um alle physischen Angriffe abzublocken. Zudem musste sie sich vor seinem linken Schwertarm in Acht nehmen. Er trug sowohl auf seinem linken Arm, als auch auf seiner linken Hand einen Stärke-Takran. Wen er mit seinem Schwert trifft, hätte selbst keine Chance mehr, wenn er den Hieb abblocken würde. Auf seiner rechten Hand trug er einen Beschwörungs-Takran mit dem er Schwerter beschwören konnte und somit Waffen hatte, die nicht zerstört werden konnten.
Vermutlich wäre es besser gewesen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Sie waren absolute Profis, aber Sahinja wollte ihre neuen Fähigkeiten erproben und so steuerte sie geradewegs die Fallen an, welche sie gestellt hatten. Womöglich wurde sie abermals von ihrer Überheblichkeit geleitet, aber dieser Tatsache schenkte Sahinja keinerlei Aufmerksamkeit. Ihr Hochmut und der schiere Glaube an ihre Überlegenheit ließ sie einen Schritt nach dem anderen setzen.
Die Fäden sagte ihr, dass die drei Männer nun auch sie bemerkt hatten. Das erkannte sie daran, dass die drei ihre Positionen geändert hatten und sich vermutlich gerade auf die Lauer legten. Mit Sicherheit warteten sie eben darauf, dass Sahinja in ihre Falle stieg. Bei der Falle handelte es sich um die gleiche welche ihr der Steinmann gestellt hatte. Es war die beste Kombination aus Takranen mit der man jemanden einfangen konnte, ohne ihn zu töten. Ein einfacher Fesselungs-Takran, den sie mittels eines anderen Takrans auf den Boden kopiert hatten.
Der Weg war breit und sie hatten viele Takrane auf dem Boden versteckt. Sahinja wusste genau wo sie sich befanden. Ihre neue Fähigkeit Takrane wahrzunehmen, zeigten ihr diese wie entfachte Fackeln in der Nacht. Sie wusste genau wie viele es waren und sie wusste exakt wo sie sich befanden. Aus Spaß steuerte sei einen direkt an und ließ die drei Jäger in dem festen Glauben, sie würde direkt darauf treten. Aber dann blieb sie abrupt davor stehen, richtete ihre linke Hand darauf und schoss eine Pulswelle ab. Schnee und Erde verteilte sich in alle Richtungen und der Takran war verschwunden. Auch die anderen fünf Takrane entfernte sie blitzartig auf die selbe Weise.
Sahinja lächelte hämisch in sich hinein. Damit hatten die drei nicht gerechnet. Das merkte sie an dem sonderbaren Verhalten ihrer Fäden. Sie wusste nicht genau welche Bedeutung dieses Verhalten hatte, aber sie schätzte es als Wut, Ärger oder Verwirrung ein. Oder eine Kombination daraus.
Der Jäger mit den Elementaren-Takranen entfernte sich von den anderen beiden und flog direkt auf Sahinja zu. Es war erstaunlich, aber wahr: Er flog! Anscheinend verliehen ihm die Wind-Takrane, welche er auf Füßen und Beinen trug die Fähigkeit zu fliegen. Er machte im sicheren Abstand vor ihr halt, immer noch in der Luft schwebend. Die anderen beiden beobachteten sie weiterhin aus ihren Verstecken. Anscheinend wollten sie Sahinja in Sicherheit wiegen und sie in dem Glauben lassen, sie wäre mit dem Elementaren-Jäger alleine.
„Nett, du hast meine Falle bemerkt.“, dann unterbrach er sich und die Fäden um ihn herum veränderten sich. „Warte mal, bis du nicht diejenige auf die das enorme Kopfgeld ausgesetzt ist?“
Wie viel Sahinja wert war, wusste sie nicht, es war ihr auch egal. Sie wollte nur ihre neuen Kräfte erproben und dabei sollten sie diese Typen nicht mit Samthandschuhen anfassen.
„Aber Festuk hat dich doch getötet. Er hat dich vergiftet!“
„Ach hat er das gesagt?“, fragte Sahinja spöttisch. Sie vermutete, dass es sich bei dem besagten Festuk um den Kopfgeld-Jäger handelte, der sie mit seinem Gift beinahe getötet hatte. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich ihn niederschlug und ihm sämtliche Kleider ausgezogen habe.“
Gut, das alles hatte eigentlich Mepanuk gemacht. Aber es hörte sich einfach viel besser an, wenn sie behauptete, sie hätte all dies vollbracht. Ihre Worte zeigten die gewünschte Wirkung. Zwar nicht an seinen Gesichtszügen, aber an den Fäden. Auch wenn sie diese Fähigkeit nicht hundertprozentig verstand. Sie konnte definitiv Emotionen an ihnen ablesen.
Sahinja war die Lust am sprechen vergangen. In weniger als fünf Minuten würde sie alle tot vor ihr am Boden liegen. Anstelle ihn mit weiteren Worten zu beleidigen, beschoss sie ihn aus heiterem Himmel und ohne Vorwarnung mit einer Pulswelle. Den Feuer-Takran konnte sie bei ihm nicht einsetzen, da er aufgrund seiner vielen Feuer-Elemente immun dagegen war.
Der Jäger wurde ein Stück nach hinten katapultiert, konnte sich im Flug aber in der Luft halten. Er erschuf mit beiden Händen eine Feuerkugel und mittels seines Feuer-Takrans an der Stirn übertrug sich das Feuer auf seinen Körper. Jetzt stand Sahinja einer brennenden menschlichen Fackel gegenüber. Genau die selbe Technik hatte Sahinja angewandt, als sie aus Festung Kubur geflüchtet war. Aber da hatte es vor allem den Grund gehabt, sich zu wärmen. Sie musste sich hüten: Sie durfte ihm nicht zu nahe kommen, ansonsten würde das Feuer auf sie überspringen und ihre Kleider würden zu brennen beginnen. Der Feuer-Takran auf ihrer Hand bot ihr dagegen leider keinen Schutz. Sie musste versuchen ihn schnell auszuschalten, ansonsten konnte ansonsten konnte er sie an einem unüberlegten Moment schwer erwischen.
„Es freut mich, dass ich nicht aufpassen muss, dass du am Leben bleibst.“, sagte die menschliche Fackel. „Zu schade für dich, dass du dich mit dem Besten angelegt hast.“
Anscheinend hielten sich hier alle für den Besten. Zugegeben seine Kombination aus Takranen war mächtig und jeder andere wäre ihm sicherlich unterlegen, aber sie war nicht jeder andere.
Sahinja schoss eine weitere Pulswelle auf ihn ab und das Feuer um ihn war erloschen. Sie musste innerlich auflachen, als sie das Entsetzen im Gesicht des Mannes erkennen konnte. Obwohl er solch mächtige Takrane besaß, konnte Sahinjas ihm, mit ihrem schlichten Puls-Takran, seine komplette Kampfstrategie zunichte machen.
Wie aus dem Nichts tauchte ein Dämon auf. Nun griff auch der zweite in den Kampf ein, er selbst blieb in seinem Versteck. Die Euphorie überschlug sich in Sahinja und für kurze Zeit geschah alles wie von selbst. Sie erschuf mittels ihres Takrans der Täuschung ebenfalls einen Dämon. Ihr Dämon war zwar nur eine Illusion, aber das wussten die anderen nicht. Um den Trug zu perfektionieren, veränderte sie das Symbol auf ihrer Stirn in den selben Takran, den auch der Beschwörer trug.
Auf diese unerwartete Wendung hinauf mischte sich auch der dritte in den Kampf ein und stürmte auf Sahinja zu. Er trug in beiden Händen ein beschworenes Schwert und rannte mittels seines Lauf-Takrans in tobendem Gebrüll auf sie zu. Während sie versuchte ihre Illusion von dem echten Dämon nicht treffen zu lassen, schoss Sahinja eine neue Pulswelle ab, die den Schwertkämpfer im gezielten Flug auf den Flammenmann schleuderte.
In der selben Zeit hatte der Flammenmann zwei Feuerbälle auf sie losgelassen, die sie mit ihrem Wind-Takran, den sie am Bauch trug in die Irre leitete.
Der Schwertkämpfer fing sofort Feuer als er auf den Flammenmann traf. Die fliegende Fackel musste seinen Takran an der Stirn einsetzen um das Feuer seines Freundes zu löschen. Während diese beiden beschäftigt waren, ließ Sahinja ihre Illusion auf den versteckten Mann loslaufen, welcher den Dämon kontrollierte. Ihre Illusion war täuschend echt und somit war es nur verständlich, dass er seinen Dämon ihrer Illusion hinterher laufen ließ und selbst aus seinem Versteck flüchtete.
Sahinja musste sich eingestehen, dass er früher oder später hinter ihre List kommen würde und somit erschuf sie, was mit dem echten Beschwörungs-Takran nicht möglich gewesen wäre, einen weiteren Dämon. Wieder eine Illusion und wieder täuschend echt. Sie hatte ihn an genau der Stelle erschaffen an der sie sich befand und hatte sich gleichzeitig unsichtbar gemacht. Erstaunlich, wie gut sie die legendären Takrane in einer Kampfsituation einsetzen konnte.
Während sie die eine Illusion hinter dem Beschwörer herlaufen ließ und die andere auf die beiden anderen hetzte, schlich Sahinja um sie herum, um von hinten an sie heranzukommen. Sie wollte versuchen ihren Zeit-Takran einzusetzen, um schneller bei ihnen anzukommen, aber diesmal verweigerte ihr ein legendärer Takran den Dienst und somit schaffte sie es nicht rechtzeitig an ihnen heranzukommen.
Es war schwer für Sahinja zwei Illusionen gleichzeitig zu kontrollieren und selbst dabei leise im Hintergrund zu agieren. Sie hatte es zwar geschafft den Beschwörer zu vertreiben und musste sich somit nur noch mit zwei Takran-Jägern herumschlagen, aber diese hatten soeben bemerkt, dass ihr Dämon nur eine Täuschung war.
„Der ist nicht echt.“, schrie der Flammenmann, als er ein paar Feuerbälle auf ihren Dämon abgeschossen hatte, welche seinen Körper ohne weiteres durchdrangen.
Auch der Schwertkämpfer hatte dies begriffen, als er merkte, dass sein Schwert gegen ihre Illusion nichts auszurichten vermochte.
„Wo ist sie?“, schrie er und drehte sich suchend nach alle Richtungen um.
Aber da war es schon zu spät. Sahinja war in diesem Moment der Verwirrung hochgesprungen und hatte der menschlichen Fackel den Kopf abgeschlagen. Seine Flammen erstarben und seine beiden Hälften fielen zu Boden. Doch dieser Moment, der Euphorie beeinflusste ihre Konzentration. Sie wurde wieder sichtbar und ihre beiden Dämonen verschwanden.
,Jetzt hab ich dich‘, hörte sie den Gedanken des Schwertkämpfers und sofort änderte sie die Realität ab um seinen Schwertangriff zu entgehen. Mittels ihres Wind-Takrans ließ sie den Hieb vollends ins Leere gleiten.
Vermutlich wäre es edler gewesen, ihm in seiner eigenen Kampfkunst zu schlagen und ihn mit dem Schwert zu besiegen. Aber solche Taten waren etwas für Spinner die sich für Helden hielten. Eogil hätte sicherlich die Klinge mit ihm gekreuzt, aber Sahinja war nicht so dämlich wie er. Sie ließ ihr Schwert fallen und schaffte es endlich die Zeit zu verlangsamen. Mit ihrer linken Hand feuerte sie eine Pulswelle auf den Schwerkämpfer ab, was ihn ein weiteres Mal durch die Luft wirbeln ließ und mit der rechten Hand schoss sie einen Feuerball hinterher, welcher den Schwertkämpfer abermals in Brand steckte.
Sahinja musste sich ducken. Der Beschwörer war mit seinem Dämon zurückgekehrt und dieser hatte soeben einen Faustschlag gegen sie geführt. Während sie sich duckte ließ sie die Zeit abermals langsamer laufen, zog ihr Schwert aus dem Waffengurt und während sie sich noch hochdrehte schlug sie dem Dämon den Kopf ab.
Eine Beschwörung die mittels Gedanken kontrolliert wurde, kann auch ohne Kopf weiterkämpfen. Es war lediglich ein seelenloses Geschöpf des Geistes, nichts lebendiges. Aber dieser Beschwörer war anscheinend ein Perfektionist. Der Dämon ohne Kopf verschwand und vor ihm tauchte ein neuer auf. Das konnte ewig so weitergehen, sie musste seine Schwachstelle ausnutzen und das war bei einer Beschwörung immer der Beschwörer.
In der selben Zeit war auch der Schwertkämpfer schreiend und mit der Geschwindigkeit seines Lauf-Takrans zurückgekehrt. Der Erd-Takran auf seinem Bauch hatte ihm vor dem größten Schaden bewahrt, aber er beherrschte ihn noch lange nicht so gut wie der Steinmann und somit konnte man an seinem Körper einige Schrammen und kleinere Brandblasen erkennen. Sahinja ließ eine neue Pulswelle auf ihn los, nahm ihr Schwert in die Linke und schleuderte ihm abermals einen Feuerball hinterher. Das war zwar unfair und keinesfalls einfallsreich, aber das war Sahinja egal.
Sahinja musste abermals vor den Pranken des Dämons in Deckung gehen. Diesmal konnte sie den Zeit-Takran nicht einsetzen und auch der Realitäten-Takran lies sie im Stich. Aber ihr Perfektions-Takran war ihr stets treu und so vollführte sie ein eleganten Sprung zur Seite, den wohl außer ihr kein zweiter vollbringen hätte können, drehte eine makellose Pirouette und schlug auch diesem Dämon den Kopf ab. Wieder löste er sich in Luft auf, doch das war der letzte Fehler des Beschwörers gewesen, denn in diesem Moment schleuderte Sahinja ihm ihr Schwert in die Brust. Natürlich traf sie direkt sein Herz, etwas anderes hatte sie nicht erwartet. Eine Feuerball hätte ihn kaum verwundet, da er auf seinem Bauch einen elementaren Schutz trug.
Da war es nur noch einer. Und schon, als sie diesen Gedanken gefasst hatte, kam der Schwertkämpfer schreiend zu ihr zurückgerannt. Sein dämliches Geschrei ging Sahinja schon allmählich auf die Nerven. Diesmal setzte sie ihren Puls-Takran nicht gegen ihn ein. Er griff mit einem verheerenden Schlag seiner Linken an und Sahinja versuchte die Realität abzuändern, damit der Schlag ins Leere ging. Aber wieder verweigerte ihr ein legendärer Takran den Dienst. Sie wollte den Zeit-Takran einsetzen um sich mehr Zeit zu verschaffen, aber auch der verweigerte ihr den Dienst. Glücklicherweise konnte sie ihren Wind-Takran soweit kontrollieren, dass sie zusammen mit dem Geschick ihres Perfektions-Takrans, den Schwertschlag entgehen konnte.
Sie dachte an ihren Kampf mit dem Kopfgeld-Jäger zurück und wie er sich hundertfach vervielfältigt hatte. Diesen netten kleinen Trick könnte man doch auch auf dieses armselige Wesen anwenden. Doch so sehr sie es auch versuchte, ihr Takran verweigerte ihr den Dienst.
Sie wich ein paar Schlägen aus, wobei sie einmal sogar den Realitäten-Takran einsetzte und dann konnte sie endlich wieder den Zeit-Takran einsetzen. Geschickt drehte sie sich hinter einem weiteren Angriff des Schwertkämpfers hinweg, sodass sie hinter ihm stand und drehte seinen Kopf nach hinten. Sein Genick brach und auch der dritte Takran-Jäger fiel tot zu Boden. Noch als er fiel konnte sie ein paar Gedankenfetzen von ihm wahrnehmen.
Ihre Euphorie verebbte und ihr Blutrausch war erloschen, nur noch ein selbstgefälliges Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. Sahinja war stolz auf sich, als sie die toten Körper der drei Takran-Jäger am Boden liegen sah. Niemand konnte sie mehr aufhalten. Nicht einmal einen Kratzer hatte sie abbekommen und dabei hatte sie gegen drei Profis gleichzeitig gekämpft. Sie war unbesiegbar und niemand konnte sich mehr ihr in den Weg stellen. Um wie viel mächtiger würde sie mit einem weiteren legendären Takran sein? Und um wie viel mächtiger würde sie sein, wenn sie ihre Takrane vollkommen beherrschte?
Sie zog ihre Schwert aus dem toten Körper des Beschwörers, wischte an seinen Kleidern das Blut ab und steckte es zurück in die Scheide. Ohne sich ein weiteres Mal nach den dreien umzusehen, setzte sie ihren Weg zum Seher fort.
Sahinja wurde von der Sklavenhändler-Gilde gesucht und diese Männer hatten sie erkannt. Es war nur logisch, dass sie diese töten musste. Sie hatten gesagt, dass man sie für tot halte und so soll es auch bleiben. Außerdem waren sie schlechte Menschen und man musste ihnen das Handwerk legen. Gut, Sahinja gehörte ebenfalls zu der Sorte schlechter Menschen, aber ihr konnte man nicht mehr das Handwerk legen.

Die restliche Reise verlief ohne weitere Zwischenfälle. Nicht weil sie versuchte hatte ihnen aus dem Weg zu gehen, sondern weil sie keinem weiteren mehr begegnete. Endlich war sie nun in Idon angekommen und folgte weiterhin ihrer Intuition. Wie sie erwartet hatte, war sie bei den Dorfbewohnern in Erinnerung geblieben. Ihre Gedanken hatten sie verraten und diese waren nicht gerade erfreulich. Aber sollten sie doch denken was sie wollten.
Noch bevor sie beim Haus des Sehers angekommen war, bemerkte sie an den Fäden und auch an den Takranen, welche sie spüren konnte, etwas merkwürdiges. Ihr erster Gedanke war, dass sie sich täuschen musste. Aber ihre neuen Fähigkeiten ließen keinen Irrtum zu. Sie wollte einfach nicht glauben, dass sie so viel Pech haben konnte und dass es einen solchen Zufall geben konnte. Obwohl sie es spürte und obwohl sie sicher war, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr waren, musste sie es mit ihren eigenen Augen sehen, um es Glauben zu können. Doch es war genau so, wie sie es gespürt hatte. Ihre Gesichtszüge erschlafften, Mutlosigkeit machte sich in ihr breit und noch bevor sie angekommen war, hörte sie schon seine dämliche Stimme.
„Erstaunlich, der Seher hatte recht.“, sagte eine tiefe, freundliche Stimme.
Es war Eogil. Er saß auf einer Backsteinmauer und hatte auf die Ankunft Sahinjas gewartet.

Kapitel 11 - Der Seher




„Was um alles in der Welt machst du hier?“, fragte Sahinja wütend.
„Auf dich warten.“, antwortete ihr der stets gut gelaunte Eogil.
Obwohl Eogil noch immer das selbe dämliche Grinsen im Gesicht trug, merkte Sahinja ihm an, dass der Verlust seiner Freien schwere Narben an ihm hinterlassen hatte. Wo er früher seine Mundwinkel bis über beide Ohren gebracht hatte und damit seine makellosen Zähne zur Schau stellte, wirkte dieses Lächeln im Vergleich dazu nicht mehr so enthusiastisch. Dennoch wäre es Sahinja lieber gewesen, wenn er endlich diese verdammte Fröhlichkeit ablegen würde.
Vermutlich hatte der Seher auch Eogil, mit ein paar geschickten Zügen, zu sich gelockt. Das war schon mal ein Grund ihn zu hassen.
„Wo ist das lästige Gefolge?“
Sahinja spürte deren Präsenz nicht. Zudem hatte sie ganz vergessen, dass zumindest einer von ihnen, derjenige von dem sie den Blitz-Takran erhalten hatte, nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Diesmal antwortete ihr Eogil nicht gleich.
„Nun, ursprünglich hatten wir vor gehabt die Freien zu befreien, die von Horior gefangen genommen worden waren. Aber dann, noch bevor wir einen Anhaltspunkt auf ihren Aufenthaltsort gefunden hatten, verloren Rodink, Pilok und Emilla allesamt ihre Takrane.“, Eogil schüttelte den Kopf „Dieser Mistkerl, dafür wird er büßen. Und dann..“ Eogil sprach nicht weiter, stattdessen zog er seinen linken Ärmel hoch und zeigte Sahinja den legendären Takran der Täuschung. „Rodink starb als erster.“, sagte er seufzend „Ich wusste, durch die Fäden wo er sich aufhielt und durch den Takran der Gedanken wusste ich was er dachte, aber meine drei Freunde hatten diese Fähigkeiten nicht. Und plötzlich hatte Rodnik einen Dolch im Rücken. Pilok starb als zweites. Wir hatten tapfer gekämpft, aber einer Täuschung folgte der nächsten. Zusammen mit Emilla konnte ich ihn zu Fall bringen. Aber er hatte sie erwischt und das Gift fraß sich durch ihren Leib. Nicht einmal ihr Glücks-Takran konnte sie davor noch retten. Ich habe nur überlebt, weil ich stets rechtzeitig die Realität abgeändert hatte.“, er war schwermütig im Gedanken versunken, als er sich in diese Situation zurückversetzte.
Es interessierte Sahinja überhaupt nicht, was mit seinem dämlichen Gefolge passiert war. Ein einfaches ,Sie sind tot.‘, hätte ihr gereicht.
Er hatte also die selbe Bekanntschaft wie Sahinja gemacht. Vermutlich zu dem Zeitpunkt als sie den Blitz-Takran verloren hatte. Jetzt hatte Sahinja ihm nichts mehr voraus, jetzt waren sie einander ebenbürtig. Beide trugen sie fünf legendäre Takrane.
„Tja, scheint so als bin ich wie du zum Einzelgänger geworden.“
Und es erstaunte Sahinja wie leicht er das nahm.
„Wie hat er dich überhaupt aufgespürt und wieso hat man dir ein Kopfgeld angehängt?“
„Ich glaube du verstehst da was falsch. Nicht er kam zu uns, sondern wie haben uns zu ihm aufgemacht. Der große Seher hatte mir verraten wo er sich aufhält.“
Natürlich, wer denn sonst? Obwohl sie diesen Seher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, wurde er Sahinja zunehmend unsympathischer.
Schon als Sahinja das erste Mal Eogils Präsenz wahrgenommen hatte, waren ihr die andere Takrane auf Eogils Körper aufgefallen. Er trug jetzt nicht mehr diese nutzlose Zusammenstellung aus Charisma, Rhetorik und Ausstrahlung, sondern richtige Takrane. Fähigkeiten, die ihm im Kampf auch unterstützen konnten. Und die, welche er zusätzlich zu den legendären trug, waren sogar mächtiger als Sahinjas Takrane.
Im Grunde hatte er eine ähnliche Ausstattung wie sie: Die fünf legendären Takrane sowie einen Eis- und einen Veränderungs-Takran auf den Füßen. Anscheinend war er ihrer Bitte nachgegangen. Immer noch dieser ehrenvolle Thor. Doch am Bauch, wo Sahinja ihren Wind-Takran trug, hatte Eogil einen elementaren Schutz, welcher sich weitaus besser für einen Kampf eignete als ihrer, da der Großteil aller Angriffe elementarer Natur war. An den Händen, wo Sahinja ihren Feuer- und ihren Puls-Takran trug, hatte Eogil einen einen Erd-Takran und einen Neutralisations-Takran. Wie alle anderen Takrane, welche Eogil besaß, gehörte auch der Neutralisations-Takran zu den mächtigeren. Obwohl es ebenfalls ein Takran war, der vorwiegend in Kämpfen einsetze wurde, war es kein Angriffs-Takran. Mit dieser Fähigkeit konnte er andere Takrane neutralisieren. Doch da man mit diesem Takran nicht töten konnte, kam er für Sahinja nicht in Frage.
Alles in allem besaß Eogil weitaus mächtigere Takrane als Sahinja. Wieso hatte ihr dieser heuchlerische Schleimer ständig etwas voraus? Von wem hatte er solch mächtige Takrane erhalten?
„Ich habe ein paar Freunde, die wiederum ein paar Freunde haben.“
Sahinja war auf seinen Einwurf hinauf ein wenig verwirrt, bis ihr klar wurde, dass dieser wieder in ihren Gedanken herumspukte. Endlich war sie Zaroir losgeworden und schon kam der nächste Gedankenleser angetanzt.
Aber was konnte Eogil schon mit diesen Takranen anfangen? Er musste normale Takrane wie jeder andere erst erlernen. Für Sahinja stellte dies aufgrund ihres Perfektions-Takrans kein Problem dar, aber Eogil musste jeden Takran, so wie Sahinja ihre legendären Takrane, erst beherrschen lernen.
„Täusch dich da mal nicht.“, sagte Eogil lächelnd. „Wie dir sicher schon aufgefallen ist, beherrscht du, je mehr legendäre Takrane du besitzt, jeden einzelnen legendären Takran umso besser. Das ist bei mir nicht anders und je mehr legendäre Takrane ich besitze, umso besser beherrsche ich deinen Perfektions-Takran. Und je besser ich diesen wiederum beherrsche, umso besser beherrsche ich auch alle anderen.“, Eogil lachte wieder „Schon bald beherrsche ich deinen Takran der Perfektion genauso gut wie du und der legendäre Takran des Sehers wird ebenfalls einen Beitrag dazu leisten.“
Sahinja hätte Eogil am liebsten eine verpasst. Den einen Vorteil, den sie gegenüber jedem anderen hatte, war nun auch Eogil Vorteil. Das ging Sahinja gegen jeden Strich und Faden. Aber zumindest wusste sie nun mit Gewissheit, Eogils Worten zufolge, dass der Seher einen weiteren der legendären Takrane besaß.
„Ich würde vorschlagen, wir statten dem Seher einen kleinen Besuch ab.“, sagte Eogil und schwang sich galant von der Mauer. „Ich muss dich aber vorwarnen.“, sagte er und schlug die Richtung zu der kleinen Hütte ein „Er weiß nicht mehr so richtig in welcher Zeit er sich befindet. Es könnte also sein, dass er dir auf den ersten Blick ein wenig sonderbar vorkommt.“
Sahinja erinnerte sich an die Schreckenszeit zurück, welche sie im Lager der Alchemisten verbracht hatte. Natürlich würde er ihr sonderbar vorkommen und wenn Eogil den Ausdruck sonderbar benutzte, musste das für sie heißen, dass er vollkommen einen an der Waffel hat. Letztendlich war der Seher auch nur ein Alchemist und Alchemisten hatten nun mal nicht alle Tassen im Schrank.
„Ja so könnte man es auch ausdrücken.“, bestätigte Eogil ihre Gedanken „Er redet ständig mit irgendwelchen Leuten, obwohl keine Menschenseele in seiner Nähe ist. Ich hab mich so gut es ging aus seinen Gesprächen herauszuhalten versucht.“
Sahinja schenkte dem Geschwätz Eogils keinerlei Bedeutung mehr. Sie konzentrierte sich ganz auf den Seher. Mittels ihrer neuen Fähigkeiten wollte sie herausfinden, welche Takrane der Seher trug, welcher davon der legendäre war und welche Fähigkeiten dieser hat. Endlich hatte Sahinja einmal Glück. Er trug den legendären Takran der Zukunft auf seinem rechten Fuß. Welchen auch sonst. Zweifelsohne ein ebenso mächtiger Takran, wie ihre anderen legendären.
Somit wäre auch bewiesen, wieso gerade er umso besser in die Zukunft sehen konnte, als jeder andere Alchemist. Und nicht nur das war ein Grund. Er trug auf jeder Stelle seines Körpers einen Takran, der ihm in irgendwelcher Weise die Zukunft besser deuten ließ. Manche seiner Takrane waren so banal wie wertlos, andere waren von solch hohem Wert wie die von Eogil. Und alle erfüllten sie denselben Zweck. Vor allem trug er viele Wahrnehmungs-Takrane. Lediglich auf seinem rechten Arm trug er verwirrender Weise einen Vitalitäts-Takran. Wieso um alles in der Welt sollte er gerade an dieser Stelle einen solch unnötigen Takran tragen? Wo doch alles andere an ihm so penibel darauf abgestimmt ist, die Zukunft besser deuten zu können. Sahinja dachte erst gar nicht weiter darüber nach. Letzten Endes war er ein Alchemist. Wer kann einen Alchemisten schon verstehen?
„...nein, ich sagte doch dass dieses Elixier zwar das Rückenleiden kuriert, aber er sollte dennoch weiterhin das Bett hüten. Die regenerative Phase...“, hörte Sahinja eine ältere, krächzende Stimme.
Mit wem redet er da bloß? Sahinja nahm keine weitere Präsenz in der Hütte des Sehers wahr. Ach, wieso hätte Sahinja etwas anderes erwarten sollen? So waren sie, die Alchemisten, nun mal: Unzurechnungsfähig, hoffnungslos, geisteskrank und total irre. Es ist traurig mit anzusehen, wie jemand, der einen legendären Takran trug, so tief sinken konnte.
Von der Seite her sah sie wie Eogil ihr ein mitfühlendes Lächeln zuwarf. War sie denn nur von Idioten und Weicheiern umgeben?
„...ja, ja, es freut mich auch euch kennen zu lernen. Ich habe euch lange erwartet. Xenzak, Dremir und die schöne Irmgrig, wenn ich meinen Visionen trauen darf.“, er lachte, was sich eher wie ein Hüsteln anhörte. „Ich weiß genau warum ihr gekommen seit, nicht umsonst bin ich der große Seh... Wartet mal, wartet mal. Was sehe ich denn da. Eogil und Sahinja. Eogil und Sahinja liegen weiter hinten im Zeitgefüge, das heißt, dass diese beiden gegenwärtiger sind.“, dann veränderte sich sein nachdenkliche Sprechweise schlagartig in einen freudvollen Tonfall „Willkommen zurück. Eogil, Sahinja. Es ist schön euch wieder zu sehen. Obwohl, für dich Sahinja müsste es wieder einmal das erste Mal sein.“, wieder ein lachendes Hüsteln.
Anscheinend hatte jeder Alchemist seine eigene Macke. Bartus hatte Stimmen gehört, Moradur hatte in einer Art mit ihr gesprochen als sei sie jemand völlig anderes und viele andere Alchemisten hatten ebenfalls ihre eigenen Verrücktheiten gezeigt. Der große Seher sprach anscheinend mit Menschen die (noch) gar nicht da waren. Das konnte ja ein heiteres Unterfangen werden. Wenigstens war er kein Mirakel.
Jetzt merkte Sahinja auch, dass er nicht nur seine beiden Augen gegen einen Takran eingetauscht hatte, sondern auch seinen Tastsinn. Er war nicht nur ein Seher, sondern auch ein Sensitiver zugleich. Seine Haut hatte den selben grünen Stich, wie sie es schon bei Moradur und vielen anderen kennen gelernt hatte. Auch bei ihm wirkten die Fäden krank, als ob sie faulen würden.
Jeder Sensitiver hatte eine Art Lebensziel, so wie es bei Moradur die Kontrolle der Fäden gewesen war. Da der Seher ebenfalls ein solcher war, musste auch er dieser Verrücktheit erlegen sein. Um welche es sich bei ihm handelte, konnte Sahinja nicht sagen, aber sie vermutete, aufgrund seiner peniblen Zusammenstellung aus Takranen, die allesamt in die Zukunft wiesen, dass es damit irgendetwas zu tun hatte. Andererseits hatte sie nicht das geringste Interesse für den alten Irren.
„Ihr müsst wissen, dass ihr mich schon viele Male aufgesucht habt. Zumindest in meinen Visionen. Ach was rede ich da, vielleicht seit ihr ja auch nur eine Vision. Lasst uns mal die Hände schütteln.“
Sahinja und Eogil sahen sich verwirrt an, taten dem Alchemisten aber den Gefallen, ergriffen seine Hand und schüttelten diese. Es war als würde man ein paar Würste in seinen Hände zusammendrücken. Der Seher übte keinerlei Druck auf ihren Handgriff aus. Als diese seltsame Art der Begrüßung abgeschlossen war, fing der Seher abermals zu lachen an.
„Wenn ich noch meinen Tastsinn hätte, könnte ich an eurem Händedruck feststellen, ob ihr eine Vision seit, oder ob ihr wirklich vor mir steht. Da ich über diesen aber nicht mehr verfüge, werde ich es wohl nie erfahren.“, er lachte wieder.
Als er merkte, dass keiner in sein Lachen einstimmte, sprach er weiter.
„Ach, ihr habt noch nie über diesen Witz gelacht und dabei gebe ich mir jedes Mal solche Mühe.“
Sahinja blickte ihn fassungslos an. Sie hätte nicht gedacht, dass ein Mensch über so viel Blödheit verfügen konnte. Eogil hatte als erstes die Fassung wiedergewonnen.
„Gehen wir doch einfach davon aus, dass wir keine Vision sind, sondern reale Menschen.“
„Ich hab schon verstanden.“, winkte der Seher ab. „Machen wir es also so wie immer. Sahinja wartet sicher schon begierig auf meinen Takran. Also würde ich vorschlagen wir tauschen erst einmal Takrane aus und dann Informationen.“
„Informationen?“, hackte Eogil nach, während Sahinja sich von ihren Schuhen befreite.
„Ja, wichtige Informationen. Informationen welche die Zukunft beeinflussen werden.“, sagte der Seher in einem beschwörenden Tonfall und gleichzeitig so routiniert, als würde er diesen Satz tagtäglich, mehrere Male formulieren.
Welchen Takran sollte Sahinja für den des Sehers geben? Ihren Veränderungs-Takran konnte sie nicht eintauschen, ansonsten würde jeder ihre legendären Takrane sehen und ihren Eis-Takran konnte sie ebenfalls nicht geben, sie würde elende Kälte leiden und sie glaubte nicht daran, dass sie so schnell einen Eis-Takran für den Bauch finden würde. Auf den Händen boten Eis-Takrane dummerweise keinen Schutz. Und was war mit Eogil? Der hatte doch das selbe Problem. Auch er musste sich zwischen dem Eis-Takran und dem Veränderungs-Takran entscheiden. Sahinja wollte keinesfalls, dass irgendjemand von ihrem Takran bescheid wusste.
„Meinst du nicht, dass es an der Zeit ist mit offenen Karten durchs Leben zu gehen?“, fragte Eogil sanft und doch mit Nachdruck.
„Nein. Niemals!“, sagte Sahinja mit hoch erhobenem Tonfall und wurde dabei immer lauter. „Niemand soll wissen welchen Takran ich trage!“
Mit diesem Ausbruch hatte sie selbst nicht gerechnet. Sie zwang sich wieder zur Ruhe.
„Lernt ihr denn nie dazu.“, unterbrach sie der Seher. „Sobald ihr einen sechsten legendären Takran dazu erhaltet, könnt ihr den Takran der Täuschung so gut einsetzen, dass ihr damit eure Takrane verändern oder verbergen könnt.“
Diese Idee war nicht einmal so dumm. Dass hätte sie dem Alchemisten gar nicht zugetraut.
„Gut, dann gib mir den Takran der Zukunft.“, forderte Sahinja den Seher nach einem kurzen Zögern auf.
„Nein, zuerst gibst du mir deinen.“, entgegnete er ihr.
„Was? Wieso sollte ich das tun?“
„Müssen wir das jedes Mal durchkauen? Wenn du meinen willst, dann musst du mir deinen geben. Und fang erst gar nicht damit an, dass ich dir meinen zuerst geben soll. Ich bin schließlich ein Seher, denkst du ich wüsste nicht, dass du dich nicht an die Abmachung halten würdest?“
Was war in letzter Zeit los? Eogil, die Alchemisten, Zaroir und jetzt der Seher, alle durchschauten sie. Sie wollte ihren Takran nicht weitergeben. Eogil war der einzige, der ihren besaß und das durfte er nur mit dem Versprechen, dass er ihn mit einem Veränderungs-Takran verbarg. Der Seher trug aber keinen Takran mit dem er Sahinjas Takran hätte verbergen können. Doch was machte es jetzt noch aus, wenn jemand ihren Takran erkennen würde? Schon bald besaß sie sechs legendäre Takrane und sie war jetzt schon mächtiger, als jeder andere. Wer auch immer die Hand gegen sie erheben sollte, würde anschließend das Reich der Toten aufsuchen.
Aber wieso hatte sie solche Angst davor, dass jemand ihren Takran erkennen könnte? Was war in ihrer Vergangenheit vorgefallen, dass sie solche Angst davor hatte? In letzter Zeit wünschte sie sich immer öfter das verdrängte Wissen ihrer längst vergangenen Tage zurück. Dann würde sie endlich die Zusammenhänge ihres Misstrauens und ihres unterdrückten Zorns verstehen. Aber ihre Vergangenheit war mit großem Leiden und tiefen Schmerz verbunden. Niemals wieder wollte sie einen Gedanken daran verschwenden. Sie hatte Jahre gebraucht um es zu verdrängen und so sollte es auch bleiben!
Doch so wie die Dinge standen, musste sie dem Seher ihren Takran überlassen, ansonsten würde sie seinen nicht bekommen. Ihr Takran der Perfektion wäre selbst für einen so mächtigen Seher wie er einer war, noch eine enorme Bereicherung. Aber was würde ihm, ihr Takran schon nützen? Auch er musste erst lernen ihren Takran zu beherrschen und das würde sich noch über Jahre hinziehen, vielleicht auch Jahrzehnte. Womöglich wäre er bis dahin, schon längst an seinem hohen Alter gestorben. Aber bei diesen Alchemisten wusste man nie, was sich noch in ihrer Trickkiste befand.
Gegen ihre Vernunft und gegen all die Widerrufe ihrer inneren Stimmen, willigte sie dem Handel des Sehers ein.
„Gut, ich gebe dir meinen Takran und dann gibst du mir deinen.“
Sahinja versuchte den Takran der Gedanken auf ihn anzuwenden, um zu erkennen, ob sie ihm auch trauen konnte. Aber es war, wie Eogil es ihr einmal gesagt hatte. Man konnte die Gedanken von Alchemisten nicht wahrnehmen. Es war als hätte sie eine unsichtbare Wand vor sich, die sie nicht durchdringen konnte. Irgendwas sagte ihr, dass es etwas mit seinen zerstörten Fäden zu tun hatte. Als wären die Fäden die Verbindungen zueinander.
Der Seher hatte Wort gehalten und hatte sowohl Sahinja als auch Eogil seinen Takran gegeben. Eogil musste natürlich keine Gegenleistung dafür erbringen. Aber er besitzt auch nur einen zweitklassigen Takran, dachte Sahinja hämisch. Jetzt trug der Seher eine komplette Ausrüstung an Takranen, die es ihm ermöglichte den Bestmöglichsten Blick in die Zukunft zu erhaschen. Und nun trug er auch auf seinem rechten Arm, wo zuvor noch dieser vollkommen sinnlose Vitalitäts-Takran war, einen für seine Zwecke sinnvollen Takran. Sahinja und Eogil hatten sobald sie den Takran der Zukunft erhalten hatten, mit dem Takran der Täuschung, all ihre legendären Takrane zu gewöhnlichen Symbolen gewandelt. Es war für Sahinja ungewohnt, sie beherrschte den Takran der Täuschung nicht annähernd so gut, wie den der Veränderung und sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie diese Täuschung permanent aufrecht erhalten konnte.
„Was waren das für Informationen, von denen ihr vorhin gesprochen habt?“, fragte Eogil freundlich nach.
Doch der Seher war wieder seinem Irrsinn verfallen. Er sprach wieder mit Menschen, die sich gar nicht im Raum befanden.
„Oh danke Torea, ich wüsste nicht was ich ohne dich machen soll. Was hast du mir denn da mitgebracht? Oh Lamm. Du verwöhnst einen alten Mann wie mich. Nimm doch bitte Platz, ich habe mit dir zu sprechen.“
Eogil räusperte sich und schon war der Seher wieder bei der Sache.
„Ah, Eogil. Moment, ihr liegt im Zeitgefüge weiter hinten, also seit ihr vermutlich näher an der Gegenwart.“, schlussfolgerte er.
Dieser Mann war vollkommen verrückt. Sahinja überlegte ob sie seine Hütte verlassen sollte, um sich weiter auf die Reise zu begeben. Wofür sie gekommen war, hatte sie schon, aber vielleicht spuckte der Alte ja doch noch etwas nützliches aus und vielleicht verriet er auch, wo sich ein weiterer Takran befand. Deshalb entschied sie sich zu bleiben und das verrückte Geschwätz des Sehers über sich ergehen zu lassen. Das Reden wollte sie Eogil überlassen, das war zumindest eines der wenigen Dinge auf denen er sich verstand.
„Die Informationen, die so wichtig sind, dass sie die Zukunft beeinflussen werden.“, sagte Eogil geduldig und nahm den Faden wieder auf.
„Du hast recht mein junger Freund. Es gibt vieles was ich euch noch sagen muss und dabei muss ich mit der Präzision eines Fallenstellers vorgehen, um die Zukunft nicht in einem Maße zu verändern welches uns schadhaft sein könnte. Doch zuvor will ich euch erklären, wie das Gefüge der Zeit funktioniert.“, der Seher legte eine theatralische Pause ein.
Eogil schien davon fasziniert zu sein. Aber dieses Kleinkind fand doch an allem gefallen. Für Sahinja war es weiterhin nur das Geschwätz eines Alchemisten, der wie alle anderen seinem Irrsinn verfallen waren.
„Stellt euch die Zeit wie einen blätterlosen Baum vor. Unten ist der Stamm, das ist die Gegenwart. Doch je weiter man hinaufsieht, desto öfter verzweigt er sich. Das sind die Möglichkeiten in die sich die Zukunft erstrecken könnte. Manche Dinge werden mit Bestimmtheit passieren wenn keiner in das Zeitgefüge eingreift, andere Dinge sind noch so unwahrscheinlich, dass selbst ich nicht genau sagen kann, wie es sich fügen wird. Schon seit Jahrzehnten versuche ich auf ein Ziel hinzuarbeiten und ihr wisst nicht einmal wie oft ich meine schützende Hand über euch gelegt habe. Wie viele banale Kleinigkeiten ich organisiert habe, damit du Eogil im Kampf gegen Horior am Leben bleibst. Und vor kurzem habe ich abermals in das Zeitgefüge eingegriffen und dir gesagt, wo sich der Takran der Täuschung befindet. Bei dir Sahinja habe ich ähnliches getan. Viele banale Kleinigkeiten die dich am Leben erhalten haben. Denk nur an die Alchemisten, die ich zu dir geschickt habe, oder den Packt den ich mit Zaroir geschlossen habe, damit du seinen Takran erhältst. Und glaube ja nicht, dass dir der Kopfgeld-Jäger zufällig über den Weg gelaufen ist. Ich habe viele banale Kleinigkeiten arrangiert, nur um ein Ziel zu erreichen.“, und wieder machte er eine Pause und vollführte dabei eine theatralisch Geste mit seinen Händen.
Jetzt, musste Sahinja gestehen, dass er auch ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte.
„Wenn man den Ästen des Baumes bis zu seiner Baumkrone folgt, gibt es nur drei verschiedene Ausgänge, in denen sich die Zukunft erstrecken könnte. In jedem Fall werdet ihr beide gegen Horior antreten. Aber welchen der drei Ausgänge man auch wählen mag, zwei von euch dreien werden sterben.“
Sahinja verschlug es den Atem. Obwohl es das Geschwätz eines Alchemisten war, glaubte sie ihm. Horior würde bestimmt sterben, das musste so sein. Der Andere war schlussfolgernd sie oder Eogil. Sie würde auf keinen Fall sterben, also war es Eogil, der die Reise ins Reich der Toten antreten musste. Anders konnte es gar nicht sein. Sie würde bestimmt nicht sterben.
„Und wie versucht ihr die Zukunft zu beeinflussen, damit ihr euer Ziel erreicht?“, fragte Eogil.
„Ein Baum hat dünne und dicke Äste. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Möglichkeit eintrifft wird durch die stärke des Astes symbolisiert und der Ast, der dafür steht, dass Horior lebt und ihr beide sterbt, ist der weitaus stärkere. Ich versuche alles in meiner Macht stehende zu tun, euch so viele Vorteile wie möglich zu verschaffen, damit ihr zumindest eine Chance gegen ihn habt. Doch welche der drei Möglichkeiten nun wahr wird, kann selbst ich nicht sagen. Zu viele Kleinigkeiten hängen davon ab.“
„Wäre es dann nicht besser Horior gleich anzugreifen? Wir sind zu zweit und wir besitzen beide sechs legendäre Takrane und viele andere mächtige obendrein.“
„Nein, unterschätzt niemals Horior. Er ist weitaus mächtiger als ihr es für möglich halten wollt. Momentan besitzt ihr genauso viele legendäre Takrane wie er und seit zudem zu zweit, aber unter anderem besitzt er auch den Takran der Unverwundbarkeit und einen legendären Angriffs-Takran. Noch bevor ihr bei ihm sein werdet, wird er zwei weitere Takrane besitzen. Außerdem kann auch er in die Zukunft blicken. Ihr würdet gegen ihn und seine Männer nicht bestehen.“
„Horior kann in die Zukunft blicken? Wie konnte er an deinen Takran herankommen?“, fragte Sahinja ihn zornig und vorwurfsvoll zugleich.
„Ich war zu ihm gegangen und hatte ihm meinen Takran gegeben.“
„Ihr habt was?“, schrie Sahinja ihn an.
Sie wusste, dass Alchemisten nicht alle Tassen im Schrank hatten, aber eine solches Verhalten war doch der Gipfel der Dämlichkeit.
„Ihr versteht das Zeitgefüge nicht annähernd so gut wie ich. Horior hätte sich in jedem Fall meinen Takran geholt. Selbst wenn ich mich versteckt hätte, er hätte mich in die Enge getrieben. Er hätte mich gefangen genommen und darauf geachtet, dass ich nie wieder freikomme. Dann hätte ich euch niemals helfen können und hätte euch auch nicht meinen Takran geben können. Ich musste ihm meinen Fähigkeit überlassen als er noch schwach war, sodass ich noch vor ihm flüchten konnte, in der Gewissheit, dass er mich meiner Wege gehen lässt und mir keinerlei Beachtung mehr schenkt.“
So bestechend seine Argumente auch waren, Sahinja wollte nicht glauben, dass er einfach in den Königspalast spaziert war und ihm seinen Takran überlassen hatte. So etwas konnte nur einem Alchemisten einfallen!
„Welche Takrane besitzt er noch und welche wird er sich als nächstes holen?“, fragte Eogil nach.
„Diese Frage kann ich euch nur teilweise beantworten. Er besitzt den Takran der Unverwundbarkeit, deinen Eogil, meinen, sowie den Takran der Vergangenheit, den der Täuschung und einen Angriffs-Takran, den ich euch aber nicht nennen werde. Welchen er sich als nächstes holen wird, kann ich euch ebenfalls nicht sagen. Wenn ich euch diese Information gebe, würdet ihr versuchen die Zukunft zu beeinflussen und dabei würdet ihr umkommen.“
„Was sollen wir also tun?“
„Ich werde euch verraten wo ihr den anderen Angriffs-Takran findet.“
Sahinja horchte auf. Endlich, ein legendärer Angriffs-Takran. Wie mächtig war er wohl? Worin lagen seine Fähigkeiten? Wie viel Zerstörung konnte er anrichten? Sahinjas Herz schien zu rasen.
„Ich werde nach Sofirot gehen. Einen alten Freund besuchen. Er hält sich dort mit jemand anders auf, den ich gerne mal persönlich kennen lernen möchte. Sei bitte so lieb und gib in der Zwischenzeit auf mein trautes Heim acht. Ich habe es und euch lieb gewonnen. Wenn alles so klappt wie ich es mir erhoffe,...“
Eogil und Sahinja blickten sich abermals verwirrend an. Anscheinend redete der Seher wieder mit irgendwelchen Personen, mit denen er erst in einer ferner Zukunft zu tun haben wird.
„Die Zeit weiter hinten in der Vergangenheit. Ähm, die gegenwärtige Zeit.“, versuchte Eogil ihn wieder zurück in die Gegenwart zu holen. Und wie als hätte er Eogil seit langen nicht mehr gesehen schreckte er hoch.
„Eogil, Sahinja, welche Freude euch wieder zu sehen. Was führt euch zu mir?“
Sahinja schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, während Eogil brabbelnd versuchte dem Seher zu erklären wo sie gerade stehen geblieben waren. Anscheinend hatte selbst der redegewandte Eogil Schwierigkeiten ein Gespräch mit einem Alchemisten zu führen.
Der Seher lachte wieder sein Hüsteln.
„Reingefallen. Ich bin ein Seher, denkt ihr, ich wüsste nicht warum ihr hier seit.“, dann lachte er wieder sein altes Hüsteln.
Eogil versuchte der Freundlichkeit halber ein Lachen vorzutäuschen. Bei Sahinja hingegen erschlafften die letzten Gesichtszüge.
„Also, der legendäre Angriffs-Takran“, nahm er den Faden nach dieser kurzen Unterbrechung wieder auf. „Nein, Eogil, ich werde dir nicht sagen um welchen es sich bei diesen Takran handelt. Wenn du weißt, was es für einer ist, wirst du auch wissen, welcher der andere ist. Und wenn du weißt welcher der andere ist, wirst du wieder versuchen die Zukunft zu beeinflussen. Das kann ich nicht zulassen!“
Der Seher blickte Eogil mit seinen Takranen, die er anstelle der Augen hatte, vorwurfsvoll ins Gesicht.
„Ich werde euch sagen, wo sich der Takran befindet, aber vorher müsst ihr verstehen, dass ihr diesen Weg gemeinsam antreten müsst.“
Was? Sahinja sollte mit Eogil gemeinsame Sache machen? Ist der Seher denn vollkommen verrückt? Niemals würde sie mit ihm einer Wege ziehen. Ständig seine strahlende Fröhlichkeit, seine heldenhaften Tugenden und sein dämliches Geschwätz ertragen zu müssen, wäre die reinste Folter. Jeder andere wäre ihr lieber gewesen. Das konnte er doch unmöglich ernst meinen.
„Wenn ihr eure Wege nicht zusammen beschreitet, wird Sahinja das Leben verlieren.“, sagte er nun nur noch an Eogil gewandt.
Was? Das war der Beweis dafür, dass er wieder einmal seinem Irrsinn verfallen ist. Sahinja besaß nun einen sechsten legendären Takran. Sie war mächtiger als je zuvor. Sie konnte es mit jedem aufnehmen. Niemand konnte sich mehr ihr in den Weg stellen.
„Sahinja“, sagte der Seher mit seinen blinden Augen nun an sie gewandt. „Du wirst mit deiner Vergangenheit konfrontiert werden.“
Und schon war all ihre Entschlossenheit verflogen. Sie hatte ihre Vergangenheit begraben und so gut es ging dafür gesorgt, dass sie nie wieder damit konfrontiert werden würden. Was auch immer es gewesen war, es war zu grauenhaft. Wenn es der Preis war ihre Vergangenheit zu erfahren, um einen legendären Takran zu erhalten, dann war der Preis zu hoch. Sie hatte zu viel Angst vor ihrer Vergangenheit. Sie musste ihre Suche abbrechen.
Aber sie war doch Sahinja! Sie besaß doch sechs legendäre Takrane. Was konnte ihr jetzt noch so schreckliche Angst machen? Sahinja versuchte ihre Fassung beizubehalten. Sie musste ihre aufkeimenden Tränen unterdrücken.
„Es wird eine schlimme Erfahrung für dich werden.“, sagte der Seher zu ihr. „aber das ist ein nötiges Opfer um diese Welt zu retten.“, jetzt wandte er sich wieder Eogil zu. „Wenn Horior alle zehn Takrane beisammen hat, wird er eine unvorstellbare Macht erlangt haben und er wird in seinem Wahn die Welt neu zu ordnen versuchen. Doch in seiner neuen Weltordnung wird es keinen Platz mehr für Menschen geben. Ihr müsst ihn um jeden Preis aufhalten.“
Eogil nickte ihm entschlossen zu. Sahinja kämpfte immer noch um ihre Fassung. Sie musste ihre Vergangenheit wieder durchleben. Davor hatte sie sich ihr ganzes Leben lang gefürchtet.
„Da gibt es noch etwas was du wissen musst.“, sagte der Seher zu Eogil „Es wird irgendwann so weit sein.“
„Was wird so weit sein?“
„Das kann ich dir nicht sagen, aber du wirst wissen wann die Zeit gekommen ist. Was auch geschieht: Du darfst dich Sahinja nicht in den Weg stellen. Wenn du sie aufzuhalten versuchst wird sie dich töten. Wie du es auch anzustellen versuchst. Du wirst sterben. Auch wenn du sie jetzt jederzeit schlagen könntest. In diesem einen Fall darfst du dich ihr nicht entgegen stellen.“
Sahinja wurde zunehmend unwohl zumute und sie spürte den ernsten Blick Eogils auf ihr lasten. Was meinte der Seher damit? Und was konnte sie zu solchen Dingen veranlassen? Doch der Seher hatte seine Rede noch nicht beendet.
„Hör mir zu Eogil: Du darfst Sahinja nicht aufhalten!“, sagte er abermals und formulierte die beiden Worte ,Du‘ und ,nicht‘ so deutlich wie möglich.
Eogil nickte.
„Nein du verstehst nicht.“, sagte der Seher drängelnd „Du darfst Sahinja nicht aufhalten!“
Eogil schien noch immer nicht zu verstehen und auch Sahinja wusste nicht worauf er hinaus wollte.
„Du darfst Sahinja nicht aufhalten!“, versuchte es der Seher ein drittes Mal.
Und dann schien Eogil endlich zu begreifen. Sahinja hatte noch immer keinen Plan was der Seher damit meinte. Sie stempelte es als ein weiteres verrücktes Geschwätz eines Alchemisten ab.
„Da gibt es noch etwas was ich euch sagen muss, um die Auswirkung derZukunft zu verändern.“, sagte der Seher ernst zu Eogil.
„Ich brauche vier Karotten, ein paar Kartoffel, eine Stange Lauch und vier kleinere Stück Zwiebel. Als dank werde ich einmal für dich etwas zubereiten und ich weiß jetzt schon, dass es dir schmecken wird.“
Das konnte doch nicht sein. Mit wem redete der verrückte Alte denn jetzt schon wieder?
„Hey“, warf Sahinja gereizt ein „Die Auswirkung auf die Zukunft!“
Der Seher schien verwirrt zu sein. Dann begrüßte er sie wieder.
„Eogil, Sahinja, wie schön, dass ihr wieder da seit. Lasst mich etwas überprüfen: Torea, Sahinja, Eogil... Sahinja und Eogil liegen im Zeitgefüge weiter hinten. Das heißt ihr beide seit gegenwärtiger. Womöglich seit ihr aber auch nur eine weitere Vision. Was führt euch zu mir?“
„Das hatten wir schon einmal.“, sagte Sahinja „ Du bist ein Seher, also weißt du auch was uns zu dir geführt hat. Sag uns jetzt endlich was es mit diesen Auswirkungen auf die Zukunft auf sich hat.“
„Ah, so weit sind wir schon. Also, wie ich euch schon hundert mal erklärt habe, und diesen Teil unseres Gesprächs habe ich stets am liebsten, er ist so einfach wie banal, aber er funktioniert.“
Der Seher bewegte sich nach hinten zu einem Schrank und nahm ein Fläschchen mit einer seltsam rötlichen Flüssigkeit heraus.
„Horior wird euch eine Falle stellen, aber dieser Trank wird euch davor bewahren. Doch es ist von entscheidender Bedeutung, dass ihr ihn zum richtigen Zeitpunkt einnehmt. Und so werdet ihr wissen, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Sprich mir nach Eogil: ,Tretet weiter, meine lang ersehnten Freunde.‘“
Sahinja und Eogil warfen sich abermals verwirrende Blicke zu. Doch schließlich tat Eogil, was der Seher von ihm verlangt hatte.
„Tretet weiter, meine lang ersehnten Freunde.“
Mit dem was jetzt passierte, hatte Sahinja nicht gerechnet. Der Seher holte mit seiner rechten Hand aus und schlug, so fest er es in seinen alten Tagen noch vermochte, Eogil ins Gesicht. Sahinja wäre vor Lachen fast umgekippt. Dieser geistesgestörte alte Alchemist, hatte doch tatsächlich den strahlenden Eogil eine gescheuert und dieser Schlag war nicht von schlechten Eltern gewesen.
„Was sollte denn das?“, fragte Eogil fassungslos und hielt sich die Backe.
Sahinja hatte sich noch immer nicht von ihrer Schadenfreude erholt.
„Tut mir leid.“, sagte der Seher routiniert. „aber es musste sein. Jetzt schließ die Augen und sprich mir nach: ,Tretet weiter, meine lang ersehnten Freunde.‘“
Eogil blickte dem Seher sprachlos ins Gesicht.
„Vertrau mir.“, sagte er „Schließ deine Augen.“
So dämlich konnte doch nicht einmal Eogil sein und dem Alchemisten jetzt noch vertrauen. Aber Sahinja hatte sich in Eogil getäuscht. Er konnte so dämlich sein. Eogil schloss die Augen und sprach die Worte aus.
„Tretet weiter, meine lang ersehnten Freunde.“
Und ein zweites Mal bekam er eine gescheuert. Sahinja war vor lauter Lachen am Boden zusammengebrochen. Der glorreiche Eogil ließ sich von einem alten Mann zusammenschlagen.
„Das dürfte reichen.“, sagte der Seher.
„Was sollte das?“, fragte Eogil entsetzt und verwirrt.
„Das ist dafür, dass du dich an mich erinnerst. Jetzt wirst du nicht mehr vergessen den Trank rechtzeitig einzunehmen. Und jetzt nimm ihn.“, sagte der Seher und stellte den Trank mit der roten Flüssigkeit auf den Tisch. „Hoffentlich nimmst du ihn diesmal. Es wird für einen alten Mann lästig dich ständig zu schlagen. Zu allem Übel bekomme ich meinen eigenen Faustschlag nicht einmal mit, da ich meinen Tastsinn eingetauscht habe.“
Eogil griff zögerlich nach dem rot schimmernden Trank und steckte ihn behutsam in seinen Beutel.
„Und pass auf, dass Sahinja ihn nicht in die Finger bekommt, sie würde ihn sofort am Boden zertrümmern.“
Eogil nickte wieder zur Bestätigung. Diesmal fragte er nicht nach, was es damit auf sich hatte.
Wieso sollte Sahinja diesen Trank zerstören wollen? Gut, sie hatte ein paar schlechte Vorurteile gegenüber Alchemisten, und ihre Tränke kamen ihr noch immer nicht ganz geheuer vor. Aber immerhin hatten ihr Alchemisten zwei Mal das Leben gerettet. Wieso also sollte sie diesen Trank zerstören wollen? Sie wusste ja nicht einmal um was es sich handelte. Doch Sahinja kam nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken, denn der Seher war gerade daran sie aus seiner Behausung zu werfen.
„Der Takran befindet sich auf den Bergen zu Sheyr und jetzt wo ihr alles wisst, könnt ihr endlich abhauen. Verlasst mein Heim, ich habe noch viel zu tun. Wichtige Visionen warten auf mich.“
Von dieser abrupten Wendung seines Gemütszustandes, blieb Eogil und Sahinja nichts anderes übrig, als zu tun was er von ihnen verlangte. Eogil hatte wieder einmal als erstes die Situation richtig erkannt und machte sich auf den Weg zur Tür. Als Sahinja ihm folgte, bat sie der Seher jedoch noch um ein kurzes Wort und sie drehte sich im Türstock ein letztes Mal zu ihm um.
„Sahinja. Was ich getan habe... Es tut mir wirklich leid. Es vergeht kein Tag an dem ich es nicht bereue.“
Wieder einmal beobachtete Sahinja eine weitere abrupte Wendung seines Gemütszustandes. Wo er vor ein paar Sekunden versucht hatte sie aus seinem Haus zu werfen, war aller Eifer wie ausgelöscht und ein trauriger alter Mann war zurückgeblieben. Seine Worte klangen ehrlich und sie schienen aus tiefstem Herzen zu kommen. Jetzt war es Sahinja, als ob sie den Seher von irgendwoher kannte. Doch das war nur ein flüchtiges Gefühl und es war so schnell verflogen wie es gekommen war. Was es mit seiner Entschuldigung auf sich hatte, würde weiterhin im Verborgenen bleiben, aber sie tat es als eine weitere verrückte Eigenheit des Alchemisten ab. So waren sie nun mal.
Sobald sie diesen Gedanken gefasst hatte, bestätigte sich ihre Vermutung, denn der Seher war in einen weiteren Gemütszustand gefallen. Er redete wieder eifrig mit einer Person, die gar nicht im Raum war.
„Ja, es ist möglich sieben alchemistische Takrane zu tragen. Doch ich würde dir raten nicht mehr als drei zu tragen. Wenn du mehr als die Hälfte deiner Sinne gegen Takrane eintauschst, wirst du den Bezug zur Realität verlieren. Du wirst mehr in einer anderen Welt leben als in dieser. Niemand sollte mehr als drei alchemistische Takrane tragen. Es würde nicht auszudenkende Folgen...“
Mehr verstand Sahinja nicht. Sie hatte seine Hütte verlassen und war zu Eogil aufgerückt.
Also war es beschlossen. Von nun an würde sie mit dem Sonnenschein durch die Lande ziehen. Das konnte ja heiter werden. Wie um alles in der Welt konnte sie sich vor seinem dämlichen Geschwätz in Sicherheit bringen? Warum Eogil? Warum nicht Mepanuk?
Wie auch immer - Die Würfel waren gefallen. Ihr nächstes Ziel waren die Berge zu Sheyr. Sie verstand es nicht genau, aber es handelte sich um genau die Richtung, von der sie sich schon immer versucht hatte fern zu halten. Anscheinend hatte der Seher recht, sie würde mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden.

Kapitel 12 - Die Stille Bruderschaft




Nach sechs Tagen der Wanderung musste Sahinja sich eingestehen, dass die Reise mit Eogil nicht so furchtbar war, wie sie anfangs gedacht hatte. Er redete zwar häufig, aber nicht ununterbrochen, wie sie es früher von ihm gewohnt war. Schon in der ersten Nacht hatte sie eine Vermutung, was es mit dem leicht veränderten Verhalten Eogils auf sich hat.
Am Tage ihrer Abreise, hatte Sahinja ihn gefragt wie er immer noch so fröhlich sein konnte. Alle Menschen, die er kannte, die er liebte und die ihm ihr Leben anvertraut hatten, waren gestorben. Dennoch stolziere er immer noch frohen Mutes durch die Welt, zeigte jedem sein strahlendes Lächeln und ließ sich keine Trauer anmerken. Auch die Gedanken, welche Sahinja von ihm auffing, waren kein bisschen von Schmerz ummantelt. Ihre erste Vermutung war, dass Eogil doch nicht so edel war, wie er es immer vorgab zu sein. Zumindest war auch er rücksichtslos, wenn ihm der Tod seiner Freunde so geringfügig berührte.
Darauf hatte Eogil ihr seine Sicht der Dinge geschildert.
„Was nutzt es schon wenn ich Trübsal blase? Mich in einem Loch verstecke und die Welt wegen meines Zögerns zugrunde gehen muss. Ich habe all die Menschen verloren, die mir lieb und teuer waren. Nichts könnte schlimmer sein, aber sie hätten sicher gewollt, dass ich unserem Ziel weiterhin treu bleibe. Es ist hart und die Last die die auf meinen Schultern wiegt ist schwer, aber es gibt Dinge die größer und bedeutender sind als meine Trauer. Horior muss aufgehalten werden.“
Natürlich, aus dieser Sicht war es wieder selbstlos und zudem noch ohne gleichen edelmütig. Immer noch der selbe ruhmreiche Held in seiner glänzenden Rüstung. Doch Eogil konnte gut mit Worten umgehen und das wusste Sahinja. Letzen Endes war Eogil genauso skrupellos, beim erreichen seiner Ziele, wie Sahinja.
Doch in der darauf folgenden Nacht hatte sie erkannt, dass ihr voreilig gezogenes Urteil vollkommen gegen die Tatsachen sprach. Eogil war noch lange nicht über den Tod der Seinen hinweg. Er drehte und wälzte sich im Schlaf unruhig umher, murmelte irgendwelche Namen und wimmerte kläglich in seinen Träume. Am nächsten Tag, an dem sie Eogil näher betrachtet hatte und nach den Anzeichen des unruhigen Schlafes gesucht hatte, fiel ihr Eogils müder Gesichtsausdruck zum ersten Mal auf. Die vielen Nächte des unruhigen Schlafes waren deutlich in seinem Gesicht abzulesen. Er kaschierte es nur sonderlich gut mit seinem breiten Lächeln und seinem fröhlichen Gemütszustand.
Mit dem sechsten legendären Takran waren auch ihre Fähigkeiten im Gedankenlesen angewachsen und schließlich hatte sie zum ersten Mal wirklich hinter Eogils Fassade bilchen können. Eogli hatte sich nie als Held betrachtet. Er war ein Mensch wie jeder andere. Auch er hatte Angst und er fürchtete den Tod. Seine Zuversicht geriet oft ins Wanken und der Tod all seiner Freunde setzte ihm schwerer zu, als er es sich selbst eingestehen wollte.
Eogil setzte diese Fassade aus Fröhlichkeit nur auf, um seinen Mitmenschen Hoffnung zu geben. Damit sie sahen, dass es jemanden gab, der für sie einstand und auf den sie sich verlassen konnten. Jemand der sie in diesen schweren Tagen mit Zuversicht leitete und von dem sie wussten, dass er wieder alles in Ordnung bringen würde.
Aber die Menschen, denen er das vorspielte existierten nicht mehr. Er musste niemandem mehr etwas vorspielen. Und niemandem musste er mehr mit Hoffnung stärken. Jetzt spielte er sich nur noch selbst etwas vor, um selbst noch bei Verstand zu bleiben. Er spielte sich die Hoffnung vor, um weiter machen zu können. Auch seine Freude und seine Fröhlichkeit waren nicht echt. Dies tat er nur, um in dieser schwierigen Zeit nicht zu verzweifeln. Und er setzte alles daran, um nicht zurückdenken zu müssen und sich von seinem Fehler auffressen zu lassen. Doch in seinen Träumen kamen seine wahren Empfindungen an die Oberfläche und denen konnte er nicht entrinnen.
Sahinja hatte sein wahres Ich erkannt und seitdem hielt er sich aus ihren Gedanken fern. Es schmerzte ihm sehr, ständig seine eigene Schwäche vor Augen zu sehen. Sahinja hielt sich ebenfalls aus seinen Gedanken fern. Obwohl er die schwierigste Zeiten seines Lebens durchlebte, spielte er sich immer noch Fröhlichkeit vor. Er sah in allem was er erblickte das Gute und Schöne und versuchte mit so viel Entschlossenheit und Freude wie möglich durchs Leben zu gehen. Diese tugendhaften Gedanken brachten Sahinja zum erbrechen.
Dennoch war Sahinja froh, dass Eogil sich jetzt endlich von ihren Gedanken fern hielt. Doch ohne es genau verstehen zu können, fühlte sie sich schuldig, die Wahrheit erkannt zu haben. Sie wusste nicht genau weswegen, aber solche Gefühle hatte sie immer in Eogils Nähe. Er vermittelte ihr stets das Gefühl ihm etwas schuldig zu sein und ihm helfen zu wollen.
Manchmal wünschte sich Sahinja, nicht hinter seinen Deckmantel geblickt zu haben. Dann hätte sie Eogil noch immer für den strahlenden Helden halten können, der stets die richtigen Lösungen für die schwersten Probleme kannte und dem keine Herausforderung zu schwierig war. Dann hätte Sahinja ihn auch aufrichtig für diese Eigenschaften hassen können. Jetzt sah sie in ihm nur noch einen Menschen wie jeden anderen, der versuchte das Richtige zu tun. Aber vielleicht war er das schon immer gewesen und niemand hatte sich die Mühe machen wollen hinter die Kulissen zu blicken.

Im Laufe der Reise waren Sahinja weitere Veränderungen aufgefallen, welche ihr der sechste legendäre Takran mitgebracht hatte. All ihre zusätzlichen Fähigkeiten waren miteinander verschmolzen und zu etwas weitaus mächtigerem geworden. Die Fäden, schienen sich alle miteinander verbunden zu haben, ihre Intuition war auf ein stärkeres Maß angewachsen und gemeinsam hatten sie sich mit ihrer Fähigkeit Takrane zu spüren vereint. Es war, als hätte Sahinja einen sechsten Sinn erhalten. Wie eine Karte hatte sie ihre Umgebung vor ihrem geistigen Auge ausgebreitet. Doch es glich keinem Sehen, sondern viel mehr ein Fühlen. Sie konnte intuitiv sagen, was um sie vorging. Sahinja scheute sich ein wenig vor dieser Fähigkeit. Sie konnte nicht sagen weshalb, aber es war eindeutig zu mächtig. Der Vorteil, den sie ohnehin schon mit ihren fünf legendären Takranen hatte, war nichts im Gegensatz zu dieser kombinierten Fähigkeit. Die Welt schien sich ihr wie die Seiten eines Buches zu offenbaren. Es war keine Allwissenheit, viel mehr ein tiefes Verständnis für die Welt und ihre Umgebung.
Mit diesem sechsten Sinn, war ein weiteres Mal der Drang, die anderen Takrane zu finden, größer geworden. Es war wie ein Splitter in ihrem Gehirn. Sie musste sie endlich haben. Alleine schon der Gedanke daran brachte ihre Hände zum Zittern und ließ ihr Herz in erhöhter Geschwindigkeit schlagen. Der Takran zog sie an wie ein Magnet und je näher sie ihm kam, umso stärker gierte sie nach ihm. Manchmal musste sie sich zur Ruhe zwingen, um nicht verrückt zu werden. Hand in Hand, mit diesem Verlangen machte sich in ihr eine üble Laune breit und darunter hatte in erster Linie Eogil zu leiden.
Um sich abzulenken, versuchte sie ihre legendären Takrane besser zu beherrschen. Mittlerweile gelang ihr es schon weitaus besser, einen von ihnen einzusetzen, wenn sie ihn auch einsetzen wollte. Doch passierte es immer noch öfter, dass ihr diese Fähigkeiten den Dienst verweigerten. Zumindest den Takran der Täuschung konnte sie soweit beherrschen, dass ihre versteckten Takrane, ihre falschen Symbole permanent aufrecht erhielten.
Der Takran der Zukunft war eine erfreuliche Bereicherung für Sahinja. Sie hatte nun stets einen kurzen Blick in die Zukunft. Alles was sich innerhalb weniger Augenblicke ereignete, wusste sie im Vorhinein. Und Sahinja war sich sicher, dass wenn sie diese Fähigkeit besser beherrschte, oder wenn sie einen siebenten legendären Takran besäße, sich diese Fähigkeit noch weiter ausprägen würde. Wie konnte sie da noch einen Kampf verlieren? Alle Entscheidungen die ihr Gegenspieler träfe, würde sie bereits im Vorhinein kennen und sich zudem dementsprechend vorbereiten können. Sahinja fühlte sich bereits unbesiegbar und jetzt war sie noch unbesiegbarer und dabei hatte sie noch nicht einmal einen der legendären Angriffs-Takrane. Wie mächtig konnte ein solcher sein und wie mächtig konnte sie noch werden? Es fehlten ihr immerhin noch vier weitere Takrane.

Am Lagerfeuer, als der dritte Tage endete, hatte Eogil im Vertrauen versucht, mit ihr ein Gespräch aufzubauen.
„Sahinja, ich weiß, es schmerzt dich, über deine Vergangenheit zu reden.“, hatte er begonnen.
„Dann lass es.“, hatte sie ihm barsch unterbrochen.
„Aber meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre darüber zu sprechen?“
„Nein.“
„Was ist damals passiert, dass du solche Angst davor hast?“
„Weiß ich nicht.“, sagte Sahinja schon ein wenig gereizt.
„Du weißt es nicht?“, hatte dieser verwundert gefragt.
„Ich habe es vergessen.“
„Du hast es vergessen?“, fragte er noch verwunderter.
„Sagte ich doch.“
„Aber wie kann man seine ganze Kindheit vergessen?“
„Takran der Perfektion.“, war alles was Sahinja ihm antwortete.
Sie wollte ihm nicht erklären, wie viele Jahre sie durchleiden hat müssen, um auch noch den letzten Rest dieser Zeit im hintersten Eck ihres Gehirns versteckt zu bekommen und mit wie viel Vorsicht sie darauf bedacht war, auch nicht den geringsten Gedanken daran zu verschwänden. Was anfangs eine Unmöglichkeit gewesen war, ging ihr mit Zeit und Übung immer leichter von der Hand und schon war das Unterdrücken dieser Erinnerungen eine Selbstverständlichkeit geworden. Was sie anfangs bewusst hatte tun müssen, war nun unbewusst geworden. Aber das würde sie ihm nicht erzählen, er nicht verstehen.
„Wenn du deine Kindheit vergessen hast, von woher willst du dann wissen, dass sie so schlimm war?“
Schlimm? Was hatte Eogil denn schon für eine Ahnung? Doch eigentlich hatte Sahinja ebenfalls keine Ahnung. Sie wusste es einfach. Selbst wenn sie keine Erinnerungen mehr an diese Zeit hatte, das Gefühl mit der ihre Vergangenheit verbunden war, war noch vorhanden. Eogil würde das nie verstehen können. Er hatte nicht das durchlebt, was sie durchleben hat müssen.
„Ich weiß es einfach.“, sagte Sahinja gereizt.
„Sahinja, wir wachsen an unserer Vergangenheit. Die Vergangenheit hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Sie zu verleugnen wäre eine Verleugnung unserer selbst.“
„Ach halt doch die Klappe Eogil. Du hast doch keine Ahnung. Du Verleugnest doch selbst den Tod deiner Freude. Du läufst herum als wäre nichts passiert und als wäre heute der glücklichste Tag deines Lebens.“
Das war zwar ein Schlag unter die Gürtellinie, aber mit diesem Schlag verblieben seine Lippen geschlossen. Den restlichen Abend hörte sie kein Wort mehr von ihm. Zumindest bis er sich schlafen legte und sie mithören musste, wie ihm seine Träume peinigten.

Am darauffolgenden Tag nahm er das Gespräch wieder auf, als wäre in der Zwischenzeit nichts weiter vorgefallen.
„Es wäre aber besser wenn wir wüssten womit wir es zu tun haben.“, setzte er die Unterredung fort „Wenn es wirklich so schlimm ist wie du behauptest, sollten wir zumindest unser Möglichstes tun und uns darauf vorbereiten.“
Sahinja wollte von ihm keine weiteres Wort hören. Wenn der Seher recht hatte, dann wären dies die letzten Tage, welche sie noch in Ruhe vor dem Schmerz verbringen konnte. Sobald das Wissen ihrer Vergangenheit über sie einstürzt, wäre dies ihr Ende. Zumindest wäre es ihr gefühltes Ende. Sahinja setzte ihren Takran der Zukunft ein und probierte alle Antworten durch, die sie Eogil geben konnte, bis sie eine fand, die ihm zufrieden stimmte und bei der er nicht weiter nachfragte.
„Der Seher hatte gesagt, dass wir am Ende, was auch immer wir tun, gegen Horior kämpfen werden, also werden wir auch sicher diesen Takran erhalten und mit dem Leben davon kommen. Das sind die letzten Tage die ich noch in Frieden vor meiner Vergangenheit verbringen kann, also bitte lass sie mir.“
Das hatte Wirkung gezeigt. Eogil fragte nicht weiter nach. Doch Sahinja hatte nicht weit genug in die Zukunft sehen können, um seine nächste Frage zu erwarten.
„Und wenn du dich gerade in das Zeitgefüge einmischst und damit den Ausgang der Zukunft veränderst?“
Damit hatte sie nicht gerechnet und sie musste etwas finden, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen.
„Und wenn es gerade du bist, Eogil, der sich in das Zeitgefüge einmischt, und der den Ausgang der Zukunft verändert?“
Jetzt hatte sie es geschafft. Diese Antwort hätte sie sich selbst nicht zugetraut. Jetzt wo Eogil nicht mehr seinen Charisma-, Rhetorik-, und Ausstrahlungs-Takran trug, war es viel leichter an ihm heranzukommen. Jetzt konnte er sie nicht mehr ständig dazu bringen, dass zu tun was er wollte.

Im Laufe der Tage hatte Sahinja von Eogil mehr über Horior erfahren. Laut Eogil, soll Horior stets von seinem Ziel besessen gewesen sein. Ähnlich wie ihr eigener Drang nach den legendären Takranen. Im Krieg gegen die Alchemisten hatte er Großes vollbracht und nur ihm war es zu verdanken, dass er zu einem Ende genommen war. Er hatte Schlachten geführt und Listen ausgeheckt, um die Drahtzieher zu erwischen, wie es kein zweiter hätte vollbringen können. Er war kein Mensch, der sich mit den schönen Dingen des Lebens beschäftigte und sich für andere Aufgaben Muße nahm. Er war der Kriegsmeister, von Venundur und Pontion und das war alles was für ihn von Bedeutung hatte. Wenn er seiner Aufgabe genüge leisten konnte, war er ein glücklicher Mann.
„Schließlich hatte er seine Aufgabe vollendet und Frieden geschaffen.“, sagte Eogil kopfschüttelnd „Er hatte alle ausfindig gemacht und auch dem Letzten ein Ende bereitet. Sein Werk war vollbracht und da endlich Frieden herrschte wurde er nicht mehr gebraucht. Er hatte weiterhin alle Rechte und Privilegien am Hofe Pontions und zudem war er ein gefeierter Mann und eine schillernde Persönlichkeit, die in aller Munde lag. Doch er hatte keine Aufgabe mehr und das setzte ihm zu. Zu Zeiten des Friedens brauchte man nun mal keinen Kriegsmeister. Horior allerdings war kein Mann, der still sitzen konnte, um sich in seinen Errungenschaften zu rühmen. Er war ein Mann der Tat und er brauchte eine Aufgabe, der er nachgehen konnte. Doch was er auch tat, es erfüllte ihn nicht. Stets hatte er gemeint, er sie für Großes bestimmt. Den Krieg gegen die Alchemisten zu schlagen und Frieden zu bringen, das war eine Aufgabe, welche für ihn gewachsen war. Aber nun...“, sagte Eogil kopfschüttelnd und suchte nach den passenden Worten „Er war eine Segelschiff, ohne Wind in seinen Segeln. Eine wütende Bestie, der man die Freiheit entzogen hatte.
Während sich die drei Königreiche über den Frieden freuten konnten, wurde Horior zunehmend ungemütlicher. Er hatte seinen Zweck erfüllt und war zugleich unnütz geworden. Sein unterbundener Tatendrang erstickte ihn allmählich und er wurde zunehmend ungehaltener. Er zertrümmerte Einrichtungsgegenstände, bekam Wutanfälle, war nur noch betrunken vorzufinden und in vielen Raufereien verwickelt. Und dann, eines Tages, kam Pontion aus heiteren Himmel die Idee, dass entweder ich Horior meinen Takran geben könnte, oder Horior mir den seinen. Alle Takrane leuchteten rot, nur nicht die von mir und Horior. Pontion hatte in irgendwelchen Schriften gelesen, dass es sich bei diesen Takranen um ganz besondere handle. Damals hatten wir dieser Tatsache noch keinerlei Bedeutung geschenkt, aber einen Versuch wollten wir dennoch wagen.
Wie du, wollte Horior niemandem seinen Takran überlassen. Das war der eine Vorteil, den er jedem anderen voraus hatte und den wollte er keinem anderen überlassen. Also gab ich ihm den meinen. Und da fing er erstmals an, von den Fäden zu sprechen. Mit den Fäden war auch bei ihm der Drang erwacht nach den anderen Takranen zu suchen. Anfangs, dachten wir uns nichts dabei. Wir waren froh, dass Horior endlich wieder eine Aufgabe gefunden hatte, der er nachging und wir uns in aller Ruhe um den Wiederaufbau des Königreichs kümmern konnten.
Aber dann wurde Horior immer eigentümlicher. Er verlangte nach den anderen Takranen zu suchen. Dass wir den Wiederaufbau abbrechen sollten, um wichtigeren Dingen nachzugehen. Er war wieder von einer Sache besessen und er musste dieser um jeden Preis nachgehen. Doch diesmal konnten wir ihm seinen Willen nicht lassen. Wir brauchten die Männer für den Wiederaufbau und um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Es spielte sich sogar so hoch, dass Horior sich einbildete, Pontion sei es nicht wert, auf dem Thron zu sitzen. Er besäße keinen dieser besonderen Takrane. Er besaß nicht das was er hatte.
Der Rat enthob ihm seines Amtes und verwehrte ihm den Zugang zum Königspalast. Doch wir hatten ihn unterschätzt. Wenn Horior von etwas besessen war, dann setzt er alles daran seinZiel zu erreichen. Koste es was es wolle! Seine Soldaten waren ihm immer noch treu ergeben und nach außen hin war er noch immer der gefeierte Held und dann hatte er einen Putsch gegen den König geführt. Wie diese Geschichte ausgegangen war, weißt du ja bereits. Wir mussten aus unserem eigenem Reich flüchten. Pontion starb bei weiteren Kämpfen und Venundur lebt seither in Armut und Hunger.
Was ich damit sagen will, ist: Wenn Horior von etwas besessen ist, wird er alles tun um es zu erreichen, und sollte Horior alle zehn legendären Takrane zusammen haben, wird er auch diese Aufgabe abgeschlossen haben. Welche Aufgabe wird er sich als nächstes setzen?“
Eine berechtigte Frage, Sahinja kannte jedoch bereits die Antwort. Der Seher hatte sie ihnen schon genannt. Er würde die Welt neu zu ordnen versuchen und Menschen würden in seiner neuen Weltordnung keinen Platz mehr haben.
„Das wäre alles nicht passiert, wenn dieser andere König nicht ein solcher Versager gewesen wäre.“
„Welcher andere König? Pontion?“
„Ja der!“
Eogil seufzte. „Ich würde ihn nicht als Versager bezeichnen. Pontion war ein guter Mensch, wenn auch ein wenig eigentümlich. Pontion gehörte zu der Sorte Mensch, die man persönlich kennen lernen sollte, um sich ein Bild von ihm zu machen.“
Natürlich. Eogil verteidigte ihn. Etwas anderes hatte sie von diesem Schönredner auch nicht erwartet. Die Tatsachen sprachen für sich, ihr würde dieser falsche Hund nichts weiß machen können.

Die Tage vergingen und Eogil ging Sahinja immer mehr auf die Nerven. Seine Fröhlichkeit, seine Entschlossenheit und seine Freude an der Tat, waren für sie echt das Letzte. Er war zwar ein gebrochener Mann, aber er war immer noch derselbe Eogil, der im hellsten Schein der Sonne stand und jedem frohen Mutes begegnete.
Sie hatten soeben Larenzz erreicht, ein kleines Dorf nahe eines riesigen Sees. Ihr Proviant war noch reichlich gefüllt und sie hätten ihre Wege weiter ziehen können. Aber Eogil musste ja umbedingt ein paar Leute begrüßen.
Unter anderen Menschen war Eogil wieder in seinem Element. Alle schienen ihn zu kennen, oder hatten zumindest von seinen Taten gehört. Sahinja hasste es mitansehen zu müssen wie sie Eogil die Füße küssten.
Er erzählte ihnen wie es dazu kam, dass Horior ihm eine Falle gestellt hatte und was er nun tun werde, um ihm das Handwerk zu legen. Trotz der Tatsache, dass er alle seine Untergebenen verloren hatte, war er immer noch der gefeierte Held. Eine Person, die den Menschen Hoffnung und Zuversicht schenkte.
Sahinja wurde schlecht von diesem honigsüßen Gerede und sie mietete ein Zimmer in einer Gaststube. Eogil hatte zwar eine komfortable Unterkunft bei einem seiner dämlichen Freunde organisiert, aber Sahinja konnte seinen Glanz und seinen Glamour einfach nicht mehr ertragen. Sie hasste ihn und aus irgendeinem Grund hasste sie sich selbst. Sahinja hasste die ganze Welt und sie hasste den Wirten, der ihr das Zimmer gratis angeboten hatte, weil sie eine Freundin Eogils war. Ihre Nerven lagen blank und viel hatte nicht gefehlt und sie hätte ihn ihre Fäuste spüren lassen. Sie hatte einen irrsinnige Wut im Bauch und sie wusste nicht einmal genau worauf.

Doch auch dieser Tag war vergangen und die beiden hatten ihre Reise fortgesetzt. Eogil mit besserer Laune, Sahinja mit schlechterer.
Es wurde nun endlich Zeit, dass sie einen weiteren legendären Takran fanden. Sahinja musste ihn endlich haben. Wie eine Erstickender nach dem Sauerstoff gierte sie nach dem Takran. Im Scherze verglich sie ihr Verhalten mit dem eines Süchtigen. Sie brauchte ihn umbedingt und dann, wenn sie ihn endlich hatte, würde es noch schlimmer kommen.
Der Weg zu den Bergen zu Sheyr, war noch weit und es würde noch lange dauern, bis sie endlich diesen Takran tragen konnte. Um sich abzulenken wünschte sich Sahinja einen Kampf. Sie wünschte sich ein paar Takran-Jäger herbei, denen sie das Leben aushauchen konnte, um ihre Gedanken endlich mit anderen Dingen zu füllen. Aber sie befanden sich nicht mehr in Edoran. Dieses Land gehörte zu Venundur und da waren Takran-Jäger eher selten.
Je weiter sie gingen, umso näher kamen sie Sahinjas Vergangenheit. Alles schien sich gegen Sahinja zu wenden. Sie stapfte frustriert und angespannt durch den tauenden Schnee und freute sich kein bisschen darüber, dass die winterliche Zeit vorüber war und der Sonnenschein des Frühlings den Schnee wegschmolz. Alles was sie wollte, war entweder den legendären Takran zu tragen, oder ein paar Leuten kräftig in den Hintern zu treten.
Zu allem Übel teilte Eogil ihr seine Gedanken mit, die ihm in letzter Zeit beschäftigten und wenn Eogil dachte, dann konnte nie etwas Gutes dabei rauskommen.
„Ich glaube nicht, dass dir dein Takran der Perfektion diese Körperkontrolle gibt.“, fing er an, als Sahinja mit ihrem Feuer-Takran das abendliche Lagerfeuer entfacht hatte.
„Ach und von woher sollte es sonst kommen?“
Sie wollte eigentlich kein Gespräch mit ihm führen, sie hatte nur geantwortet um ihn seine eigene Dummheit vor Augen zu führen.
„Du hast sie dir angeeignet, in deiner Vergangenheit.“
Eigenartigerweise hatte sie das Gefühl, dass Eogil recht hatte. Aber das war doch vollkommener Quatsch was er sprach. Das war nun mal die natürliche Fähigkeit ihres Takrans. Aber Eogil musste es ja umbedingt besser wissen.
„Ich glaube zwar, dass dir dieser Takran die Fähigkeit verleiht, alle anderen normalen Takrane sofort zu beherrschen, aber deine Fertigkeiten hast du dir selbst angeeignet. Jetzt wo ich deinen Takran trage und dazu noch fünf weitere legendäre, müsste ich doch auch über mehr Kampfgeschick verfügen, aber dem ist nicht so. Ich glaube daher, dass dir dieser Takran dabei hilft besser zu lernen, zumindest spüre ich diese Eigenschaft an mir Ansonsten, wenn dieser Takran wirklich eine perfekte Körperkontrolle verleihen würde, hätte ich dich in unseren beiden Kämpfen nie schlagen können.“
Sahinja wollte etwas erwidern, aber sie wusste nicht wie sie gegen diesen Redekünstler ankommen sollte, außerdem hatte sie verwirrender Weise das Gefühl, dass Eogil die Wahrheit sprechen konnte.
„Ich glaube auch nicht, dass dir dein Takran die Fähigkeit über das Wissen sämtlicher anderen Takrane verleiht. Du weißt immer, nur anhand des Symbols, welche Fähigkeit dieser Takran in sich birgt, du weißt sogar wie mächtig sie sind und welche Schwächen sie haben.“
„Worauf willst du hinaus?“
„Ich trage deinen Takran mittlerweile lange genug, um ebenfalls von dieser Fähigkeit profitieren zu können. Ich vermute eher, dass man dir dieses Wissen beigebracht hat.“
„Willst du damit sagen, dass ich in meiner Kindheit eine Art Schule für Takrane besucht habe?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht so etwas ähnliches.“, Eogil schien nachzudenken „Kannst du lesen?“
Solch dämliche Frage konnte nur Eogil stellen. Woher sollte sie lesen können? So weit sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie noch nie ein Buch berührt. Sie wusste nicht wieso, aber sie hatte eine starke Abneigung gegen bedrucktes Papier. Alles, wozu ihre Fähigkeiten reichten, war die Münzen abzuzählen, die sie erbeutete und die sie für die Kosten einer Mahlzeit, oder einer Nacht in einer Gaststube ausgab. Ja, rechnen konnte sie, und das sogar ziemlich gut. Aber das war schon das höchste Maß an Bildung das ihr zuteil war.
„Nein, ich kann nicht lesen.“, antwortet Sahinja auf seine Frage.
Aber Eogil ließ nicht locker. Er zog eine Schriftrolle aus seiner Tasche und reichte sie ihr.
„Versuch es mal.“
Widerwillig nahm Sahinja das bedruckte Papier entgegen und starrte die Worte an.

Du bist ein Narr, Eogil. Hättest du gedacht, du könntest mir, Horior, dem König der Könige auch nur das Wasser reichen? Hättest du gedacht, du könntest dem zukünftigen Herrscher...

Sahinja ließ die Schriftrolle in ihren Schoß sinken und starrte ins Leere. Sie konnte lesen. Das hatte sie all die Jahre nicht gewusst. Was konnte sie noch, von dem sie glaubte, sie sei dazu nicht in der Lage? Mittlerweile wurde die Neugierde in ihr stärker. Was hatte sie in ihrer Vergangenheit erlebt? Was hatte sie dazu geführt, ihre Erinnerungen zu verdrängen? Und warum hatte sie die Erinnerung verdrängt, lesen zu können?
Eogil nahm ihr das Schriftstück wieder ab.
„Ich glaube auch nicht daran“, nahm er das Gespräch wieder auf „dass dir dein Takran die Fähigkeit verleiht eine Erinnerungen zu blockieren.“
Vielleicht hatte Eogil auch in diesem Punkt recht. Sahinja wusste nicht mehr was sie glauben konnte und was nicht. Einerseits wollte sie wissen was damals vorgefallen war, andererseits hatte sie zu große Angst, es in Erfahrung zu bringen.
Ruhe war eingekehrt. Sowohl Eogil als auch Sahinja gingen ihren eigenen Gedanken nach. Dann setzte Eogil das Gespräch abermals fort.
„Ich habe auch über die Worte des Sehers nachgedacht. Er sagte, dass wenn wir wissen welche Fähigkeit der Angriffs-Takran hat, wir auch wissen welche Fähigkeit der andere Angriffs-Takran hat.“
Sahinja hörte nur mit halben Ohr zu. Sie war noch immer schwer im Gedanken versunken.
„Der Takran des Sehers, ist der Takran der Zukunft. Er hatte auch erwähnt, dass es einen Takran der Vergangenheit gibt und dass diesen Horior tagen soll. Anscheinend hat jede Seite sein Gegenstück. Perfektion - Täuschung, Zeit - Realität, Zukunft - Vergangenheit. Möglicherweise sind auch die Angriffs-Takrane Gegenstücke. Ich kann mich auch irren. Der legendäre Takran am Bauch und der an der Stirn sind keine Gegenstücke. Unverwundbarkeit - Gedankenkontrolle.“
Eogil war wieder in seine Gedanken versunken. Sahinja hatte ihm kaum zugehört. Der Gedanke um ihre Vergangenheit raubte ihr jeglichen Verstand. Sollte sie die Schleuse öffnen und sich ihrer Erinnerungen stellen? Sie wusste nicht einmal wie sie darauf Zugang bekommen sollte. Doch schlussendlich entschied sie sich, es so zu belassen wie es war. Sie wusste genau, dass ihre Erinnerungen Leid und Schmerz mit sich bringen würden und das wollte sie um jeden Preis vermeiden.

Die darauffolgenden Tage wurde Sahinja immer ungemütlicher. Ihre Unwissenheit, ihre Angst vor ihrer Vergangenheit, der Drang nach den legendären Takran und ihr sonst so machthungriges Wesen, ließen sie in feuriger Wut durch den matschigen Schnee stapfen. Eogil ging ihr immer mehr aus dem Weg und versuche sie so wenig wie möglich zu reizen. Aber auch das gelang ihm nicht recht, denn selbst das Wissen um die Tatsache, dass Eogil ihr jetzt aus dem Weg ging, machte Sahinja wütend.
Je näher sie ihrer Vergangenheit kam, umso ungehaltener wurde Sahinja. Eigentlich wollte sie nur noch umdrehen und so schnell wie möglich weglaufen und im nächsten Augenblick wollte sie wieder umbedingt den Takran auf ihren Händen tragen und setzte ihre Schritte noch energischer voran.
Sahinja brauchte dringend eine Ablenkung. Sie brauchte etwas an dem sie sich abreagieren konnte und wenn nicht bald etwas geschah, würde sie für Eogil zu einem ernstzunehmenden Problem werden. Doch dann, zu Eogils Glück, nahm sie mittels ihres sechsten Sinns fünf Menschen wahr. Es waren drei Männer und zwei Frauen, zwei der fünf trugen den üblichen Takran der Takran-Jäger. Es waren Takran-Jäger! Es konnte gar nicht anders sein! Es mussten welche sein!
Dann geschah etwas, womit Sahinja nicht rechnete. Sie verfiel in eine Art Blutrausch. Endlich konnte sie ihrem Zorn freien Lauf lassen. Sie würde sich am Blut der fünf weiden und ihre Sorgen endlich vergessen können. Blitzartig schoss ihr das Blut in den Schädel und unter Anspannung ihrer Muskeln ballte ihre Fäuste. Wie vom Teufel besessen stürmte sie ihnen entgegen.
Eogil hatte die Veränderung ihres Gefühlszustandes mittels seines sechsten Sinns wahrgenommen und lief ihr hinterher. Er schrie ihr etwas nach, aber Sahinja war taub für seine Worte. In ihrem Blutrausch konnte sie nur noch das Blut ihrer Feinde sehen. Bald würde sie in ihrer Reichweite sein, sodass auch sie wussten, dass sie sich ihnen näherte und dann würde es endlich zu ihrem heiß ersehnten Kampf kommen.
Jedoch geschah in diesem Augenblick wieder etwas vollkommen neues. Sahinja hatte ihre erste Vision von einer möglichen Zukunft.

Fünf Leichen lagen vor ihr. Die Leichen von zwei Frauen und drei Männern. Sahinja hatte sie auf brutalste Weise ermordet. Ihre Hände waren von Blut besudelt und die Euphorie des Kampfrausches war noch immer nicht erloschen. Sie gierte nach den Blick ihrer toten Feinde und ihren von Blut besudelten Körpern. Dann betrachtete sie eine der Frauen näher. Ihr stand noch immer das Entsetzen in den Augen und Sahinja weidete sich daran. Sie trug eine Kette um ihren Hals. Wie hypnotisiert davon nahm Sahinja sie in ihre Hände. Es war eine Goldkette mit dem Symbol eines vergoldeten, geschlossenen Auges. Sahinja blieb die Luft weg. Sie kannte dieses Symbol! Es waren Anhänger der Stillen Bruderschaft.

Die Vision endete und mit ihr war auch der Blutrausch ,auf das Leben der fünf Menschen, schlagartig verloschen. Eine panische Angst machte sich in ihr breit. Jegliches Gefühl entwich ihren Beinen und sie stürzte kopfüber, im vollen Lauf, in den Schnee. Sahinja wollte weglaufen, wohin war egal. Nur weg von der Stillen Bruderschaft. Aber ihre Beine bewegten sich nicht mehr. Sie war gelähmt! Ihr Atem ging keuchend und so heftig sie auch atmete, sie bekam keine Luft. Jetzt musste sie sterben, das wusste sie genau und noch während sich tausende Tränen über sie ergossen, war sie ohnmächtig.

„Sahinja.“
Irgendwer rief ihren Namen.
„Sahinja. Hörst du mich?“
War sie tot?
„Sahinja, was ist mit dir los?“
War das Eogil, der mit ihr sprach?
Irgendwer tätschelte ihr die Wange.
„Wach auf.“
„E-Eogil?“, fragte sie ängstlich.
Jetzt merkte sie auch wie ihr unaufhaltsam die Tränen aus den Augen liefen. All ihre legendären Takrane waren sichtbar, aber Sahinja war es egal. Sie hatte es nicht einmal bemerkt.
„Geht‘s dir gut? Was ist los mit dir?“
„S-S-Sind s-sie we-g?“, sie konnte ihr Schluchzen kaum unter Kontrolle halten.
„Meinst du die Fünf auf die du zu gerannt bist? Ja, die sind weg. Sie haben nicht einmal bemerkt, dass wir hier sind. Was ist los mit dir? Du bist einfach umgefallen und ohnmächtig geworden.“
Sahinja versuchte etwas zu sagen. Aber das Schluchzen war so stark, dass sie keinen Ton hervorbringen konnte. Daraufhin ergossen sich Sahinja abermals die Tränen. Eogil nahm sie in den Arm und nun war sie zum ersten Mal froh darüber, dass Eogil bei ihr war. Und sie war dankbar dafür, dass er sie tröstete.
Sahinja wusste nicht wie lange sie schon in dem matschigen Schnee gesessen hatten, aber ihr Schluchzen und ihre Tränen schienen endlich zu versiegen. Dann fasste sich Eogil ein Herz und fragte sie so ruhig und sanft wie es ihm möglich war:
„Wer waren diese Menschen?“
„D-Die Stille B-Bruderschaft.“

Kapitel 13 - Sahinjas Vergangenheit



Die folgenden Tage verbrachte Sahinja in einer Art Trance. Ihre Angst blockierte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie war jetzt froh, dass Eogil das Ruder übernahm. Niemand anderer wäre ihr in diesem Moment lieber gewesen. Auch wenn sie wusste, dass Eogil nur den strahlenden Helden, der alles packte und schaffte spielte, war sie dennoch froh, dass es jemanden gab, auf den sie sich verlassen konnte. Jemand, der wusste was zu tun war und jemand auf den sie hundertprozentig zählen konnte.
Eogil sprach nur noch das Nötigste mit ihr. Jedes Wort, welches Sahinja zu formulieren versuchte, brachte ihre Stimme zum beben und ließen ihre Tränen erneut fließen. Eogil war nun wieder daran, ihre Gedanken zu lesen. Paradoxer Weise, war Sahinja darüber froh. Somit wurde Eogil zwar Sahinjas derzeitige Schwäche vollkommen bewusst, aber er musste sie nicht mehr ansprechen und brachte sie somit nicht mehr zum Weinen. Außerdem konnte er sich ihr anpassen und fand zudem immer die richtigen Worte, um sie aufzuheitern.
Sahinja fühlte sich wie ein kleines, schwaches Mädchen. Sie fühlte sich wie damals, auch wenn sie nicht mehr wusste, was damals vorgefallen war. Die Stille Bruderschaft - niemals mehr hatte sie zu ihnen zurückkehren wollen. Doch obwohl sie sich nun an ihren Namen erinnerte, konnte sie nicht sagen wofür sie standen und wieso sie so viel Angst vor ihnen hatte. Sahinja hätte sie mit ihren Fähigkeiten spielerisch besiegen können. Sie hatten lange nicht die Stärke eines Takran-Jägers. Mit ihnen wäre sie leicht fertig geworden und dennoch hatte sie panische Angst, wenn sie an diese Menschen zurückdachte.
Der Drang nach dem legendären Takran zu suchen war wie weggeblasen. Dennoch sagte eine innere Stimme, dass sie ihn haben Nun ergriff sie keine Eigeninitiative mehr. Eogil wusste was zu tun war und sie würde tun was er ihr sagte. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal froh sein könnte, ihn als Freund zu haben. Das Leben als unabhängige Einzelgängerin kam ihr zumal so fern und unrealistisch vor, als wäre das alles nur ein wunderschöner Traum gewesen.

Sie waren bereits tief in das Reich Isbir eingedrungen und bereits in wenigen Tagen würden sie die Berge zu Sheyr erreicht haben. Vor zwei Tagen hatten sie ein Dorf verlassen. Sahinja hatte nicht nach den Namen gefragt. Sie hatten den Weg dorthin eingeschlagen um ihren Proviant aufzufüllen. Diesmal hatte Eogil nicht den glorreichen Helden gespielt und die Menschen mit Zuversicht gestärkt. Er war bei ihr gelblieben und hatte ihr Mut gemacht. Auch wenn sie kein Wort miteinander gesprochen hatten, war sie doch froh, dass er in ihrer Nähe gewesen war und sie nicht mit ihren Gedanken alleine gelassen hatte.
So konnte es nicht weiter gehen, redete sich Sahinja ein. Sie war vollkommen verängstigt und verunsichert. Sie war zwar froh, dass Eogil bei ihr war und auf sie aufpasste, aber sie wünschte sich ihre Entschlossenheit und ihren Mut zurück. Doch je näher sie den Bergen zu Sheyr kamen, umso unsicherer wurde Sahinja. Ihr war oft schlecht und sie hatte Kopfweh. Zudem aß sie nur noch wenig und verlor allmählich an Gewicht. Sie hoffte, dass dieser Schrecken endlich ein Ende nahm. Auf die eine oder andere Weise.

Und dann war es so weit. Sie erreichten den Bergpass. Eogil wäre seiner Intuition und dem Weg geradewegs zur Bergspitze gefolgt, aber er hatte nicht Sahinjas Wissen. Er wusste nicht, dass es einen geheimen Pfad gab, der sie ins Innere des Berges führte. Eigentlich hatte es Sahinja auch nicht gewusst, doch als sie am Pfad vorbeimarschiert waren, war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Wie als wäre das Wissen allgegenwärtig gewesen.
„Wir müssen hier lang.“, hatte Sahinja gesagt und war mit Eogil einen steilen Ziegenpfad hochgestiegen.
Alles hatte den Anschein, als sei es natürlichen Ursprungs, aber wenn man wusste wonach man Ausschau halten musste, erkannte man die Unterschiede. Eogil hatte ihre Bemerkung ohne Rechtfertigung hingenommen und hatte, wie in den letzten Tagen, die Führung übernommen. Sahinja folgte ihm nun nicht mehr in markerschütternder Angst, sondern mit dem schwindenden Mut einer Todgeweihten.
Alles kam ihr so schrecklich bekannt vor und sie erinnerte sich, wie sie diesen Weg schon einmal in Panik hinuntergelaufen war, um der Stillen Bruderschaft zu entkommen. Damals hatte sie sich geschworen nie wieder einen Blick zurückzuwerfen und jetzt war sie zurückgekehrt.
Eogil und Sahinja waren dem Weg zu seinem Ende gefolgt und standen nun vor einer steilen Felswand. Nichts ließ darauf schließen, dass es hier ein Weiterkommen gäbe, dennoch war sich Sahinja sicher, an der richtigen Stelle zu sein. Plötzlich kam ihr eine Erinnerung hoch.

„Ich will zurück zu meiner Mama. Papa, Hilfeee.“
Sahinja war ein kleines Mädchen, gerade mal im Alter von vier oder fünf Jahren. Sie wurde von zwei Männern in schwarz-schimmernden Roben getragen. Beide trugen sie diese goldene Kette mit dem Symbol eines geschlossenen Auges. Sahinja versuchte sich von ihren Griffen zu befreien, aber sie waren viel starker und ihre Kräfte verließen sie allmählich. Sahinja hatte panische Angst vor diesen fremdartigen, furchtbar gekleideten Menschen. Ihre Tränen flossen aus Strömen. Sie verstand nicht, warum man sie entführt hatte und was sie mit ihr vorhatten.
Auf ihr Geschrei hinauf kam der dritte schwarz Gewandete, welcher die Führung übernommen hatte zu ihr und blickte in ihr ängstliches Gesicht.
„Deine Eltern sind tot und jetzt hör mit diesem Geschrei auf.“
Aber Sahinja schenkte seinen Worten keinerlei Beachtung. Sie schrie aus Leibeskräften, auf dass sie irgendjemand höre und ihr zur Hilfe käme. Dann gab ihr derjenige, welcher das Wort zuvor an sie gerichtet hatte, eine schallende Ohrfeige.
„Willst du denn nicht verstehen welch große Ehre dir zuteil wird? Du trägst eines der zehn Symbole Sheyrs. Jeder andere würde sein Leben dafür geben, also verhalte dich auch dementsprechend respektvoll!“
Sahinja hatte auf seine Ohrfeige und seinem Gerede nur noch stärker zu weinen und schreien begonnen. Das führte dazu, dass sie der Mann ein weiteres Mal schlug. Diesmal weitaus kräftiger.
„Nimm Vernunft an, du dummes Gör! Wir werden die Hallen Sheyrs betreten, das ist ein Ort des Friedens und der Stille. Und dementsprechend hast du dich auch zu verhalten!“
Sahinja versuchte ihre Tränen unter Kontrolle zu bringen, aber nicht auf seine Worte hinauf, sondern weil sie Angst hatte, ein weiteres Mal von dem bösen Mann geschlagen zu werden. Ihr liefen zwar immer noch die Tränen herab und ihr Weinen war zu einem Wimmern geworden, aber immerhin schien es den Mann zufrieden zu stellen. Sahinja hatte panische Angst, am liebsten wäre sie tot umgefallen. Warum half ihr denn niemand? Wo waren ihre Mutter und ihr Vater? Dann drehte sich der Mann um und legte eine Hand auf die steile Felswand.
„Sheyr, deine treuen Diener sind zurückgekehrt und bitten um Einlass.“
Die Felswand verblich und Sahinja wurde von den anderen beiden Männer ins Innere getragen.

Es war Sahinja, als hätte man ihr ein Messer in die Brust gerammt. Sie kniete am Boden und stützte sich mit beiden Händen ab, sie hatte nicht mitbekommen, wie sie zu Boden gestürzt war. Tränen rannen ihr aus den Augen und sie versuchte dem Fluss habhaft zu werden. Eogil war zu ihr geeilt und half ihr auf die Beine. Aus seinen Gedanken entnahm sie Verwirrung. Obwohl er Sahinjas Gedanken las, hatte er die reißende Flutwelle aus Erinnerungen nicht verstehen können. Es waren zu viele Informationen in der Kürze der Zeit, als dass er sie auf Anhieb begreifen hätte können. Er sah sie einfühlsam an, auf dass sie ihm erkläre, was gerade vorgefallen sei. Doch anstelle Eogil eine Antwort zu geben, trat Sahinja an die Felswand, legte ihre rechte Hand darauf und sprach die Worte, die sie noch vor kurzer Zeit erfolgreich verdrängt hatte.
„Sheyr, deine treuen Diener sind zurückgekehrt und bitten um Einlass.“
Die Felswand fing an zu schimmern, wurde langsam durchsichtiger und verschwand dann ganz. Eogil staunte und jetzt wo sie dieses Ereignis mit den Augen eines Erwachsenen sah, war auch Sahinja erstmals davon erstaunt.
Eigentlich war so etwas unmöglich. Was sich ihren Augen verbarg, erfasste sie mit ihrem sechsten Sinn. Es waren Takrane gewesen, welche diese undurchdringliche Illusion einer Felswand geschaffen hatten. Takrane, die mächtiger waren, als alles was sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Sogar mächtiger als die legendären Takrane. Es waren die Takrane eines Gottes, das wusste Sahinja instinktiv. Die Takrane des Göttes Sheyr. So unglaublich diese Worte in ihren Gedanken auch klangen, sie wusste, dass sie wahr waren. Auch wusste sie, dass es schon seit über einem Jahrtausend, keinen Gott mehr gegeben hatte. Hier handelte es sich um die letzten Überreste seiner Existenz. Takrane, die sogar noch in Tode bestand hatten. Doch woher Sahinja dieses Wissen hatte, konnte sie nicht sagen, es war einfach da. Wie als wenn sie sich an etwas erinnern würde, von dem sie geglaubt hatte, es vergessen zu haben. Und genau so war es auch, sie hatte es vergessen und nun kamen ihre unterdrückten Erinnerungen wieder ans Tageslicht.
Eogil machte den ersten Schritt ins Innere und Shinja folgte ihm auf zittrigen Beinen. Alles kam ihr so bekannt und gleichzeitig furchterregend vor. Sie gingen einem schmalen Gang, der aus prachtvollen, glänzenden Steinen erbaut worden war und geradewegs in den Felsen führte. Rechts und links waren göttliche Takrane angebracht, die in güldenem Schein schimmerten und ein warmes Licht spendeten. Eogil konnte von dieser Farbenpracht kaum ein Auge lassen. Keine Worte konnten solche Pracht umschreiben. Dies war wahrlich die Schöpfung eines Gottes. Der schmale Weg war breit genug, sodass zwei Personen ihn angenehm passieren konnten, dennoch hielt sich Sahinja mehr im Hintergrund auf. Wieder einmal war sie so froh, dass sie Eogil an ihrer Seite hatte. Er wusste genau was zu tun war. Alleine hätte sie keinen Schritt in die Höhle des Löwens gewagt.
Sie erreichten eine größere Eingangshalle von der mehrere Wege in alle Himmelsrichtungen führten. In den Ecken des Raumes standen Bücherregale, eine Sitzecke und eine kleine Garderobe. Eogil staunte von der Pracht, welche diese fremdartigen Bauten boten. Hier waren Materialien verwendet worden, von denen man nicht klar sagen konnte, ob es sich um Holtz, Stein oder Eisen handelte. Vermutlich war es eine Kombination aus allen dreien, oder keines davon. Unmöglich, dass solche Werke von der Hand eines Menschen erschaffen worden war. Die Genauigkeit der Verzierungen, die feinen Farbabstimmungen und die Abstimmungen bis ins kleinste Detail. Dagegen wirkte jede noch so prächtige Kunst des Menschen, wie das banale Schaffenswerk eines Kleinkindes. So etwas konnte kein Mensch vollbracht haben!
Da tauchten, aus dem rechten Gang, plötzlich zwei Männer, in schwarz schimmernden Roben auf. Weder Eogil, noch Sahinja hatten sich die Mühe gemacht, nach anderen Personen Ausschau zu halten. Eogil hatte sich von der schieren Pracht übertölpeln lassen und Sahinja hatte ohnehin jeglichen Gedanken an ihre Fähigkeiten verloren. Das war ein Fehler gewesen und sowohl Sahinja als auch Eogil rechneten mit dem Schlimmsten. Jetzt, wo sie auf ihren Fehler aufmerksam gemacht worden waren, nahmen sie auch wahr, dass sich drei weitere Personen in dem Gang vor ihnen befanden.
Einen kurzen Moment sahen sich Eogil und die beiden Männer in die Augen, alle darauf wartend, welchen Zug, der jeweils andere unternehmen würde. Alle darauf wartend, ob der andere Freund oder Feind war. Sahinja blieb hinter Eogils Rücken versteckt. Sie fühlte sich zurückversetzt in ihre Tage als kleines Mädchen. Die Tage, die sie in Angst und Schrecken verbracht hatte und in denen sie sich jede Sekunde mit ihrem Tod gerechnet hatte. Wo sie sich jede Sekunde ihren Tod herbeigesehnt hatte!
„Eindringlinge.“, schrie einer der beiden Schwarzgewandeten und daraufhin zog Eogil sein Schwert. Das wiederum veranlasste einen der beiden Männer einen Feuerball auf ihn zu werfen. Eogil änderte die Realität ab, um ihn ins Leere gehen zu lassen.
„Wir sind Freunde.“, schrie Eogil zu ihnen hinüber „Wir kommen in Frieden.“
Aber seine Worte blieben von den beiden ungehört. Abermals wurde er von einem weiteren Feuerangriff attackiert.
Sahinja wusste nicht mehr was sie tat. Ihre Fluchtinstinkte übernahmen die Kontrolle und zwangen sie sich zu verstecken. Sie lief zu dem prachtvollen Tisch, den sie in der Eingangshalle gesehen hatte, um sich darunter zu verbergen. Es war ihr klar, dass diese beiden keine Chance gegen ihre gewaltigen Kräfte hatten. Auch war ihr klar, dass sie sich kindisch und dumm verhielt, aber die Angst saß tief in ihr und ließ sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Noch während sie auf den Tisch zulief, nahm sie wahr, wie der andere mit seinem Angriffs-Takran Wasser erzeugte, welches er mit einem weiteren Wasser-Takran auf seiner Stirn zu Sahinja schweben ließ. Er formte sie zu einer Kugel und umhüllte Sahinjas Kopf.
So hatte sich Sahinja nie ihren Tod vorgestellt. Sie war immer davon ausgegangen, von einem übermächtigen Takran-Jäger getötet zu werden, aber niemals hätte sie gedacht, dass sie als Feigling auf der Flucht sterben würde. Welch eine Ironie, sie würde in einem Berg ertrinken. Noch während sie diesen Gedanken fasste, nahm sie wahr, dass die drei anderen sich auf den Weg ins Kampfgetümmel machten, um ihren beiden Freunden zur Seite zu stehen. Jetzt war alles aus.
Flehend sah sie zu Eogil, durch das Wasser um ihren Kopf, hindurch. Verschwommen konnte sie wahrnehmen, wie er seinen Angreifer mit seinem Stein-Takran in einen Felsen einzuschließen versuchte und gleichzeitig vor seinen Feuerangriffen auszuweichen versuchte. Gleich darauf versuchte er seinen Neutralisations-Takran einzusetzen, um Sahinja vor dem Wasser zu befreien, doch es gelang ihm nicht den Takran ordnungsgemäß einzusetzen. Er beherrschte den Takran der Perfektion nicht so gut wie Sahinja und konnte daher andere Takrane ebenfalls nicht vollständig beherrschen.
Sahinjas kindisches Verhalten und ihre zunehmende Panik, welche sie in diesem Moment verspürte, ließen ihren kosbaren Sauerstoff schnell zur Neige gehen. Schon bald würde sie ihrem Atemreflex nicht mehr widerstehen können und sie würde das Wasser einzuatmen versuchen. Eogil verlangsamte die Zeit, rannte zu dem Mann und durchbohrte mit seinem Schwert seine Brust.
Das Wasser fiel Sahinjas von den Schultern und durchtränkte ihre Kleider. Endlich bekam sie wieder Luft. Keuchend rang sie nach Atem. In der Zwischenzeit stellte sich Eogil den anderen drei Angreifern, die soeben die Eingangshalle erreicht hatten. In kürzester Zeit hatte er auch diese unschädlich gemacht. Ansonsten befanden sich keine weiteren in der Nähe.
„Schnell Eogil, folge mir.“
Sahinja wusste nicht was sie gesagt hatte und ebenfalls nicht was sie soeben im Begriff zu tun gedachte, aber sie war froh darüber, dass Eogil ihr ohne zu widersprechen folgte. Sie kannte diesen Weg. Obwohl sie früher immer in Begleitung der Stillen Bruderschaft durch die Hallen Sheyrs gegangen war, wusste sie, dass dieser Gang nur selten benutzt wurde. Es war ein abgelegener Pfad, der die Strecke zum Eingang verkürzte. Diesen Gang hatte sie genommen, als sie geflohen war. Warum sie ihn jetzt wieder zurück lief, wusste sie selbst nicht. Es kam ihr sinnvoll vor.
Er erstrahlte in ebensolcher Pracht, wie alles andere hier. Auf den Wänden waren Gravuren eingezeichnet, die von den Taten Sheyrs priesen. Durch die göttlichen Takrane schimmerten sie in güldenem Licht und schienen sich durch die Lichtreflexion leicht zu bewegen. Doch diesmal schenkten Eogil und Sahinja den schönen Wandgravuren keine Aufmerksamkeit.
Wie von einem Rudel blutrünstiger Hunde gehetzt, rannte sie den Korridor entlang. Eogil hatte alle Mühe an ihren Fersen zu bleiben, aber er schaffte es, mittels des Takrans der Zeit, Sahinjas Vorsprung einzuholen. Sahinja nahm zwei weitere Abzweigungen und konnte von Glück sagen, dass sie immer noch von jedermann unbemerkt geblieben war.
Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Von hier hatte sie damals ihre Flucht angetreten. Sie stand vor einer Türe und es brach erneut eine Welle von Erinnerungen über sie herein. Aber es waren nicht die Erinnerung an ihre Flucht, sondern an ein anderes Ereignis. Ein Ereignis, das sie Jahre lang versucht hatte zu unterdrücken. Jetzt war es wieder da.

„Du willst also nicht lernen.“, hatte ein Mann mittleren Alters in schwarz schimmernden Roben herabwürdigend zu ihr gesagt.
Er hielt ein ebenso schwarzes Buch in seinen Händen, auf dem das Symbol eines geschlossenen Auges abgebildet war. Sie befanden sich nun hinter der Tür, in einem kleinen Raum, im dem sich nichts anderes befand, als der furchterregende Mann, sie und das Buch. Sahinja steckte noch immer im Körper einer Vier- oder Fünfjährigen und sie wusste, dass sich diese Szene wenige Wochen nach ihrer Entführung ereignet hatte.
Sahinja saß zusammengekauert am Boden und weinte. Sie wollte zurück zu ihren Eltern. Sie wollte weg von den bösen Menschen. Sie zitterte vor Angst.
„Marek, hat mir gesagt, es falle ihm schwer dich zu unterrichten. Er hatte gesagt, du weigerst dich seinen Worten Gehör zu schenken.“, der Mann warf ihr einen verständnislosen, angewiderten Blick zu „Marek ist ein guter Mensch. Er erfüllt seine Pflicht wie kein zweiter. Sheyr wäre stolz auf auf einen solchen Diener. Aber deine Weigerung ist nicht nur ein Affront ihm gegenüber. Sondern auch gegenüber Sheyr höchst selbst. Du trägst eines seiner Zeichen. Doch anstelle, dass du diese Ehre, die dir entgegengebracht wird, annimmst, verschließt du dich ihrer. Ist dir denn nicht klar, welch glorreiches Schicksal dir zuteil wurde? Nimm doch endlich Vernunft an. Verhalte dich nicht wie ein störrisches Kind. Du wurdest zu höherem geboren!“
Alles wozu Sahinja noch fähig war, war zu weinen. Hemmungslos zu weinen. Seine strengen, wohl abgewogenen Worte, waren in keinster Form beruhigend, sondern steigerten ihre Angst nur noch mehr.
„Nun denn. Dieses Verhalten habe ich vermutet. Wie es scheint, muss ich dich mit anderen Mitteln zur Vernunft bewegen.“
Mit einem gnädigen Lächeln richtete er seine linke Hand gegen Sahinja und feuerte einen Blitz auf sie ab. Wie Nadelstiche fraß sich der Schmerz in ihren Körper. Sie schreckte hoch...

...und sah Eogil panisch in die Augen. Er versuchte ein paar beruhigende Worte zu sagen, doch keines davon durchbrach Sahinjas emotionale Blockade. Was tat sie da bloß? Sie musste von hier so schnell wie möglich verschwinden. Eogil versuchte sie festzuhalten und sie noch immer mit Worten zu beruhigen, aber Sahinja riss sich von ihm los und rannte blind einen Korridor entlang. Eogil folgte ihr leise, er wollte ihr nicht hinterherrufen und damit die Mitglieder der Stillen Bruderschaft auf sich aufmerksam zu machen. Doch ihre lauten Schritte, auf dem harten Steinboden, blieben von einigen nicht ungehört und manche, die dem Ursprung der Geräusche, auf den Grund gehen wollten, hatten die beiden Eindringlinge bemerkt. Sahinja spürte sie mittels ihres sechsten Sinns und wählte die Gänge so, dass sie auf keinen von ihnen traf. Nach einigen wahllosen Abzweigungen, hörte sie hinter ihr die Rufe von verschiedenen Frauen und Männern, welche die Verfolgung aufgenommen hatten. Eogil blieb Sahinja dicht auf den Fersen und versuchte mit seinem Erd-Takran die Durchgänge hinter sich zu verschließen. Doch auch unter der Stillen Bruderschaft gab es Anhänger, die über Erd-Takrane oder andere nützliche Fähigkeiten verfügten und die Blockaden wieder öffneten.
Der Spießroutenlauf wurde immer brenzlicher. Sahinja manövrierte sich in immer heiklere Situationen. Auch für Eogil war die Situation nicht einfach. Er musste auf Sahinja acht geben, da sie sich alleine nicht mehr zu verteidigen wagte. Somit blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu folgen und die Schlinge immer enger zuziehen zu lassen. Sollten sie in die Enge getrieben werden, konnte nicht einmal der große Eogil hunderte von Menschen aufhalten und sich gleichzeitig noch um Sahinja kümmern.
Da sich nun die gesamte Bruderschaft auf ihren Fersen befand, machte es keinen Sinn mehr sich leise zu verhalten und so schrie auch Eogil ihr nach um sie wieder zur Vernumft zu bewegen. Jedoch hatte sich Sahinja soweit von ihrer Außenwelt abgeschottet, dass keines seiner Worte zu ihre vordringen konnte. Eogil wandte nun seinen Erd-Takran auch auf Sahinja an. Doch Sahinja sah dies mittels ihres Takrans der Zukunft voraus, änderte die Realität ab und entkam seinen steinernen Fesseln. Sie richtete ihre linke Hand nach hinten und feuerte ziellos mehrere Pulswellen ab. Diesen konnte Eogil nicht mit seinem Realitäten-Takran entgehen und er wurde einige Schritte zurückgeschleudert. Eilig hatte er sich aufgerichtet und befand sich sogleich wieder, mittels Manipulation der Zeit, hinter ihr.
Sahinja kamen immer mehr Erinnerungen hoch. Sie wollte von ihnen weglaufen, doch je mehr sie erblickte, umso mehr Erinnerungen brachen über sie herein. Sahinja erreichte einen großen Raum und schlagartig wurde ihr klar wo sie sich befand. Die Übungshalle.

„Steh auf! Schwäche ist dir untersagt!“
Sahinja lag am Boden. Sie war mittlerweile älter und hatte viele Brandverletzungen und unzählige Wunden, aus denen ihr das Blut tropfte. Alles was sie nur noch wollte, war das Bewusstsein zu verlieren, damit die Übungsstunde endlich ein Ende nahm. Mühsam versuchte sie sich aufzurichten. Würde sie liegen bleiben, würde man sie heilen und dann musste sie all die Schmerzen ein weiteres Mal durchstehen, so lange, bis sie endlich das Bewusstsein verloren hatte.
Sie musste sich stets gegen zwei oder mehrere Angreifer verteidigen, welche zudem alle eine volle Ausrüstung an Takranen besaß. Sie selbst durfte nur ihren eigenen tragen und benutzen. Keinerlei Gnade wurde ihr gezeigt. Es mache sie stark, hatten sie ihr gesagt.
„Irgendwann wirst du uns dankbar dafür sein. Du trägst ein Zeichen Sheyrs und eine Tages werden wir nicht mehr sein um dich zu schützen. Sollte dies der Fall sein, wirst du dich zu verteidigen wissen. Niemals dürfen alle Zeichen Sheyrs vereint werden, hast du mich verstanden?“
Er wartete ihre Antwort nicht ab, anstelle dessen warf er erneut einen Feuerball auf sie. Sahinja brach unter Schmerzen zu Boden und für kurze Zeit drohte ihr endlich das Bewusstsein zu schwinden.
„Heilt sie!“
Nein, Sahinja wollte nicht geheilt werden. Sie wollte ihr Bewusstsein verlieren. Drei Heiler kamen angerannt und setzten ihre Fähigkeiten ein. Sie versuchte sich gegen die Heilung zu wehren, doch es gelang ihr nicht. Schon bald würde Sahinja all die Schmerzen erneut durchleben müssen.

Sahinja rannten die Tränen herab. Wo konnte sie noch hinlaufen? Alle Wege versperrten sich ihr. Aus allen Richtungen kamen Mitglieder der Stillen Bruderschaft angerannt. Sie schrieen einander zu, um sie und Eogil in die Enge zu treiben. Nur noch ein Weg übrig, den sie nehmen konnte. Instinktiv lenkte sie ihre Schritte darauf und rannte ihn panisch entlang, hinter ihr Eogil, gefolgt von einer tobenden Meute aus Mitgliedern der Stillen Bruderschaft.
Doch der Weg, den sie genommen hatte, hätte falscher nicht sein können. Es war der Weg zur Ratshalle. Der Ort an dem die wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Hier hielten sich stets unzählige Mittglieder auf und debattierten über die verschiedensten Angelegenheiten. Sahinja hatte hier viele Stunden verbringen müssen um den Worten der Mitglieder zu lauschen. Sollte sie auch nur ein Ereignis vergessen haben, hatte sie mit schrecklichen Strafen zu rechnen.
Sahinja wusste nicht mehr was sie tun sollte, hinter ihr lief eine tobende Meute und vor ihr, in der Ratshalle, befanden sich ebenfalls unzählige Menschen. Es war ihr Ende, aber sie musste irgendwohin. Das Unvermeidliche so lange wie möglich hinauszögern zu versuchen. Schließlich erreichte sie die Ratshalle und unzählige Köpfe, aus allen Reihen, drehten sich in ihr zu. Doch Sahinja hatte den Blick nur auf eine einzige Person geheftet. Den Mann hinter dem Rednerpult kannte sie. Er war nun älter, aber sein Gesicht würde sie niemals vergessen können.
„Du bist zurückgekehrt.“, sagte er mit einer Mischung aus Freude und Furcht in der Stimme.

Sahinja spielte im Obstgarten. Ihre Eltern waren wohlhabende und geachtete Menschen. Vor allem aber waren sie für ihren Apfelwein bekannt. Ein Getränk so süß und wohlschmeckend wie kein zweites in dieser Gegend.
Ein Igel hatte Sahinjas Aufmerksamkeit erregt und sie fand es lustig ein paar Äpfel auf seinen stacheligen Rücken zu platzieren. Vergnügt beobachtete sie ihren Spielgefährten wie er sich taumelnd durch das Laub bewegte. Das musste sie unbedingt ihren Eltern zeigen.Behutsam ergriff sie den Igel von der Unterseite, so, dass sie ihn nicht verletzte und er sie mit seinen Stacheln ebenfalls nicht stechen konnte. Die Äpfel ließ sie auf seinen stacheligen Rücken.
„Mama, Papa, schaut, schaut.“ rief sich schon aus der Ferne und rannte zu der steinernen Hütte.
Ihre Mutter hatte ihr ein langes Kleidchen genäht. Es war wunderschön und ihre Freundinnen beneideten sie darum. Aber jetzt musste sie aufpassen, dass sie nicht über ihren Saum stolperte.
Mit der Schulter drückte sie die Türe auf und war verwirrt davon was sie zu sehen bekam. Ihre Eltern waren auf Stühlen festgebunden, sodass sie ihre Takrane nicht einsetzen konnten und erschraken bei ihrem Eintritt.
„Lauf Sahinja! Lauf so schnell du kannst!“, riefen ihre Mutter und ihr Vater wie aus einem Mund.
An der Hauswand standen vier komisch gekleidete Menschen in langen schwarzen Frauenkleidern. Zwei von ihnen waren sogar wirklich Frauen. Auf einem Stuhl, in ihrer Nähe saß Opheustos, der große Seher. Er war ein guter Freund der Familie und war auf der ganzen Welt für seine einmaligen Vorhersehungen bekannt. Vor allem unter den Alchemisten kannte ihm ein jeder. Ihre Eltern schätzten sich als glücklich, ihn als Freund bezeichnen zu können. Opheustos durfte sogar ihren Takran der Perfektion tragen. Er hatte immer zu ihre gesagt, es sei ein ganz besonderer Takran, dafür mochte sie den verrückten alten Mann.
Doch Sahinja konnte nicht verstehen, warum er sich ständig entschuldigte, und warum ihre Eltern auf ihren Stühlen festgebunden waren, verstand sie ebenfalls nicht. Auch verstand sie nicht, warum sie weglaufen sollte. Aber sie war ein braves Mädchen und tat, was ihre Eltern von ihr verlangten.
Als sie sich umdrehte schreckte sie hoch. Hinter der Tür stand noch ein Mann. Er trug ebenfalls dieses komische schwarze Kleid. Er fegte ihren Igel mit irgendeiner seiner Fähigkeiten von ihren Händen, sodass er schmerzhaft, im hinteren Eck des Hauses landete. Sahinja war wie paralysiert von diesem grausamen Verhalten. Der Mann packte sie und hielte sie mit eiserner Kraft fest. Erst bei dieser groben Berührung fing Sahinja zu schreien an und gleich darauf stimmten ihre Eltern in ihr Geschrei ein. Gleichzeitig versuchte Sahinja sich nach dem Igel umzudrehen. Hoffentlich war ihm nichts passiert.
„Opheustos, du hast uns nicht enttäuscht. Sie trägt ein Zeichen Sheyrs. Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet.“
Der große Seher antwortet nicht. Jetzt weine auch er. Sahinja hatte nicht gewusst, dass auch alte Männer weinen konnten. Sie hatte auch nicht gewusst, dass Menschen ohne Augen dazu fähig waren. Dann entschuldigte er sich bei ihr. Aber wieso entschuldigte er sich denn ständig?
„Die Stille Bruderschaft hält stets ihre Versprechen. Dein betagtes Leben gegen das einer Jüngeren“.
Der Mann, der sie gepackt hatte, rief den anderen vier etwas zu und gemeinsam verließen sie das Haus. Sahinja fing abermals zu schreien an. Der Gedanke an den armen Igel war wie weggeblasen. Was hatten sie mit ihr vor?
„Lass mich runter. Ich will zu meiner Mama. Papa, Hilfee.“
Da packte sie der grobe Mann an ihren Haaren und blickte ihr direkt ins Gesicht.
„Hör mir zu: Du trägst ein Zeichen Sheyrs. Du bis zu höheren geboren. Du wirst mit uns kommen und deiner Bestimmung folgen!“
Doch Sahinja wollte nicht auf ihn hören. Sie wollte von ihm weg. Sie wollte zu ihren Eltern und zu Opheustos. Ihr Wunsch schien erhört worden zu sein. Nachdem sie weiterhin gequengelt und gezappelt hatte, drehte sich der Mann um und betrat wieder das Haus. Ihre Eltern freuten sich, Opheustos fing jedoch noch stärker zu weinen an. Dann packte sie der grobe Mann abermals an den Haaren.
„Pass gut auf.“, sagte er. „Von nun an wirst du eine Dienerin Sheyrs sein. In dieser Positionen sind weltlichen Dinge wie Eltern nicht mehr von Bedeutung. Sie würden deine Gedanken vergiften und dein Urteilsvermögen trüben.“
Dann erschuf er einen spitzen Eisstachel und rammte ihn Sahinjas Vater direkt in den Schädel. Dabei war er darauf bedacht, dass Sahinja auch alles genau sehen bekam. Ihr Vater, der vorher noch geschrien hatte, stürzte nun in sich zusammen. Dann ging er zu ihrer Mutter hinüber und rammte auch ihr einen Eisstachel in den Kopf. Ebenfalls darauf bedacht, dass Sahinja alles genauestens zu Gesicht bekam. Auch sie brach tot in sich zusammen.
Sahinja hatte es mit eigenen Augen gesehen, konnte es aber dennoch nicht glauben. Die Tatsache, dass ihre Eltern jetzt tot seien sollten kam ihr zu unwirklich vor. Von einem Moment auf den anderen sollten sie nicht mehr da sein? Sich nicht mehr um sie kümmern? Das konnte nur ein schlimmer Traum sein. das ihr Dargebotene überstieg ihren Horizont und sie war vollkommen erstarrt. Fassungslos blickte sie starr in Richtung ihrer toten Eltern. Zu keiner Bewegung war sie fähig, nicht einmal weinen konnte sie. Wie eine Puppe ließ sie sich forttragen.

Dann kehrte sie in die Gegenwart zurück. Vor ihr stand noch immer derjenige, welcher ihre Eltern getötet hatte.
Sahinja fing an zu schreien. Es war ein Schrei, der von ihrer dunkelsten Seite herrührte und in dem sich ihre gesamte Wut befand. Niemals hätte sie gedacht, dass ihre Stimmbänder zu solch infernalen Lauten fähig war. Ihr Blickfeld verfärbte sich ins Rote, alle Geräusche verschwammen zu einem einzigen ohrenbetäubenden Rauschen und ihre Muskeln spannten sich stählern an. Die Kontrolle über ihren Körper entglitt ihr und wurde von ihrem Zorn übernommen. Jetzt waren die Tore ihrer inneren Bestie geöffnet und sie würde sich ihrer niederen Instinkte hingeben. Die Zeit war gekommen das Blut ihrer Feine zu vergießen.

Kapitel 14 - Die Hallen Sheyrs



Es war ein langer anhaltender Schrei zu hören.
Sahinja war von etwas Unbekannten gefesselt worden und sie versuchte sich wie wild davon zu befreien. Was auch immer es war, es ließ ihr keinen Freiraum für Bewegungen. Sahinja konnte ihre Umgebung nicht mehr klar wahrnehmen. Ihr war, als ob sie nur noch zu einem verschwindend geringen Teil die Kontrolle ihres Geists hatte und ein anderes, mächtigeres Wesen den größeren Teil davon steuerte.
Dieser laute Schrei war ohrenbetäubend und Sahinja wünschte sich, dass er endlich enden würde. Irgendwas traf sie hart ins Gesicht. Dann mischten sich andere Laute ein. Eindringliche Rufe wurden ihr zugerufen, doch Sahinja konnte kein einziges Wort davon verstehen. Es war, als ob es sich um eine andere Sprache handelte.
Langsam wurde sich Sahinja ihrer Umgebung bewusst. Sie ergriff die Kontrolle über ihr Augenlicht und wurde sich ihrer Umgebung gewahr. Doch war noch immer alles durch einen schwarzen nebeligen Schleier zu sehen. Ihr Blickfeld reichte nicht weit und sie konnte außerhalb dieses Schleiers keinerlei deutlichen Umrisse erkennen.
Mit der Zurückerhaltung ihrer Körperkontrolle wurde ihr auch klar, dass sie es war, die so furchterregend schrie, aber sie konnte damit nicht aufhören. Aus irgendeinem Grund war es wichtig zu schreien und so tat sie es auch weiterhin.
Irgendjemand schlug Sahinja abermals ins Gesicht und langsam kam sie wieder zu sich. Das Schreien hatte endlich aufgehört. Dann sah sie vor sich, durch die Schatten hindurch, Eogil.
„Eogil.“, sagte sie verwirrt, als könnte sie nicht fassen wen sie hier vor sich sah.
Er versuchte ihr beruhigende Worte zuzusprechen, doch Sahinja konnte deren Wortgehalt immer noch nicht deuten. Immerhin glaubte sie deren Bedeutung zu verstehen. Jetzt, wo Sahinja auch allmählich die Kontrolle über ihren Geist zurückerlangte, wurde ihr klar, wie furchtbar müde sie war. Jeder einzelne Knochen in ihrem Leib schmerzte fürchterlich. Sie konnte sich immer noch keinen Zentimeter bewegen. Was hielt sie so unerbittlich fest? Und was waren das für dunkle Wolken um ihr? Doch eigentlich war es Sahinja egal, sie wollte nur noch schlafen.
„Müde.“, sagte sie zu Eogil und schlief ein.

Als Sahinja erwachte und ihre Augen öffnete, schrak sie hoch. Sie fühlte sich schlagartig in ihre Kindheit zurückversetzt. Es war das Bett, in dem sie in ihren jungen Jahre gelegen hatte. Das war der Raum, der ihr zugeteilt worden war und in dem sie zumindest ruhige Nächte verbringen hat können. Auch war es der selbe wundervoll verzierte Raum, der von den Taten Sheyrs pries und in einem angenehmen güldenem Licht schimmerte. Der selbe Raum, der mit nichts weiterem als einem Bett eingerichtet war und in dem sie ihre Nächte mit Tränen verbracht hatte. Mehr als ein Bett, hatte man ihr damals gesagt, bräuchten die Diener Sheyrs nicht.
Eogil und ein Mann in einer weißen Robe, hatten ihr Gespräch eingestellt. Sie hatten sich vom Boden erhoben und waren zu ihr geeilt als sie aufwacht war. Den Mann neben Eogil kannte sie. Auch wenn sie noch nie ein Wort mit ihm gesprochen hatte, wusste sie um wem es sich handelte.
Damals, während alle Mitglieder der Stillen Bruderschaft immerzu schwarze Gewänder getragen hatten, waren ihr weiße Kleider angelegt worden. Doch war sie nicht die einzige gewesen, die eine solche Garderobe gehabt hatte. Ein weiterer, mit dem sie nie ein Wort sprechen hat dürfen, verfügte ebenfalls über eine solche Ausstattung. Auf ihre Fragen hin, um wem es sich bei ihm handle, hatte man ihr nur mit Schlägen geantwortet, doch Sahinja hatte ihre eigenen Vermutungen.
Sie war damals verehrt worden. Sie war zugleich, wie eine Göttin und ein Sklave behandelt worden. Man hatte ihr Huldigungen dargebracht und sie mit Schlägen gefügig gemacht. Alles nur aufgrund ihres blauen Takrans. Gas Zeichen eines Gottes, wie man es ihr gelehrt hatte. Das war auch der Grund, warum man ihr weiße Roben angelegt hatte und so hatte sich ihr Verdacht erhärtet, dass auch der andere in weißen Roben über eines der zehn Zeichen Sheyrs verfügen musste.
Er war während ihrer Abwesenheit um vieles gealtert, dennoch hatte Sahinja seine Gesichtszüge sofort wiedererkannt.
„Wie geht es dir?“, fragte Eogil behutsam.
„Weiß nicht.“, antwortete Sahinja heiser. Ihr war schwindlig und sie fühlte sich schwach. Alle Muskeln in ihrem Leib schmerzten und sie war noch immer müde. Vor allem aber war es ihr Hals, der sie schmerzte und den sie durch ihre andauernden Schreie überstrapaziert hatte.
„Was ist passiert?“, fragte sie mit rauer Stimme.
„Das weißt du nicht mehr?“
Doch, Sahinja wusste es noch ganz genau. Sie hatte sich auf die brutalste Weise durch die Stille Bruderschaft geschlachtet. Aber nun kam ihr alles so irreal vor. Ihre Erinnerungen glichen mehr einem Traum, an dem sie sich nach dem Erwach zu erinnern versuchte. Als hätte jemand anderes all die Taten begangen und sie hätte, durch seine Augen hindurch, das Geschehen verfolgt.
Sahinja vergrub ihr Gesicht in ihre Händen und Seufzte schwer auf.
„Trink erst einmal.“, sagte Eogil ruhig.
Sie hatte gar nicht mitbekommen, von woher Eogil den Wasserschlauch genommen hatte. Dennoch ergriff Sahinja ihn und trank einen kräftigen Schluck daraus. Es tat gut ihre ausgetrocknete Kehle endlich wieder mit Wasser zu benetzen.
„Wie lange habe ich geschlafen?“
„Nicht lange. Höchstens ein paar Stunden. Träger und ich haben solange auf dich aufgepasst.“
Und mit aufgepasst meinte Eogil, darauf geachtet, dass sie nicht in einen weiteren Tobsuchtsanfall verfiel und sie beide in ihren Blutrausch tötete. Zumindest waren dies ihren Gedanken zu entnehmen.
Sahinja nickte. Es kam ihr immer noch vor, als würde jemand anders ihren Körper befehligen und sie musste von außerhalb das Geschehen verfolgen.
„Träger?“, fragte Sahinja nach einer kurzen Zeit, in der sie versucht hatte sich zu sammeln.
„Ja, die Stille Bruderschaft nennt mich Träger, da ich eines der zehn Zeichen Sheyrs trage.“
Weitere Erinnerungen kamen Sahinja in den Sinn. In ihrer Kindheit war sie ebenfalls stets als Träger bezeichnet worden. Manchmal hatte sie sogar gedacht, es sei ihr wahrer Name. Dann schien Sahinja erstmals zu begreifen: Er trug also ebenfalls einen legendären Takran! Doch ihr war es egal. Nichts hatte mehr von Bedeutung.
„Träger besitzt den Takran der Schatten.“, sagte Eogil.
Er versuchte eine Reaktion aus Sahinjas Gesichtszügen zu entnehmen, doch ihr Ausdruck blieb unverändert. Lediglich Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit spiegelte sich darin. Daraufhin war es Eogils, dessen Gesichtszüge sich änderten und zwar in die von Besorgnis.
„Träger und ich haben uns über viele Dinge unterhalten.“, versuchte Eogil das Thema zu wechseln „Eben haben wir über eure Ausbildung gesprochen. Es müssen schlimme Zeiten gewesen sein.“
Sahinja nickte nur. Eogil hatte recht, es waren schlimme Zeiten gewesen, mit Sicherheit weitaus schlimmere als er sich ausmalte. Aber sie wollte nicht daran zurückdenken. Die Gedanken waren schmerzhaft und sie versuchte ihre Aufmerksamkeit so gut es ihr möglich war auf andere Dinge zu lenken.
„Nun denn, wenn es dein Begehr ist, so kann ich dich zur Halle der Tausend Worte führen.“, sprach Träger, mehr als nur förmlich.
Anscheinend hatten Eogil und der weiß gekleidete Fremde, in kürzester Zeit, gegen allen Erwartens, eine Art Freundschaft geschlossen. Das war typisch Eogil. Er hatte die Gabe sich immer und überall Freunde zu machen.
Worüber Träger und Eogil während ihrer geistigen Abwesenheit gesprochen hatten, konnte Sahinja nicht sagen, aber die Halle der Tausend Worte kannte sie. An diesem Ort war sie schon oft gewesen, dennoch blieb ihrem Geist verborgen, wie diese besagte Halle aussehen mag und was sich darin befinden soll. Sie hatte das Wissen darüber, aber es entzog sich ihr, wie sich ihr manchmal das passende Wort an der entsprechenden Stelle entzog.
„Willst du mitkommen oder lieber hierbleiben und die ausruhen?“, fragte Eogil.
Sahinja wusste es nicht recht. Es lastete immer noch eine schwere Müdigkeit auf ihren Schultern und alles in ihrem Körper schmerzte, aber sie wollte nicht mehr schlafen. Nicht hier. Ihre Angst war zwar wie weggeblasen und ebenso war es mit all ihren anderen Empfindungen, aber hier wollte sie nicht bleiben.
„Ich komme mit.“, sagte Sahinja, immer noch mit heiserer Stimme.
Träger führte den Weg und Eogil folgte ihm, dicht gefolgt von Sahinja.
Sobald sie das Zimmer verlassen hatten, lenkte Sahinja ihr Augenmerk an die Stelle über dem Türstock, auf der sich ein eingraviertes Symbol befand. Wie sie es gedacht hatte. Es war das Zeichen ihres Takrans. Das war also wirklich ihre Räumlichkeit von damals gewesen. Doch das schien für Sahinja alles keine Bedeutung mehr zu haben. Nichts hatte mehr von Bedeutung.
Als sie den Gang zur Halle der Tausend Worte voranschritten, war Sahinja anfangs von den vielen Leichen, welche am Boden lagen, verwirrt. Viele waren auf brutalste Weise mit einem Schwert niedergestreckt worden, andere waren nur noch vollkommen verkohlte Überreste. Der Geruch, von verbrannten Fleisch lag in der Luft und bereitete Sahinja Übelkeit.
Dann erinnerte sie sich daran, wie sie durch die Gänge gewütet hatte und versucht hatte, auch noch das letzten Mitglied der Stillen Bruderschaft niederzustrecken. Niemand hatte ihr entkommen können. Sie hatte die Zeit der anderen verlangsamt und ihre eigene beschleunigt. So hatte sie jeden erwischen können. Wie Schnecken hatten sie sich bewegt. Manchmal hatte sie sogar ihren Takran der Gedanken angewandt, um andere Menschen zu kontrollieren, die wiederum ihre Brüder niedergestreckt hatten. Mit dem Takran der Täuschung hatte sie jeden in die Irre geleitet und sie hatte die Realität so weit abgeändert, dass man meinen konnte, sie hätten sich gegenseitig umgebracht. Sie war von jedem Angriff unversehrt geblieben, da sie mit dem Takran der Zukunft jeden Zug ihrer Angreifer vorausgesehen hatte.
Als sie ihre Schritte voraussetzten bemerkte Sahinja die beiden Hälften, eines höhen Würdenträgers, am Boden liegen. Seine schwarze Robe war mit etlichen dunkelblauen Verzierungen bestückt, was ihn von seinen Mitgliedern hervorhob. Mittels eines Schwerthiebes war er sauber auf Bauchhöhe in zwei Teile gespalten worden. Ein grauenhaftes Bild, das sie nicht näher betrachten wollte. Sahinja erinnerte sich noch genau daran, wie sie angerannt war und dem Fliehenden mit dem scharf geschmiedeten Schwert Vorcars niedergestreckt hatte.
Sahinja betrachtete diese Situation aus großer Ferne und immer noch war sie von ihren eigenen Gefühlen abgeschnitten. Noch nie hatte sie Menschen auf der Flucht getötet. Ja sie tötete oft und grausam. Doch niemals hatte sie einen Wehrlosen niedergeschlachtet. Sie war eine ruchlose Mörderin, aber sie war eine ruchlose Mörderin mit zumindest ein bisschen Sinn für Anstand. In ihrer Vergangenheit hatte sie viele Menschen das Leben genommen, aber diese hatte sie stets zur Sorte böser Menschen eingeteilt. Und nie hatte sie diese auf der Flucht niedergestreckt. Andererseits hatte sie ihren Feinden nie die Chance einer Flucht gelassen. Außerdem war die Stille Bruderschaft böse und sie hatte vernichtet werden müssen.
Da fielen ihr schlagartig weitere Opfer ein, die durch ihre Hand getötet worden waren. Hierbei handelte es sich nicht um brutale Schläger, sondern um unschuldige Kinder. Unschuldige Kinder, deren einziger Fehler es gewesen war, von ihren Eltern geboren zu werden. In ihrem Wahn, die Stille Bruderschaft auszurotten, hatte ihre innere Bestie nicht einmal vor ihnen Halt gemacht. Was war bloß aus ihr geworden? Was war sie bloß für ein Mensch?
Und was dachte wohl Eogil von ihr? Als sie versuchte in seine Gedanken einzutauchen, hatte er schnell seinen Geist auf andere Dinge gelenkt, aber sie wusste ohnehin, dass er sie aufgrund dieser Taten verachtete. Es war seine übliche Art, den Nachsichtigen zu spielen, und da er den Kampf gegen Horior nur mit ihrer Hilfe schlagen konnte, verhielt er sich hier nicht anders. Sahinja fühlte sich in ihrem Gedanken bestätigt, als Eogil dem nichts entgegnete. Sie war eine Mörderin, die das Glück hatte gebraucht zu werden. Ansonsten hätte Eogil ihr schon längst angewidert den Rücken gekehrt. Doch es war Sahinja ohnehin egal. Alles war egal, nichts hatte mehr von Bedeutung.
Alle müssen sterben, das hatte Sahinja sich zum Ziel gemacht, als sie durch die prachtvollen Hallen gewütet hatte. Und dieses Ziel hatte Sahinja auch erreicht. Mittels ihres sechsten Sinns hatte sie das gesamte Höhlensystem überwachen können. Sie hatte penibel darauf geachtet, dass ihr niemand durch den Ausgang flüchten konnte. In einer solch weitreichenden Form hatte sie ihren sechsten Sinn noch nie einsetzen können. Anfangs hatten sie noch gegen sie gekämpft, aber schon bald hatten sie begriffen, dass sie ihr nichts entgegen setzen konnte und waren von ihr geflohen. Doch sie hatte alle erwischt. Auch der letzte Anhänger der Stillen Bruderschaft war von ihr getötet worden. Das war kein Kämpfen gewesen, das war ein Abschlachten. Alleine in der Ratshalle türmen sich stapelweise Leichen.
Sahinja fühlte keine Freude über ihre Morde. Sie fühlte auch keine Reue vor ihren Taten. Sie war gefühlstot, sie fühlte nichts. Diese Menschen hatten den Tod verdient und nichts anderes hatten sie bekommen. Und doch wusste sie es besser. Vom Grunde ihres Herzens wusste sie, dass es falsch war. Um sich von ihren eigenen Gedanken abzulenken stellte sie Träger eine Frage.
„Wie kommt es, dass dich der Tod deiner Freunde ebenfalls nicht rührt?“, ihre Stimme war noch immer krächzend.
Träger hielt einen kurzen Moment inne, dann sprach er:
„Wie ich Eogil schon erklärt habe: Ich bin ein Diener Sheyrs. Ich trage eines seiner zehn Zeichen. Meine Aufgabe ist es in diesem Räderwerk zu funktionieren. Gefühle sind mir fremd, da sie mich an meinen Entscheidungen hindern. Was die Funktion eines Freundes betrifft, muss ich gesehen, fällt es mir schwer diese zu verstehen. Ich bin ein Diener Sheyrs und habe meinen Pflichten nachzukommen und ebenso haben es meine Mitglieder getan. Ihr Tod geschah in der Ausübung ihrer Pflichten, genauso wie es von jeher vorher gedacht war. Aus vielen Schriften weiß ich, dass der Tod mit dem Gefühl der Trauer verbunden ist. Da ich jedoch der Gefühlswelt nicht zugänglich bin, ist mir auch die Trauer verschlossen.
Doch ein anderer Teil aus mir spricht anders: Ein unwürdiger Teil, der sich den weisen Lehren der Bruderschaft stets versucht hatte zu entziehen. Ich habe dich damals seit deiner Ankunft beobachtet. Du warst rebellisch und hast dich den Lehren der Bruderschaft verschlossen. Für dieses Auflehnung habe ich dir Bewunderung entgegen gebracht. Doch dann hast du einen Weg bestritten, der meinen Augen stets verborgen geblieben war. Du hast die Hallen Sheyrs verlassen. Auch wenn mir Emotionen unwürdig sind, so hatte ich doch seither stets das Gefühl des Neides in mir getragen. Ich bewunderte dich für dein unabhängiges Wesen und beneidete dich für deine Freiheit.
Doch dies war ein unwürdiger Teil. Meine Augen waren getrübt und meine Aufgabe ist es zu funktionieren. So habe ich es seit jeher getan und so werde ich es auch fortan tun.“
Sahinja wusste nicht, was sie von dieser beschränkten Sichtweise Trägers halten sollte. Aber vorerst war sie froh, dass er keine Rachegefühle hatte und sich nicht an ihr rächen wollte.
Sahinja stieg über eine weitere Leiche, die quer über dem Gang ausgestreckt lag. Die edlen Wände waren mit Blut bespritzt, aber das konnte dem schieren Prunk keinen Abrang leisten. Sogar das Blut schien in dem hellen Schein der göttlichen Takrane schön und unheimlich zugleich. Wieder kam Sahinja der Gedanke, dass solche Prachtbauten ein Mensch niemals aus dem Stein hätte hauen können. So etwas war wahrlich das Werk eines Gottes.
Obwohl Sahinja wusste, dass sie die Halle der Tausend Worte schon fast erreicht hatten, lag ihr noch eine weitere Frage auf der Zunge.
„Wie konntet ihr mich aufhalten?“
Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen, aber irgendein kleinerer Teil in ihr hatte die Frage doch gestellt. Sie wusste noch genau wie sie gegen Eogil und Träger gekämpft hatte, aber nicht mehr was dabei vorgefallen war.
Diesmal antwortete ihr Eogil:
„Kannst du dich noch daran erinnern, als der Seher mir gesagt hatte, dass ich dich, wenn es so weit gekommen ist, nicht aufhalten dürfe?“
„Ja.“
„Als du in der Ratshalle diesen schmerzverzerrten Schrei losgelassen hast, wusste ich einfach, dass er genau diesen Moment damit gemeint hatte. Als er mir das sagte, hatte er mir einen versteckten Hinweis mitgegeben. Er hatte gesagt, dass ich dich unter keinen Umständen aufhalten dürfe.“, Eogil machte einen vielsagenden Gesichtsausdruck „Ich nicht! Was bedeuten musste, dass es jemand anderes konnte.“, Eogil Blick richtete sich auf Träger.
Sie hatten mittlerweile die Halle der Tausend Wörter erreicht, aber sie warteten darauf, dass Eogil seine Geschichte zu Ende brachte.
„Während du angefangen hast, um dich zu wüten und sich die gesamte Stille Bruderschaft auf dich gestürzt hat, habe ich dem Kampfgetümmel zu entgehen versucht und nach dem legendären Takran Ausschau gehalten.“, und damit meinte er seinen sechsten Sinn. „Es war schwer bis zu ihm durchzudringen. Sie hatten ihn an den hintersten Ort des Höhlensystems gebracht und ihn dort weggesperrt. Anschließend hatten sie mir den Weg versperrt und ich musste mich mühselig zu Träger durchkämpfen. Natürlich hat keiner auf meine Worte gehört und alle haben sich gleichzeitig auf mich geworfen.“
„Als Eogil in meine Räumlichkeiten vorgedrungen war“, setzte Träger die Geschichte fort „habe ich ihn gefangen genommen. Aber ich habe seinen Worten Gehör geschenkt.“
Und von nun an übernahm wieder Eogil die Geschichte.
„Sein Takran ist weitaus mächtiger als ich gedacht habe. Alle unsere anderen legendären Takrane sind nicht wirklich Kampf-Takrane. Sie helfen und unterstützen uns, aber sie sind keine Takrane, die sich für den Kampf eignen. Um genau zu sein, ist nicht einmal Trägers Takran ein Angriffs-Takran. Der legendäre Takran der Schatten ist ein Schutz-Takran. Aber dennoch kann dieser mehr Schaden anrichten, als alle elementaren Takrane zusammen.“
Irgendwie konnte Sahinja das nicht glauben. Sie hatte mit ihrem Feuer-Takran noch vor kurzem hunderten Menschen das Leben genommen und das mit einer solch zerstörerischen Kraft, der nichts gleich kommen konnte. Und dieser legendäre Takran der Schatten soll mächtiger sein als alle elementaren Takrane zusammen? Nicht vergleichbar mit den anderen legendären Takranen und dennoch nur ein Schutz-Takran?
Eogil nickte. Er las anscheinend noch immer ihre Gedanken.
„Wenn Horior wirklich den anderen Takran trägt und es ein reiner Angriffs-Takran ist, dann hätten wir niemals eine Chance gegen ihn gehabt.“
Irgendwie wollte Sahinja das nicht glauben. Sie besaß solch mächtige Takrane und diese sollen nichts im Vergleich zu der zerstörerischen Kraft des Takrans der Schatten sein? Lobte Eogil da nicht den Tag vor dem Abend? Eine solche Dreistigkeit war für ihn unüblich. Ihn konnte man eher zu den bescheidenen Personen zählen. Dieses Verhalten sah ihm gar nicht ähnlich, es sei denn, er war vollkommen davon überzeugt die Wahrheit zu sprechen.
„Träger und ich sind zu dir zurückgeeilt“, nahm Eogil den Faden wieder auf. „Du hattest deine Takrane dermaßen unter Kontrolle, wie ich es noch nie erlebt habe. Ich hätte nie gedacht, dass sie zu solch mächtigen Dingen fähig sein können. In der Zeit die ich brauchte um bis zu Träger vorzudringen und ihn zu befreien, ihn von meinem Plan zu überzeugen und mit ihm wieder zu dir zurück zu laufen, hast du mittels des Zeit-Takrans bereits alle getötet und warst gerade auf dem Weg, auch noch den letzten beiden Menschen, die sich in diesen Hallen befanden, ein Ende zu bereiten.“
So war es also dazu gekommen, dass sie gegen Eogil und Träger angetreten war. Zu diesem Zeitpunkt musste sie so unzurechnungsfähig wie ein Alchemist gewesen sein.
„Es war schwer an dich heranzukommen. Du kanntest unsere Züge stets voraus und hast dich bewegt als seist du der Wind.“, sagte nun wieder Träger „Aber du hast noch immer den Kampfstiel der Stillen Bruderschaft angewandt und diesen beherrsche ich meisterhaft. Eogil hat mich mit seinen Fähigkeiten unterstützt und geschützt und ich habe versucht dich mit meinen Schatten zu fesseln. Nach vielen Versuchen ist es uns schlussendlich gelungen.“
Also hatte sie schon wieder einen Kampf gegen Eogil verloren und nur durch ihn war sie ein weiteres Mal am Leben geblieben. Jetzt war sie ihm bereits ein viertes Mal ihr Leben schuldig.
Eogil nickte ihr lächelnd zu.
Dieser Gedankenleser. Aber irgendwie konnte sich Sahinja immer noch nicht darüber ärgern. Alle Gefühle waren von ihr gefallen, nichts konnte sie mehr berühren. Aber Eogil und Träger waren zu zweit gewesen, dieser Kampf war nicht fair. Andererseits führte auch sie keine fairen Kämpfe.
„Willkommen in der Halle der Tausend Worte.“, unterbrach Träger ihre Gedanken.
Sie standen nun schon eine geraume Zeit in dieser riesigen Halle, aber bislang waren sie in ihr Gespräch vertieft gewesen und hatten diesem monströsen Raum keinerlei Beachtung geschenkt.
Schlagartig erinnerte sich Sahinja an die enormen Ausmaße der Halle und kam sich dazu im Vergleich wie eine Ameise vor. Der Name ,Halle der Tausend Worte‘ war weit untertrieben, an den Wänden standen Millionen von Wörter.
Auch hier lagen Tote am Boden, welche von Sahinjas zerstörerischen Gewalt zeugten. Der Raum selbst, war wie auch alle anderen Räumlichkeiten des Berges, von Sheyr erschaffen worden. Doch im Verglich zu den anderen war dieser rund. Die Wände waren kreisförmig angeordnet, welche sich, an der höchsten Stelle zu einer Kuppel zusammenschlossen.
An dieser Stelle befand sich ein unwahrscheinlich hell scheinender Takran, der wie die Takrane in den Gängen und Räumen ebenfalls in güldenem Schein leuchtete. Mit dem einen Unterschied, dass dieser weitaus größere Takran, noch intensiveres und noch stärkeres Licht spendete. Ein weiterer göttlicher Takran. Die Wände des Raumes, welche alle mit Wörter gefüllt waren, reflektierten den güldenen Schein und tauchten die Umrisse der eingravierten Wörter in ein farbenfrohes, abstruses Leuchten. Sie berichteten über die verschiedenen Geschichten des Lebens Sheyrs als Mensch, sowie als Gottheit. Ebenfalls berichteten die Wände davon, wie er die Stille Bruderschaft gegründet hatte und vieles mehr. Sahinja kannte all die Geschichten. Sie kannte diese sogar alle auswendig. Doch sie wusste nicht mehr wie sie begonnen hatten und somit konnte sie sich auch nicht mehr an ihr Ende erinnern.
„Hier werdet ihr all eure Antworten finden.“, sagte Träger, ganz in der rationalen Form eines Würdenträgers.
Eogil schien an der schieren Menge an Informationen zu verzweifeln. Es würde Zyklen, wenn nicht sogar Umläufe dauern, bis er jedes einzelne Wort davon gelesen hätte. Zudem konnte er nicht so hoch sehen, um den Beginn der Geschichten erblicken zu können.
„Ich kann dir auch eine Zusammenfassung über das Leben und Wirken Sheyrs und der Stillen Bruderschaft geben, wenn dir dies eher beliebt.“, sagte Träger an Eogil gewandt.
„Bitte.“, sagte Eogil schwer lächelnd.
„Wo werde ich wohl am besten mit meinen Erzählungen beginnen. Das Leben und Wirken Sheyrs in seinen menschlichen Lebzeiten wird für euch nicht sonderlich von Interesse sein. Ich fasse mich daher in dieser Geschichte so kurz wie möglich.“, Träger ging zu einer bestimmten Höhlenwand und richtete seine Hand dieser entgegen „Was wir heute ,Die Zehn Zeichen Sheyrs‘, oder wie du Eogil sagtest, die legendären Takrane, nennen, wurde zu dieser Zeit die Symbole der Götter genannt. Jeder, der ein solches Zeichen trug, war dazu auserkoren über eines der zehn Reiche zu herrschen. Wie man mir sagte, handle es sich heute nur noch um drei. Isbir, Venundur und Edoran, wie man sagt.“, Träger blickte abwechselnd zu Eogil und Sahinja, die ihm zustimmend zunickten „Sheyr war einer der zehn Herrscher gewesen. Damals war noch jedermann bekannt, dass sobald jemand alle zehn Zeichen vereint auf seinem Körper tragen würde, ihn das zu einem Gott macht.“
Sahinja und Eogil horchten auf. Das würde also passieren, wenn Horior alle zehn legendären Takrane zusammen hatte. Er würde nicht nur allmächtig sein, er wäre sogar ein Gott. Obwohl Sahinja nicht genau den Unterschied zwischen diesen beiden Formen kannte. Vielleicht handelte es sich hierbei auch um das selbe, nur das andere Wörter dafür benutzt wurden.
„Zu Sheyrs menschlichen Tagen herrschte eine Zeit des Schreckens, auf die ich jedoch nicht näher eingehen werde. Obwohl es damals verboten war, alle zehn Zeichen zu vereinen, hatten sich die zehn Herrscher darauf geeinigt, einem einzelnen von ihnen zu gestatten, alle zehn zu tragen. Die Wahl war auf Sheyr gefallen, da dieser von allen anderen als der Älteste und Weiseste angesehen wurde.“
Träger trat ein paar Schritte weiter zur nächsten Wand.
„Hätte ich der Bruderschaft das Leben und Wirken Sheyrs in seinen menschlichen Lebzeiten, auf diese Weise erklärt, dann...“
Träger sprach nicht weiter, stattdessen schüttelte er den Kopf. Eogil entnahm aus Trägers Gedanken die dafür vorgesehene Strafe und schreckte instinktiv zurück. Sahinja kannte die Strafe ebenfalls und versuchte erst gar nicht daran zu denken.
„Die Gottwerdung Sheyrs ist schnell erklärt, auch wenn sie mit noch so vielen Zeichen und Ausschmückungen geschildert wird. Sheyr strahlte im gleißendem Lichte und alle Mächte flossen ihn sein Wesen. Es gibt vierundsechzig Stadien der Gottwerdung, welche an den Wänden in allen Einzelheiten ausgeführt werden. Es dauert nahezu zwei Wochen um den Prozess der Gottwerdung fertig gelesen zu haben, aber im vierundsechzigstem Stadium wird bekannt gegeben, dass alle Prozesse lediglich wenige Sekunden dauern.“
Um es kurz zu fassen, übersetzte Sahinja in ihrem Geiste: Sheyr schwebte in den Himmel hinauf und da flossen dann alle Energien des Universums in ihn ein.
„Hier wird das Leben und Wirken Sheyrs in seinen göttlichen Lebzeiten beschrieben.“, sagte Träger unterdessen, zeigte auf eine weitere beschriebene Wand und ging zielstrebig darauf zu. „Der größte Teil beschäftigt sich damit, wie Sheyr dem Schrecken der Lande ein Ende bereitete und den Menschen wieder Frieden und Einheit brachte. Sheyr herrschte weiterhin hunderte von Jahren als gnädiger Gott über den Menschen und es wird geschildert, dass es für diese das Paradies auf Erden gewesen war. Sheyr hatte ein langes und erfülltes Leben gehabt, doch er war müde geworden und er wollte seinem Dasein die ewige Ruhe gewähren.
Doch zuvor hatte Sheyr in die Zukunft geblickt, um herauszufinden, was mit der Welt geschehen werde, wenn er nicht mehr sei. Dabei hatte er schreckliches in Erfahrung gebracht. Obwohl er diese Macht nutze um Gutes zu wirken, würden andere, welche nach ihm diese Macht erhielten, sie zu dunklen Zwecken missbrauchen. Auch wenn bei diesen edlen Menschen anfangs ihre gute Seite überwog, mit der Zeit ließen sie sich zu bösen Taten hinreißen und brachten den Mensch Unheil. Eine solch geballte Macht, wie er sie trug, konnte man keinem zweiten überlassen. Sheyr liebte die Menschen und er konnte dies nicht geschehen lassen. Auch wollte er in Frieden diese Welt verlassen und so hatte er in seiner Weisheit die Stille Bruderschaft ins Leben gerufen.“
Sahinja wurde schlecht bei diesen Worten und auch Eogil verzog seine Mine. Wie hätte jemand, der so viel Gutes vollbracht haben soll, so etwas Grausames wie die Stille Bruderschaft ins Leben rufen können? Träger ging quer durch die riesige Halle und sowohl Eogil als auch Sahinja folgten ihm. Dabei mussten sie sich durch ein paar Leichen hindurch manövrieren.
Auf der anderen Seite angekommen, setzte Träger seine Zusammenfassung fort.
„Die Stille Bruderschaft bestand ursprünglich aus den getreuesten Diener Sheyrs. Menschen, die würdig gewesen waren, als seine Diener bezeichnet zu werden. Er hatte diese Hallen hier“, Träger machte eine allumfassende Geste mit seinen beiden Armen, die nicht nur diesen einen Raum miteinschloss, sondern auch den gesamten Berg mit all seinen Tunneln und Räumlichkeiten „an nur einem einzelnen Tag erbaut und sie sind heute, nach hunderten von Jahren immer noch so gut erhalten wie am Tage, seiner Erschaffung. Nicht ein einzelner Riss befindet sich in den Wänden, nicht eine einziges Bild hatte im Laufe der Zeit an Schönheit verloren. Noch immer spendet der Schein seiner Göttlichkeit uns Licht. Diese Hallen hatte er für die Ewigkeit erbaut.
Sheyr hatte angeordnet, alle zehn Menschen welche das Symbol der Götter trugen, in diesen Hallen zu versammeln. Er hatte die Mitgliedern der Stillen Bruderschaft angewiesen, sie die Geschichten der Symbole zu lehren und sie mit Disziplin und Weisheit großzuziehen. Dies war fortan die Aufgabe der Stillen Bruderschaft. Die Stille Bruderschaft diente dazu, um die Menschheit vor dem Schrecken eines Dunklen Gottes zu bewahren.“
Träger ging wieder ein paar Schritte weiter und Eogil und Sahinja folgten ihm.
„Sheyr hatte in die Zukunft gesehen, so weit, wie es niemand anderer hätte tun können. Auf diesen zehn Wänden befinden sich hunderte Jahre seiner Vorhersehung. Er hatte vorausgesehen, wer die göttlichen Symbole tragen wird und wo sich diejenigen zum Zeitpunkt ihrer Geburt aufhalten werden. An Sheyrs Angaben, gab es nie einen Zweifel, stets hatte er Recht behalten. Noch hunderte Jahre in seinen Tod hinein.“
Träger kniete sich in seiner weißen Robe nieder und zeigte auf die letzten Worte, welche sich auf dieser Wand befanden.
„Hier endet seine letzte Vorhersehung. Seine letzte Aufzeichnung bezog sich auf ein Neugeborenes, welches vor zweihundert Jahren geboren worden war. Seit diesem Tage, war die Stille Bruderschaft von der Führung Sheyrs verlassen. Sie mussten neue Wege finden, um die Menschheit vor einem Dunkeln Gott zu bewahren. Die Brüder und Schwester verließen den Schutz ihrer Mauern und suchten nach den zehn Zeichen Sheyrs, aber sie wurden nur in den seltensten Fällen fündig. Zudem war in jüngster Zeit, außerhalb der Mauern, ein Krieg ausgebrochen, der vielen Mitgliedern das Leben kostete. Die Suche nach den Zeichen erwies sich als erhebliches Risiko und als eine enorme Schwierigkeit. Die Anzahl der Mitglieder verminderte sich und die Möglichkeit eines der Zeichen zu finden waren nahezu verschwindend gering.
Doch einige hatten sie doch gefunden. Ich hatte das Glück noch als Neugeborenes entdeckt zu werden. Mich konnte man noch formen. Du Sahinja wurdest in einem höheren Alter ausfindig gemacht, du warst bereits geformt und die Stille Bruderschaft war falsch in der Annahme, dies nicht berücksichtigen zu müssen.“, Träger erhob sich wieder „Die Stille Bruderschaft hatte Angst vor einem Dunklen Gott und so hatten sie sich entschlossen die Auserwählten neben der Lehre von Weisheit und Disziplin auch noch in Kampfgeschick zu unterrichten. Von diesem Zeitpunkt an, wurden nicht nur die grundlegende Weisheit gelehrt, sondern ganze Bücher und die Geschichte der Bruderschaft selbst musste auswendig gelernt werden.
Viele Mitglieder sind betrübt von der Abwesenheit Sheyrs und seiner Weisungen. Sie haben Angst, sie könnten ihm missfallen. Da ihre Suche von keinerlei Erfolg gekrönt war, wollten sie die wenigen, welche sie gefunden hatten, das Wissen lehren, das sie den anderen nicht beibringen konnten. So gehörte ich und auch du Sahinja, zu denjenigen, welche die gesamte Halle der Tausend Wörter auswendig lernen mussten.“

Später, nachdem ihnen Träger, noch weitere Geschichten über den Verlauf der Stillen Bruderschaft erzählt hatte, waren sie in den Speisesaal gegangen und Träger hatte etwas getan, was er zuvor noch nie in seinem Leben getan hatte: Er hatte das Essen geholt. Als einer der vielen Tische des großen Speisesaals für sie gedeckt war, begannen sie zu speisen. Sahinja und Träger schenkten den Leichen um ihnen nicht die geringste Bedeutung, doch in Eogil war das Unbehagen groß. Die Stille Bruderschaft hatte Sahinja gelehrt sich ihrer Gefühlen zu verschließen. Es war erstaunlich wie viele ihrer Lehren sich noch in ihr befanden.
„Was wirst du nun tun?“, fragte Eogil Träger und schälte dabei ein Ei.
Träger verbrachte einen Moment in Stille, dann sprach er:
„Du willst, dass ich euch begleite und euch helfe den zukünftigen Dunklen Gott aufzuhalten.“
Eogil lächelte verlegen.
„Doch dies liegt nicht in meinem Aufgabenbereich. Es ist mir untersagt, diese Hallen zu verlassen. Die Lehren Sheyrs sind eindeutig und unmissverständlich. Es ist mir nicht gestattet mich einzumischen, doch sollte jemand mit Gewalt versuchen mir mein Zeichen zu entreißen, so werde ich ihn mit dem Tod bestrafen, oder selbst bei dem Versuche das Leben verlieren.“
„Aber interessiert es dich nicht die äußere Welt zu erkunden? Du hattest gesagt, du beneidest Sahinja um ihre Freiheit.“, versuchte es Eogil.
„Ja, das habe ich. Doch waren dies die Gedanken meiner eigenen schandhaften Persönlichkeit. Der faule Teil meines Herzen, den ich zu beherrschen versuchen muss. Die Hallen Sheyrs sind meine Fesseln und mein Heim. Hier ist der mir angestammte Platz. Nicht die Welt des Luges und des Truges.“
Doch Eogil und Sahinja wussten, was sich hinter seinen wohl abgeschätzten Worten verbarg. Seine Gedanken sprach das aus, wozu er nicht imstande war, es zu beschreiben. Er hatte furchtbare Angst vor dem Unbekannten. Für ihn war außerhalb des Berges eine vollkommen andere Welt. Hier hatten sie ihm die Gesetze und Regeln gelehrt, die er brauchte, um bei ihnen zu überleben. Doch diese Gesetzen hatten außerhalb keinen Bestand mehr. In der äußeren Welt galten Regeln von denen er noch nie etwas gehört hatte. Er war ein rationales Wesen, das in einer emotionalen Welt keinen Platz finden würde. Eine funktionierende Bindung zu einem anderen Menschen hätte er nie aufbauen können. Noch nie hatte er etwas von dem Begriff ,Geld‘ gehört und er konnte sich nicht im Traum ausmahlen, wofür man dieses gebrauchte. Hier war er ein König unter seinesgleichen, außerhalb des Berges wäre er ein trostloser Thor. Er wäre arm wie ein Bettler und man würde ihm die Verständnislosigkeit entgegenbringen, die man für gewöhnlich nur Alchemisten entgegenbrachte.
Ohne weiter darauf einzugehen, sah auch Eogil ein, dass er ihn, mit noch so vielen Worten, nicht umstimmen konnte.
„Ich habe nachgedacht.“, sagte Eogil nach einer kurzen Pause zu Sahinja. „Wenn Träger den Takran der Schatten trägt, dann muss es nach meiner Theorie auch dafür ein Gegenstück geben. Wenn ich Recht habe, dann müsste dieses Gegenstück der Takran des Lichts sein.“, Eogil legte eine theatralische Pause ein „Ich habe von einer jungen Gruppe gehört, die sich selbst als Lichtkrieger bezeichnen. Es ist eine Gruppe im westlichen Teil des Königreiches Isbir. Nach den Kriegen gegen die Alchemisten hatten sie eine Festung erbaut und schützen seither alle, die um Schutz ansuchen. Es sind gute Menschen. Als ich damals mit Pontion den Krieg gegen Horior geführt hatte, hatten wir einen Boten zu ihnen gesandt, ob sie uns im Kampf gegen ihm nicht helfen wollen“, Eogil legte wieder eine Pause ein „aber sie entzogen sich unserer Bitte. Sie würden lediglich Menschen schützen, sie jedoch nicht angreifen. So sehr mich diese Ablehnung auch enttäuschte, freute ich mich doch zu wissen, dass es noch solch edelmütige Menschen gab, die ihren Idealen treu bleiben. Menschen, die anderen halfen, anstelle dass sie ihnen die Köpfe einschlugen. Was wohl aus ihnen geworden ist? Wenn es sich hierbei wirklich um den Takran des Lichts handelt und Horior diesen besitzt, befürchte ich das Schlimmste.“
Wieder herrschte Schweigen und Sahinja ergriff einen weiteren Apfel.
„Ich habe auch nachgedacht“, fing Träger an „über deine Worte die du über Horior und seine Ziele gesagt hast.“
Das musste zu einem Zeitpunkt passiert sein, zu dem Sahinja noch ihren Tobsuchtsanfall ausgeschlafen hatte.
Eogil nickte ihm aufmerksam zu, damit er weitersprach.
„Wenn deine Worte wirklich die Wahrheit sprechen, und ich glaube ihnen, dann ist auch der Zeitpunkt für mich gekommen zu handeln. Die Lehren Sheyrs sind eindeutig und unmissverständlich. Um Frieden zu schaffen, ist es an mir, mein Zeichen weiterzugeben. In dir Eogil glaube ich einen würdigen Träger gefunden zu haben und ich werde dir mein Zeichen Sheyrs anvertrauen.
Auch in dir, Sahinja, sehe ich eine würdige Trägerin meines Zeichens.“
Sahinja horchte überrascht auf. Meinte er das ernst? Sie hatte noch vor kurzem die gesamte Bruderschaft ausgerottet. Um ihnen lagen etliche Leichen verstreut, die von ihrem schrecklichen Wesen zeugten. Das konnte Träger unmöglich schon vergessen haben.
„Du bist deine eigene Herrin. Du bist die Meisterin deines eigenen Lebens. Du handelst nicht nach den Weisungen anderer, sondern bist dein eigene Weisung. Dafür habe ich dich schon damals bewundert gehabt. Du entscheidest was richtig oder falsch ist.
Die Stille Bruderschaft hatte sich unter der Abwesenheit von Sheyrs Führung verändert. Meine Brüder glaubten zum Besseren, doch ich teilte diesen Glauben nicht. Wo einst Worte der Weisheit gelehrt worden waren, wird nun blindes Wissen mit der Peitsche vermittelt. Dies konnte unmöglich im Sinne Sheyrs gewesen sein. Und dann kamst du, Sahinja, und hast seinen Willen vollstreckt. Du bist die rechte Hand des Gottes Sheyr und wirst auch weiterhin nach seinen Wünschen handeln. So sollst auch du mein Zeichen tragen.“
Sahinja konnte seinen Worten kaum Glauben schenken. Sie betrachtete sich immer noch von außerhalb ihres Körpers. Und am liebsten hätte sie Träger widersprochen. Ihm gesagt, dass er sich irrte. Das konnte unmöglich eine Rechtfertigung für all ihre Morde sein. Dies wollte Sahinja nicht als Rechtfertigung haben. Sie war die Mörderin unschuldiger Kinder! Aber sie tat nichts dergleichen, ihm zu widersprechen. Eine innere Kraft hielt ihre Lippen verschlossen. Dieser dunkle Teil in ihr wollten den Takran und sie wollte ihn auch.
Trägers Weltansicht war durch die Lehren der Stillen Bruderschaft getrübt. Seine beschränkte Sichtweise konnte kein normaler Mensch vertreten. Selbst Eogil legte zweifelnd seine Stirn in Falten. Doch Sahinja ließ ihn in dieser falschen Weltanschauung. Es würde viele Dinge einfacher machen. Für sie und für ihn.
Nachdem eine weitere Zeit des Schweigens verstrichen war, ergriff Eogil abermals das Wort.
„Du weißt, dass Horior zu dir kommen wird, um sich auch dein Zeichen zu nehmen.“
Träges Mienenspiel blieb unverändert.
„Ja, dessen bin ich mir bewusst und ich werde mich ihm erhobenen Hauptes stellen. Sheyr höchst selbst wird mich leiten. Er wird mein Zeichen nicht bekommen, selbst wenn ich im Kampf unterliegen sollte, ich werde ihm mein Zeichen nicht überlassen. Ich weiß ganz genau was ich zu tun habe, die Schriften sind eindeutig und unmissverständlich. Dies ist der Zeitpunkt, auf den mich die Stille Bruderschaft vorbereitet hat. Es ist meine Pflicht und meine Aufgabe. Ich bin nur ein ein einzelnes Rad in diesem riesigem Räderwerk und ich habe zu funktionieren.“
Sahinja wusste nicht was sie auf seine Worte hin antworten sollte. Auch Eogil schien gegen diese Engstirnigkeit keinen seiner rhetorischen Trümpfe ausspielen zu können. Es war Trägers beschränkte Sichtweise, die aus ihm sprach. Seiner Meinung schlug er den richtigen Weg ein, doch diesen konnte weder Eogil noch Sahinja gutheißen.
Sollte ihn Horior wirklich aufsuchen, und das wird er auch, so schätzte Sahinja Trägers Chancen nur gering ein. Träger war in der Kampfkunst der Stillen Bruderschaft ausgebildet worden. Es war die selbe über die Sahinja verfügte und mit der sie schon vielen Menschen das Leben genommen hatte. Träger hingegen war in dieser Fähigkeit sogar um weiten besser, da ihre Zeit bei der Stillen Bruderschaft lediglich eine Dekade maß. Er hingegen war Zeit seines Lebens darin ausgebildet worden und konnte sich als Meister dieser Kunst bezeichnen. Zudem würde der Kampf in seinen eigenen Hallen stattfinden und Horior durfte ihn nicht das Leben nehmen.
Doch gegen Horior konnte er nahezu keine Cache haben. Auch er war in Kampfkunst ausgebildet. Er konnte sich als Bester seines Faches rühmen. Nicht umsonst war er Kriegsmeister Venundurs gewesen. Zudem hatte er manche Schlachten im Kampf gegen die Alchemisten selbst ausgetragen und hatte sich die eine oder andere List aneignen können. Zudem besaß Horior sechs von zehn legendären Takranen, darunter einen Takran, der ihn unverwundbar machte und einen reinen Angriffs-Takran. Träger würde unterliegen, aber er würde nicht sterben. Vermutlich würde er gefangen genommen werden, damit er Horior keine weiteren Problem bereiten konnte. Stellt sich nur die Frage, welche Mittel Horior einsetzen würde, um an seinen Takran zu kommen und wie sehr sich Träger dagegen aufbegehren konnte.
„Sollen wir dir unsere Takrane geben?“, fragte Eogil vorsichtig.
Sahinja seufzte. Irgendetwas in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken, dennoch wandte sei kein Wort ein. Sie wusste, dass Eogils Idee vorausschauend und berechtigt war. Damit würden sich Trägers Chancen zumindest ein bisschen steigern.
„Die Schriften sind eindeutig und unmissverständlich.“, sagte Träger abermals „Auch wenn ich euch mein Zeichen gebe, so ist es mir untersagt, die euren zu nehmen. Ich werde im Nachteil sein, aber dies ist der Weg den ich zu bestreiten habe, wenn ich Sheyr gefallen will. Er wird meine Hände führen.“
Es waren die engstirnigen Lehren der Stillen Bruderschaft, die aus ihm sprach. Sheyr existierte schon ein knappes Jahrtausend nicht mehr und dennoch glaubten einige Mitglieder, er würde sie immer noch leiten. Welch törichte Gedanken! Damit würde sich Träger sein eigenes Grab schaufeln.
Es würde Jahre dauern Träger vom Gegenteil zu überzeugen. Doch jetzt mussten sich Eogil und Sahinja erst einmal um sich selbst kümmern und alles für den bevorstehen Kampf gegen Horior vorbereiten. Sobald sie Horior besiegt hatten, würden sie sich um weiteres kümmern. Dann wurde Sahinja plötzlich klar, dass wenn sie wirklich gewinnen sollten, nur einer von ihnen lebend zurückkehren würde. Und das war sie! Anders konnte es nicht sein!Eogil war derjenige der starb.

Nach einem weiteren kurzen Gespräch, in dem Eogil Träger abermals davon zu überzeugen versuchte, doch einen Versuch zu wagen, die äußere Welt zu erkunden, machten sie sich auf dem Weg zu dem steinernen Eingang.
„Dann ist es also so weit gekommen, dass ich mein Zeichen weitergebe.“, sagte Träger zu Eogil und Sahinja.
Eogil lächelte ihm aufmunternd zu und richtete seine linke Hand ihm entgegen. Träger legte die seine darauf und anstelle des Erd-Takrans war nun das blau scheinende Symbol, des legendären Takrans der Schatten zu sehen. Eogil machte einen Ruck nach hinten, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Komisches Verhalten, aber Sahinja war es egal. Nichts hatte mehr von Bedeutung, alles war Gleichgültig. Träger lies sich von Eogils Verhalten nichts anmerken. Was für ein armer Tropf, er handelte, wie es ihm die Stille Bruderschaft gelehrt hatte.
Dann reichte auch Sahinja ihm ihre linke Hand. Auf dieser Hand befand sich ihr Puls-Takran. Den Feuer-Takran wollte sie aus irgendeinem Grund nicht aufgeben. Als Träger seine Hand auf die ihre legte und den Takran der Schatten darauf hinterließ, spürte Sahinja diese ungeheure Macht, welche von Trägers Takran ausging und sie war sofort von dieser Macht besessen.
Ihre Lethargie fiel schlagartig von ihr. Nun beobachtete sie ihren Körper nicht mehr von außen. Jetzt war sich Sahinja wieder ihres Handelns vollkommen bewusst. Der Drang nach den letzten drei Takranen zu suchen war in ihr zurückgekehrt und er war stärker denn je. Sie musste alles daran setzen, auch die anderen Takrane in ihre Finger zu bekommen. Welchen Preis sie dafür auch geben musste, sie würde es tun. Sahinja spürte erneut den Machthunger in ihr aufkeimen. Der Zorn war wieder da und ebenso ihr skrupelloses Wesen. Von ihrer linken Hand ließ sie eine kleine Schattenwolke aufsteigen, die sie schützend umhüllte und sie leicht in der Dunkelheit verbarg.
Sie war wieder da und mit dieser Erkenntnis kam auch der Hass. Doch diesmal nicht auf sich selbst und die gesamte Welt, sondern auf einen ganz bestimmte Person. Der Seher hatte all dies seit ihrer Kindheit geplant. All das hatte er eingefädelt. Er hatte sie um ihre Kindheit betrogen und er trug schuld daran, dass ihre Eltern getötet worden waren. Seinetwegen war sie von der Stillen Bruderschaft gefangen genommen. Nur er trägt die Schuld daran, dass sie so ein verbittertes und gewalttätiges Leben führte. Und dafür würde sie ihn bluten lassen.
Für Eogil, dem das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand, hatte sie keinen Blick. Ihre Wut umfasste all ihre Gedanken. Der große Seher musste sterben!

Kapitel 15 - Wieder einmal reisen



Der Takran der Schatten - das war ein Takran, der ihren Ansprüche gerecht wurde. Es war zwar nicht ihr eigener, aber dieser Takran verlieh ihr all die Fähigkeiten, die sie schon immer hatte haben wollen. Dieser absoluten Macht kam nichts gleich und dabei handelte es sich gerade mal um einen Schutz-Takran. Dass der Takran des Lichts, der wahre Angriffs-Takran sein soll und somit noch weit zerstörerischer war, konnte sie gar nicht glauben. Dennoch freute sie sich schon darauf sich zu irren und einen noch mächtigeren Takran zu erhalten. Eogil hatte nicht gelogen als er sagte, der Takran der Schatten sei stärker als alle elementaren zusammen. Und der Takran des Lichts soll wiederum stärker sein, als der der Schatten?
Was einen legendären Takran auf der Hand von einem normalen unterschied, war, dass man auch ihn mittels Gedankenkraft steuern konnte. Mit diesem Takran konnte man sowohl erschaffen als auch verändern. Es war, als würde sie diesen Takran sowohl auf der Hand, als auch auf der Stirn tragen. Sie konnte nicht nur eine Woge aus Schatten erschaffen und hoffen, dass diese ihr Ziel traf, sondern diese auch kontrollieren und den Verlauf ihren Wünschen anpassen.
Seit dem Tag, an dem sie Träger und die Hallen Sheyrs verlassen hatten, übte Sahinja eifrig den Umgang mit den Schatten. Dabei hatte sie schon große Fortschritte gemacht. Erst vor kurzem hatte sie eine Welle aus Schatten erschaffen und deren Fluss auf einen Felsbrocken gerichtet. Mithilfe ihrer Gedanken hatte sie diesen umschlossen, ihn angehoben und ihn wie ein Spielzeug durch die Luft gewirbelt. Selbst mit einem Stärke-Takran hätte sie Schwierigkeiten gehabt diesen Felsen anzuheben. Um das vollbringen zu können, was sie mit den Schatten tun konnte, hätte sie ansonsten massenweise andere Takrane benötigt. Und je mehr sie diesen Takran beherrschte, umso stärker, genauer und effizienter konnte sie ihn einsetzen. Menschen zu packen und ihnen sämtliche Knocken im Leibe brechen war mit der Kombination aus legendären Takranen und den daraus resultierenden Mächten nur noch eine Kleinigkeit. Sobald ihr irgendein Abschaum entgegenkäme, würde sie an ihm ihre Macht im Umgang mit den Schatten ausüben. Nur schade, dass sie durch das Königreich Isbir wanderten, hier waren Takran-Jäger selten. Sahinja vermutete, dass dies den Lichtkriegern zu verdanken war.
Eogil schien von seiner neuen Macht wenig hingerissen zu sein. Während Sahinja ständig in einer Schattenwolke umherwanderte, hatte Eogil noch kein einziges Mal seine Schatten erprobt. Ihre Schattenwolke bot ihr einen permanenten Schutz vor Angriffen jeglicher Art und auch wenn sie mit dem Schatten-Takran niemand aktiv töten konnte, so konnte sie diese Fähigkeiten in einer Weise einsetzen, dass ihr Kontrahent dennoch dabei umkam. Wie hatte sie nur ohne die Schatten leben können? Es war, als hätte sie etwas gefunden, das sie schon seit Ewigkeiten suchte. Als hätte sie soeben ihren zweiten Arm wiedergefunden.
Eigentlich war es sinnlos ständig in einer Schattenwolke umherzulaufen. Ihr sechster Sinn warnte sie vor jedem sich in der Nähe befindenden und sollte dies nicht genügen, so würde sie mittels des Takrans der Zukunft einen möglichen Angriff vorhersehen. Würde das ebenfalls nicht reichen, konnte sie immer noch die Realität abändern, oder die Zeit verlangsamen. Es erfüllte keinen Zweck, in einer Schattenwolke durch die Lande zu ziehen, aber das Gefühl der Macht, welches mit den Schatten einherging war so enorm, dass sie dieses nicht missen wollte. Unbesiegbar, Übermächtig, Gigantisch, Überlegen,... Es war herrlich, diese Macht um sich zu spüren.
Zu dieser Macht hatte sich in ihr auch noch weitere Fähigkeiten entwickelt. Nicht nur dass sie die legendären Takrane nun nahezu perfekt beherrschte, auch ihr sechster Sinn war nun stärker denn je. Wie den fern leuchtenden Fackelschein in der Dunkelheit konnte sie alle legendären Takrane wahrnehmen Sie wusste genau, wo sich der Takran des Lichts und der der Vergangenheit befand. Es war nun keine übermächtige Intuition mehr die sie leitete, sondern klarstes Wissen. Auch die Träger der anderen legendären Takrane konnte sie mit ihren erweiternden Sinnen in der Ferne spüren. Drei von ihnen waren sogar besonders hell leuchtende Punkte. Hierbei handelte es sich um Sahinja selbst, Eogil und dem hellsten aller Punkte: Horior.

Vor zwei Tagen, kurz nach ihrer Abreise, hatten Eogil und Sahinja eine erschreckende Nachricht erhalten. Sahinja hatte anfangs nicht verstanden, was vor sich ging, bis sie in Eogils Gedanken eingetaucht war. Zaroir hatte mit seinen fortgeschrittenen Fähigkeiten des Gedanken-Takrans telepathisch mit Eogil Kontakt aufgenommen. Obwohl Sahinja den Anfang ihres Gesprächs nicht mitgehört hatte, konnte sie dennoch das Wichtigste daraus entnehmen.
,...bis in meine Höhle vorgedrungen. Eogil, sie kennen alle mein Züge in Vorhinein.‘
,Horior besitzt den Takran der Zukunft. Möglicherweise hatte er genau das vorausgesehen. Tu etwas, was du normalerweise nicht tun würdest.‘
,Ja, daran habe ich auch schon gedacht, aber selbst das wussten sie im Vorhinein. Es sind zu viele, als dass ich sie alle unter Kontrolle halten kann und sie haben auf jeden meiner Züge eine passende Antwort.‘
,Horior kann unmöglich alles so weit vorausgeplant haben. Es sind zu viele Möglichkeiten, die passieren könnten, zu viele Entscheidungen, die noch nicht getroffen wurden. Er hätte für jede einzelne Möglichkeit und für jede Entscheidung ein Vision haben müssen. Du musst dich täuschen, vermutlich sind sie dir durch Zufall so nahe gekommen.‘
,Ich gehe nun in Höhlenteile, die ich selbst noch nie betreten habe, wünsch mir Glück Eogil, dass wenn ich ihnen wirklich entkommen sollte, ich da auch wieder... Warte mal, das kann doch nicht sein. Sie haben Mepanuk erwischt.‘
,Sie haben Mepanuk? Wie konnte das passieren? Der Junge ist doch nicht zu fassen, selbst wenn sie alle einen Lauf-Takran hätten und diesen perfekt beherrschen.‘
,Laut dem, was ich aus seinen Gedanken entnehme, ist er in eine Takran-Falle getreten.‘
,Das kann doch nicht sein.‘, dachte Eogil ein wenig gereizt.
Auch das hätte Horior voraussehen müssen. Aber dazu braucht es nur eine einzelne gezielte Vision. Nur eine Vision, um zu wissen welchen Weg Mepanuk einschlagen würde.
,Wir hätten beisammen bleiben sollen. Wir haben uns gedacht, dass so zumindest einer von uns entkommen konnte. Unsere Kräfte wären halbiert, aber unsere Chancen verdoppelt.‘
,Kannst du Horior wahrnehmen? Vielleicht kannst du die Kontrolle über ihn übernehmen und die Sache ein für alle mal erledigen.‘
,Das habe ich schon versucht, aber der Feigling ist entweder nicht vor Ort, oder er hält sich außerhalb meiner Reichweite.‘
,Laut dem was ich wahrnehme, müsste er ganz in deiner Nähe sein.‘
,Das kannst du?‘
,Ja, eine meiner erweiterten Fähigkeiten, aber es würde zu lange dauern um darauf einzugehen.‘
,Dein Plan hätte ohnehin nicht funktioniert. Horior ist bereits zu mächtig, als dass ich die Kontrolle über ihn übernehmen hätte können. Außerdem kann ich mit Gedankenkontrolle niemanden zu Selbstmord bringen. Der unterbewusste Verstand des Menschen lässt dies nicht zu.‘
,Sind sie dir noch auf den Fersen?‘
,Ja, manche kommen sogar aus Höhlengängen, die ich selbst noch nicht erkundet habe. Ich kann sie irritieren und sie in andere Richtungen lenken. Aber sobald ich in eine Sackgasse gerate haben sie mich. Horior hat seinen Männern den Auftrag gegeben an genau diesen Stellen zu warten an denen ich erscheine.‘
Während Sahinja bereits Zaroir und Mepanuk aufgegeben hatte, überlegte Eogil fieberhaft wie er zumindest Zaroir aus diesem Schlamassel helfen konnte. Horior trug den Takran der Zukunft schon lange und mit seinen anderen legendären Takranen konnte er ihn sicherlich um vieles besser einsetzen als es Eogil oder Sahinja gelang. Mit zusätzlichen Präzisions- oder Wahrnehmungs-Takranen, hätte er seine Fähigkeiten sicherlich noch um ein zusätzliches erweitern können.
Dann kam Eogil eine viel simplere Lösung und als Sahinja diese in seinen Gedanken gelesen hatte wusste sie, dass das die Lösung war: Horior hat mit ein paar Visionen einfach alle möglichen Wege des Höhlensystems ausfindig gemacht und an eben diesen Stellen Männer platziert. Er brauchte nicht die enorme Vorhersehungskraft des großen Sehers. Er hatte genügend Männer und mit diesen konnte er einfach alle Ausgänge verschließen. Eogil kannte Horior nur zu gut. Das war seine typische Denkweise. Seine Pläne waren ausgereift und lückenlos. Er hatte die Maus in seinem eigenen Loch eingesperrt.
Horior hat nicht versucht Zaroirs Verhalten vorherzusehen, sondern alle Höhleneingänge. Da Zaroir stets die Richtung zu einem Ausgang einschlug, traf er auch ständig auf seine Soldaten. Doch das bedeutete, das Zaroir noch eine Chance verblieb. Er musste nur einen seiner Männer mittels seiner Gedankenkontrolle von einem Eingang weglocken, diesen umschiffen und wäre schließlich in der Freiheit. Er musste schleunigst wieder aus dem tieferen Teil der Tunnelgänge und den Soldaten entgegen. Hastig übermittelte Eogil ihm seine Gedanken.
,Verdammt, Mepanuk ist bewusstlos.‘
In Eogils Kopf überschlugen sich die Gedanken. Auch Sahinja überlegte nun fieberhaft. Dummerweise war Zaroir bereits so weit in das Höhlensystem eingetaucht, dass er sich selber nicht mehr auskannte und wahllos einen Weg nach dem anderen wählte. Er hatte seinen größten Vorteil verspielt. Wäre sie doch nur bei ihm, dann hätte sie einfach alle mit ihren Schatten zur Seite geschleudert.
Plötzlich schreckte Eogil hoch. Zaroir war nun so weit ins Erdinnere gelaufen, dass es nur noch Sackgassen gab.
,Eogil.‘, seine Gedanken waren panisch. ,Sie kommen durch die Wände! Ich muss Schluss machen und meine Kräfte auf ihre Gedanken konzentrieren.‘
Dann war es still.
Angespanntes Warten...
Nach einer längeren Zeitspanne war es klar, dass nun auch Zaroir bewusstlos sein musste und ein Gefangener Horiors. Nur kurze Zeit später trug Horior ihre Takrane.

Seit diesem schrecklichen Ereignis, waren zwei Tage vergangen. Nun besaß Horior zwei weitere Takrane und somit einen legendären Takran mehr als Sahinja und Eogil. Er hatte Mepanuk und Zaroir gefangen genommen und seinen Männern brachten sie auf eine seiner Festungen, wo er sie einsperren konnte, auf dass sie ihm nicht mehr in die Quere kommen könnten. Mit ihren neuen, übernatürlichen Sinnen nahm Sahinja war, dass Horior selbst, sich mit rasender Geschwindigkeit auf die Hauptstadt Edoran zubewegte. Er beherrschte all seine legendären Takrane nun perfekt und ebenso den Takran der Zeit. Jetzt konnte er ihn, wie Mepanuk, dauerhaft einsetzen. Aber was in aller Welt wollte er in Edoran? Auch wenn es das Unaufhaltsame nur hinauszögern würde, machten sich Eogil und Sahinja nichts vor. Sein nächstes Ziel würden bestimmt die Berge zu Sheyr sein. Er würde Träger einen Besuch abstatten und sich seinen Takran aneignen.
Eogil und Sahinja hatten ebenfalls versucht dauerhaft mit dem Takran der Zeit zu reisen, doch die ständigen Zeitverschiebungen ihrer Versuche hatte ihnen so viel Kraft gekostet, dass sie die gewonnene Zeit, mit einer Ruhepause vertrödeln mussten. Anstelle dessen, versuchten Eogil und Sahinja den Takran des Sehers einzusetzen, um den Ausgang der Zukunft zu ergründen. Doch die Visionen kamen nicht. Visionen waren nicht etwas, was man steuern konnte wie die Zeit oder die Realität. Natürlich konnte man sich darauf konzentrieren und die Häufigkeit der Visionen zu erhöhen, aber für gewöhnlich kamen Visionen von selbst. Horior musste viel Zeit darauf verschwändet haben, die Ausgänge des Höhlensystems zu finden. Mit Sicherheit trug er weitere Takrane die ihm dabei unterstützt haben.

Sahinja hatte eine unheimliche Wut auf Horior. Er besaß einen legendären Takran mehr als sie und schon bald würden es zwei sein. Es war eine Abwechslung ihre Wut einmal auf eine andere Person zu richten. Ansonsten war es stets Opeustos, der große Seher, der sie zur Weißglut brachte. Wie hatte er ihr das nur antun können? In ihrer frühen Kindheit hatte sie diesen verrückten alten Mann über alles geliebt.
Seinetwegen hatte sie also diese Abneigung und das Misstrauen gegenüber Alchemisten. Der Seher war dafür verantwortlich gewesen. Dennoch ist es eine unbestreitbare Wahrheit, dass Alchemisten nicht ganz bei Verstand waren. Der Verrat Opheustos‘ war nur eine weitere Bestätigung dafür. Niemand traute mehr einen Alchemisten und sie traute ihnen ebenfalls nicht.
Da fiel ihr plötzlich der Augenblick ein, in dem sie das Haus des Sehers verlassen hat wollen. Er hatte abermals einen schlagartigen Stimmungswechsel gehabt und hatte sie gebeten noch ein wenig zu bleiben. In aller Form hatte er sich bei ihr entschuldigt. Damals hatte sie es für eine seiner verrückten Eigenheiten gehalten, aber jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Hätte Sahinja doch nur schon damals das Wissen über ihre Vergangenheit zurückerlangt, dann hätte sie den Seher an Ort und Stelle kalt gemacht. Dieser zweigesichtige Bastard. Natürlich hatte er vorausgesehen, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnte.
Jetzt wurde ihr auch klar, warum er ihren Takran gewollt hatte. Sahinja erinnerte sich wieder daran, wie sie ihm den Takran der Perfektion gegeben hatte, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Er hatte sich von irgend jemand einen anderen Takran auf den Arm kopieren lassen. Hätte er ihren Takran behalten, hätte sie ihn wahrgenommen und gewusst, dass sie den Seher schon von früher gekannt haben musste. Zumindest hätte sie gewusst, dass irgendetwas faul war. Deshalb hatte er einen solch sinnlosen Vitalitäts-Takran am Arm getragen und deshalb wollte er den ihrigen wieder tragen. Legendäre Takrane waren schwer zu beherrschen und in seinem Alter hätte es keinen Sinn gemacht. Doch er beherrschte ihn schon längst. Welches kranke Spiel hatte dieser alte Irre bloß mit ihr gespielt?
Dafür würde er büßen. Dafür würde sie ihn bluten lassen! Er hatte ihr Leben zerstört. Hoffentlich würde er noch lang genug am Leben bleiben, bis sie alle legendären Takrane beisammen hatte. Sobald sie das erledigt hatte, würde sie ihm einen Besuch abstatten und ihm seine gerechte Strafe erteilen. Er hatte behauptet, er hätte Horior niemals entkommen können, also würde er ihr schon gar nicht entwischen.
Seinetwegen waren ihre Eltern getötet worden. Seinetwegen hatte sie ihre Kindheit in Angst, Schrecken und Schmerzen verbracht. Seinetwegen war sie zu einer skrupellosen Mörderin geworden. Die vielen Takran-Jäger die sie ins Reich der Tote befördert hatten waren ihr egal. Damit hatte sie der Welt sogar einen Dienst erwiesen. Aber niemals hätte sie gedacht, dass sie soweit sinken würde und wehrlose Kinder abschlachtet. Bei ihnen konnte sie sich nicht mehr einreden, dass sie böse Menschen gewesen waren. Man hätte sie einfach in das Leben des Alltags integrieren können. Sollte es wirklich ein Leben nach den Tod gäben, dann hätte sie sich den Weg dorthin spätestens jetzt verbaut.
Seitdem sie diese schändlichen Taten begannen hatte, war auch Eogils Gesprächsbereitschaft mit ihr verebbt. Er versuchte es, so gut wie jedes Gespräch mit ihr zu vermeiden. Seine kargen Worte erinnerten sie stark an die Reise mit Mepanuk. Es war immer was sie sich gewünscht hatte. Ein Eogil, der endlich mal die Klappe hielt und sie nicht mehr mit dämlichen Anekdoten voll stopfte. Aber so war es ihr auch nicht recht. Obwohl es keine Anzeichen in Eogils Gedanken gab, die darauf schließen ließen, dass er sie aufgrund ihrer jüngsten Taten verabscheute, war sich Sahinja dessen sicher. Eogil liebte das Leben und die Menschen und sie hatte hunderten Menschen genau dieses genommen. Doch Eogil brauchte sie und er wusste auch, dass ihr Bündnis nur aus einem seidenem Faden bestand, der jederzeit zerreißen konnte.
Letzten Endes war alles Opeustos‘ Schuld. Niemals würde er ihr weismachen können, dass er ihren Mord an all den Menschen nicht vorausgesehen hatte. Er würde dafür büßen was er ihr angetan hatte, aber zuerst musste sie die legendären Takrane finden.
Nachdem sie den legendären Takran der Schatten von Träger erhalten hatte, war der Drang in eine Art Sucht übergegangen. Sie war wie eine Verdurstende, die nach einem Schluck Wasser rang. Nur war ihr Wasser der Takran des Lichts. Ihre Gedanken gingen nur noch monoton und drehten sich stets um die selben Dinge. Der Seher und die legendären Takrane. Aber sie musste diesen Takran haben, wie der Abhängige seine Drogen. Manchmal begannen auch ihre Hände zu zittern und ihr Pulsschlag erhöhte sich wenn sie auch nur daran dachte.
Sahinja ließ eine neue Woge der Schatten um sie kreisen. Dieses Gefühl war herrlich. Manchmal ließ es sie sogar ihre derzeitigen Sorgen vergessen. Jederzeit zum Kampf bereit und nahezu unbesiegbar. Was konnte dazu im Vergleich schon die Allmacht sein?
Eogil hatte Sahinja in der Zeit, in der sie zur Stillen Bruderschaft gereist waren, sehr geholfen. Er hatte die Zügel übernommen und sich ihrer Schwäche angepasst. Damals war sie froh darüber gewesen, ihn bei sich zu haben, jetzt war ihr der Gedanke daran peinlich. Eogil hatte ihre schwache Seite kennen gelernt und zwar in ihrem vollem Ausmaß. Das hätte nicht passieren dürfen. Niemand sollte sie als verzweifelte und eingeschüchterte Frau kennen. Vor allem nicht dieser tapfere und edelmütige Held. Er würde zwar nie mit irgend jemand darüber sprechen, dennoch hasste sie es wie die Pest, dass er diese Seite an ihr kennen gelernt hatte. Sie war Sahinja, sie musste stark sein!
Sahinja versuchte ihre Gedanken in die richtigen Bahnen zu lenken. Sie versuchte nicht darüber nachzudenken wie sie sich hilflos hinter Eogils Rücken verkrochen hatte. Sie versuchte nicht mehr an ihre längst vergangene Kindheit zurückzudenken, welche immer mehr an die Oberfläche drang. Und sie versuchte nicht mehr daran zu denken mit wie viel Freude und Hingabe sie diese Menschen abgeschlachtet hatte. Obwohl sie ihre Tat für berechtigt hielt, kam sie sich schuldig vor. Ihr Leben war der Inbegriff des Leidens.
Sie hatte es schon einmal geschafft, all ihre verhassten Erinnerungen zu verdrängen, sie würde es ein weiteres Mal schaffen. Es würde Umläufe beanspruchen und es würde schmerzhaft sein, aber irgendwann wären die Erinnerungen wieder im hintersten Eck ihres Gedächtnisses, in einer tonnenschweren Truhe verschlossen. Was sie jetzt zu tun hatte, war sich abzulenken, damit sie an diese Ereignisse nicht mehr zurückdachte und ihre Ablenkung war der Takran des Lichts und ihr Racheplan am Seher.

Es verstrichen weitere Tage und sie kamen dem Takran des Lichts immer näher. In der Zwischenzeit war Horior bei Träger angelangt. Er besaß nun acht legendäre Takrane und schon bald würde er auch noch den neunten tragen. Sahinja war die letzten Tage ständig gereizt und bei schlechter Laune, doch die Tatsache über Horior senkten ihre Emotionen hinab, zu einem neuen Tiefpunkt. Zumindest einen Trost hatte sie: Horior reiste zu Träger mit einer solch übernatürlichen Geschwindigkeit, dass er keine Männer mit sich nehmen konnte. Er konnte Träger nicht mit der Übermacht seiner Männer bezwingen, sondern musste sich ihm Mann gegen Mann stellen. Und zudem konnte er ihn nicht wie Mepanuk oder Zaroir abtransportieren und ihn in einer seiner Festungen gefangen nehmen. Er musste Träger lassen wo er war, um nicht an seiner Reise mit dem Takran der Zeit gehindert zu werden. Aber wozu sollte er Träger schon gefangen nehmen? Er würde ohnehin keinen Schritt aus seinen Hallen wagen. Womöglich gefiel es Horior sogar besser als ihn in eine seiner Zellen zu einzusperren. Träger wählte seine Gefangenschaft selbst.
Nach kurzem spürten Eogil und Sahinja, dass Horior einen weiteren Takran trug. Das er den Kampf gewinnen würde war keine Frage, aber wie hatte er es geschafft Träger dazu zu bekommen, ihm seinen Takran zu geben? Es mussten beide damit einverstanden sein und Träger würde sich bestimmt mit allen Mitteln dagegen wehren. Doch Horior war nun schon nahe an der Allmacht. Es würde für ihn sicherlich den einen oder anderen Weg geben, um zu bekommen was er wollte. Gedankenkontrolle war nur ein Weg.
Die Zeit wurde immer enger. Obwohl Horior nun schon zwei Takrane mehr hatte, würde er es nicht rechtzeitig schaffen bei ihnen an zu gelangen. Zuvor würden sie den Takran des Lichts tragen. Eogil und Sahinja wären in diesem Fall noch immer zu zweit und konnten Horior, trotz seiner größeren Macht, übertrumpfen. Das war ihnen klar und das würde auch Horior klar sein.
Dann kam Sahinja ein Gedanke. Seit wann war es eigentlich zu ihrem Ziel geworden, Horior ein Ende zu setzen? Das war doch immer schon Eogils Ziel gewesen. Sie wollte die Takrane und Eogil wollte Horior. Eogil hatte schon seit langem versucht Sahinja zu rekrutieren und immer hatte sie es ihm ausgeschlagen. Nie hatte sie mit ihm eine Sache machen wollen und nie hatte sie den Wunsch gehabt gegen Horior zu kämpfen. Das war Eogils Ziel gewesen, aber nicht das ihrige. Wie also war es so weit gekommen, dass sie mit Eogil gemeinsame Sache machte? Das war wieder typisch Eogil. Sie hätte gedacht, dass jetzt, wo er nicht mehr seinen Charisma- und all die anderen Takrane besaß, er sie nicht mehr beeinflussen konnte. Aber da hatte sie sich geirrt. Er hatte sie, ohne dass sie es mitbekommen hatte, ein weiteres Mal manipuliert.
Erneut stieg Sahinja ein Woge der Wut hoch. Instinktiv verfestigten sich die Schatten um ihren Körper. Zuerst hatte sie Opheustos nach Strich und Faden hinters Licht geführt, jetzt war es Eogil. Er hatte ihre Erkenntnis sicher in ihren Gedanken gelesen, dennoch ließ er sich nichts anmerken. Dieser Hund spielte sein Spiel gut, aber jetzt würde es sein Ende nehmen. Sahinja hasste nichts mehr, als manipuliert zu werden.
„Hast du dazu nichts zu sagen?“, fragte sie ihn wütend.
„Was meinst du?“, fragte Eogil verwirrt, als sie ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte.
„Jetzt tu nicht so als würdest du auf einmal den Kavalier spielen und dich aus meinen Gedanken raushalten.“
„Ich halt mich aus deinen Gedanken raus.“, sagte er ehrlich. Dennoch spürte man, dass ihm dieses kindische Verhalten Sahinjas allmählich reizte.
„Natürlich, jetzt auf einmal.“, bohrte sie nach.
„Sahinja, deine Gedanken drehen sich immer nur um die selben Dinge: Deinen Machthunger, die legendären Takrane und deine endlose Wut auf den Seher. Selbst wenn ich es wollte, ich kann deine Gedanken einfach nicht mehr ertragen.“
Auf diese klaren Worte war sie nicht gefasst - Nicht von Eogil. Sie waren ganz ohne dem üblichen Rosenwasser, mit dem er sie sonst immer beträufelte. Fällt letzten Endes doch die falsche Fassade von ihm ab, oder ging auch seine Geduld einmal zu Ende?
Doch Eogil hatte recht. In letzter Zeit war sie noch besessener vom Gedanken an die legendären Takrane und wenn sie sich abzulenken versuchte kam ihr der Seher in den Sinn. Doch so leicht würde ihr Eogil nicht davonkommen.
„Und wie erklärst du dir, dass ich plötzlich mit dir gemeinsame Sache mache?“
Wieder war Eogil von ihren plötzlichen Gedankensprung verwirrt.
„Dass wir gemeinsame Sache machen?“
„Jetzt tu nicht so scheinheilig. Seit wann zieh ich mit dir in den Kampf gegen Horior?“
„Tust du doch gar nicht. Du suchst nach den legendären Takranen und unsere Wege sind zufällig die selben!“, sagte er gereizt und versuchte seine Stimme wieder unter seine gewöhnliche Kontrolle zu bringen.
Sahinja war sprachlos. Er hatte recht. Sie zog gar nicht mit Eogil in den Kampf gegen Horior. Sie hatten nur den selben Weg. Was war los mit ihr? Die Suche nach den Takranen und ihre Wut auf den Seher fraß sie buchstäblich auf. Jetzt konnte sie nicht einmal mehr klar denken. Wie machte Eogil das bloß nur? Er musste doch ebenso besessen von den Takranen sein wie sie. Er konnte unmöglich um so vieles stärker sein. Nicht stärker als sie!
Doch sie konnte diesem Gedanken keine weitere Aufmerksamkeit schenken, denn wie aus dem Nichts hatte sie eine Vision von der möglichen Zukunft. Es war nur ein einzelner Augenblick, aber er reichte um den gesamten Schrecken zu erkennen.

Sahinja stand zusammen mit Eogil auf dem Balkon des Königspalastes von Venundur. Unter ihnen, vor dem Balkon standen tausende in Schrecken gebannte Menschen. Venundur konnte unmöglich so viele Menschen beherbergen. Es mussten auch welche aus den umliegenden Dörfer und aus anderen Königreichen unter ihnen sein. Doch das war nur etwas nebensächliches. Das wahrlich Schreckliche bezog sich auf etwas völlig anderes. Über ihnen schwebte ein ihr fremder Mann, den Sahinja sofort als Horior vermutete. Er trug alle zehn legendäre Takrane und war gerade dabei sich zu einem Gott zu erheben. Zudem leuchtete er in der selben güldenen Farben, die sie schon zuvor in den Hallen zu Sheyr gesehen hatte.

Sahinja schreckte hoch.
„Was ist los?“, fragte Eogil immer noch ein wenig gereizt. Ihr vorheriges Gespräch war noch nicht lange vorüber.
„Ich hatte eine Vision von der Zukunft.“
„Wie sah sie aus?“
„Horior trug alle zehn legendären Takrane und wurde zu einem Gott.“
Eogil seufzte schwer aus.
„Das ist also die wahrscheinlichste Zukunft.“
Sahinja nickte.
„Dann sollten wir dafür sorgen, dass sie nicht eintreffen wird.“, sagte Eogil aus heiterem Himmel mit so viel Enthusiasmus wie sie es bei ihm schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Natürlich, er spielte sich selbst wieder etwas vor. Wenn Eogil Zuversicht brauchte, machte er sich welche. Er betrügt sich selbst. Wie sie diesen Strahlemann doch hasste.
„Wir müssen eine Entscheidung treffen, die den Verlauf der Zeit dermaßen abändern wird, dass deren Auswirkungen eine andere Zukunft nehmen wird.“
„Wie gut, dass dir nie das Offensichtliche entgeht.“, sagte Sahinja spöttisch „Und woran merken wir, dass wir eine Entscheidung treffen, die wir ansonsten nicht getroffen hätten?“
Eogil seufzte.
„Fassen wir noch einmal die unausweichlichen Dinge zusammen.“
„Okay.“, sagte Sahinja ein wenig gelangweilt.
„Wir müssen umbedingt noch an die anderen beiden Takrane herankommen, damit wir eine Chance gegen ihn haben. Damit hätte jeder neun und wir beide haben den Vorteil, dass wir zu zweit sind.“
Nach den legendären Takranen suchen. Also das tun was sie ohnehin schon die ganze Zeit taten. Ein solcher Einfall konnte ja nur aus Eogils Munde entstammen.
„Anschließend dürfen wir auf keinen Fall nach Venundur zurückkehren, wenn sich hier die Gottwerdung vollzieht.“
Oh, na klar und die tausend Menschen, die sich dort versammelt hielten und Horior vermutlich als Geiseln nimmt, würde Eogil einfach sterben lassen. Großartiger Plan.
„Dass sich dort tausende von Menschen befinden hast du mir nicht gesagt!“
Oh, das hatte sich wohl vergessen zu erwähnen. Doch dann kam Sahinja ein anderer Gedanke.
„Du hast gesagt, du hältst dich aus meinen Gedanken fern?“
„Ja, das habe ich. Aber nicht wenn es um solch wichtige Dinge geht. Sobald du dein Gehirn mit Mordversuchen am Seher und der Suche nach den legendären Takranen vollstopfst, halte ich mich wieder raus!“
Dieser verdammte Eogil. Wie hatte sie sich nur überreden lassen können mit ihm zu reisen. Die Wut stieg erneut in Sahinja hoch als sie an den Mann zurückdachte, der dies alles eingefädelt hatte: Der Seher. Wie konnte er ihr das nur antun? Schlagartig verfestigten sich die Schatten um ihren Körper.
„Und da wären wir wieder.“, sagte Eogil genervt und nahm keinerlei Rücksicht auf seine übliche Freundlichkeit. „Ich bin wieder draußen.“
So einfach war es also Eogil aus ihren Gedanken fern zu halten. Wieso hatte sie das nicht schon früher getan? Wenn sie ihm das doch nur mit gleicher Münze heimzahlen könnte. Doch Eogil hatte nichts dagegen, wenn sie in seine Gedanken eintauchte. Nur Sahinja störte sich an seinen tugendhaften Gedanken. Diese Entschlossenheit und diese Fröhlichkeit, so etwas war doch krank. Eogil war anscheinend wirklich aus ihren Gedanken ausgestiegen, denn ihm schien es nichts auszumachen, wie sie so über ihn dachte. Das war auch besser so. Dieses ewige Gerede hielt sie nur von der Reise zum Takran des Lichts ab. Wenn sie diesen Takran doch nur schon endlich hätte... Wie mächtig würde dann ihr Schatten-Takran sein? Und schon wieder dachte sie an die legendären Takrane. Eogil hatte recht, sie konnte wirklich an nichts anderes mehr denken. Dieser verdammte Eogil, er hatte ihr diesen Gedanken in den Kopf gesetzt!

Nach weiteren unendlich lang scheinenden Tagen der Wanderung mit Eogil, zeichnete sich die Festung der Lichtkrieger am Horizont ab. Die beiden waren ihrem achten Takran so nah wie noch nie zuvor. Die Festung trug den Namen Lichthort, zumindest hatte sie Eogil so auf ihrer Wanderung hier her bezeichnet. Doch diese Bezeichnung war vollkommen fehlplatziert. Was vor ihnen immer deutlicher wurde, war ein Trümmerhaufen. Von einem Hort, oder von dem strahlenden Glanze des Lichtes war nichts zu sehen. Was vor ihnen lag, war ein riesiger Trümmerhaufen. Diese Festung glich mehr dem zerstörten Lager Eogils. Die schützenden Holzwälle waren vollkommen eingestürzt und beschädigt. Es mussten überaus zerstörerische Takrane gewesen sein, die solches angerichtet hatten. An manchen Stellen waren ganze Teile aus seinen Verankerungen gerissen. Was hier gewütet hatte, konnten keine normalen Takrane gewesen sein. Das waren die Auswirkungen von legendären Takranen. Das waren die Auswirkungen des Takrans des Lichtes.
Eogil hatte bei diesem Anblick seine Schritte beschleunigt. Als könnte er jetzt noch etwas bewirken. Auch Sahinja war in seinen schnellen Schritt eingefallen, doch mehr aufgrund der Tatsache, dass sie nun schon bald einen weiteren legendären Takran erhalten würde.
Schon von weitem erkannte Sahinja, dass sich in der Festung, neben dem Träger des Takrans des Lichtes noch weitere Menschen befanden. Vermutlich handelte es sich hier um die letzten Überlebenden, die ihr geliebtes Heim nicht aufgeben wollten.
Sahinja ließ die Schatten die seither um sie gewallt hatten verschwinden. Es würde keinen guten Eindruck hinterlassen, wenn sie mit Dunkelheit eine Festung des Lichts betrat. Sie wollte umbedingt diesen legendären Takran und es wäre klüger, sich keine Feinde zu machen, auch wenn sie ihr nichts entgegensetzen konnten. Als die Schatten sich um ihr vollkommen aufgelöst hatten, fühlte sie sich angreifbar und schutzlos. Sie hatte sich an die Schatten so sehr gewöhnt, dass deren Abwesenheit sie ein wenig verunsicherte.
Es war schrecklich. Als Eogil und Sahinja die Festung durch das vollkommen zerstörte Osttor betraten, wurden sie sich des völligen Ausmaßes der Zerstörung bewusst.

Kapitel 16 - Die letzten Lichtkrieger



„Wer seit ihr?“, fragte eine weibliche Stimme.
Die Besitzerin dieser Stimme war gerade daran, einige der Unterkünfte notdürftig zu reparieren, als sie die beiden Ankömmlinge bemerkte.
„Mein Name ist Eogil, ehemaliger Berater König Pontions und ehemaliger Führer des Widerstands gegen den Thronräuber Horior. Wir möchten mit den Anführern der Lichtkrieger sprechen.“
„Lord Eogil ist tot. Er ist beim Angriff auf sein Lager ums Leben gekommen.“, antwortete ihm ein Mann, der gerade aus dem Inneren der Unterkunft trat.
Man merkte ihm sofort an, dass er in dieser Festung einst eine höhere Position inne gehabt hatte. Seine Miene verriet, dass vor ihnen einen Mann stand, der täglich wichtige Entscheidungen gefällt haben musste.
„Gerüchte von Unwissenden.“, tat Eogil seinen Kommentar leichtfällig und doch freundlich ab.
„Dem wollen wir doch auf den Grund gehen. Ich habe von vielen Männern gehört, dass Lord Eogil auf seinen Fuß einen ebenso blauen Takran tragen soll, wie Lord Trubar einen auf seiner Hand.“, sagte der Mann noch immer skeptisch.
„Dann müsste dies Beweis genug für euch sein.“, sagte Eogil freundlich und zog sein Hosenbein soweit hoch, dass sein Takran für die beiden klar und deutlich zu sehen war.“
„Wahrhaftig“, sagte die Frau „Sein Takran leuchtet ebenfalls in blauer Farbe. Das muss das Zeichen Lord Eogils sein. Dann lebt er also noch.“
„Nun denn. Kommt, ich werde euch zu Lord Trubar führen“, sagte der Mann nach einer kurzen Bedenkzeit „er wird bestimmt hoch erfreut sein eure Bekanntschaft zu machen.“
Sahinja nahm aus seinen Gedanken war, dass er Eogils Worten noch immer nicht vollsten Glauben schenkte. Auch wenn er nun dachte, dass Eogil noch am Leben war, so war er sich nicht sicher darüber, dass Eogil höchst selbst vor ihm stehen sollte. Viel eher glaubte er, dass einer seiner ehemaligen Männer, oder Vertrauten vor ihm stand. So oder so, es würde für Lord Trubar ein erfreuliches Ereignis sein.
Wie dumm er doch war. Erkannte er denn nicht, dass dieses Symbol nicht spiegelverkehrt war und dass es sich darum um das Original handelte? Aber dieser Unwissende kannte Eogils Symbol noch nie gesehen und so konnte er auch nicht Original von Abbild unterscheiden.
Sahinja wusste genau wohin der ehemalige Befehlshaber sie brachte. Sie spürte schon seit langem den Takran des Lichts und seit kurzem spürte sich auch ebenso die anderen, vollkommen sinnlosen und nicht dazu passen wollenden Takrane, die sein Besitzer trägt. Es trug weder eine Kombination, um eine bestimmte Eigenschaft hervorzuheben, noch eine Spezialisierung auf ein bestimmtes Werk. Es war eine Art Flickensammlung, wie Sahinja sie in letzter Zeit getragen hatte. Doch er hatte nun mal all die Männer und Frauen verloren, welche ihm seine Takrane gegeben hatten und unter den Überlebenden hatte er bestimmt keine große Auswahl gehabt.
„Lord Trubar. Lord Eogil, mit Begleitung.“
Der eben Angesprochene, welcher auch derjenige war, welcher über den Takran des Lichts verfügte, hatte ihnen den Rücken gekehrt und war mit zwei weiteren Männern daran beschäftigt den umgestürzten Holzwall wieder zu errichten. Als ihr Führer den Namen ,Eogil‘ ausgesprochen hatte, erkannte Sahinja mittels ihres sechsten Sinns einen starken Aufbruch seiner Gefühe. Unglaube und Fassungslosigkeit machten sich in ihm breit, aber vor allem war es die Hoffnung, dass er es wirklich sein könnte. Als er sich zu ihnen drehte, schien es, als würde sich für ihn seit langem wieder einmal die Wolkendecke lichten und die Sonne zum Vorschein bringen.
„Lord Eogil, ihr lebt.“, sagte er mit gemischten Gefühlen der Freude.
Sahinja hatte wahrgenommen, wie er vor seinem inneren Auge ein Bild Eogils, mit dem vor ihm stehenden abgeglichen hatte. Auch die beiden Männer welche mit ihm an der Wiedererrichtung der Mauer beteiligt gewesen waren, hatten ihre Arbeit eingestellt und folgten tuschelnd dem Gespräch zwischen den beiden ehemaligen Führern. Jetzt schien Lord Trubar erstmals davon überzeugt zu sein, dass sie hier den Wahrhaftigen vor sich hatten.
„Aber wie das?“, sagte er fröhlich „Meine Informanten hatten mir berichtet, dass kein Mensch euer Lager lebend verlassen konnte und dass selbst ihr dabei umgekommen seid.“
Lord Trubur war ebenso groß wie Sahinja und somit ein wenig kleiner als Eogil. Er war ein wenig älter als Eogil. Obwohl sein Gesicht von einem kurz geschorenem Bart überwuchert war, stach Sahinja sofort sein strahlendes Lächeln ins Auge. Schlagartig sank seine Gefühlslage wieder und Sahinja nahm aus seinen Gedanken wahr, dass er an den Tod seiner Freunde dachte und seine heitere Freude herzlos und kaltblütig aussehen musste.
„Vermutlich hat einer der Soldaten Horiors ein voreiliges Gerücht verbreitet. Der Thronräuber hatte mir eine Falle gestellt, die aber aufgrund der Voraussicht meiner Freundin nicht zugeschnappt war. Ich konnte ihr entkommen und reise seither mit ihr durch die Lande und versuche Horior auf anderen Wege aufzuhalten.“
Als Eogil Sahinja als Freundin bezeichnet hatte, hätte sie ihm beinahe eine Woge Schatten entgegen geschleudert. Es war ein Reflex, den sie noch im letzten Augenblick zurückhalten konnte. Sahinja brauchte und wollte keine Freunde. Freunde waren Menschen, die einem ständig behinderten und die ständig Dinge von einem wollten. Und den letzten den sie als Freund haben wollte, war dieser Schwätzer und Charismatiker Eogil.
Und was sollte das Gerede von ,ihrer weisen Voraussicht‘? Es hatte sich hierbei nur um ihre Paranoia gehandelt, jemand könnte ihren Takran sehen. Und wie der Zufall es gewollt hatte, war Eogil aufgrund glücklichen Umständen dieser Falle entgangen. Hatte er sie damals nicht auch erpresst gehabt? Dämlicher Rhetoriker.
Trubar nickte Sahinja anerkennend zu, schien aber nicht die passenden Worte zu finden, daraufhin wandte er sich wieder an Eogil.
„Also stimmt es was die Menschen euch nachsagen.Ihr habt eine lange Geschichte, aber nur eine kurze Vergangenheit. Ihr seit erstaunlich jung, für die Taten, die man euch nachsagt.“
„Nicht alle Taten entsprechen der Wahrheit.“, sagte Eogil gut gelaunt. „Und ich glaube, dass die Geschichte schon bald ihr Ende schreiben wird.“
„Es ist dennoch schön euch persönlich zu sehen.“, sagte Trubar und reichte ihm seine Hand. „Nur schade, dass es unter solchen Umständen sein muss.“
Trubar ließ seinen Blick durch sein zerstörtes Heim schweifen. Man sah ihm an, dass ihm der Tod seiner Läute ebenso schwer getroffen hatte, wie Eogil der Tod der seinen. Doch durch die Anwesenheit von Eogil schien in ihm neuer Mut hochzusteigen.
Trubar gehörte anscheinend ebenfalls zu der Sorte Mensch, die von Eogil ganz hin und weg war. Sollen sie doch ein Bett miteinander teilen.
Nun ergriff auch der Mann, welcher zu sie geführt hatte das Wort
„Seit auch von mir herzlich gegrüßt, Lord Eogil und bitte entschuldigt, dass ich euch nicht sofort erkannt habe.“, sagte er und ihm seine Hand.
Unterdessen, musste Sahinja die Hände Trubars schütteln, welcher sie mit einem Lächeln herzlich begrüßte. Musste das denn sein? Konnte er nicht einfach den Takran herausrücken? Jetzt noch schnell die Hände des anderen schütteln und dann zur Sachen kommen.
„Ich werde unsere neuen Gäste kurz durch Lichthort führen, macht ihr in der Zwischenzeit ohne mich weiter.“, sagte Trubar zu den beiden Männer, die noch immer mit gesenkter Stimme über die überraschende Anwesenheit Eogils tuschelten.
Sie kehrten ihnen den Rücken zu und arbeiteten weiter, immer noch über die beiden Ankömmlinge tuschelnd. Es sah nicht aus, als würden sie mit den schweren Holzteilen alleine zurecht kommen. Sahinja blieb jedoch keine weitere Zeit mehr diesen ungeschickten Männern zuzusehen, Trubar hatte sie und Eogil bereits weggeführt. Derjenige, welcher Eogil und Sahinja zu Trubar geführt hatte, hatte von diesem einen vielsagenden Blick erhalten. Aus seinen Gedanken entnahm sie die Bedeutung dieser Geste. Trubar wollte sich alleine mit ihnen unterhalten. Er wollte herausfinden was er von dem unerwarteten Besuch zu erwarten hatte.
„Darf ich den Namen eurer hübschen Begleitung erfragen?“, fragte Trubar auf die selbe höfliche Art, die sonst nur Eogil zustande brachte.
Die Worte waren zwar an Eogil gerichtet gewesen, aber Trubars Blick, sowie seine gesamte Aufmerksamkeit, war Sahinja zugewandt.
Genervt verschränkte sie ihre Arme.
„Ich heiße Sahinja.“, sagte sie und würdigte ihn keines Blickes.
Sie hatte keine Lust sich mit diesem Typen zu unterhalten. Hoffentlich verstand er sich auf zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso gut wie Eogil. Dann würde ihm auch nicht entgangen sein, dass sie absolut keine Lust hatte, sich mit ihm zu unterhalten. Weswegen hatte sie Eogil wie ein Schoßhündchen hinter sich herlaufen? Soll er sich doch einmal nützlich machen und das Gequatsche übernehmen.
„Sehr erfreut, eure Bekanntschaft zu machen.“, sagte er trotz allem in respektabler Höflichkeit zu ihr.
Sahinja wusste nicht was sie von Trubar halten sollte. Ihr erster Eindruck, ließ ihn wie einen zweiten Eogil erscheinen. Mutig, Entschlossen, Freundlich - Die selben Eigenschaften welche auch Eogil trägt. Er hatte eine Festung erbaut um den Hilflosen und Schwachen einen Schutz zu bieten. Auch dieses Verhalten sah Eogil ähnlich. Hoffentlich täuschte sich Sahinja gerade und vor ihr stand nicht nur ein weiterer Abklatsch des Schwätzers. Aber sie hatte sich in ihrer Hoffnung geirrt. Genau das Gegenteil war der Fall. Nicht nur dass sie mit einem Eogil gestraft wurde, nein, jetzt waren es sogar zwei von seiner Sorte.
„Ich war schon immer ein Bewunderer von euch, Eogil.“, wandte sich Trubar an Eogil, als dieser zielstrebig und doch im leichten Schritt ein bestimmtes Ziel seiner Festung ansteuerte. „Ich war wie du, ein Mann der unteren Schicht. Nicht in hohen Kreisen geboren und täglich lernte ich die Angst vor dem Verhungern kennen. Die Taten, die du für die einfachen Bürger Venundurs getan hast, während du Volksrat Pontions warst, drangen bis nach Isbir. Der Held des gemeinen Volkes. Auch mein Held. Jeder wollte stets so sein wie ihr, und ich war damals nicht anders. Den Hilfsbedürftigen helfen.“
Trubar legte eine kurze Pause ein. Anscheinend war selbst Eogil dieses viele Lob ein wenig unangenehm. Sahinja überlegte ob sie sich das Leben nehmen sollte. Wieder jemand der in Eogil sein Vorbild gefunden hatte. Wieso schlug sie ihn nicht einfach nieder und nahm sich das was sie brachte? Das würde vieles erleichtern und er würde endlich die Klappe halten.
„Glücklicherweise besaß ich einen Takran, der mit Geld nicht aufgewogen werden konnte. Jeder Preis wurde mir geboten und somit hatte ich genügend Geld meinen Traum zu erfüllen. Ich habe diese Festung mit meinen eigenen Händen errichtet. Natürlich hatte ich viele Freunde, die mir geholfen haben und als andere davon hörten, wollten sie ebenfalls mit an packen und gemeinsam haben wir unser neues Heim errichtet. Mit vereinten Kräften haben wir es sogar in nur der Hälfte der Zeit geschafft. Es gab natürlich das eine oder andere Problem, aber es war nichts was wir nicht bewältigen konnten.“
Trubar setzte sich auf eine schlichte hölzerne Eckbank, die in einer Nische der Festung aufgebaut war und in dessen Mitte ein Topf unter einem erloschenen Feuer hing. Mit seiner linken Hand, der Hand auf dem er den Takran des Lichts trug, wies er Eogil und Sahinja an, sich zu ihm zu setzen.
„Nach einigen Jahren wurde unsere Gemeinde immer größer. Alle fanden Zuflucht welcher dieser bedurften. Niemals hatten wir von ihnen auch nur einen Kupferling verlangt. Aber, nicht immer waren es Menschen, die man gern um sich hatte. Manchmal waren es welche, die vor dem Gesetz flüchteten und dachten sich hier verstecken zu können. Solche haben wir den Behörden übergeben, damit sie ihre gerechte Strafe erhalten. Lichthort ist keine Ort für Verbrecher. Interessanterweise waren es jedoch Menschen mit mächtigen Takranen, die Angst davor hatten von Takran-Jägern gefangen zu werden, welche unsere Hilfe erbaten. Mit dieser einfachen Methode setzten wir dem Sklavenhandel in Isbir einen Riegel vor die Tür. Manchmal gab es Angriffe, aber wir konnten sie jedes Mal leichter Hand abwehren. Lichthort war eine Oase, die stetig weiter erblühte.
Und dann haben wir von Horiors Aufstand erfahren.“, Trubar seufzte „Ein Teil in mir sagte, ich solle dir zur Hilfe eilen. Seite an Seite mit dir kämpfen, doch der größere Teil in mir sagte, ich solle meinen eigenen Leuten helfen und dass der große Lord Eogil dieses Problem auch ohne mich lösen wird. Als du mir den Brief gesandt hast, habe ich ernsthaft vorgehabt mit meinen besten Männern zu dir zu eilen, aber ich wurde vom Rat überstimmt. Auch wenn ich der Führer dieser Festung war, hatte ich einen Rat einberufen. Weise Männer und Frauen, die ich eigenhändig herausgepickt habe. Sie sollten mir bei besonders schwierigen Entscheidungen zur Seite stehen. Alle haben sich einstimmig gegen dein Ersuchen gewandt. Wir sind Lichtkrieger. Wir schützen - Wir greifen niemanden an. Das waren unsere höchsten Ideale und in meinem Inneren wusste ich, dass sie Recht hatten. Zudem waren wir immer noch angreifbar und wenn wir unsere besten Krieger abzogen hätten, hätte die Festung einen Angriff nicht widerstehen können. Schlussendlich hatte ich mich meinem Rat gebeugt. Ich habe mich immer gefragt ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Jetzt weiß ich es.“, endete Trubar und ließ seinen Blick durch die Trümmer wandern.
Da sieht man wo solch hohe Ideale hinführen. Sahinja hätte sich nie so entschieden, sie hätte nie einen Kampf gescheut.
„Es war die richtige Entscheidung. Ich hätte mich an deiner Stelle nicht anders verhalten. Nur entwickeln sich manchmal aus den besten Entscheidungen, die schlechtesten Ergebnisse.“
„Wäre ich zu dir gekommen“, sagte nun Trubar durch zusammengebissenen Zähnen „Hätten wir beide Horior besiegen können und wir hätten beide nicht unsere Männer verloren.“
Da hatte der Typ mit dem Vollbart recht. Selber schuld, wenn er sich von solch dämlichen Idealen leiten lässt. Jetzt wäre es an der Zeit, dass Eogil auf das Thema mit den Takranen zu sprechen kommt.
„Was geschehen ist, ist geschehen.“, sagte Eogil ruhig „Ich nehme an, ihr wurdet ebenfalls von Horior angegriffen?“
„Was genau geschehen war, haben wir uns erst später zusammengereimt. Mein treuester Freund, Elfraf kam eines Morgens zu mir und fragte mich, ob ich ihm meinen Takran ein weiteres Mal geben könne, er habe ihn in seiner Trunkenheit gegen einen anderen getauscht. Obwohl mich dies alles ein wenig skeptisch stimmte, habe ich es darauf beruhen lassen und ihm den meinen abermals gegeben. Und dann hatte er mich aus heiterem Himmel niedergeschlagen. Erst später habe ich erfahren, dass sich Horior in andere Menschen verwandeln kann, und, dass er sich sogar unsichtbar machen kann.“
Der Takran der Täuschung! Also war dieser glänzende Abklatsch von Eogil ebenfalls auf Horior hereingefallen. Eogil hatte den selben Gedanken gefasst und dieser sprach ihn auch aus.
„Der Takran der Täuschung.“, sagte er wissend.
„Der was?“
„Es ist ebenfalls ein blau leuchtender Takran. Wir bezeichnen diese als ,legendäre Takrane‘. Horior trägt einen solchen, ich, du und noch ein paar andere.“
„Also trägt Horior den Takran der Täuschung?“
„Es ist nicht sein eigener, aber er trägt ihn. Sein eigener ist der Takran der Unverwundbarkeit.“
Trubar horchte auf.
„Unverwundbarkeit.“, sagte er erstaunt und niedergeschlagen zugleich „Das ist schlimm. Und das macht so einiges verständlich. Als meine Wachposten mitbekommen hatten, was vorgefallen war, kam es zu einem Kampf. Alle haben sich auf den falschen Elfraf geworfen. Doch Horior war nicht dumm. Er hatte in der Nähe weitere Soldaten versteckt, die daraufhin die Festung angriffen. Die wenigen welche überlebt haben, sagten, es hätte ein Mann mit übermenschlichen Fähigkeiten gegen sie gekämpft. Kein Angriff hätte ihn zu Fall gebracht, oft verschwand er aus ihren Blickfeldern und manchmal hatte er sogar mit dem Takran des Lichts zurückgeschlagen. Eine solch schnellen Auffassungsgabe der Takrane habe ich noch nie gehört.“
Dieser Trubar hatte wohl keine Ahnung. Auffassungsgabe - Sahinja beherrschte jeden Takran, sobald sie ihn auf ihrer Haut trug! Und im Falle der legendären Takrane...
„Je mehr legendäre Takrane man besitzt umso mächtiger wird man und umso besser kann man jeden einzelnen einsetzen. Horior muss zu diesem Zeitpunkt sechs von zehn besessen haben, deinen miteingeschlossen.“
„Legendäre Takrane also. Und wie viele hat er jetzt?“
„Neun.“
Trubars Augen wurden groß.
„Also wird er momentan noch mächtiger sein, als er es schon beim Angriff auf unsere Festung war.“
„Unvorstellbar mächtiger.“, bestätigte Eogil.
„Und wisst ihr wo sich der zehnte befindet?“
„Sahinja trägt ihn.“, sagte Eogil lächelnd und zeigte dabei auf sie.
Trubar horchte auf und betrachtete Sahinja als hätte er sie gerade erst zum ersten Mal bemerkt. Sahinja fühlte sich bei dieser ungeteilten Aufmerksamkeit, die nun vollkommen auf sie gerichtet war, gänzlich unwohl. Diese beiden Quasselstrippen sollten endlich die Klappe halten. Sahinja wollte den Takran. Jetzt!
„Dann werden wir sie verstecken. Die Lichtkrieger werden selbstverständlich... Ich meine diejenigen die...“
„Mach dir keine Sorgen Trubur“, unterbrach ihn Eogil „mit den zusätzlichen Fähigkeiten, die Horior besitzt, kann er uns überall und jederzeit aufspüren. Einfache Menschen können ihn nicht mehr aufhalten. Der einzige Weg dies zu tun, ist, mit gleicher Macht ihm entgegenzutreten.“
„Also bist du noch immer auf Kriegsfuß mit ihm.“, bemerkte Trubur „Aber wie willst du das anstellen, wenn er so mächtig ist wie du behauptest.“
„Sahinja und ich besitzen selbst jeweils sieben der legendären Takrane. Wenn du uns deinen gibst, werden wir beide jeweils acht tragen.“
„Also gibt es noch eine Chance.“, sagte Trubar entschlossen. „Und deshalb seit ihr zu mir gekommen.“, schlussfolgerte er.
„Ja.“
„Dann werde ich euch selbstverständlich helfen wo ich kann. Als wiedergutmachung für mein unterlassenes Handeln in der Vergangenheit. Wenn es nichts weiter ist, als euch meinen Takran zu überlassen, dann soll es daran nicht scheitern.“
Endlich, jetzt würde Sahinja ihren heiß ersehnten Takran erhalten. Jetzt würde sie noch mächtiger werden als je zuvor. Ein euphorischer Schauder durchfloss ihren Körper Ein reiner Angriffs-Takran. Niemand würde sie mehr aufhalten können. Niemand außer vielleicht Horior und Eogil.
„Doch erzähl uns noch vorerst wie es dazu kam, dass Horior dich nicht gefangen genommen hat.“
Was? Ist Eogil verrückt geworden? Sahinja wollte den Takran! Jetzt! Was redete er denn da bloß? Sie hatten ihr Ziel erreicht! Trubur war bereit ihnen den Takran zu geben. Was gab es da noch blöd zu fragen? SAHINJA WOLLTE DEN TAKRAN UND ZWAR JETZT!
Eogil schreckte plötzlich hoch und hielt sich den Kopf. Auch Sahinja war gerade ein wenig irritiert, von dem gerade geschehenen Ereignis. Sie hatte irgendwas getan. Aber was genau?
„Warst du das eben?“, fragte Eogil Sahinja überrascht.
„Was war ich?“, fragte Sahinja, da sie selbst nicht genau verstehen konnte, was sie gerade getan hatte.
„Aber natürlich warst du es. Ich habe deine Stimme gehört. Du hast in meine Gedanken gesprochen. Ähnlich wie Zaroir. Nur um vieles lauter.“
„Das war es also gewesen.“, sagte Sahinja mehr im Gedanken als zu Eogil. So benutzte man also seine Gedankenstimme. Man musste nur seine Gedanken deutlich formulieren und sie an eine bestimmte Person richten. Während Sahinja dies überdachte, hatte Eogil dem verwirrten Trubar erklärt was gerade vorgefallen war. Anschließend hatten sie das Gespräch wieder aufgenommen, ohne dass Eogil auf ihre Gedankenworte eingegangen war.
„Seine Soldaten hatten mich gefangen genommen und schleppten mich fort. Doch ich hatte noch immer meinen eigenen Takran und mit diesem konnte ich fliehen. Zum Glück war nicht Horior selbst vor Ort.“
„Zu dieser Zeit musste er gerade auf dem Weg zu Zaroir und Mepanuk ins Daugus Gebirge gewesen sein.“, schlussfolgerte Eogil „Wir hatten uns zu dieser Zeit auf dem Weg zur Stillen Bruderschaft gemacht.“, sagte Eogil nun an Sahinja gewandt.
Sahinja interessierte das nicht im Geringsten. Sie wollte nur den achten legendären Takran. Dieses sinnlose Gerede der beiden konnte sie nicht weiter anhören. Sie musste von hier weg. Ohne ein Wort der Erklärung erhob sie sich und ließ die beiden ehemaligen Helden zurück. Auch wenn Eogil und Trubar ihr fragend nachsahen, richtete keiner von ihnen ein Wort an sie. Trubar kannte sie zu wenig und Eogil zu gut.
Sahinja streunte herum und ohne ein Ziehl gehabt zu haben, hatte sie den Weg zurück zu den beiden arbeiteten Männern eingeschlagen, von denen sie zuvor Trubar weggeführt hatte. Sie versuchten noch immer die Holzmauer aufzustellen. Es waren Arbeiten für Menschen, welche einen Stärke- oder einen Geschicklichkeits-Takran trugen, oder ähnliche. Obwohl beide einen Stärke-Takran besaßen, beherrschten keiner ihn annähern so gut, dass sie ihn ordnungsgemäß einsetzen konnten. Es war leicht zu durchschauen, dass es nicht ihre gewohnten Takrane waren. Die, welche sie getragen hatten, mussten sie während des Kampfes gegen Horior verloren haben und ihre jetzigen Takrane hatten sie sich nur vorübergehend machen lassen.
„Geht zur Seite.“, sagte Sahinja zu den beiden Männern, als sie diese unter Stirnrunzeln beobachtet hatte.
„Was willst du schon können, was wir nicht drauf haben?“, sagte der kleinere von ihnen.
Gut, Sahinja wollte höflich sein, aber wenn diese beiden Ignoranten darauf keinen Wert legten, würde sie es auch nicht tun.
Sahinja ließ eine dicke wogende Welle aus Schatten aus ihrem linken Arm fließen, teilte diese in zwei dicke Ströme und umschloss damit jeweils einen der Arbeiter. Diese hob sie in die Luft und stellte sie wie Spielzeuge beiseite. Die beide brachten vor Erstaunen kein Wort hervor. Dann löste Sahinja ihre Schatten auf und bündelte sie um die Holzstreben. Sie hob diese an und versuchte sie gezielt an die richtige Stelle im Boden zu rammen. Sie beherrschte den Takran der Schatten mittlerweile ausgesprochen gut und mit dem Takran der Perfektion konnte sie dies alles noch gezielter und noch genauer bewerkstelligen. Jedoch war ihre Zielgenauigkeit mit den Schatten immer noch nicht perfekte. Obwohl sie die massiven Holzstreben wie Zahnstocher herumschubsen konnte, hatte sie Schwierigkeiten in der Präzision. Dies konnte sie hier üben und mit diesen Erfahrungen würde sie eine noch bessere Tötungsmaschine werden. Für die anderen musste es aussehen, als tat sie eine selbstlose Geste, mit der sie ihnen beim Wiederaufbau half, für sie war es allerdings nur eine Übung, um ihre tödlichen Fähigkeiten zu verbessern.
„Das gibt es doch nicht.“, sagte einer der beiden Männer sichtlich erstaunt.
„Was für eine Macht.“, sagte der andere.
„Diese Macht kommt dem Takran Trubars gleich.“
Wenn die beiden doch nur wüssten wie recht sie damit hatten.

Die Nacht brach herein und als Sahinja das realisierte, fiel ihr ebenso auf, dass Eogil immer noch nicht Truburs Takran trug. Mittels ihres sechsten Sinns hatte sie versucht danach Ausschau zu halten und mit dieser Fähigkeit war ihr ebenso aufgefallen, dass Eogil auf seiner rechten Hand noch immer den Neutralisations-Takran trug. Was tat diese Quasselstrippe so lange? Sie waren hier schließlich nicht zum Vergnügen. Kaffeekränzchen konnten sie ein anderes Mal halten.
„Schluss für heute.“, sagte Sahinja, löste ihre Schatten und alles fiel zu Boden. Ohne eine Antwort abzuwarten, schlug sie den Weg in Richtung Eogil ein.
Sie wollte dem auf den Grund gehen, was Eogil so lange aufhielt. Ihr sechster Sinn vermittelte ihr zumindest nichts auffälliges.
Bei ihrer gemeinnützigen Tat, hatte sie viel im Umgang mit den Schatten gelernt. Nun konnte sie diese so präzise wie ihr Schwert einsetzen. Zu aller letzt konnte sie die Holzstreben auf den Punkt genau setzen. In dessen Haut, welcher ihr in nächster Zeit in die Quere kam, möchte Sahinja nicht stecken.
Von Weitem hörte sie eine Gruppe Stimmen lachen. Während Sahinja gearbeitet hatte, erzählten sich alle anderen Geschichten am Feuer. Sie hatten das Feuer unter dem Topf wieder entfacht und hatten eine wohlduftende Speise zubereitet. Sahinja lief das Wasser im Mund zusammen. Erst jetzt bemerkte sie, wie hungrig sie war.
„Ja, es ist schon eine Ironie für sich.“, hörte sie Truburs Stimme heraus „Der Takran der Schatten schützt und der Takran des Lichts vernichtet.“
„Doch letzten Endes kommt es stets auf dessen Träger an, für welche Zwecke diese Fähigkeiten einsetzt werden.“, fügte die Stimme Eogils hinzu.
Hatte er sich also wieder neue Freunde gemacht. Typisch Eogil, wo immer er war, da war er auch von Freunden umgeben. Selbst dort wo er keine hatte. Ohne auf das Geschwätz der anderen zu hören, nahm sich Sahinja eine Schale und füllte sich etwas aus dem Topf. Sie suchte sich einen Platz, wo sie in aller Ruhe essen konnte.
Nach einer Zeit schreckte sie hoch, irgendwer hatte ihren Namen erwähnt.
„Wir sind dir zu Dank verpflichtet, Sahinja.“, hatte irgendwer gesagt.
Es war Trubar gewesen. Sahinja hatte das Gespräch nicht verfolgt und wusste somit nicht worüber geredet worden war.
„Gerne.“, antwortete sie, obwohl sie nicht genau wusste worauf sie geantwortet hatte.
„Mit deiner Hilfe liegen wir weit im Zeitplan voraus. Die Ost- und Südwand sind dank deiner Hilfe vollendet und die Westwand ist ebenfalls bald wieder wie neu. Und das nur in dieser kurzen Zeitspanne.“
Sahinja versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen. Darum war es also gegangen.
,Wann bekommen wir endlich den Takran?‘, versuchte Sahinja Eogil mit ihrer Gedankenstimme zu fragen, als das Gespräch sich wieder anderen Themen zuwendete.
,Morgen‘, antwortete er ihr monoton und widmete sich wieder dem Gespräch.
Na Toll, also noch eine ganze Nacht warten. Sahinja wollte den Takran endlich tragen! Wieso schlug sie ihn nicht einfach nieder? Die Ablenkung hatte sie zwar ihren Drang nach dem Takran ein wenig vergessen lassen, aber jetzt wo sie ihre Arbeit eingestellt hatte, war er wieder zurückgekehrt. Der Umgang mit dem Schatten-Takran hatte sie müde gemacht. Am besten sie würde sich so bald wie möglich schlafen legen, dann würde sie den nächsten Morgen schneller entgegentreten und zumindest gefühlt früher den Takran des Lichts tragen.
Als sie ihre zweite Portion fertig gegessen hatte, stand sie auf und hielt Ausschau nach einem Schlafplatz.
„Ich bin müde.“, sagte sie schlicht.
Aufgrund ihrer Leistungen würde man ihr das sicher glauben.
„Bitte.“, sagte Trubar leicht unterwürfig „nehmt doch eines unserer Quartiere, das ist das Mindeste, was wir euch anbieten können.“
„Ich überlasse euch gerne das meine.“, sagte einer der Männer, der bei ihrer Anreise noch mit Trubar an der Holzmauer gearbeitet hatte und den Sahinja so unverblümt mit ihren Schatten zur Seite gestellt hatte. Anscheinend sah er es in seiner moralischen Pflicht, ihr seine Schlafstätte anzubieten. Seine Gedanken verrieten ihn. Edelmütig, diese Lichtkrieger, genauso wie dieser Heuchler, mit dem sie hergekommen war. Sahinja hätte auf ihr Quartier niemals verzichtet. Aber das war nun einmal nicht ihr Problem. Selber Schuld, wenn sie so viel auf diese überbewehrten Ideale legten. Sie würde davon profitieren.
„Folgt mir.“, sagte der Mann höflich und Sahinja ging neben ihm her.
Hoffentlich würde er sich nicht auch noch zu einem dieser freundschaftlichen Gespräche verpflichtet fühlen, mit denen man die Zeit totzuschlagen versuchte.
„Ihr habt erstaunliches geleistet. Dieser Takran der Schatten gehört zu den mächtigsten Takranen, von denen ich je gehört oder gesehen habe.“
Na toll. Er fühlt sich zu einem solchen Gespräch verpflichtet.
„Jaja, mächtig.“, sagte Sahinja monoton und tief im Gedanken versunken.
Hoffentlich würde er diesen Wink verstehen und endlich die Klappe halten. Wenn Sahinja etwas hasste, dann waren es sinnlose Gespräche. Glücklicherweise hatte er ihren Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Aus seinen Gedanken entnahm sie zwar die Schlussfolgerung, sie sei aufgrund ihrer Arbeit zu müde für Gespräche, aber immerhin würde er die Klappe halten. Dann erreichte sie endlich ihren Schlafplatz.

„Und du bist dir vollkommen sicher?“, fragte Eogil Trubar.
Sie hatten sich am frühen Morgen darüber unterhalten, ob Trubar nicht mit ihnen reisen wollte um mit ihnen gegen Horior in den Kampf zu ziehen. Von Eogil und Sahinja hätte er noch zwei legendäre Takrane erhalten und auf ihrer Reise hätte er auch noch den Takran der Vergangenheit bekommen. Damit hätte er insgesamt vier legendäre Takrane und könnte im Kampf gegen Horior sicher einen kleineren Beitrag leisten. Doch insgeheim wünschte sich Sahinja, dass er Eogils Vorschlag ausschlug. Ein zweiter Dämlack würde ihr noch den letzten Nerv rauben. Irgendwann würde Sahinja sicher die Geduld verlieren und entweder Trubar erschlagen oder den Strahlemann. Vielleicht auch beide.
Trubar hatte nach einiger kurzen Bedenkzeit, wie Sahinja es sich erhofft hatte, dagegen entschieden. Er war ein Mensch, der andere schützte und nicht jemand der den Tod brachte. Außerdem war er der Führer der Lichtkrieger und diese waren, gegenwärtigen auf ihn angewiesen wie noch nie zuvor. Sie mussten ihre Festung neu errichten, denn wenn Eogil recht behalten würde, dann würden schon bald die Menschen in Massen vor seinen Toren stehen und um Schutz ansuchen. Trubar hätte ohnehin nicht viel ausrichten können, und das wusste er auch. Er würde zwar in den Besitz vierer Takrane gelangen, doch im Vergleich zu Horior wäre er immer noch eine lästige Fliege.
Es war erstaunlich, Horior hatte so viele Menschen getötet die ihm lieb waren und Trubar sann nicht auf Rache aus. Das war kein selbstlose Geste mehr, das war nur noch Dummheit. Eogil schien ihn zu verstehen, aber Eogil war schließlich ein Idiot. Wäre Sahinja an seiner Stelle, wäre sie losgezogen und hätte ihm alles genommen was sie ihm hätte nehmen können. Sie hätte jeden getötet, der ihr in die Quere gekommen wäre, genau so wie sie es mit der Stillen Bruderschaft gemacht hatte.
„Ja. Auch wenn der größere Teil von mir mit euch ziehen möchte. Ich gehöre hier her. Hoffentlich habe ich diesmal die richtige Entscheidung getroffen. An eurer Seite wäre ich mehr eine Last als eine Hilfe. Hier hingegen werde ich dringend gebraucht.“
Eogil reichte ihm die Hand und Trubar nahm sie kräftig in die seine.
„Es war schön dich kennen gelernt zu haben und ich hoffe, dass wenn alles vorbei ist, sich unsere Wege ein weiteres Mal kreuzen werden.“
„Das werden sie ganz bestimmt.“
„Dann wollen wir erledigen wofür ihr gekommen seid.“
Endlich, jetzt würde Sahinja ihren lang ersehnten Takran erhalten. Kindliches Entzücken machte sich in ihr breit. Trubar legte seine Hand auf Eogils rechte und schon zeichnete sich der Takran des Lichts auf seiner Handinnenseite ab. Wie einen Schlag stellte Sahinja mittels ihres sechsten Sinns fest, dass er nun den achten legendären Takran trug. Dann reichte Trubar Sahinja seine Hand und kopierte auch auf ihre Hand den Takran des Lichts. Schlagartig durchfloss sie ein funkelndes Gefühl der Macht. Zudem wurde ihr auch klar, dass sie nun jeden der legendären Takrane perfekt einsetzen konnte und dass sie auch den mächtigsten aller Angriffs-Takrane in seiner Vollendung verwenden konnte.
„Wir haben noch nicht darüber gesprochen.“, fing Eogil an „Aber willst du auch unsere Takrane?“
Trubar überlegte nicht lange. Der erwartete Schock setzte gar nicht in Sahinja ein. Ansonsten hatte sie stets panische Angst gehabt ihren Takran weiter zu geben. Aber die unbewusste Angst davor, die Stille Bruderschaft könne das Zeichen erkennen und sie ausfindig machen existierte nicht mehr. Zumindest diesbezüglich hatte sie sich verändert. Was machte es schon aus wenn sie ihren Takran weitergab? Niemand konnte sie mehr besiegen. Sahinja grummelte. Niemand außer Horior und Eogil natürlich. Und dieser friedliebende Trubar würde ihr sicher nicht in den Rücken fallen.
„Wenn sie wirklich so mächtig sind wie du behauptest, wäre es eine Schande dieses Angebot auszuschlagen.“, sagte Trubar leicht erfreut „Außerdem würde ich mich freuen das Zeichen des großen Lord Eogils zu tragen.“
In Sahinja stieg wieder die Wut hoch. Was hieß hier ,großer Lord Eogil‘? Eogil war nur ein dämlicher Angeber. Er war allerhöchstens ein bemitleidenswerter Vagabund, aber mehr war er nicht.
Nach einem weiteren kurzen Tausch trug Trubar anstelle eines Stärke-Takrans und eines Widerstand-Takrans den Takran der Perfektion und den der Realität. Anschließend hatte Eogil ihm noch schnell erklärt was es mit den Fäden auf sich hatte, die Trubar nun sehen konnte. Und dann, endlich, setzten sie ihren Weg fort.

Eogil und Sahinja hatten sich von Trubar und seinen Männern entfernt. Sahinja mit einem Hochgefühl, nun einen weiteren Takran zu besitzen und der Freude nun schon bald ihren neunten zu tragen, Eogil in Skepsis und Verwirrung. Als Sahinja das wahrnahm tauchte sie in seine Gedanken ein, um dem auf dem Grund zu gehen.
Es war Horior. Er befand sich im Königspalast Isbir. Was um alles in der Welt hatte er dort zu suchen? Zuerst Eodoran, dann Isbier. Was konnte ein König, mit der Macht von neun legendären Takranen noch von anderen Herrschern benötigen? Aus Eogils Gedanken entnahm Sahinja Angst um König Hemil. Was immer er vorhatte, Sahinja war sich sicher, dass es ihr nicht gefallen würde.

Kapitel 17 - Der Plan



Horior hatte noch am selben Tag Isbir verlassen und sich auf den Weg zurück nach Venundur gemacht. Sahinjas Sinne reichten nicht weit genug um feststellen zu können was dort vorgefallen war. Doch sie und Eogil waren sich ohnehin im Klaren, dass Horior mit seiner enormen Übermacht gegenüber Normalsterblichen kein Nachsehen haben wird und, dass er über ihre Leichen gehen würde, sollten sie sich nicht seinen Willen fügen. Auch wenn sie als Könige gleichrangig waren und das Bündnis während der Alchemisten-Kriege gewachsen war, so würde Horior mit Sicherheit keinen Wert mehr darauf legen. Sollte König Hemil seinen Wünschen nicht nachgekommen sein, so war er mit Sicherheit nicht mehr unter den Lebenden.
Mittlerweile reisten Eogil und Sahinja, wie auch Horior, permanent mit dem Zeit-Takran. Sie beherrschten, alle ihre Takrane perfekt und somit konnten sie auch endlich Mepanuks Takran in seiner vollen Gänze einsetzen. Es war ganz einfach. Sie waren immer nur einen Gedankensprung davon entfernt gewesen, ihn richtig einzusetzen: Nicht sie mussten sich schneller bewegen, sondern die Welt muss sich langsamer bewegen. So unsinnig und egoistisch dieser Gedanke auch war, dieses Wissen hatte ihnen gefehlt, den Takran permanent einsetzen zu können. Genauso verstanden sie nun auch alle anderen Takrane besser. Mit dem achten Takran hatte sie ein tiefes Verständnis für all ihre Fähigkeiten erhalten.
So sehr sich ihre Vorteile erweitert haben, so sehr waren auch die Nachteile angewachsen: Sie hatte nun keinen Drang mehr nach den Takranen zu suchen - Jetzt war es eine zehrende Sucht. Was sie früher noch als Spaß im Gedanken formuliert hatte, war nun die bittere Wirklichkeit geworden. Sahinja war süchtig. Sie konnte nicht mehr richtig schlafen und ihr war fortwährend übel. Zudem schwitzte sie von einem Moment auf den anderen wie ein Schwein und schlagartig war ihr wieder bitter kalt und sie zitterte am ganzen Leib, trotz ihres Kälte-Takrans, wie Espenlaub. Bis vor wenigen Tagen hatte sie noch pausenlos über den Tod des Sehers sinniert, jetzt hatte sie jegliches Interesse an ihm verloren. Nur eines war noch von Bedeutung: Die letzten beiden Takrane.
Ihr Selbsterhaltungstrieb riet ihr davon ab, sich einen weiteren legendären Takran zu holen. Es war ihr klar, dass es mit dem achten nur noch schlimmer kommen würde, aber Sahinja hatte sich noch nie in Zurückhaltung geübt. Was sie wollte, das holte sie sich auch, selbst wenn dabei ein paar Menschen sterben mussten. Das hatte sich immer schon so getan und das würde sich auch nun tun. Deshalb versuchte sie gar nicht gegen ihre Sucht anzukämpfen. Sie würde sich den Takran holen, auch wenn ihr dies schaden würde.
Wie es dann wohl sein würde? Mit Bestimmtheit um vieles schlimmer. Sahinja konnte nicht mehr schlafen. Essen konnte sie wegen ihrer ständigen Übelkeit ebenfalls nicht. Schon bald würde sie nur noch Haut und Knochen sein. Diese Takrane fraßen sie buchstäblich von innen heraus auf. Sie musste sich beeilen um nicht vor ihrem Ziel ihrer Schwäche zu erliegen.
Die neue Reisemethode mit dem Zeit-Takran war anfangs sehr belustigend gewesen, jetzt war es nur noch nervig. Sie und Eogil, bewegten sich kein bisschen schneller als sonst. Alles andere um sie herum bewegte sich um vieles langsamer. Oder zumindest erschien es ihnen so. Die Vögel schlugen mit ihren Flügeln in Zeitlupe, die Gräser beugten sich dem Wind nur noch zaghaft und die Tiere des Waldes schienen auf ihrem Platz festgefroren zu sein. Alles war still, alles war ruhig, alles war langweilig und ereignislos.
Eogil und Sahinja hatten sich zur Aufgabe gemacht nach Visionen über Horiors Vorgehen Ausschau zu halten, doch so sehr Sahinja sich auch bemühte und ihrer Sucht Einhalt zu bieten versuchte, der Takran der Zukunft zeigte immer nur eine Szene: Die Gottwerdung Horiors. Da sie nun auch den Takran der Zukunft besser beherrschen konnte, hatte sie mehr Informationen aus dieser Vision entnehmen können. Sie wusste nun, dass Eogil und sie nicht nur am Balkon als Zuschauer standen. Nein, sie waren beide bewegungsunfähig gemacht worden. Anscheinend hatte Horior sie gefangen und jemand hatte sie mit einem Fesselungs-Takran unschädlich gemacht. Und aus einer Laune Horiors heraus, hatte er sie bei seiner Gottwerdung zusehen lassen. Nun versuchten sowohl Eogil als auch Sahinja eine Vision zu erhaschen, die dies zu erklären vermochte. Wie hatte Horior es geschafft sie gefangen zu nehmen? Sie waren zu zweit und zu diesem Zeitpunkt würden sie ihm ebenbürtig sein. Durch welche List hatte Horior sie übertrumpfen können?
Es war schwer sich zu konzentrieren. Nur noch der Takran der Vergangenheit war wichtig und alles was danach kommen sollte war ihr gleichgültig. Aber sie musste sich dafür interessieren. Sie musste sich für ihre Zukunft interessieren, ihr Leben hing davon ab.
Eogil war auch keine große Hilfe mehr. Er redete überhaupt nichts mehr. Er schien so in seine Gedanken vertieft zu sein, dass er sie ganz vergessen hatte. Obwohl Sahinja klar war, dass es sich um einen anderen Grund handelte, redete sie sich ein, dass Eogil sich einfach nicht mehr mit einer Mörderin abgeben mochte. Sie hatte der Stillen Bruderschaft den hundertfachen Tod beschert und ohne dass sie es zugeben wollte schämte sie sich dafür.
Eogil hingegen grübelte über etwas, das ihm schwere Kopfschmerzen bereitete. Einerseits war ihr das vollkommen klar, doch andererseits wollte sie, aus ihr vollkommen unverständlichen Grüngen, für den Tod an den Unschuldigen, zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Wiedergutmachung war nicht mehr möglich und Reue zeigen konnte sie ebenfalls nicht. Zu solch niederträchtigen Gefühlen würde sie sich nicht herablassen. Dennoch saß der Schmerz tief und Eogil machte es ihr auch nicht unbedingt leichter, indem er sie maßlos ignorierte. Doch vielleicht war dies die Art wie Eogil sie strafte. Diesen Typen hatte sie noch nie verstanden. Am liebsten wäre sie in Grund und Boden versunken oder hätte sie sich wie Zaroir in einem tiefen Loch verkrochen und wäre daraus nie wieder hervor gekommen. Wäre da nur nicht diese bescheuerten Takrane, die sie umbedingt haben musste. Sie schrieen förmlich nach ihr.
Wie gut, dass es sich bei ihrer Reise, dank des Zeit-Takrans, nur noch um wenige Tage handeln würde.

„Ich habe nachgedacht.“, sagte Eogil wie aus dem Nichts.
Sahinja schreckte hoch. Sie hatten vorhin eine Kleinigkeit gegessen und sie musste sich dazu zwingen es im Magen zu behalten. Zudem kamen noch ihr Desinteresse und ihre Müdigkeit, die es ihr erschwerten sich auf Eogil zu konzentrieren. Aber sie musste sich ablenken, selbst wenn die Ablenkung Eogil war.
„Was?“, sagte sie schwach.
Sahinja war von der Schwäche ihrer eigenen Stimme entsetzt. Sie musste sich zusammenreißen, schließlich war sie nicht ein dahergelaufener Einfallspinsel. Sie war eine große und furchterregende Kämpferin.
„Falls es wirklich zu einem Kampf zwischen uns und Horior kommen sollte... Horior ist unverwundbar, wie wollen wir ihn besiegen?“
„Wir haben einen Alles-Zerstörenden-Licht-Takran.“, sagte sie genervt, als ob damit alles gesagt wäre.
Doch sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, war sie sich deren nicht mehr so sicher. Sie hatte es noch nie mit jemanden zu tun gehabt, der unverwundbar war. Es stimmte, sie hatten einen legendären Takran, der alles vernichten konnte, aber Horior hatte einen Takran, der ihn vor allem schützt. Welcher würde am Ende der mächtigere sein? Gab es vielleicht sogar eine Rangordnung unter den legendären Takranen selbst?
Eogil verfiel kopfschüttelnd zurück in seine Gedanken. Im selben Moment kam Sahinja wie aus dem Nichts eine Idee. Eifrig sprach sie diese aus:
„Der Schatten-Takran ist ebenfalls ein Schutz-Takran. Er schützt ebenfalls vor Angriffen jeder Art. Wir setzen die beiden legendären Takrane gegeneinander ein und schauen was passiert.“
Sahinja wusste nicht was sie aus Eogils Gesichtszügen lesen konnte. Entweder war es Verständnislosigkeit, als ob sie soeben etwas ungeheuer dummes gesagt hätte, oder Anerkennung, für ihre klugen Worte. Doch, nach kurzen Überlegen Eogils und da ihm selbst nichts besseres eingefallen war, handelte er nach Sahinjas Vorschlag. Sahinja lächelte in sich hinein. Normalerweise war es umgekehrt: Eogil hatte die Ideen und Sahinja tanzte nach seiner Pfeife. Jetzt war sie es die den Ton angab. Dieses Gefühl des Triumphes erfreute sie ungemein.
Kurze Zeit später hatten sie ihre Positionen eingenommen. Sie hatten sich darauf geeinigt, sich nicht gegenseitig anzugreifen, da sie die Auswirkungen nicht kannten. Anstelle dessen wollten sie die Schatten vor einem Baum ausbreiten und diesen dann mit dem Licht-Takran befeuern. Sollte es Schäden geben, würden sie diese am Baum ablesen können. Sahinja hatte sich für den Part mit den Schatten entschieden. Sie würde diejenige sein, die den Baum verteidigte. Kurzfristig durchzog sie ein belustigender Gedanke: Sie würde schützen und Eogil vernichten. Ein Tausch der Rollen. Doch so schnell der Gedanke aufgekeimt war, so schnell schüttelte sie diesen wieder ab.
Sahinja hatte aus sicherer Entfernung einen dicken Schattenwall vor dem Baum errichtet und Eogil richtete, ebenfalls aus sicherer Entfernung, seine rechte Hand darauf. Dann erzeugte seine rechte Hand einen gleißenden Lichtstrahl, der geradlinig auf den Schattenwall zuraste.
Mit dem was beim Aufschlag geschah, hatte weder Sahinja noch Eogil gerechnet. Einerseits passierte nichts Ungewöhnliches, andererseits geschah Unglaubliches. Für einen Außenstehenden, der nicht über die Gabe des sechsten Sinns verfügt, musste es ausgesehen haben, als hätte sich nichts verändert. Beide Takrane hatten ihre Wirkung verloren, nichts war geschehen. Sowohl der Schatten-Takran, als auch der Licht-Takran hatten sich schlagartig in Luft aufgelöst.
Doch für diejenigen, welche über einen sechsten Sinn verfügen, spielte sich ein völlig anderes, weitaus mächtigeres Szenario ab. Als diese beiden übermächtigen Extreme aufeinander trafen, strömten die Energien, wie eine übermächtige Druckwelle auseinander. Dann konnte sie nichts mehr wahrnehmen. Ihr zusätzlicher Sinn war durch diese Druckwelle, für einen kurzen Augenblick paralysiert gewesen. Es war als sei sie für kurze Zeit taub, oder geblendet worden. Sahinja hatte sich an ihren zusätzlichen Sinn so sehr gewöhnt, dass seine Abwesenheit sie mit Schrecken erfüllt hatte. Nach einer kurzen Zeitspanne, kehrte er glücklicherweise wieder zurück.
„Interessant.“, sagte Eogil. „Ein Zusammenstoß zweier legendärer Takrane negiert sich gegenseitig. Sowohl Angriff, als auch Verteidigung scheinen seine Wirkung einzustellen.“
„Hast du das gespürt?“, fragte Sahinja. Sie wusste nicht genau wie sie ihren sechsten Sinn umschreiben sollte.
„Ja. Ein schreckliches Gefühl. Als ob die Welt eine Riss bekommen hätte.“
So hätte Sahinja es nicht ausgedrückt, aber irgendwie hatte er schon recht. Hier waren Mächte am Werk, welche den menschlichen Horizont überstiegen. Ereignisse dieser Art konnten nicht mit Worten beschrieben werden.
„Weißt du was das bedeutet?“, sagte Eogil erquickt, ohne auf eine Antwort zu warten. „Wir sind zu zweit. Einer kann seinen Schutz durchbrechen, der andere wird obsiegen.“
„Er besitzt den Unverwundbarkeits- und den Schatten-Takran.“, entgegnete ihm Sahinja gereizt.
Was war los mit Eogil? Normalerweise dachte er nach, bevor er etwas sagte und er war es, der sie berichtigte, nicht umgekehrt. Irgendwas beschäftigte ihn, irgendwas lenkte ihn ab.
Eogil fing wieder an zu grübeln. Normalerweise überließ Sahinja Eogil das Denken, aber jetzt war es wohl das Beste, sich ebenfalls Gedanken über ihre Lage zu machen. Und zudem musste sie gegen ihr Desinteresse ankämpfen und gegen die aufkeimenden Gedanken an den legendären Takran der Vergangenheit.
„Wir können beide noch den Takran der Schatten einsetzen.“
„Und Horior den Takran des Lichts, außerdem müssten wir unseren Schutz aufgeben.“
„Wir könnten die Realität abändern.“
„Horior auch.“
„Wir könnten die Zeit manipulieren.“
„Ich vermute, dass wir das ohnehin tun werden.“
Eogil grübelte weiter und Sahinja tat es ihm gleich.
„Einer von uns müsste seine Verteidigung aufgeben, damit Horior seine Verteidigung aufgibt und angreift.“
Sahinja antwortete nicht.
„Dann würde einer von uns sterben, aber auch Horior. Genauso wie der Seher es vorausgesagt hatte.“
„Mir ist egal was der Seher vorausgesehen hatte.“, sagte Sahinja gereizt.
Wenn es wirklich so kommen sollte, dann gefiel ihr der Plan ganz und gar nicht. Somit standen die Chancen zu fünfzig Prozent, dass sie sterben würde. Das war ihr zu riskant. Dafür hing sie zu sehr an ihrem Leben.
„Was ist mit Gedankenkontrolle?“, fragte Sahinja.
„Wir werden allesamt so mächtig sein, dass wir dem widerstehen können. Selbst Zaroir hätte es nicht geschafft und der beherrscht diesen Takran ebenso wie wir.“
Wieder grübeln.
„Der Takran der Täuschung.“, sagte Eogil.
Sahinja ließ unmutig die Luft aus. Sie hasste es auf diese Weise den Kampf zu führen. Sie schätzte nur den gewöhnlichen Kampf mit offenen Karten. Täuschung war etwas für hinterlistige Personen wie Eogil.
„Horior wird sicher versuchen uns zu täuschen.“, sagte Eogil nachdrücklich „Nüchtern betrachtet ist das seine einzige Chance.“
Eogil hatte Recht. Horior konnte sie nur mit Listen und Tricks besiegen. Er besaß zwar den Takran der Unverwundbarkeit, aber Eogil und Sahinja waren immerhin zu zweit. Nur durch Täuschung würde er sich einen Vorteil verschaffen können. Und durch Heimvorteil. Aber dafür hatten sie den Überraschungsmoment. Sie würden zu ihm kommen und sie würden entscheiden wann und wie sie es taten. Sofort verwarf Sahinja wieder ihre Gedanken. Sowohl Horior, Sahinja und Eogil besaßen den Takran der Zukunft. Alle konnten sie ein Stück in die Zukunft sehen. Es würde keine Überraschungen geben und ebenso keinen Heimvorteil. Jeder würde die Züge des anderen voraussehen. Es würde ein Kampf auf höchster Ebene werden. Der erste der einen unbedachten Zug beging, würde sterben.
Die Täuschung war wirklich das letzte Mittel, mit dem der eine den anderen übertrumpfen konnte. Sahinja dachte an den Kampf mit dem Kopfgeld-Jäger zurück, von dem sie den Takran der Täuschung erhalten hatte. Damals hatte sie drei der legendären Takrane besessen, um zwei mehr als er, und dennoch hatte er es geschafft sie beinahe zu töten. Mit dem Takran der Täuschung konnte man sich einen erheblichen Vorteil verschaffen. Doch mittlerweile beherrschte sie ihren sechsten Sinn weitaus besser als zu der Zeit. Sie würden die Täuschungen Horiors entlarven und ebenso würde er es mit ihren tun. Zudem konnte jeder ein kleines Stück in die Zukunft sehen. Sahinja seufzte. Alle drei besaßen sie Mächte die über das Normale hinausgingen. Wie man es auch dreht und wendet, der erste, der einen kleinen, banalen Fehler begeht, würde sterben.
Dann kam Sahinja ein anderer Gedanke, der das Blatt wenden konnte.
„Horior ist unverwundbar, aber nicht unsterblich, richtig?“
„Ja.“, antwortete Eogil ihr verwirrt.
Dann verrieten seine Gesichtszüge, dass er wieder einmal aus ihren Gedanken las. Er wirkte entsetzt.
„Einer lenkt ihn ab. Der andere webt Schatten um seinen Kopf.“
„Du willst ihn ersticken lassen?“, sagte er schockiert „Ersticken? Das ist...“, begann Eogil, fand aber nicht die richtigen Worte. „...unehrenhaft.“
„Unehrenhaft?“, fing Sahinja an und ihre Stimme wurde immer lauter. „Durch Ehre hast du all deine Männer verloren. Wegen Ehre kam Trubar dir nicht zur Hilfe. Horior wäre schon längst tot, wenn euer dämliches Ehrgefühl nicht wäre.“
Diesmal hatte sie Eogil getroffen. Er wusste das Sahinja Recht hatte. Das war ein Plan, der gar nicht nach seinem Geschmack war. Aber es war ein Plan bei dem sie beide am Leben blieben.
Sahinja schoss ein erneuter Gedanke durch den Kopf. Horior würde durch den Sauerstoffentzug bewusstlos werden und sie konnte an den zehnten Takran herankommen. Dann hätte sie es geschafft. Das war die Lösung, all ihrer Probleme! Alles schien sich zusammenzufügen. So würden sie es machen. So mussten sie es machen!
„Ist dir eigentlich klar“, begann Eogil, der wieder einmal ihre Gedanken gelesen hatte. „dass du mit dem zehnten Takran eine Göttin sein wirst.
Alle Freude verschwand aus Sahinjas Gesichtszügen. Eine Göttin? Sie wollte keine Göttin sein. Alles was sie wollte waren die zehn Takrane. Was sollte sie als Göttin machen? Über die Menschen herrschen, wie eine scheltende Mutter über ihre Kinder? War sie denn wahnsinnig? Sie war froh wenn sie von all den dämlichen Idioten Ruhe hatte. So würde es garantiert nicht kommen. Viel eher passte die Vorstellung, eine Dunkle Göttin zu sein. Verderben und Unheil über die Menschen zu bringen. Das war eher etwas, für das ihre Fähigkeiten geeignet waren. Doch das wollte sie ebenfalls nicht. Der Massenmord an der Stillen Bruderschaft hatte eine neue Seite an ihr geweckt.
Natürlich, sie konnte die Welt von allen Takran-Jägern, Kopfgeld-Jägern und Mördern säubern. Aber was kam dann? Diebe? Und dann? Lügner? Irgendwann würde niemand mehr übrig sein. Eine Gottheit zu sein, das war nichts für sie. Sie war eine einsame Wanderin, die sich stets das nahm was sie brauchte. Das war das Leben, das sie führte und das war das Leben, das sie führen wollte. Niemals hatte sie die Lust verspürt, über andere zu herrschen und ihnen bis an ihre Lebensende ihren Willen aufzuzwingen. Sie hatte sich ihr Ende immer in einem Kampf vorgestellt, den sie nicht gewinnen konnte. Das wäre ein sinnvoller Tod und ein Tod den sie sich insgeheim zugedacht hatte.
Aber sie wollte umbedingt alle zehn legendären Takrane. Es war diese verdammte Sucht, die sie antrieb. Doch wer behauptete eigentlich, sie müsste über die Menschen herrschen? Sie könnte doch auch allmächtig sein und ihr Leben weiterhin so führen, wie sie es bisher getan hatte. Nur mit dem Unterschied, dass sie eine Göttin war und kein Mensch. Aber so viel Macht besitzen und sie nicht einsetzen? Das kam ihr dumm vor. Es würde sicher nicht schaden ein paar Takran-Jäger zu töten und der Welt damit einen Gefallen tun. Das wäre im Interesse aller. Oder vielleicht doch gleich die ganze Sklavenhändler-Gilde ausrotten? Wieder war sie bei diesem Gedanken angelangt, über die Menschen zu richten. Wo sie war, war auch der Tod. Das war immer schon s gewesen und das würde als Göttin nicht anders sein. Würde sie die Herrschaft erlangen, würde sie Unheil und Verderben über die Menschen bringen. Vielleicht nicht in den nächsten Zyklen, mit Sicherheit aber noch in dieser Dekade.
Sahinja wusste nicht was sie tun sollte. Andererseits wusste sie genau was sie tun würde: Sie würde sich den Takran holen. Die Sucht, in ihr verlangte es und diesem Verlangen würde sie nachgeben. Auch wenn sie genau wusste, dass es für jede betroffene Person das denkbar Schlechteste war. Sie würde es tun. So war sie nun mal und daran würde sich auch weiterhin nichts ändern. Sie gehörte nicht zu den Personen, die auf andere Rücksicht gaben. Eines war klar: Sahinja würde eine Göttin werden und es würden viele Menschen das Leben verlieren
Jetzt bemerkte sie erstmals, wie Eogil sie musterte. Er folgte wieder einmal ihren Gedanken. Wie sehr sie doch diese Neugierde an ihm hasste. Am liebsten würde sie es ihm mit selber Münze heimzahlen, aber von seinen Gedanken der Ehere und der Freude hielt sie sich lieber fern. Das war die reinste Folter. Da kam Sahinja plötzlich die rettende Idee. Wieso hatte sie nicht schon früher daran gedacht? Sie musste nur an ihre Folter zurückdenken, um ihn aus ihrem Kopf zu vertreiben.

Die Umgebung verschwand schlagartig, alles war weiß, alles war grell. In ihrem Kopf dröhnte es und er drohte zu explodieren. Und dieses schreckliche Gefühl, als würde jemand mit glühenden Nadeln in ihr Gehirn stechen, es war unerträglich. Kein Geräusch war zu hören, nichts konnte sie sehen und nichts fühlen. Alles was noch existierte war der Schmerz. Ein Schmerz der so grausam schien, als dass er von einer anderen Welt stammen musste. Dann wurde endlich wieder alles schwarz.

Als sie ihre Augen wieder öffnete, reichte ihr Eogil die Hand. Ihre Erinnerungen kehrten langsam wieder zurück. Was war los? Wieso lag sie im Gras und wieso lag Eogil nicht auch dort?
„Takran der Zukunft. Ich hab‘s vorausgesehen.“
Dämlicher Idiot.
„Aber du hast mich auf eine Idee gebracht.“, sagte Eogil erfreut „Wir könnten ihn damit überlisten. Er wird sicher in unsere Gedanken einsteigen und dann...“
„Vergiss es Eogil! Wir ersticken ihn!“
„Schon gut. Wieso ein ehrenwerter Kampf, wenn es auch hinterhältig geht.“
Sahinja antwortete nicht. Sie hatten einen Plan und so würde es auch gemacht werden!
„Ist nur noch die Frage zu klären, wie wir an Horior herankommen.“
Das gibt‘s doch nicht. Was musste denn noch alles beredet werden? Sahinja wäre einfach hineingestürmt, hätte mit den Schatten alle Menschen, beiseite geworfen und sich Horior entgegengestellt. Was gab es da noch weiter zu klären?
„Wir müssen Rücksicht auf die anderen nehmen.“, sagte Eogil auf ihre Gedanken hin „Aber keine Sorge, ich kenne da einen geheimen Eingang, von dem Horior nichts weiß. Auf diesem Weg sind Pontion und ich damals entkommen.“
Endlich, wäre das auch geklärt.
„Da wäre noch etwas zu klären.“, sagte Eogil.
Was wollte er denn jetzt noch? Es war doch schon alles geklärt. Sie würden durch den geheimen Weg zu ihm gelangen und ihn anschließend ersticken, das war alles was wichtig war. Eogil benahm sich wie ein Kleinkind. Sie sollten sich mehr auf die Manipulation der Zeit konzentrieren, damit sie ihren Weg schneller zu dem Takran der Vergangenheit fortsetzen konnten.
„Der Seher hatte gesagt, dass in jedem Fall zwei von dreien sterben werden. Bei unserem Plan würde aber nur Horior sterben.“
Was verdammt noch mal war Eogils Problem?
„Wenn du willst kann ich dich ja umbringen, sobald Horior tot ist. Dann hat der Seher Recht behalten und ich habe endlich meine Ruhe von dir.“
Von diesem Schwein von Seher wollte sie nichts mehr hören. Er trug die Schuld an ihrem zerstörten Leben. Wenn das alles vorbei war, würde sie Opeustos töten. Dieser Entschluss war gefasst und von dem würde sie sich nicht abbringen lassen. Das würde ihre erste Handlung als Göttin sein.
Eogil schüttelte den Kopf bei ihren hartherzigen Gedanken.
„Ich sag dir das als Freund, Sahinja und weil mich deine Gedanken nerven.“, fügte Eogil hinzu „Wenn du den großen Seher tötest, denn verlierst du einen Takran.“
„Nein das würde ich nicht. Eine Gott verliert keine Takrane.“
„Von woher willst du das wissen?“
Ja? Von woher wusste sie das eigentlich? Sie wusste das es stimmte, aber von woher kam dieses Wissen? Dann erinnerte sie sich daran. Die Stille Bruderschaft hatte es ihr gelehrt.
„Sheyr hatte hunderte von Jahren über die Menschen regiert. Diejenigen welche die legendären Takrane besaßen starben und andere Träger wurden geboren, aber Sheyr war stets ein Gott geblieben.“
Doch Eogil dachte einen Schritt weiter.
„Dann ist alles klar. Die Visionen von der Zukunft meine ich. Horior wird ein Gott und wir leben noch. Sobald Horior ein Gott ist, wird er uns töten. Somit hätten sich die Visionen des Sehers bestätigt und auch unsere. Horior wird sein Ziel erreichen und wir werden sterben.“
Was ist bloß los mit Eogil? Normalerweise war er es doch, der für Zuversicht sorgte.
„Die Zukunft ist noch nicht geschrieben.“, sagte Sahinja entschlossen „Außerdem haben wir jetzt einen Plan, schon vergessen?“
„Du hast Recht.“, sagte Eogil mit einem falschen Lächeln „Wir sollten trotzdem nach Visionen Ausschau halten, zu welchen Gunsten sich die Zukunft geneigt hat und wir sollten herausfinden, mit welchen Mitteln Horior uns in eine Falle lockt, falls er uns in eine Falle lockt.“
Endlich, damit war das Gespräch beendet. Im Verlaufe des Gespräches hatten sie ein beträchtliches Stück Weg zurückgelegt. Mit Mepanuks Zeit-Takran konnten sie etliche Tage Wegstrecke im Bruchteil der Zeit erreichen.

Die Zeit verfloss wie dickflüssiger Honig und schon bald würden sie erneut ihr Lager aufschlagen müssen. Aber wieso taten sie das eigentlich noch? Sahinja wälzte sich ohnehin nur noch des Nachts umher und fand doch keinen Schlaf. Mittlerweile hatte sie schon tiefe schwarze Augenringe. Das Hungergefühl hatte sie auch von ihr gelöst. Mittlerweile konnte man dies sogar an ihrem Körper ablesen. Sie wollte weiterreisen um keine weitere Zeit mehr zu verschwenden. Doch Eogil war ihr wie ein Klotz am Bein. Das war auch schon bei Trubar so gewesen. Eogil musste ja umbedingt bis zum nächsten Morgen warten. Dabei hatte Sahinja den Takran schon so dringend gewollt. Eogil war nicht nur ein Schönredner, sondern auch ein Trödler.
Und jetzt blieb er schon wieder stehen. Was war denn jetzt wieder mit ihm los? Mit einem solchen Tempo und den ständigen Unterbrechungen würden sie nie ihr Ziel erreichen.
„Ich hatte gerade wieder eine Vision.“
„Und?“, fragte Sahinja ungeduldig.
„Horior wird ein Gott, wir sehen zu.“
Das kann doch alles nicht wahr sein. Sie hatten doch jetzt einen Plan! Einen Plan, verdammt noch mal! So etwas hatte Sahinja noch nie gehabt. Wie konnte es da noch sein, dass sie nicht obsiegen würden?
„Ich hab mir so etwas schon gedacht.“, begann Eogil trübsinnig.
Was war denn aus dem enthusiastischen Charismatiker geworden? Trübsal zu blasen war doch sonst nicht Eogils Art.
„Sobald wir einen Plan haben“, sagte Eogil im erklärenden Tonfall „wird Horior eine Vision haben, in der er erfährt, dass seine Gottwerdung scheitert. Dann wird er seinen Plan darauf zuschneiden, sodass er uns wiederum übertrumpft. Dann werden wir wieder eine Vision erhalten. Und so weiter.“
Das konnte doch alles nicht wahr sein. Sahinja hatte gedacht, dass wenn sie mehr legendäre Takrane beisammen hätte, alles einfacher werden würde, aber genau das Gegenteil war der Fall. Alles war komplizierter geworden. Es war gut und schön, wenn sie diese Übermacht hatte, aber sie hasste es, wenn jemand anderes über die selbe Macht verfügte.
„Wir müssen endlich herausfinden, was Horior im Schilde führt. Es kann doch nicht so schwer sein, eine gezielte Vision darauf zu haben. Horior setzen seine Visionen doch aständig gezielt ein.“
Ja, das tat er. Aber Horior besaß mit Bestimmtheit auch Takrane, die seine Visionen verstärkten. Da wo Horior der Perfektions-Takran fehlte, hatte er bestimmt einen Wahrnehmungs-Takran, oder einen Visualisierungs-Takran. Bestimmt einen mächtigen, mit dem er die Zukunft exakter und gezielter deuten konnte.

Dann nahm Sahinja etwas vollkommen anderes wahr. Eindeutig. Vor ihnen befanden sich Takran-Jäger. Es war keine Vermutung, sondern pures Wissen. Woher sie dieses Wissen hatte, wusste sie nicht. Möglicherweise hatte sich ihr sechster Sinn auch in dieser Sparte weiterentwickelt, sodass sie nun auch noch das Karma anderer Menschen erkennen konnte. Um sicherzugehen stellte sie fest, dass einer von ihnen den üblichen Takran trug, mit dem man Menschen aufspüren konnte. Es war sogar sein eigener! Wenn sie diesen in den Tod schickte, würden eine Menge anderer Takran-Jäger genau diesen Takran verlieren. Diese Genugtuung wollte sie sich nicht entgehen lassen. Ohne dass sie ein Wort an Eogil richtete, rannte los. Dieser war wieder einmal tief im Gedanken versunken und schien gar nicht recht zu verstehen was vor sich ging. Doch er hatte die Situation schnell überblickt und schrie Sahinja hinterher.
Sahinja versuchte seine Worte so gut es ging zu überhören. Sie hatte seit dem sie die Hallen der Stillen Bruderschaft verlassen hatte, kein Bedürfnis mehr gehabt zu töten. Doch sie erinnerte sich noch gut an die Zeiten, wie sie das Kampfgefühl in prickelnde Ekstase versetzt hatte. Das Gefühl, des durch die Adern schießenden Adrenalins und dem Gedanke daran, jeden Moment selbst das Leben verlieren zu können. Sie wollte ihre eintönigen Gedanken, die sich immer nur um den legendären Takran und Horior drehten endlich zur Seite schieben und jene Tage wieder aufblühen lassen, in denen das Töten das Höchste für sie gewesen war.
Sie waren zu viert, allesamt Männer. Das war typisch für dieses Gesindel. Takran-Jäger waren zumeist Männer. Auf Eogil konnte sie nicht zählen, der würde nicht einmal dem grausamsten Verbrecher ein Haar krümmen. Aufhalten würde er sie auch nicht, das würde Sahinja ihm nie verzeihen und das wusste er auch.
Sahinja war längst in ihre Reichweite gelangt, aber noch hatte derjenige mit dem Takran zum Aufspüren von Menschen, sie nicht entdeckt. Das würde ihr einen zusätzlichen Vorteil verschaffen. Sie eilte zu ihnen heran und ließ ihre Schatten voraus fließen. So schnell sie konnte legte sie jedem einen Schattenschlinge um den Hals. Gleichzeitig schuf sie ein Schwert aus purem Licht.
Jetzt hatten die vier Männer auch sie bemerkt. - Ihr sechster Sinn hatte es ihr verraten. Sie zog die Schattenschlingen zusammen und stellte sich ihnen entgegen. Vier Köpfe rollten zu Boden. Der Kampf war vorüber.
Sahinja stand vor den vier Leichen und wartete auf ihre Züge. Was war hier los? Hatte sie wirklich schon gewonnen? Sie hatte doch noch nicht einmal zu kämpfen begonnen. Das musste ein Bluff sein! Sie wollten sie in Sicherheit wiegen und aus dem Hinterhalt angreifen. Doch es gab keinen Hinterhalt, das nahm sie mit all ihren Sinnen wahr. Ihre eigenen Takrane waren verschwunden.
Das war irgendwie nicht richtig. Sie hatten nicht einmal die Chance gehabt sich zu verteidigen. Sie hatten nicht einemal richtig begriffen, dass sie angegriffen wurden. Sahinja hatte immer nach mehr Macht gegiert, doch das war zu viel. All der Spass, den sie während eines Kampfes gehabt hatte, war ihr nun für immer genommen worden. Sie war viel zu mächtig, als dass sie noch einen Kampf verlieren konnte. Es würde nur noch einen sinnvollen Kampf geben und das war der Kampf gegen Horior.
Eogil war neben sie herangetreten und sah betroffen auf die vier kopflosen Männer. Was er wohl dachte? Was er wohl von ihr dachte? Von der Mörderin. Sahinja wollte es nicht wissen. Sie schämte sich davor was Eogil von ihr denken konnte und wagte es nicht in seine Gedanken einzutauchen. Was war bloß los mit ihr? Sie hatte sich noch nie etwas aus Eogils Gedanken gemacht und der Tod von Menschen hatte auch noch nie ein Gefühl in ihre erregt. Sahinja graute vor ihrer eigenen Tat. Sie fühlte sich so hilflos und ängstlich. Dann musste sie sich übergeben.
Es war die Übelkeit, die sich mit der Sucht in ihr ausgebreitet hatte und die sie schon die letzten Tage begleitet hatte. Im ersten Moment fühlte es sich gut an, endlich nachgeben zu können, doch dann schämte sie sich umso mehr gegenüber Eogil. Als sie auch noch den letzten Rest ihres Mageninhaltes auf den Boden gelegt hatte, ergriff Eogil das Wort.
„Lass uns einen Platz für die Nacht suchen.“, sagte er ruhig, immer noch den Blick auf die vier Toten gerichtet.
Sie war froh, dass Eogil ihr keine Vorwürfe machte und dass er keine Worte an sie richtete, denn nun hatte sie wieder mit den Tränen zu kämpfen. Sie war eine ruchlose Mörderin. Wieso störte sie das? Und was um alles in der Welt war los mit ihr? Die Takrane veränderten sie! Sie zerstörten sie!. Sie wollte all das hinter sich lassen, alles vergessen, wie sie es schon damals getan hatte. Aber sie musste die letzten beiden Takrane haben. Sie war süchtig danach und sie brauchte sie.

Obwohl Sahinja ihren ganzen Mageninhalt geleert hatte, war ihr immer noch übel. Sie hatten ihr Lager im Windschatten eines riesigen Felsens gewählt und ein Feuer entfacht. Jetzt war es wieder soweit. Sahinja würde essen müssen. Die Nahrungsaufnahme ekelte sie an und anschließend würde es auch nicht besser sein, denn dann müsste sie schlafen und das konnte sie auch nicht mehr. Es würde wieder ein Herumwälzen werden und ein ständiges Warten darauf, dass der Schlaf kam. Die ganze Nacht würde sie sich Gedanken darüber machen, dass sie doch eigentlich weiterreisen musste und sobald sie am nächsten Morgen erwachte, würde sie noch müder sein, als sie eingeschlafen war. So war es nicht richtig, das Leben spielte ihr einen Streich. Je näher sie ihrem Ziel kam, umso elender ging es ihr. Wie aus dem Nichts kam ihr eine Vision in den Sinn.

„Ich werde in eurem Blut baden.“, schrie eine in Licht gehüllte Gestalt mit vollkommen verzerrte Stimme.
Dann schoss der Träger dieser Stimme eine Scheibe aus gleißendem Licht auf einen Soldaten, welche ihn, in der Mitte zerteilte. Der Oberkörper des Soldaten rutschte von seiner Hüfte und zugleich knickten seine Beine weg. Anschließend ließ der wahllos Tötende Schatten in den Mund eines weiteren Soldaten fließen, diese dehnte er aus und sein Opfer explodierte von innen heraus. Blut und Körperteile spritzten in alle Richtungen und besudelten den leuchtenden Angreifer von oben bis unten. Doch daran schien er sich nicht zu stören, viel mehr brachte es ihm nur in höhere Ekstase.
„Ich werdet alle sterben. Jedem einzelnen von euch werde ich den Kopf abreißen.“
Dann ging er auf eine weitere Gruppe zu und vollbrachte sein todbringendes Werk. Sahinja fühlte sich bei diesem Anblick an ihr Morden an der Stillen Bruderschaft zurückversetzt. Nur dass ihr dieser Anblick viel grausamer erschien. Als Sahinja genauer hinsah traute sie ihrer eigenen Vision nicht: Dieses wütende Monster war Eogil.

Schockiert und entsetzt sah sie Eogil ins Gesicht, ohne darauf zu achten, was sie selbst für einen Gesichtsausdruck dabei machte.
„Also hattest du auch diese Vision.“, sagte Eogil deprimiert, als er wiederum ihre Gedanken gelesen hatte.
„Soll das heißen, dass du ebenfalls diese Vision schon einmal hattest?“, fragte Sahinja vollkommen verdattert.
Sie konnte einfach nicht glauben, dass Eogil zu solch grausamen Taten fähig war. Es waren zwar die Soldaten Horiors, aber es waren letzten Ende auch die Menschen, über die er in der Zeit als Berater des Königs mitentschieden hatte. Es waren diejenigen für die er all die Strapazen auf sich nahm. Eogil, der strahlende Held, der Kämpfer für Recht und Ordnung, sollte das Werk eine blutrünstigen Bestie vollbringen?
„Ja ich hatte diese Vision schon oft und in vielen verschiedenen Ausführungen.“
„Das kann ich nicht glauben.“, sagte Sahinja noch immer fassungslos. „Wieso hast du mir nichts gesagt?“
Eogil zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht war in tiefe Trauer gehüllt.
„Seit wann weißt du es schon?“
„Als mir Träger den Takran der Schatten gegeben hatte, habe ich meine erste Vision erhalten.“
Das war also der Grund für Eogils seltsames Verhalten. Deshalb hatte er sie nie für ihr massenhaftes Töten verantwortlich gemacht. Weil er genau gewusst hatte, dass er es nicht anders machen würde. Und jetzt war auch erklärt warum er immer abwesender wurde. Mit jedem Schritt kam er seiner dunklen Seite näher. Es muss entsetzlich für ihn sein, zu wissen, dass er in kürzester Zeit zu einem ruchlosen Massenmörder wird. Genauso wie sie. Genauso grausam zu sein wie Sahinja es war. Dann erhob sich Eogil ruckartig.
„Eine Kriegslist Horiors, die ich schon oft miterlebt habe. Du musst zuerst deine Feinde moralisch schwächen, um sie effizienter vernichten zu können.“, es war die reine Wut die aus ihm sprach „Ich weiß nicht wie er mich zu solchen Dingen verleiten lassen kann. Er hat mir doch schon alles genommen. Was kann man mir denn noch nehmen?“, fragte Eogl hilflos, dann wurde er zunehmend energischer. „Ich versuche herauszufinden welche Falle Horior uns stellt, ich versuche einen Plan zu entwickeln um ihn das Handwerk zu legen, ich versuche herauszufinden, wieso ich ein Massenmörder werde und zu all dem bringen mich diese legendären Takrane noch um den Verstand. Ich kann an nichts anderes mehr denken, als an diese verdammten Takrane. Ich werde noch wahnsinnig!“
Also war Eogil dem Wesen der Takrane genauso ausgeliefert wie sie. Sahinja wusste nicht was sie machen sollte. Wenn etwas nicht nach Plan lief, war Eogil derjenige, der alles wieder in Ordnung brachte. Er war derjenige, der denen Beistand leistete, die welchen brauchten. Jetzt brauchte er Beistand, doch die einzige, die sich in der Nähe befand, war sie. Was sollte sie jetzt tun? Für so etwas war sie nicht gemacht.
Eogil hatte sich wieder hingesetzt und die Hände im Gesicht vergraben.
Sahinja dachte nach. Was würde Eogil an ihrer Stelle machen? Irgendwie kam ihr der Gedanke vollkommen verblödet vor. Als erstes würde er in ihre Gedanken eintauchen, das machte er immer. Nachdem sie ihr Unbehagen unter Kontrolle gebracht hatte, tat sie dies, blockte aber sofort wieder ab. Die Zuversicht und Freude, für die sie Eogil so hasste, schien niemals existiert zu haben. Nur noch Angst und Hoffnungslosigkeit waren vorhanden. Mit solchen Gefühlen konnte sie nicht umgehen. Die einzigen Emotionen auf denen Sahinja sich verstand waren die des Zorns und Hasses. Wenn sie sich mies fühlte, machte sie anderen das Leben schwer. Doch das würde sicherlich kein akzeptabler Rat für Eogil sein.
Aber was sollte sie sonst tun? Ihn trösten? Aufmunternde Worte zusprechen? Sicher nicht! Lieber würde sie sich selbst das Leben nehmen. Außerdem war ihr klar, dass sie mit ihren Worten nur mehr Schaden als Nutzen anrichten würde. Das beste was sie tun konnte war, wenn sie einfach sitzen bleib und nichts sagen oder tun würde, genauso wie Eogil es getan hatte, als es ihr dreckig gegangen war. Dann wusste sie, dass genau das, die richtige Entscheidung war.
Nach kurzer Zeit und einiger Überwindung, war sie abermals in Eogils Gedanken eingetaucht. Neben vielen anderen unsinnigen Gedanken Eogils, hatte sie den Grund erfahren, weshalb er es so lange hinausgezögert hatte, den Takran des Lichts von Trubar zu bekommen. Ihm war damals schon klar gewesen, dass die Sucht in ihm nur noch stärker werden würde und ihn mehr zu dem Monster machen würde, das er schon bald sein würde. Und obwohl sie es nicht glauben wollte, Eogil hatte es auch ihr zuliebe getan. Er hatte gewusst, dass auch sie der achte legendäre Takran auffressen würde und hatte es somit so lange wie möglich hinausgezögert.
Aus diesem Blickwinkel gesehen, war es wieder eine seiner edlen Taten, welche Sahinja so an ihm hasste. Doch Rückblickend war sie froh, dass Eogil so gehandelt hatte, denn damit war ihr zumindest eine kurze Zeitspanne verblieben, in der sie noch vernünftig essen und schlafen hat können.
Sahinja kam sich nun ebenfalls so hilflos und ausgeliefert wie Eogil vor. Aber nicht Aufgrund der Tatsache, dass Eogil schon bald zu einem Massenmörder wurde, sondern Aufgrund der letzten beiden Takrane. Mittlerweile verabscheute sie es, sie in Besitz zu nehmen. Sie hatte es immer geliebt frei zu sein. Tun und lassen zu können was auch immer sie wollte. Aber nun war es wieder jemand anders, der ihre Entscheidungen traf. Es war, als hätten die legendären Takrane von ihr Besitz ergriffen und befehligten ihren Geist und ihren Körper. Die Sucht verlangte von ihr, dass sie sich die letzten beiden Takrane aneignete und genau das würde sie auch tun. Wieder einmal fragte sie sich um wie viel schlimmer es sein würde, sobald sie den neunten Takran besaß. Doch diese Frage brauchte sie sich nicht mehr zu stellen, sie konnte es ohnehin schon an der Vision ablesen, die sie über Eogil gehabt hatte. Wenn ein neunter Takran, einen gutmütigen Menschen wie Eogil zu einem willkürlichen Mörder machen konnte, was würde er aus ihr machen?
Die Zeit verstrich und beide hatten sich noch immer nicht von ihren Plätzen erhoben. Keiner hatte ein Wort gesagt und schließlich durchbrach Eogil die Stille. Es war wieder der übliche Tonfall des zuversichtlichen Eogils, der den unerbittlichen Glauben an das Erreichen seiner Ziele verbreitete. Der Charismatische Anführer, den jeder liebte.
„Nun, es gibt noch ein Problem, das zu klären wäre: Laut unserer letzten Vision wird Horior noch immer ein Gott und wir sehen ihm dabei mit langen Gesichtern zu.“
Hätte Sahinja diesen prompten Stimmungswechseln nicht mit eigenen Augen und Ohren miterlebt, sie hätte es nicht geglaubt. Solche Stimmungsschwankungen kannte sie ansonsten nur von Alchemisten. Doch das war nun einmal die typische Art von Eogil. Er spielte sich das vor, was er brauchte. Und jetzt brauchte er Zuversicht, Entschlossenheit und Mut. Er hatte vorhin nur seine Fassade nicht aufrecht erhalten können, als sie die Vision von ihm gehabt hatte.
Sahinja spielte mit. Ein Schauspieler war ihr immer noch lieber, als ein eingeschüchterter Angsthase.
„Wie du schon gesagt hast, Eogil. Sobald wir einen Plan haben, wird Horior davon wissen und seinen abändern. Dann sind wir genauso weit wie vorher. Nur mit dem Unterschied, dass uns die Möglichkeiten ausgehen. Der beste Plan wäre also keinen Plan zu haben.“
„Das ist das Dümmste was ich je gehört habe.“
„Wir machen uns einen spontanen Plan. So, dass er seinen nicht mehr rechtzeitig anpassen kann. Dann schlagen wir zu. Wir müssen nur an ihn herankommen und ihm die Luft abschneiden.“
„Es ist zwar das Dümmste was ich je gehört habe, aber es könnte funktionieren.“, sagte er nachdenklich und schüttelte gleichzeitig seinen Kopf.
Auch wenn Eogil zuversichtlich war, Sahinja war es nun nicht mehr. Das war wirklich vollkommen idiotisch. ,Der Plan war es, keinen Plan zu haben‘. Normalerweise entsprangen solche Worte, aus den Gedanken von Alchemisten.
Dennoch beließen sie es darauf. Jetzt, wo alles geklärt war, legten sich zum Schlafen nieder. Schon in wenigen Tagen würden sie ihr Ziel erreichen. Sie würden den Ort erreichen, an dem Sahinja ihren neunten Takran erhält und Eogil zu einem wahllosen Mörder wird.

Kapitel 18 - Geschichte eines Helden (Teil 1/2)



Der Takran der Vergangenheit befand sich in einer Festung und sich in diese einzuschleichen, war lächerlich einfach. Eogil und Sahinja hatten den Takan der Täuschung eingesetzt und sich unsichtbar gemacht. Spielerisch waren sie an den beiden Wachposten am Eingangstor vorbei spaziert. Aufgrund des Takrans der Zeit, standen die Männer und Frauen wie Statuen auf ihren Beinen und bewegten sich in schneckenartigem Tempo. Das einzige was ihnen jetzt noch in die Quere kommen konnte, war der Takran mit dem man Menschen aufspüren konnte. Obwohl es ein paar unter den Soldaten gab, die über einen solchen verfügten, konnten Eogil und Sahinja den Takran der Zukunft benutzen, um eine kurze Zeitspanne vorauszusehen. Somit konnten sie allen möglichen Gefahren aus dem Weg gehen. Mittels des Takrans der Gedanken konnten sie sich verständigen. Es war eine ungewöhnliche Art der Kommunikation, aber immerhin war es eine.
Sahinja wurde sich wieder einmal ihrer unheimlichen Übermacht bewusst. Doch das Gefühl welches sie damit verband war kein wohliges. Die Tage der Reise hatten sehr an ihr gezehrt. Sie war stark abgemagert und fühlte sich ständig müde und schwach. Welch bittere Ironie. Je mächtiger sie wurde, umso schwächer wurde sie. Oft hatte sie sich bei dem Gedanken erwischt, dass sie einfach nur noch sterben wollte, um dem Leiden ein Ende zu bereiten. Aber sie durfte nicht aufgeben, zuvor musste sie noch die letzten beiden Takrane an sich bringen.
Eogil wählte den rechten Weg, welcher direkt zu den Kerkern führte und direkt zu dem Takran der Vergangenheit. Sahinja folgte ihm. Mittlerweile war es ihr wieder lieber, wenn Eogil die Führung übernahm. Das Schwindelgefühl war stark in ihr, sodass ständig ihre Konzentration schwand und sie jederzeit zusammenzubrechen drohte. Alle Anstrengungen, die sie noch unternahm, war die süchtig-machende Wirkung der Takrane, alleine mit ihrem Willen, abzuschwächen. Dies war der letzte Funke ihres Widerstandes, der sie davon abhielt, nicht ganz zu einer willenlosen Sklavin ihrer eigenen Begierden zu werden. Es war ein eigenartiger Versuch, denn genau das war es, was sie noch antrieb. Sahinja kämpfte mit einem erneuten Schwächeanfall und musste eine kurze Rast einlegen.
Eogil, den sie aufgrund seiner Unsichtbarkeit nur noch mit ihrem sechsten Sinn wahrnehmen konnte, blickte sie fragend an, ob sie bereit wäre in die tiefen Gemäuer der Festung einzutreten. Es bedurfte keiner klar formulierten Worte oder Gedanken mehr, um ihre Absichten eindeutig kund zu tun. Ein flüchtiger Gedanke an das Vorhaben genügte. Mitleidig stimmte Sahinja ihm zu. Sie wollte es endlich hinter sich bringen, auch wenn sie wusste, dass anschließend alles nur noch schlimmer sein würde.
Eogil hatte eine sichere und weitaus weniger auffällige Form des Eindringens gewählt. Er hat sich in die Gedanken des Wächters eingeschlichen und ihn auf eine Weise manipuliert, sodass dieser ein Bedürfnis verspürte, einen kurzen Sicherheitsrundgang durch die Kerker zu machen. So würden sie einfach und unbemerkt durch die verschlossene Türe kommen. Sahinja beschleunigte ihr Zeitempfinden um der ganzen Aktion einen erheblichen Antrieb zu verleihen.
Als der Wächter die Türe entriegelt und geöffnet hatte, ließ er, gelenkt von Eogil, wie durch puren Zufall den Schlüssel fallen und die beiden Eindringlinge konnten bequem an ihm vorbei huschen, als dieser sich danach bückte. Anschließend hatte er aufgrund Eogils Gedankenmanipulation schlagartig wieder das Bedürfnis verloren, den Rundgang zu machen und setzte sich träge auf seinen Stuhl zurück.
Sofort merkte Sahinja den Temperaturunterschied. Trotz des Kälte-Takrans war sie wegen ihrer Schwäche sehr anfällig gegenüber Temperaturschwankungen geworden. Grundlos wurde ihr von einem Moment auf den anderen eiskalt und schlagartig wieder brennend heiß. Wie aus dem Nichts kam ihr die Erkenntnis, dass sie mit dem Erwerb des Vergangenheits-Takrans auch ihren Kälte-Takran verlieren würde. Der Schnee war zwar geschmolzen und der Frühling kehrte einher, doch in den Nächten konnte es immer noch bitter kalt werden. Und in ihrer derzeitigen Verfassung, würde sie die eisigen Nächte sicherlich nicht überstehen. Mit diesem Problem wollte sie sich aber erst später auseinandersetzen. Jetzt hatte nur der legendäre Takran Priorität.
Unweigerlich musste Sahinja an den Tag ihrer eigenen Gefangennahme und ihrer Folter zurückdenken. Damals, hatte sie noch nicht mit Eogil den selben Feind gehabt. Damals war sie, töricht und selbsteingenommen wie sie nun mal ist, geradewegs in die Arme Horiors Foltermeister gelaufen. Heute würde sie sich einem solchen Risiko nicht mehr aussetzen. Zu hoch wäre das Risiko, dass er durch einen solch dummen Umstand ihren legendären Takran erhalten könnte. Anschließend hätte sie den Rest ihres Lebens in diesen kalten und eintönigen Kerkern verbringen müssen.
Genauso, über die Jahre hinweg gefangen, wie der Träger des Takrans der Vergangenheit und wie Mepanuk und Zaroir, die nun ebenfalls Gefangene Horiors waren. Manche hatten Glück, andere weniger. Trubar war zu seinem Glück und dem Glück Eogils und ihr entkommen. Opheustos hatte mithilfe seines Takrans die Lage richtig eingeschätzt und war den Fängen Horiors rechtzeitig entkommen. Träger hatte die Isolation in seinen eigenen Hallen gewählt und sich somit selbst die Fesseln auferlegt. Wie der Kopfgeld-Jäger es vollbracht hatte Horior zu entkommen wusste sie nicht. Doch der Takran der Täuschung war mächtig und sein Besitzer war ein fähiger Krieger. Blieben nur noch sie und Eogil, die einzigen welche in den Wiederstand gegangen waren und die einzigen, die Horior noch etwas entgegenzusetzen hatten.
Dann hatten sie ihr Ziel erreicht. In einer der linken Zellen war eine alte Frau untergebracht, welche den Takran der Vergangenheit auf ihrem rechten Fuß trug. Damit hatte Sahinja nicht gerechnet. Sie war davon ausgegangen, dass es sich hierbei ebenfalls um einen Mann handeln würde. Siea hätte gedacht, sie sei die einzige Frau welche einen der legendären trug. Doch das waren nicht das eigentliche Thema, das sie beschäftigte. Wieso hatte sie nicht ihren sechsten Sinn eingesetzt um die Umgebung abzutasten? Solche Dinge hätten ihr nicht entgehen dürfen. In diesem Fall hatte es keine Konsequenzen, aber schon oft hatte sie ihr Leben nur aufgrund banaler Kleinigkeiten behalten können. Ihre körperliche Schwäche ließ sie alle Vorsicht vergessen. Hoffentlich würde es nicht so weit kommen, dass sie bei einem Kampf vergessen würde sich zu verteidigen.
Außer ihr befand sich keine Menschenseele in den Zellen. Für diese eine alte Frau hatten sie irritierender Weise zwei Wachen aufgestellt. Horior war zurecht paranoid gewesen.
Eine einfache Gedankenmanipulation um sie fortzuschicken würde nicht reichen. Sie würden sich besinnen und zurückkehren. Die Lust am Töten war Sahinja ebenfalls vergangen und für einen gut gezielten Faustschlag der sie bewusstlos schlug, war sie zu schwach. Anstelle dessen legte Sahinja ihre Schatten um den Fackelhalter und fasste ihn fest in Griff. Ihre Schwäche bezog sich glücklicher Weise nur auf ihren Körper und nicht auf den Umgang mit ihren Takranen. Die Schatten waren immer noch so stark wie eh und je und mit ihrer Perfektion würde sie zielsicher treffen.
Gesagt - getan. Es waren zwei dumpfe Aufschläge zu hören und die beiden Wachen stürzten durch den Zeit-Takran in Zeitlupe, bewusstlos zu Boden. Sowohl Eogil als auch Sahinja lösten die Wirkung des Zeit-, und des Täuschungs-Takrans auf. Nun waren sie für die alte Frau zu sehen und bewegten sich in ihrer Geschwindigkeit. Ein gut gezielter Treffer von Eogil mit dem Licht-Takran und die Kerkertür stand offen. Jetzt wurden sie auch von der Frau bemerkt.
Sie trug schäbige Kleidung, die irgendwann einmal eine gute Qualität besessen hatten. Das lange weiße Haar hing ihr kraus den Rücken herab. Sahinja wollte gar nicht wissen, wie lange die Alte schon in diesen vier Wänden verbracht hatte. Alles was sich darin befand war ihr Schlafplatz, welcher lediglich aus aufgehäuften Stroh bestand. Nicht einmal einen anständigen Ort für ihre Notdurft hatte sie. Verwirrende Gefühle keimten in Sahinja auf: Trauer, Sorge, Mitleid. Sofort schüttelte sie diese ab. Das waren stets die Charaktereigenschaften, für die sie andere verachtete. Es waren die Eigenschaften, die einem schwach machten.
„Wer, seit, ihr?“, fragte die alte Frau schwach.
Man merkte ihr sofort an, dass sie schon lange nicht mehr gesprochen hatte und dass sie sich schwer bei der Formulierung ihrer Worte tat.
„Ich bin Lord Eogil, das hier ist Sahinja, eine Freundin. Wir sind gekommen um euch zu befreien.“
Wie machte es Eogil, dass seine Stimme immer noch so kraftvoll wirkte? Man merkte ihm die Nachteile der legendären Takrane gar nicht an. Verdammter Idiot.
Sahinja tat sich schwer die Gedanken der Alten wahrzunehmen, jedoch nicht aufgrund ihrer körperlichen Schwäche.
Es war schwer für die alte Frau einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte mit der langen Zeit der Isolation nicht nur einen Teil ihres Sprachvermögens eingebüßt, sondern auch einen Teil ihres Geistes.
„Eogil? Rat Pontions?“, fragte sie träge.
„Ja, so ist es.“, entgegnete ihr Eogil „Oder besser ausgedrückt, so war es einmal.“
„Horior... mmmh.“
„Horior hat Pontion gestürzt und getötet.“, vervollständigte Eogil ihren Satz.
„Getötet?“, fragte die Alte nun mit etwas stärkerer Stimme.
Anscheinend hatte sie vieles vom aktuellen Weltgeschehen nicht mitbekommen und die Wächter hatten ebenfalls nichts dazu beigetragen, sie am Laufenden zu halten. In Sahinja drängte sich der Gedanke auf, die Alte einfach bewusstlos zu schlagen und sich das zu nehmen was sie wollte. So wie sie es schon immer getan hatte. Aber jetzt kam ihr dieses Verhalten mehr und mehr falsch vor. Zu vieles hatte sich ereignet, zu sehr hatte sie sich verändert. Das Wissen um ihre Vergangenheit war zurück, sie trug den sinnlosen Tod hunderter Menschen in ihrem Herzen und die negative Wirkung der legendären Takrane taten ihr Übriges.
„Ja“, setzte Eogil an und versuchte einen Anfang zu finden, an dem er ansetzen konnte um der Alten die Geschichte so schnell wie möglich zu erklären. Doch dann wurde er von der Alten unterbrochen.
„Ich, sterben... will.“
Bei diesen Worten flammten irritierender Weise die Gedanken an ihr früheres Leben hoch. Es war das was sie wollte, aber nicht mehr haben konnte. Der Grund warum sie nicht mehr leben wollte. Sie war einst Bibliothekarin gewesen, die ihr Handwerk mit Hingabe verrichtet hatte. Jetzt war sie alt und hatte nicht mehr die geistigen Fähigkeiten, diesen Beruf auszuüben. Sie hatte alles verloren was ihr wichtig war.
Das Gespräch wandte sich in eine Richtung, die weder Eogil noch Sahinja gefiel. Sie durfte nicht sterben, sie brauchten ihren Takran. Aber Eogil hatte das Gespräch schon wieder aufgenommen und redete ihr mit zuckersüßer Stimme Mut zu:
„Jetzt sehen wir erst einmal, dass wir aus diesem dreckigen Loch kommen, einen Platz an einem gemütlichen Feuer finden und dort eine ordentliche Mahlzeit zu uns nehmen. Dann sprechen wir über alles weitere.“
„Doch zuvor wollen wir den Takran.“, sagte Sahinja energisch und war von ihren eigenen Worten überrascht. Wieso hatte sie das gesagt? Sie hatte gar nicht vorgehabt etwas zu sagen. Es war die Gier nach dem neunten Takran gewesen, welche sie ständig zu unterdrücken versucht hatte. Sie hatte aus ihr gesprochen und mit den ausgesprochenen Worten war auch ihr rücksichtsloses und hinterhältiges Wesen zurückgekehrt. Sie wollte den Takran. Sie wollte ihn jetzt und sie würde ihn sich auch holen. Koste es was es wolle.
Der Geist der ehemaligen Bibliothekarin war schwach und leicht zu manipulieren. Willig gab sie die Stelle frei an der sich ihr Takran befand und Sahinja kopierte sich den Takran. Ebenso Eogil, auch wenn er sich um vieles besser im Griff hatte, konnte er der verführerischen Art des Takrans nicht widerstehen.
Ein güldenes Licht strahlte von Eogil und Sahinja aus. Es hatte die selbe Farbe wie die Takrane die sie in den Hallen Sheyrs gesehen hatten. Es war das göttliche Licht. Wie eine Aura kreiste es in güldener Farbe um sie. Schlagartig merkte Sahinja, dass es ebenso das Licht war, welches sie in der Vision gesehen hatte, die von Eogil, dem wahllosen Killer handelte.
Doch das war nicht das Einzige was in diesem Bruchteil der Sekunde geschah. Wie als hätte ihr Suchtverhalten ihren Körper unter besitz genommen, wandte sie den Takran der Vergangenheit auf Eogil an. Schlagartig wurde sich Sahinja Eogils gesamter Vergangenheit bewusst.

~~~~~~~~~~~~~~~Eogil~~~~~~~~~~~~~~~

„Hör mir zu, dummer Junge.“, sprach eine stärkere Frau auf den keinen Eogil ein.
Eogil hatte seine Eltern durch einen Homunculus-Angriff der Alchemisten verloren. Die Erwachsenen des Dorfes hatten die Kinder in einem Erdloch versteckt und dieses verdeckt. So waren zumindest die Kleineren am Leben geblieben, während ihre Eltern versucht hatten ihr Hab und Gut zu verteidigen. Als man sie gefunden hatte war Eogil einer der wenigen die Glück gehabt hatten. Er hatte eine Tante, die Köchinnen im Königsschloss Venundur war und sich seiner annahm. Bei ihr konnte er sein Leben weiterführen. Was aus seinen ehemaligen Freunden passiert war, hatte er nie erfahren. Die Tante war zwar unfreundlich und grob, aber irgendwo in ihrem massigen Körper hatte sie ein Herz und dieses Herz hatte dem kleinen Jungen das Leben gerettet.
„Du bringst diesen vergammelten Fisch zurück auf den Markt und wenn dir der Händler dafür nicht einen frischen eintauscht, sagst du ihm, dass ich persönlich zu ihm komme und ihm dieses Stück Müll ins Maul stopfe.“
„Ja, Tante.“, antwortete der schüchterne Junge.
Der Weg vom Marktplatz bis zum Eingang der Dienstboten und weiter zur Küche, war lang und kompliziert gewesen. Eogil war sich nicht mehr sicher, ob er noch den genauen Weg im Kopf hatte. An den schmierigen Fischverkäufer konnte er sich allerdings noch genau erinnern. Dieser war ihm bereits im ersten Moment zwielichtig erschienen. Mutlos machte sich Eogil auf den Weg. Der Schmerz um den Verlust seiner Mutter und seines Vaters, saß immer noch schwer in seinem Herzen.

„Hey du!“
Es war der Königsjunge, der ihn gerade angesprochen hatte. Ihn, Eogil, einem dummen und unwichtigen Küchenjungen. Das Adrenalin schoss ihm in die Adern. Der einfache Pöbel unterhielt sich nicht mit den Edelleuten. Und ganz besonders sollte man die Begegnung mit dem Königsjungen Pontion meiden. Dieser Junge hatte nur Flausen im Kopf und brachte jeden mit dem er verkehrte in Schwierigkeiten.
Eogil hatte soeben einen Botengang unternommen und vermutlich wurde er den restlichen Tag nicht mehr gebraucht. Das war die Zeit in der er sich für gewöhnlich unsichtbar zu machen hatte.
„Meint ihr mich, mein Prinz?“, entgegnete Eogil ihm schüchtern und ängstlich.
Was tat der Prinz bloß in den Räumen der Dienstboten? Eogil hatte schon klar im Kopf wie er von der Tante für einen kommenden Fehler bestraft wurde. Und die festen und harten Schläge ihres massigen Handschlages schmerzten ungeheuerlich.
„Sei kein Huhn. Ist ja sonst keiner hier.“
Es war keinerlei Trauer an der Miene des Prinzen abzulesen. Vor kurzem hatte auch er seine Mutter durch einen heimtückischen Angriff der Alchemisten verloren. Sein Vater, der König, hatte ihm gerade noch entgehen können, aber er hatte für sein Leben einen hohen Preis zahlen müssen.
Der königliche Wein war vergiftet gewesen. Selbstverständlich hatte der Vorkoster davon probiert, aber als dieser ihn für ,sauber‘ erklärte, war das Missgeschick bereits begangen. Der König, seine Frau und noch viele andere hohe Würdenträger hatten davon probiert.
Dann, so hatte seine Tante ihm erzählt, war der Vorkoster zu ihnen mit tobenden Schreien zurückgekehrt. Erst hatten die Würdenträger seine Aufbringung nicht verstanden, aber dann stand auch ihnen das Entsetzen im Gesicht. Der Vorkoster war um Jahre gealtert und das selbe geschah nun auch mit ihnen. Mit jedem Augenblick rückten sie dem Tode in rasender Geschwindigkeit näher. Man hatte die Vergiftung aufgrund ihrer schleichenden Wirkung anfangs nicht erkannt. Auch der Wein hatte seinen üblichen Geschmack beibehalten.
Sofort hatte der König seinen Rat für alchemistische Angelegenheiten zu sich schicken lassen. Sie war ebenfalls eine Alchemistin und die einzige, welche im Stande war, den König vor dem Gift zu retten. Sie war auch die einzige Alchemistin im Reich, die nicht verfolgt und hingerichtet wurde. Obwohl sie die Position eines Rates bezog, wurde sie dennoch verachtet und verspottet. Alleine das Wort des Königs hielt sie am Leben.
Uratora trug anstelle ihres rechten Auges einen alchemistischen Takran. Es war ihr einziger und ein weiterer wurde ihr nicht gestattet. Jeder war im Bilde darüber, dass umso mehr alchemistische Takrane jemand trug, umso verrückter dieser wurde. Uratora hatte rasch einen Trank zubereitet, der den König von seiner rasenden Alterung heilen sollte. Doch sie hatte nicht die geeigneten Zutaten und zu geringe Fähigkeiten, um diesem machtvollen Gift entsprechend gegen zu wirken. Was sie gebraut hatte reichte nur für den König alleine und hatte die Wirkung des Giftes lediglich verlangsamt. Die Königin, sowie alle anderen Würdenträger, welche ebenfalls von dem vergifteten Wein getrunken hatten, waren gestorben und in wenigen Jahren würde auch der König dem alternden Gift erlegen sein.
Pontion und sein Vater hatten am Sterbebett der Mutter getrauert und ihrer rasenden Alterung beigewohnt. Es muss schrecklich für den Prinzen gewesen sein, seiner eigenen Mutter beim sterben zuzusehen.
Dennoch merkte man seiner verspielten Miene, nichts von den kürzlich vergangenen Ereignissen, an.
„Was wollt ihr denn?“, fragte Eogil.
Und sofort gab er sich für diese plume Anrede innerlich eine Ohrfeige. In solch hohen Kreisen redete man stets mit vollkommen sinnlos, gestelzten Redewendungen, von denen Eogil nicht einmal die genaue Bedeutung verstand. Die korrekte Anrede wäre gewesen: ,Was ist euer königlicher Begehr, mein edler Prinz.‘, und dazu musste man noch eine Verbeugung machen, die so tief war, dass die Nasenspitze den Fußboden berührte.
„Schnell, du musst mir helfen. Ich brauch ein Versteck. Die Schergen des Schreckens sind mir auf den Fersen.“
Mit ,Schergen des Schreckens‘ musste Pontion wohl seine Lehrmeister meinen. Es war allgemein bekannt, dass der Junge sich einen Spaß daraus machte, mit ihnen das Katz-und-Maus-Spiel zu spielen. Er hatte keinerlei Respekt vor jeglicher Autorität und er konnte es sich auch leisten, schließlich war er der Thronfolger.
„Ich kenne einen Ort, an dem ihr euch verstecken könnt.“
Eogil führte ihn zu dem Raum, an dem er sich selbst für gewöhnlich aufhielt, wenn er unerwünscht war und sich unsichtbar zu machen hatte. Es war ein abgelegener Abstellraum, der jedoch nicht mehr genutzt wurde. Hinter diese Türe hatte noch nie jemand geblickt und hoffentlich würde es auch diesmal so sein.
„Und du meinst ich bin hier vor den Schergen des Schreckens sicher?“
Pontions Mine war keineswegs ängstlich, er wirkte viel mehr vergnügt. Für ihn war das alles nur ein lustiges Spiel, aber würden die Suchenden Pontion zusammen mit Eogil hier erwischen, wären die Schläge der Tante sein geringstes Problem. Würden sie auch einen kleinen Jungen die Peitsche spüren lassen?
„Ja, mein Prinz, hier seit ihr sicher.“, sagte Eogil, klang aber alles andere als zuversichtlich.
„Ich dachte mein Vater hat alle Jungen und Mädchen aus seinem Palast geekelt.“, sagte Pontion im verspielten Plauderton.
„Wieso sollte er das tun?“
„Ach, der alte Miesepeter will dass ich mich zu jeder Stunde mit Bildung vollstopfe. Alles was mich ablenken könnte, hat mir die Spaßbremse genommen.“
Es war ein eigenartiges Gefühl, jemandem so vom König sprechen zu hören, selbst wenn es sein Sohn war. Doch Eogil konnte den Standpunkt des Königs nur zu gut verstehen. Von seiner Tante hatte er gehört, dass dem Prinzen jede Ablenkung recht war, um seinen Pflichten nicht nachkommen zu müssen. Doch mit einer solch drastischen Maßnahme, alle Kinder in Pontions Alter aus dem Palast zu vertreiben, damit hätte wohl niemand gerechnet. Das war doch eine vollkommen übertriebene Maßnahme. Anscheinend hatte der König nicht an die Kinder der Bediensteten gedacht. Womöglich hielt er diese für so geringwertig, als dass sein Sohn sich mit ihnen ohnehin nicht abgeben würde.
„Es tut mir leid, das...“, setzte Eogil an um dem Prinzen zuzustimmen, wurde aber von Rufen vor der Tür unterbrochen.
„Die Schergen des Schreckens.“, sagte Pontion mit gesenkter und vergnügter Stimme, als er Eogils Blick deutete und sein Ohr an die Türe gelegt hatte.
Eogil stand der Schweiß auf der Stirn. Für Pontion war es nur ein Spiel, aber für ihn konnte es zum bitteren Ernst werden. Seine Tante würde ihn sicher umbringen und das war nur das geringste Übel.
„Ich glaube nicht, dass er hier lang ist.“, hörten sie eine gedämpfte Stimme von außerhalb.
„Jeder Raum wird durchsucht.“, war eine andere, viel autoritärere Stimme zu hören.
Eogil war kreidebleich. Jetzt würden sie geschnappt werden. Das war sein Ende. Pontion hingegen tat sich schwer sein Lachen zu verkneifen und leise zu bleiben. Er hatte anscheinend ungeheuren Spaß.
Das Adrenalin stand Eogil bis zum Kopf und er spürte seinen Herzschlag an seinem Hals hochschießen. Dann wurde die Türschnalle runtergedrückt und Eogil wäre beinahe vor Angst gestorben. Instinktiv änderte er die Realität ab.
Nichts passierte...
Wieder nichts...
Ein weiterer Fehlschlag...
Und dann...
„Ach vergesst es. Hier ist er bestimmt nicht lang. Versuchen wir es wo anders.“
Eogil sackte mit der Erleichterung eines vom Tode Begnadigten in sich zusammen. Seine schäbige Kleidung war von Schweiß durchnässt.
„Oohhhh, wie hast du das gemacht?“, fragte der Prinz hellauf begeistert. „So etwas hab ich ja noch nie gesehen.“
Eogil versuchte auf seine Frage zu antworten, aber der Schrecken hatte noch immer einen Kloß in seinem Hals hinterlassen und es war ihm unmöglich ein klares Wort zu formulieren.
„Komm wir schleichen ihnen nach und sehen den Blödmännern zu wie sie nach mir suchen.“, sagte der Prinz und hatte wieder ein Lächeln bis über beide Ohren aufgesetzt.
Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Eogil brachte noch immer kein Wort hervor. Doch es war ihm ohnehin nicht erlaubt dem Prinzen zu widersprechen. Ohne, das er es wollte fing sein Kopf an zu nicken.
„Weißt du, Küchenjunge, wir sind ein tolles Team. Wir sollten Freunde werden. Wie heißt du eigentlich?“

„Also los, sag es mir, du Lausbub!“, sagte die Tante wütend.
Eogils Wangen waren rot wie Tomaten von den kräftigen Ohrfeigen der Tante. Als die Tante ein weiteres Mal ausholte, brach Eogil sein Schweigen und er gestand es ihr:
„Ich war beim Prinzen.“
„Du warst beim Prinzen?“, fragte die Tante noch zorniger und holte noch kräftiger aus.
Doch dann besann sie sich und ihre Gedanken schweiften in andere Gefilde.
„Du warst beim Prinzen?“, fragte sie erneut nach und ihre Stimme war nun nachdenklich und lauernd.
„Ja.“, antwortet ihr Eogil zaghaft.
Er wusste nicht was der schlagartige Stimmungswechsel der Tante zu bedeuten hatte. Vermutlich war es nur die Ruhe vor einem noch kräftigerem Sturm.
„Oh, wenn das so ist...“, sagte die Tante nach einer kurzen Pause und war dabei noch immer tief im Gedanken versunken. „Das konnte ich doch nicht wissen... Hab ich dir auch nicht zu sehr weh getan?... Hier nimm einen Keks...“
Eogil war noch immer verwirrt von dem plötzlichen Stimmungswechsel. Gedankenverloren wanderte die Tante in der Hütte umher. Den Keks hatte sie anscheinend schon wieder vergessen. Aber das war Eogils geringstes Problem. Er wartete immer noch auf seine harte Strafe.
„Weißt du mein Junge“, sagte die Tante im mütterlichen Tonfall und zeigte etwas was sie noch nie gezeigt hatte: Zuneigung. „jeder braucht Freunde. Auch du, mein Kleiner. Und unser Prinz braucht bestimmt auch einen Freund.“, die Tante wartete auf ein zustimmendes Nicken von Eogil bis sie weitersprach. „Deshalb wird es von nun an deine Aufgabe sein, dich mit ihm anzufreunden. Hast du mich verstanden?“
Wieder nickte Eogil.
„Wehe dir, du vermasselst es. Dann brauchst du gar nicht mehr nach Hause kommen.“, jetzt waren ihre Worte wieder eindringlich und streng.
Eogil nickte ein weiteres Mal. Noch immer hatte er nicht verstanden was genau den Stimmungswandel der Tante verursacht hatte und wieso sie darauf so erpicht war, dass er sich mit dem Prinzen anfreundete. Er war jedoch froh, dass er seiner Strafe entgangen war. Doch mit dem Prinzen wollte er auch nicht umbedingt zusammen sein. Er hatte zwar immer Spaß mit ihm, aber Eogil hatte stets um sein Leben zu bangen. Hoffentlich würde der König niemals dahinter kommen.

Doch es dauerte nicht lange, bis auch der Adel und der König davon erfahren hatten.
„Ich weiß nicht, ob ich mich in solchen Kleidern wohl fühle.“, sagte Eogil quenglig.
„Jetzt stell dich nicht an wie ein Mädchen.“, sagte Pontion köstlich amüsiert. „Mein Vater sagt ich darf mich nicht mit einem ,Niemand‘ wie du einer bist abgeben. Also machen wir aus dir einen ,Jemand‘.
„Aber das...“, setzte Eogil an und versuchte in die reich verzierten, ausgetragenen Gewänder des Prinzen zu schlüpfen, wurde aber von Pontion unterbrochen.
„Wenn du noch weiter herumnörgelst, werde ich dich von nun an immer nur mit ,Mädchen‘ anreden.“
Eogil seufzte und zog auch noch den Rest über.
„,Kleider machen Leute‘, sagt mein Vater immer. Jetzt bist du ein ,Jemand‘.“
„Ich dachte, das wäre nur ein Sprichwort?“
„Ein Sprichwort, das den Tatsachen entspricht. Jetzt schneide ich dir noch die Haare und dann siehst du aus wie der Sohn eines Edelmannes.“, Pontion kicherte bei diesen Worten.
Eogil schluckte.

„Komm schon.“, sagte der Prinz und seine Augen glänzten bei seinen Worten.
„Was gibt es denn so wichtiges?“, fragte Eogil.
„Sag ich nicht.“, Pontion kicherte wieder.
Und dann waren sie angekommen. Sie befanden sich in einem selten benutzten Seitengang, welcher von der Ratshalle abzweigte.
„Hier ist es.“, sagte Pontion vergnügt.
Eogil sah sich um. Außer einem Wandteppich und den üblichen Fackelhaltern war hier nichts zu sehen.
„Was ist hier?“, fragte Eogil nach.
„Ein Geheimgang.“, antwortete ihm Pontion mit verschwörerischer Stimme und sah verstohlen zu beide Enden des Ganges. „Man muss nur an diesem versteckten Hebel ziehen.“
Pontion zog an einem kleinen Hebel, der sich hinter einem der Fackelhalter befand und es war ein leises Gleiten von Steinen hinter dem Wandteppich zu hören.
„Siehst du.“, sagte Pontion mit gesenkter Stimme und zog den Wandteppich ein Stück zur Seite „Mein Vater hat mir das heute morgen gezeigt. Er hat gesagt, ich darf es niemanden zeigen.“
Eogil war verwirrt.
„Und wieso zeigst du ihn mir dann?“
„Schon vergessen? Mein Vater hat gesagt, ,du bist ein ,Niemand‘‘ und ich darf es ,Niemand‘ zeigen.“
Pontion lachte bei dieser kleinen Wortspielerei.
„Hast du nicht gesagt ich sei jetzt ein ,Jemand‘?“
„Ach, das bezog sich doch nur auf ein Sprichwort.“
Eogil fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Wegen solchem Wissen wurden Menschen getötet.

„Ich wünschte ich gehörte zu dem einfachen Pöbel, wie du.“, sagte Pontion.
Er hatte Eogil wieder einmal über Nacht in seine Gemächer geschmuggelt. An diesem Tag war Pontion in einer seiner seltenen trübsinnigen Stimmungen gefallen.
„Schon bald wird mein Vater nicht mehr sein und dann werde ich über ganz Venundur regieren müssen.“
Eogil horchte zu. In solchen Situationen hatte er gelernt, still zu sein und den Prinzen sprechen zu lassen.
„Ich muss dann Kriege führen, muss mich um das Volk kümmern, mich mit den Jarls herumschlagen, mir das Geschwätz der Bauern anhören und was wird der Dank sein? Man wird mich vergiften, genauso wie man es mit meinen Vater getan hatte. Treffe ich nur eine Fehlentscheidung, kostet das hunderten von Menschen das Leben. Diese verdammten Alchemisten. Ich will das alles nicht.“
Eogil sagte nichts.
„Wenn ich König bin, werde ich all meine Pflichten abtreten. Ich gebe dem Rat alle Vollmachten selbst zu entscheiden, sodass ich nichts mehr zu tun habe und alles wird sein wie bisher.“
Eogil erwiderte noch immer nichts.
„Und dich Eogil, mache ich zu einem meiner Räte, dann können wir für immer Freunde bleiben.“
„Was?“, sagte Eogil verwirrt.
„Ja. Das ist die Lösung.“, sagte Pontion und war schlagartig wieder fröhlich und vergnügt.
„Aber was soll ich denn da machen? Ich hab doch keinerlei Bildung und bin für kein Gebiet geeignet.“
„Ach da finden wir schon etwas.“, entgegnete ihm Pontion hellauf begeistert. „Mir fällt auch schon was ein: ,Rat Eogil, Vertreter des Volkes‘. Hört sich doch gut an.“
„Und was mach ich da?“
„Das weiß ich auch noch nicht so genau. Aber da wird sich sicher schon etwas finden. Die meisten Räte meines Vaters tun nicht wirklich etwas, außer meinem Vater ständig zuzustimmen.“
Eogil gefiel dieser Vorschlag Pontions gar nicht. Für eine solche Aufgabe war er nicht gemacht und er hatte keinerlei Erfahrung in solchen Dingen. Aber vermutlich war es wieder nur eine von Pontions vorübergehenden Launen.
„Keine Sorge mein Freund. Ich werd das schon richten.“, sprach ihm Pontion leidenschaftlich zu „Schließlich ist es nicht wichtig was man sagt, sondern wie man es sagt. Das haben mich meine Lehrermeister in Politik ein ums andere Mal gelehrt. Außerdem bin ich dann der König. Meine Stimme hat Gewicht. Wir sagen einfach so kluge Sätze wie: ,Der Vertreter des Volkes, ist nur ein geeigneter Vertreter, wenn er auch aus ihrer Mitte kommt und ihren Bildungsstand genießt‘. Dann hätten wir schon mal deine Schwächen zu deinen Vorteilen gemacht.“
„Ich weiß nicht ob das eine gute Idee ist.“
„Klar ist das eine gute Idee. Es ist schließlich meine Idee. Und bis dahin werde ich meine Lehrmeister bitten, dir ein paar Bücher in den Mund zu stopfen.“
Eogil seufzte. Schon wieder eine dieser verrückten Ideen Pontions.

„Jetzt ist es soweit.“, sagte Pontion zu Eogil und machte sich auf den Weg.
Es war der Tag an dem er zum König ernannt wurde. Er war noch immer ein Jugendlicher und dem Gewicht der Krone immer noch nicht richtig gewachsen. Aber er war nun einmal der einzige Thronfolger. Sein Vater hatte die Krönung vorgezogen, um ihr noch zu seinen Lebzeiten beiwohnen zu können. Es würde schon ein baldiges Ende mit dem König nehmen.
Eogil hatte in den vergangenen Umläufen viel gelernt. Selbst die Lehrmeister des Prinzen hatten über seine Auffassungsgabe gestaunt. Auch wenn Eogil den Vorschlag Pontions für eine vorübergehende Laune gehalten hatte, versuchte er dennoch so viel wie möglich daraus zu profitieren. Bildung kostete viel Geld und gebildete Menschen wurden stets gesucht. Damit konnte Eogil sich einen Zukunft aufbauen.
Doch Pontion hielt an seinem kindlichen Plan fest. Er war fest entschlossen Eogil als seinen Berater aufzustellen. Er hatte, wie er es beschrieb, ihn mit rhetorischen Kunstgriffen in sein Amt gehoben. Er hatte dem Rat weis gemacht, dass er aus dem Schatten seines Vaters treten müsse, um sich in das Herz des Volkes zu schleichen. Somit wolle er ein weiteres Ratsmitglied aufstellen, welches in ihrem Sinne sprechen sollte. Der königliche Rat, wurde zwar nur im Interesse des Volkes geführt, aber es sollte doch zumindest eine Person aus ihren Reihen anwesend sein.
Nach einer kurzen Absprache katte Pontion das Gespräch in eine Richtung gelenkt und die Eigenschaften der entsprechenden Person zu bereden. Es musste selbstverständlich jemand aus dem Volk sein, nicht aus dem Adel. Er muss ungefähr über den selben Bildungsstand verfügen, durfte aber dennoch kein Dorftrottel sein. Er muss fähig sein und man muss ihm vertrauen können. Außerdem musste er über die Aufgaben eines Rates bescheid wissen.
Es wurden ein paar Personen genannt und Pontion hatte an jedem einen Makel finden können, bis er ihnen schließlich Eogil vorgeschlagen hatte. Erst zu diesem Zeitpunkt hatten die Ratsmitglieder bemerkt, was Pontion wirklich im Schilde geführt hatte. Eogil war schließlich unter den Würdenträger kein Unbekannter geblieben. Doch Pontion hatte seine Fäden schon zu weit gesponnen und der Rat musste trotz allem einsehen, dass letzten Endes Eogil die beste Wahl für dieses Amt war. Er war zwar viel zu jung, aber das war Pontion auch. Außerdem brachte er alle Voraussetzungen mit, welche dieser Posten beanspruchte.
Sobald Pontion die Krone auf seinem Haupt trägt, würde er seine erste Amtshandlung verkünden und sich beim Volk beliebt machen. Niemand wusste, was sich hinter dem Schein wirklich verbarg.

Eogil war wütend auf Pontion. Wozu hatte er ihn zu einem seiner Räte gemacht, wenn er jedes Mal seine Vorschläge als ,für nicht wichtig genug‘ abstempelte. Seine Vorschläge waren sehr wohl wichtig! Er war es, der sich um das Wohlbefinden des Volkes zu kümmern hatte und wenn Pontion sie als ,für nicht wichtig genug‘ abtat, konnte dies hunderten von Menschen das Leben kosten.
Pontion hatte seine Aufgabe, die Gesuche des Volkes anzuhören, an Eogil abgetreten. Diese versuchte Eogil so gut es ging auszuführen. Meistens musste er Streite schlichten, oder sich um Ungerechtigkeiten kümmern. Doch die wirklich wichtigen Dinge wurden im Rat besprochen. Das Königreich hatte nur eine begrenzte Anzahl von Soldaten und Ressourcen. Und wer über diese verfügen durfte entschied letzt endlich der König. Und in Eogils Fall stempelte er sie stets als ,für nicht wichtig genug‘ ab.
Auch musste sich Eogil eingestehen, dass Pontion nicht umbedingt der geeignetste Herrscher über Venundur war. Er ging viel lieber seinen jugendlichen Leichtsinnigkeiten nach, als sich um die Pflichten seines Amtes zu kümmern. Er hatte, wie er es vor Jahren einmal zu ihm gesagt hatte, alle seine Pflichten an seine Räte abgegeben, sodass er selbst nichts mehr zu tun hatte. Nur noch bei den Ratsversammlungen war er anwesend und sprach hin und wieder ein Wort in die Runde. Den Bitten seines langjährigen Freundes, war er jedoch niemals nachgekommen.
„Lasst mich ein.“, sagte Eogil zu dem Soldaten, welcher vor der Bibliothek wache stand.
„Es tut mir leid, Rat Eogil, doch König Pontion möchte nicht gestört werden. Er benötigt Ruhe beim Lesen seiner Lektüre.“
Eogil konnte den Worten des Wachpostens keinen Glauben schenken. Das letzte was Pontion in einer Bibliothek machen würde, war lesen. Bestimmt würde er hinter dieser Türe einer seiner Verrücktheiten nachgehen und um den Schein zu wahren, hatte er den Wachposten angewiesen alle die ihn sprechen wollten abzuweisen.
„Dann sagt dem König, Rat Eogil möchte ihn sprechen.“
„Es tut mir Leid, aber mir wurde ausdrücklich verboten diese Türe zu öffnen.“
Man sah dem Wachposten an, dass er sich in seiner Haut nicht wohl fühlte. Aber darauf konnte Eogil keine Rücksicht nehmen.
„Jeder hier weiß um meine enge Freundschaft mit dem König. Ich sage dir. Er wird sehr erbost sein, zu wissen, dass du mich nicht eingelassen hast.“
Der Wachposten schien mit sich zu kämpfen, öffnete aber schließlich doch die Türe einen Spalt und kündigte Eogil an.
„Mein König, ich bitte vielmals um Entschuldigung, aber Rat Eogil möchte euch sprechen.“
„Nur herein mit ihm.“, hörte man die fröhliche Stimme Pontions, aus dem Inneren der Bibliothek.
Eogil ging zielstrebig auf Pontion zu, fest Entschlossen Antworten zu erhalten.
„Eogil, mein Freund. Was führt dich zu mir?“
Neben Pontion stand der Hofnarr, welcher am Tag zuvor noch den Adel im königlichen Saal mit seinen Kunststücken belustigt hatte. Was dieser jetzt in der Bibliothek an Pontions Seite zu suchen hatte, wollte Eogil gar nicht wissen.
„Mein König...“, setzte Eogil an, wurde aber sofort von diesem unterbrochen.
„Nicht schon wieder. Jedes Mal wenn du mich mit ,Mein König‘ anredest, kommst du in irgend so einer Angelegenheit, vor der ich zu flüchten versuche.
„Ich möchte mich mit euch über die letzte Ratsversammlung unterhalten.“, sagte Eogil förmlich.
„Rat Eogil.“, sagte Pontion nun im gespielten, förmlichen Ton „Wir sollten den wichtigeren Dingen, den Vorrang überlassen.“
Endlich. Hoffentlich konnte er diesmal ein vernünftiges Wort mit ihm sprechen.
„Wieso habt ihr den Vorschlag den ich...“
„Eogil.“, unterbrach ihn Pontion abermals „Als ich gsagte ,wichtigere Dinge‘, habe ich von etwas ganz anderem gesprochen.“
Was konnte Pontion damit meinen? Was war noch wichtiger als das Wohlempfinden des Volkes? Aber Eogil hätte seinen langjährigen Freund besser kennen sollen.
„Schau was mir Sedron beigebracht hat.“, sagte Pontion vergnügt.
Meinte er mit Sedron den Hofnarr? Pontion versuchte die Takrane an seinen Händen einzusetzen.
„Die beherrsche ich noch nicht so gut. Hilf mir mal.“, sagte er zu dem Hofnarr.
Eogil konnte seinen Augen nicht trauen. Der König trug neue Takrane auf seinen Händen. Er hatte die seinen gegen die des Hofnarrs getauscht. Was war jetzt wieder in ihn gefahren? Die königlichen Takrane waren ein Vermögen wert!
Schon hatte Pontion einen Feuerball in den Händen und warf ihn hoch. Er teilte ihn, in zwei Teile und teilte ihn ein weiteres Mal. Anschließend jonglierte er mit drei Feuerbällen. Ungeschickt machte er einen falschen Griff und die Feuerbälle fielen zu Boden. Anscheinend wollte der König die gestrige Vorstellung des Hofnarrs nachahmen. Und das tat er in einer Bibliothek? Er spielte mit Feuer in einer Bibliothek? War er denn vollkommen von Sinnen? Eogil fehlten die Worte.
„Ich weiß was du jetzt denkst.“, sagte Pontion „Es sieht noch ungeschickt aus, aber gib mir noch ein paar Tage und ich kann das genauso gut Sedron.“
Pontion strahlte. Eogil hatte noch immer keine Worte.
„Dann lass uns schnell zum unwichtigen Teil kommen.“, sagte Pontion zu Eogil.
„Was?“, fragte Eogil plump.
„Du bist doch mit irgend so einem Anliegen zu mir gekommen.“
Eogil war so von der ihm dargebotenen Szene übertölpelt worden, dass er ganz vergessen hatte, weshalb er überhaupt hergekommen war. Schnell reimte er sich alles wieder zusammen.
„Du kannst jetzt gehen Sedron.“, sagte der König unterdessen und gab dem Hofnarr ein paar Münzen. „und sag der Wache an der Türe, dass ich nicht gestört werden will. Ich habe zu lesen.“
Mit einer eleganten Verbeugung die fast bis zum Boden reichte, verabschiedete sich der Hofnarr und Pontion wandte sich Eogil zu.
„Wieso...“, setzte Eogil zum dritten Male an und wurde sogleich auch schon wieder von Pontion unterbrochen.
„Ich kann dir sagen, wieso.“, sagte Pontion, setzte sich lässig auf einen Stuhl und nahm desinteressiert ein Buch zur Hand. „Eogil, was habe ich dir über Politik gesagt? Was ist das wichtigste?“
Diese Frage war leicht zu beantworten. Er hatte diesen Spruch tat täglich von Pontion zu hören bekommen. Und so wie er Pontion kannte musste er erst einmal auf sein Frage-Antwort-Spielchen eingehen, um zu seinem Ziel kommen zu können.
„Es ist nicht wichtig was man sagst, sondern wie man es sagst.“
„Richtig mein Freund und das war dein Fehler.“
„Aber hunderte Menschen...“
„Ja, hunderte Menschen könnten sterben. Aber hätte ich dir zugestimmt, wären anderswo hunderte Menschen gestorben. Die Politik ist ein zweischneidiges Schwert. Jede Entscheidung bringt Vor- und Nachteile mit sich. Was dem einen sein Vorteil ist, ist für den anderen sein Nachteil. Außerdem müssen die Entscheidungen die ich fälle, auch von den anderen Ratsmitgliedern nachvollziehbar sein, ansonsten werde ich nicht lange am Thron sitzen. Deshalb ist in der Politik das Wie, von entscheidender Wichtigkeit.“
Eogil wollte etwas erwidern, aber ihm fehlten die richtigen Worte. Außerdem war Pontion sprachlich viel zu sehr begabt, als dass Eogil ihm etwas entgegensetzen konnte.
„Was ist mit den Büchern, die ich dir zukommen lassen hab? Wieso hast du sie noch nicht gelesen?“
Wieder so eine Verrücktheit Pontions und von woher wusste Pontion, dass Eogil diese Bücher noch nicht gelesen hatte? Der König hatte ihm Bücher zukommen lassen, die Namen trugen wie ,Purpurne Rosenblüten‘, ,Wiesen der Weiblichkeit‘, oder ,Farbenpracht im Fabelland‘. Alles Bücher von einem gewissen Schriftsteller namens Hildramann, welcher etliche Werke verfasst hatte, die von der Kunst handelten, Frauen zu verführen. Eogil hatte genug zu tun, für solcherlei Spielchen war seine kostbare Zeit zu gering.
„Ich habe noch keine Zeit gefunden.“, sagte Eogil diplomatisch und ein wenig genervt.
Und er würde auch keine Zeit finden. Es war praktisch alles wichtiger, als diese schwachsinnigen Bücher.
„Eogil, ich habe dir diese Dinger nicht umsonst zukommen lassen.“, sagte Pontion wie zu einem kleinen Schuljungen. „Es stimmt schon, es geht hauptsächlich darum, Frauen um den Finger zu wickeln, aber letzten Ende ist das auch nur Rhetorik. Dieser Hildramann ist ein Genie. Eigentlich will doch jeder verführt werden. In der Liebe, wie auch in der Politik. Mit diesen Werken redest du dich ins Paradies. Hättest du diese Bücher gelesen, hättest du deinen Vorschlag bei der letzten Ratsversammlung durchgebracht.“
Eogil kam sich wie ein törichter Junge vor. Auch wenn der König absolut kein Interesse an seinem Amt zeigte, wie man zu reden hatte, das wusste er.
„Wieso hast du Fremar seines Amtes enthoben?“, fragte Eogil, um das Thema zu wechseln.
„Ganz einfach.“, sagte Pontion und machte es sich in seinem Sessel noch bequemer. „Dieser Taugenichts hatte keine Ahnung von Kriegsführung.“
„Er war mehrere Dekaden mit diesem Amt besetzt. Und wie kommt ihr darauf, dass er seiner Aufgabe nicht gewachsen war?“
„Du hast deine Frage gerade selbst beantwortet. Er war mehrere Dekaden im Amt und mehrere Dekaden hatte er nichts zustande gebracht, ergo, war er ein Taugenichts. Außerdem muss ich meinem Amt als König nachkommen und irgendetwas tun, ansonsten glaubt man noch, ich sitze nur auf meinem faulen Hintern und schere mich nicht um mein Reich.“
Etwas anderes tat Pontion ja auch nicht. Er kümmerte sich rein gar nicht um seine Aufgaben. Aber diese Gedanken behielt Eogil für sich. Schließlich war Pontion sein Freund und mit dem König wollte er es sich nicht verscherzen.
„Ich hab übrigens schon jemand neues für diesen Posten gefunden.“
Auch darüber war Eogil bereits im Bilde. Anscheinend war Pontion unter die Soldaten gegangen, hatte sich blind einen Beliebigen herausgepickt und diesen zum Kriegsrat ernannt. Dabei hatte er sich auch noch den Schlechtesten von allen ausgesucht. Dieser hatte sich schon einen Ruf aufgebaut und der war nicht umbedingt der beste.
„Davon habe ich schon gehört.“, sagte Eogil „Ich habe auch gehört, dass er skrupellos und aggressiv ist. Außerdem soll er über Leichen gehen und Befehle missachten.“
„Skrupellos, aggressiv, über Leichen gehen. Genau die richtigen Eigenschaften für einen Kriegsmeister und einen Kriegsrat. Und wenn er erst einmal sein Amt begleitet, hat er keinen Befehl mehr zu gehorchen. Dann ist er der oberste Befehlshaber.“
„Er hat eurem Befehl zu gehorchen.“, entgegnete ihm Eogil.
„Da hast du recht, und dem wird er auch gehorchen.“, sagte Pontion selbstbewusst. „Ich bin der König, jeder muss mir gehorchen. Ich sage dir, Horior ist der richtige Mann für diese Aufgabe. Er wird uns Frieden bringen. Außerdem warst du Küchenjunge als du zum Rat gewählt wurdest, also sei ein wenig toleranter. Ich glaube, ich werde auch unseren Rat für finanzielle Angelegenheiten rausschmeißen. Unsere Schatzkammer ist fast leer. Hast du dir schon einmal seine Leibesfülle angesehen? Der tut den langen lieben Tag nichts anderes als essen.“
Eogil seufzte. Er konnte die Entscheidung Pontions zwar in irgend einer Weise nachvollziehen. Dennoch kam ihm dieser Horior nicht ganz geheuer vor.
„Ach Eogil.“, sagte Pontion, warf das Buch über seine Schulter und stapfte vergnügt auf ihn zu „Ich dachte mir, als Rat solltest du auch die entsprechenden Takrane für diese Aufgabe tragen. Rhetorik, Charisma, Ausstrahlung, das ganze Programm. Ich habe nach den Menschen geschickt, von denen ich meine Takrane erhalten habe. Ich sage dir, schon bald wird jeder an deinen Lippen hängen.“
Irgendwie war das nicht richtig, aber dem Willen des Königs konnte nicht einmal sein bester Freund entgehen. Und diesen Horior fand Eogil auch nicht ganz geheuer. Mit diesem Typen stimmte irgendetwas nicht.

Kapitel 19 - Geschichte eines Helden (Teil 2/2)



„Wir müssen unseren Feind kennen, um ihn vernichten zu können!“, sagte Horior, der neue Kriegsrat, mit fester Stimme in die Runde.
Eogil hielt sich zurück. Er hatte aus unzähligen Büchern gelesen, dass die zuletzt erhobene Stimme, am meisten Gewicht trug. Darauf wollte er bauen. Doch jetzt wollte er erst einmal zusehen, wie alle anderen ihr Pulver verschleuderten. Zusammen mit den Takranen, die er von Pontion erhalten hatte, war er schon fast zuversichtlich, dass er diese Runde für sich entscheiden konnte.
„Unseren Feind kennen? Wir kennen unseren Feind! Alchemisten sind vollkommen verrückt und sie handeln aus nicht nachvollziehbaren Motiven heraus.“, entgegnete der Rat für Innere Angelegenheiten.
„Das glaube ich nicht.“, sagte Horior scharf und wandte sein Wort an den alchemistischen Rat „Was habt ihr dazu zu sagen, Uratora.“
Uratora war erstaunt. Die Meinung einer Alchemisten wurde nur selten gefragt, da jeder es vorzog sie zu meiden. Ihr gleichwertiges Amt und die Tatsache, dass sie dem vorangegangenen König das Leben verlängert hatte, schien unter den anderen Ratsmitgliedern keinen Wert zu haben. In ihren Augen war sie nicht mehr wert, als ein räudiger Köter. Uratora wog ihre Worte genau ab und versuchte den anderen Ratsmitgliedern den Sachverhalt aus ihrer Sicht, so einfach wie möglich zu beschreiben.
„Alchemisten handeln nach Motiven. Diese sind aber sehr schwer nachzuvollziehen. Nicht einmal ein Alchemist kann seine eigenen Motive genau verstehen. Wenn ihr wollt kann ich euch ein Geschichte erzählen, welches die Denkweise eines Alchemisten verständlicher macht.“
„Bitte erzähl sie uns.“, erhob nun Pontion erstmals seine Stimme.
Sofort wurde es ruhig im Saal. Es hatte sich nun erstmals das Gespräch in eine Richtung entwickelt, die auch Pontion zu interessieren schien.
„Die Geschichte trägt den Namen: ,Die tote Geliebte‘. Ich hoffe, ich kann sie entsprechend nacherzählen.
Ein junger Mann hatte sich zwei alchemistische Takrane machen lassen. Er opferte sein linkes und sein rechtes Auge, um in die Zukunft sehen zu können. Doch er erblickte nur Leid. Er hatte seine Allerliebste erstochen am Erdboden liegen sehen. Jetzt wo er über dieses Wissen verfügte, versuchte er den Ausgang der Zeit zu verändern. Von diesem Tage an veränderte er sich. Er wurde misstrauisch und ließ niemanden mehr an seine Freundin heran. Sein Paranoia wuchs sogar so weit an, dass er seine um alles Geliebte in eine Hütte einsperrte, sodass ihr niemand mehr zu nahe kommen konnte. Vor allem aber hatte seine Geliebte darunter zu leiden. Ihr Freund hatte sich in ein Monster verwandelt und sie liebte ihn nicht mehr. Doch das bekam der junge Seher nicht mehr mit, da ihm die entsprechenden Sinne fehlten, um es wahrzunehmen. Alles was er noch tat, war nach Visionen Ausschau zu halten, ob der mögliche Mörder eines Tages eintreffen würde. Doch er hatte keine entsprechende Vision. Zudem vereinsamte das Mädchen immer mehr. Sie hatte all ihre Freunde verloren und lebte mit einem Monster zusammen. Und so nahm sie sich eines Tages das Leben. Sie erstach sich, mit einem Messer.“
„Das ist...“, begann der Abgesandte der Edoraner, welcher ebenfalls eine Position als Rat inne hatte, konnte seinen eigenen Satz aber nicht vollenden.
„Wenn der Junge also seine Augen nicht hergegeben hätte und kein Alchemist geworden wäre, dann hätte er mit seiner Freundin ein glückliches und erfülltes Leben führen können.“, schlussfolgerte Pontion.
Es war lange her, seitdem Pontion ein solches Interesse an einer Ratsversammlung gezeigt hatte.
„Ja.“, bestätigte Uratora. „so wird die Geschichte jedem erzählt, der sein Leben als Alchemist weiterführen möchte.
„Und wie soll uns das bitte weiterhelfen?“, sagte der Rat für Innere Angelegenheiten distanziert.
„Es wäre möglich, dass sich Ähnliches hier in einer weitaus größeren Form abspielt. Den meisten von euch ist sicherlich das Ziel der Alchemisten bekannt.“
„Das große Böse aufzuhalten.“, sagte der König brav wie ein eifriger Schuljunge.
„Es gibt kein großes Böses. Das sind nur die Hirngespinste dieser verdammten Verrückten.“
„Es wäre möglich“, setzte Uratora unbeeindruckt ihre Rede fort „dass sie selbst ,das große Böse‘ sind.“
„Was für ein idiotischer Gedanke.“, hörte man den edoranischen Rat sagen.
„Worte einer Alchemistin.“, bekräftigte ein weiterer.
„Seid still.“, gebot Pontion ihnen und erteilte der Alchemistin wieder das Wort.
„Das große Böse, sagen die Seher unter ihnen, soll Tod und Leid über die Menschen bringen. Was sie nicht bedenken, ist, dass eben sie gerade genau dies tun. Möglicherweise sind es sie selbst, von denen ihre eigenen Visionen handeln und indem wir sie vernichten, wird auch das große Böse vernichtet. Somit würden sich die Visionen der Alchemisten bewahrheiten.“
„Das ist doch vollkommener Schwachsinn.“, hörte man den edoranischen Abgesandten wieder sagen und viele andere Stimmen pflichteten ihm bei.
„Das ist das Denken von Alchemisten.“
„Ein Paradoxon also.“, sagte Pontion und seine Gedanken schweiften ab.
„Ein sinnloser Massenselbstmord.“, sagte der Rat für Inneres.
„Wie gesagt“, ergriff Uratora wieder das Wort „das wäre nur eine Möglichkeit. Eine mögliche Erklärung von vielen. Möglicherweise flüstern ihnen auch Stimmen aus anderen Welten zu, oder das große Böse liegt in einer fernen Zukunft. Man weiß es nicht. Nicht einmal die Alchemisten wissen es.“
„Wie auch immer“, ergriff nun Horior wieder das Wort, der dem Gespräch still und aufmerksam gefolgt war. „In jedem Fall müssen wir unseren Feind schwächen und wir müssen ihm das nehmen, was er am meisten braucht.“
„Und das wäre?“, fragte Eogil, damit er nicht vollkommen in Vergessenheit geriet.
„Seine Zutaten für die Homunculi. Ich habe mich umgehört. Die meisten Zutaten, die sie für ihre Zusammenstellung benötigen, wachsen im Idrischen und im Grausa Wald, sowie bei den Turwag Sümpfen. Wir schicken unser Truppen dort hin und brennen alle Bäume und Sträucher, bis auf die Wurzeln nieder. Diejenigen die über Erd-Takrane verfügen, sollen die Sümpfe trocken legen.“
„Welch drastische Maßnahme.“, hörte man mehrere Stimmen.
„Damit würden wir uns ins eigene Fleisch schneiden.“, sagte der Rat für Handel. „Viele Dörfer und Städte beziehen aus diesen beiden Wäldern ihr Holz. Die Jarls werden toben vor Wut. Es hätte mehr Nachteile als Vorteile.“
„Es müssen Opfer gebracht werden, um Siege zu erringen.“, sagte Horior als würde er mit einem Kleinkind reden.
„Ich muss euch ebenfalls widersprechen.“, sagte Eogil und versuchte all die rhetorischen Fähigkeiten einzusetzen, die er sich in letzter Zeit angeeignet hat. „Jarl Irolut hat mir berichtet, dass Graunar und viele umliegende Dörfer vollkommen zerstört wurden. Wir brauchen die Männer um die Infrastruktur wieder aufzubauen und um Nahrung und Heiler zu ihnen zu schicken.
„Ich stimme Rat Eogil zu“, erhob der Handelsrat wieder eine Stimme „Es würden über kurz oder lang, die Handelsrouten erliegen, unsere Kornspeicher sich leeren und wir hätten eine Hungersnot zur Folge.“
Eogil lächelte in sich hinein, mit dieser Reaktion des Handelsrats hatte er gerechnet. Zwei Stimmen wogen mehr als eine.
„Es herrscht nun mal Krieg. Opfer müssen gebracht werden.“, wiederholte Horior skrupellose und stur.
Keiner wagte ihm zu widersprechen. Jeder wusste, dass er einerseits Recht hatte, dies aber andererseits schwere Folgen haben würde. Da noch keiner der Räte eine feste Meinung gefasst hatte, konnte Eogil sie von seiner Sicht der Dinge überzeugen. Dabei musste er sehr behutsam vorgehen. Sobald er erst einmal den Großteil der Räte auf seiner Seite hatte, würde Pontion ihm zustimmen. So hatte er es immer schon getan. Pontion schlug sich immer auf die Seite der Mehrheit.
„Ich möchte euch darauf aufmerksam machen, für wen wir diesen Krieg führen.“, sagte Eogil eindringlich und ließ den Blick in der Runde schweifen „Was nutzt es uns diesen Krieg zu gewinnen, wenn die Sieger an ihrem Sieg ersticken?“
„Wo wir heute das Leben hunderter opfern, können wir morgen das Leben tausender retten.“, sagte Horior zu Eogil, als hätte er einen Idioten vor sich.
Da erhob sich Pontion erstmals von seinem Stuhl und alle richteten ihre Blicke auf ihn. Jetzt würde er eine Entscheidung fällen.
„Was nutzt es uns diesen Krieg zu gewinnen, wenn die Sieger an ihrem Sieg ersticken!“, wiederholte er die Worte Eogils. „Vergesst nicht für wen wir das hier tun und vergesst nie für wen dieser Rat ursprünglich gedacht war! Die Versammlung ist beendet.“
Das war Eogils erster politischer Sieg und innerlich freute er sich wie ein Schneekönig. Nach außen hin versuchte er dem überlegten Entscheidungsträger zu gleichen, um den Schein zu wahren. Ein anderer hingegen konnte dies nicht: Horior. Er betrachtete Eogil, als würde er jederzeit zu ihm herüberspringen und ihm sein Schwert in die Brust rammen.

„Ich fühl mich bei dieser Sache nicht wohl.“, sagte Eogil zu Pontion.
„Ehre, dem Ehre gebührt, mein Freund. Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“
Eogil saß mit dem König in einer Kutsche und wurde durch die Straßen Venundurs gezogen. Dort wurde er vom Volk bejubelt und wechselte mit dem einen oder anderen ein kurzes Wort. Das Volk wollte endlich den Mann kennen lernen, welcher in letzter Zeit so vieles für sie getan hatte und damit war nicht Pontion gemeint.
„Weißt du“, sagte Pontion guter Laune „Auch wenn all deine Taten in meinem Namen ausgeführt wurden, so wusste das Volk stets wer der wahre Drahtzieher hinter diesen Entscheidungen gewesen war.“
Eogil sagte nichts.
„Ist es möglich, dass es da ein dickliches Vögelchen in unserer Küche gibt, das dem Volk sei einiges gezwitschert hat?“
Irgendwie hatte Eogil dies kommen ahnen. Seine Tante hatte der Versuchung nicht widerstehen können, mit ihrem Neffen zu protzen.
„Möglich.“, antwortete Eogil ihm leicht verlegen.
„Nur keine Sorge, ich habe kein Problem damit. Du hast es dir redlich verdient. Eigentlich sollte ich gar nicht an deiner Seite sitzen, das Lob gebührt alleine dir. Aber so ist nun mal Politik. Das Volk braucht einen starken Führer. Außerdem soll es nicht vergessen, wer dich in diese Position gehoben hat.“
Es war erstaunlich wie sich die Dinge in letzter Zeit entwickelt hatten. Das Königreich Venundur schien in jeglicher Hinsicht aufzublühen. Trotz des Krieges fühlte sich das Volk so zufrieden wie schon seit langem nicht mehr. Die Schatzkammern füllten sich allmählich wieder und Horior schien trotz den Niederlagen in den Ratsversammlungen, allmählich die Oberhand im Kriegsgefecht zu erlangen. Und das alles mit einem König an der Spitze, der keinerlei Interesse am Geschehen zeigte. Aus Willkür wollte Eogil Pontion darauf ansprechen. Aber dieses Thema war heikel. Er musste behutsam vorgehen. Er musste politisch vorgehen.
„Es ist erstaunlich wie sich die Dinge ohne das Eingreifen ihres Königs entwickelt hatten.“, sagte Eogil im leichten Plauderton.
Pontion zeigte sein schelmisches Lächeln. Das tat er immer, wenn er Eogil wissen lassen wollte, dass ihm eine blödsinnige Idee in den Sinn gekommen war, oder wenn er versuchte die Tatsachen so zu verdrehen, sodass sie zu seinen Gunsten standen. Eogil machte sich auf alles gefasst.
„Was ist eigentlich ein König?“, fing er an zu philosophieren „Ein König ist ein Mensch, der in seine Aufgabe hineingeboren wurde und versuchen muss, aus seinem Schicksal das Beste zu machen. Er weiß über alles bescheid, aber er weiß von keinem alles. Außerdem kann er die Dinge nie richtig einschätzen, da er niemals selbst eine Schlacht austrägt, oder ein Leben als einfacher Bauer führt. Der König ist also die denkbar schlechteste Person für sein eigenes Amt. Deshalb sehe ich meine Aufgabe lieber darin, die passenden Menschen, für die entsprechenden Aufgaben zu finden und im Hintergrund zur richtigen Zeit an den richtigen Fäden zu ziehen.“
Eogil war es, als wurden ihm erstmals die Augen geöffnet. War das eben ein erstaunlich geschickter rhetorischer Kunstgriff Pontions gewesen, oder hatte er ihm erstmals die Wahrheit erzählt? Alles deutete auf letzteres hin. Das Königreich blühte wirklich auf. Den Schatzmeister welchen Pontion ausgetauscht hatte, füllte die Schatzkammern und auch dem Volk ging es um weiten besser, was er Eogil zu verdanken hatte. Selbst Horior schien die richtige Wahl in Kriegsangelegenheiten gewesen zu sein. War das Desinteresse Pontions in Wahrheit nur der Denkmantel mit denen er seinen Räten ihre Vollmachten erteilte? Zum ersten Mal betrachtete Eogil seinen langjährigen Freund mit anderen Augen. Jetzt war er nicht mehr der junggebliebene Kindskopf, der nur Flausen im Kopf hatte, sondern der weise und vorausschauende Herrscher, der er schon immer hätte sein sollen. Aber wie lange war er es schon? Und wieso hatte er Eogil darin nicht eingeweiht? War er der einzige der sein Geheimnis kannte? Und war auch er nur eine Spielfigur, auf Pontions Schachbrett, die er sofort für eine bessere austauschen würde?
„Gestern hat mir ein Bote eine Nachricht von Opheustos, dem ,großen Seher‘ geschickt.“, versuchte Pontion das Thema zu wechseln.
Eogil schüttelte den Kopf. Er war noch immer über diese Erkenntnis erstaunt. Aber, wenn man so das Spiel des Königs spielte, dann würde er weiterhin mitspielen und seinen Schein wahren.
„Und wie lautete diese?“, fragte ihn Eogil in dem selben leichtfälligen Plauderton, den er schon zu Beginn des Gespräches gewählt hatte.
Der ,große Seher‘ galt zwar in einigen Kreisen als hoch angesehen und seine Visionen sollen äußerst zuversichtlich sein. Aber letzten Endes war er auch nur einer dieser verrückten Alchemisten, gegen denen sie Krieg führten.
„Es war die Rede von ganz besonderen Takranen.“
„Alchemistischen Takranen?“, fragte Eogil scherzhaft und stimmte mit Pontion in ein heiteres Lachen ein.

„Jetzt sind sie am verwundbarsten! Wir dürfen uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen!“, sagte Horior energisch.
Der Kriegsmeister hatte es doch tatsächlich geschafft, das Alchemisten-Pack aus Venundur zu vertreiben. Doch in den anderen Königreichen hatte sich nichts verändert. In Isbir kämpfte man immer noch um die Oberhand und Edoran schien durch die Übermacht der Alchemisten erdrückt zu werden.
„Edoran braucht unsere Hilfe.“, sagte der edoranische Abgesandte.
„Ich stimme Fronar zu.“, sagte Eogil „Es ist unsere moralische Pflicht als Menschen unseren Freunden zu helfen. Außerdem wird dies unser Bündnis stärken.“
„Ich stimme ebenfalls zu.“, war die Stimme des isbirischen Abgesandten zu hören. Es war klar das er diese Partei ergreifen musste und viele andere ergriffen ebenfalls diese Partei.
Im Laufe der Zeit hatten sich die Ratsmitglieder in zwei Gruppen aufgespalten. Eine stand hinter Eogil und auf Seiten des Volkes und die andere auf Seiten Horiors, welche versuchte den Krieg ein schnellst mögliches Ende zu bereiten. Doch es war immer die Gruppe hinter Eogil, welche ein ums andere Mal das Wortgefecht gewann. Eogil war zu einem rhetorischen Genie herangewachsen und zusammen mit seinen Takranen setzte er stets seinen Willen durch. Mit seinen Takranen hatte er auch einen erheblichen Vorteil gegenüber Horior, da er Takrane zum Angriff und Verteidigung tragen musste.
„Wir können es uns nicht leisten diese Gelegenheit verstreichen zu lassen. Eine solche Chance wird uns nie wieder geboten.“
„Was wären wir für Menschen, wenn wir zusehen würden, wie unsere Freunde abgeschlachtet werden? Könnten wir uns noch selbst vor Augen treten? Lieber nehmen wir eine Zeitverzögerung in Kauf, als den tausendfachen Tod unserer Freunde.“
Ein zustimmendes Raunen ging durch die Menge. Schon jetzt war klar, dass Eogil auch diese Debatte gewinnen würde.
„Wenn wir unsere Truppen nach Edoran schicken, sind wir selbst angreifbar und unsere Chance den Krieg zu gewinnen wäre verstrichen.“, sagte Horior scharf zu Eogil.
Jedem in der Ratshalle war klar, dass Horior am liebsten Eogil den Schädel eingeschlagen hätte. Aber Eogil ließ sich nichts anmerken. Er hatte sich einen guten Ruf aufgebaut und den durfte er sich nicht mit ein paar unbedachten Worten nehmen lassen. Doch Eogil kam nicht zu einem weiteren Wort. In diesem Moment wurde die Türe aufgestoßen und ein Bote des edoranischen Reiches stürzte herein.
„Erklärt euch!“, sagte Pontion erbost und war von seinem Stuhl aufgesprungen.
Pontion war ein guter Schauspieler, das musste Eogil ihm lassen. Hätte er ihn nicht so gut gekannt, wäre er selbst darauf hereingefallen. Pontion hingegen musste den Schein wahren und so tun als hätte der Eindringling ein schweres Vergehen begangen. Was er auch hatte. Die Ratsversammlungen waren unter keinen Umständen, von niemandem zu stören. Das Wissen durfte nicht nach Außen dringen, sodass die Informationen nicht in falsche Hände geriet.
„König Avisar ist durch einen alchemistischen Anschlag ums Leben gekommen. Das edoranische Reich ist in Panik.“
Während alle Anwesenden über die Nachricht erstarrt auf ihren Stühlen verblieben, erhob sich Horior wütend. Alles was für ihn von Bedeutung hatte, war sein Angriff auf die verwundbare Stelle der Alchemisten und so wie sich die Ereignisse zugezogen, würde er seinen Angriff nicht führen können. Er marschierte auf den Ausgang zu, besann sich jedoch wieder und setzte sich auf seinen Stuhl zurück. Was der Bote zu sagen hatte war auch für ihn von erheblicher Wichtigkeit.
„Wir vermuten, dass es wieder einen Alchemisten mit vier alchemistischen Takranen gibt.“
In der Ratshalle machte sich Unmut breit. Anscheinend waren sie verzweifelt. Drei von sieben alchemistische Takrane waren für gewöhnlich die Grenze, um den Bezug zur Realität noch einigermaßen aufrecht erhalten zu können. Mit einem vierten Takran verblieben den Alchemisten nur noch drei Sinne um die Welt richtig einschätzen zu können. Sie konnte Realität von Einbildung nicht mehr unterscheiden, sodass sie eine Gefahr für jedermann wurden. Wo manche Alchemisten schon den Bezug zur Realität mit drei Takranen verloren, hatte dieser ihn mit vier aufrecht erhalten können. Somit waren seine alchemistischen Fähigkeiten um ein unermessliches angewachsen und er konnte unter anderem Tränke so fein abstimmen, sodass er die Kontrolle von Menschen übernehmen konnte.
„Wie entscheidet ihr euch, mein König?“, fragte einer der Räte und alle Blicke richteten sich auf Pontion.
Pontion legte die Hand unters Kinn und wog seine Möglichkeiten ab. Er hatte die Wahl, den Krieg zu beenden und den neuen Alchemisten zu töten, aber dafür das edoranische Reich untergehen zu lassen, oder dem edoranischen Reich zur Hilfe zu eilen, dadurch selbst angreifbar werden und den Krieg womöglich noch Jahre fortzuführen.
Auf Eogils Miene spielte sich der Hauch eines Lächelns ab. Der König hatte bereits eine Entscheidung getroffen und Eogil kannte diese. Eogil hatte viel in den vergangenen Jahren gelernt. Er verstand sich nicht nur in der Kunst der Rhetorik, sonder konnte mittlerweile auch aus den Gesichtern anderer lesen. Mithilfe der zusätzlichen Fähigkeiten war jeder für ihn wie ein offenes Buch. Selbst Pontion konnte er, jetzt da er seine Gedanken nachvollziehen konnte, leichter Hand durchschauen. Es war eine schwere Entscheidung die er zu fällen hatte und eine schwere Entscheidung brauchte Zeit. Somit musste er ein wenig warten, um die Räte auch davon zu überzeugen, dass er sich wirklich mit diesem Problem auseinandergesetzt hatte.
„Ich möchte mich morgen noch im Spiegel ansehen können, ohne dass ich erbrechen muss. Vielleicht ist es ein Fehler, aber lieber führe ich ein kurzes und ehrenwertes Leben, als ein langes in Schande!“
Zustimmende Rufe waren zu hören und diese waren nicht nur von Seiten Eogils. Auch diejenigen, welche ansonsten immer hinter Horior standen, stimmten mit ein. Eogil musste lächeln. Pontion hatte mit wenigen Worten alle, außer Horior, davon überzeugen können, was sie zu tun hatten. Ein einfacher Appell auf ihr Ehrgefühl hatte gerecht, um sie zu überzeugen. Wenn es noch jemanden gab, der sich besser in Rhetorik verstand als Eogil, dann war es Pontion.

Endlich. Pontion hatte es doch tatsächlich fertig gebrach, seinen königlichen Hintern wieder einmal auf seinen Thron zu platzieren. Seitdem der Krieg ein Ende genommen hatte und die Alchemisten besiegt waren, hatte Pontion es sich in seinen Gemächern mit den verschiedensten Frauen gemütlich gemacht. Anscheinend war seine neueste Verrücktheit, alle Frauen seines Reiches zu entjungfern.
„Wir müssen über Horior sprechen.“, sagte Eogil zu seinem langjährigen Freund.
„Nicht du auch noch. Jeder lallt mir die Ohren voll von seinen Saufgelagern und seinen Schlägereien.“
„Wir müssen etwas dagegen unternehme. So kann es nicht weitergehen. Es wirft einen schlechten Schatten auf ihn, uns, und unser Reich.“
„Ich weiß, ich weiß. Das dieser Griesgram sich nicht wie jeder andere amüsieren kann. Anstelle, dass er sich über seinen Sieg freut, sauft er sich die Birne weg.“
Wie um die Worte des Königs zu unterstreichen, wurde ein Mann mit nacktem Oberkörper zu ihnen gezogen, den sie unsanft vor Eogil und Pontion zu Boden fallen ließen. Eogil rollte ihn auf den Rücken und sah einen vollkommen betrunkenen und bewusstlosen Horior vor sich.
„Nicht schon wieder.“, sagte Pontion entnervt und war von seinem Thron aufgestanden um sich den Bewusstlosen näher anzusehen.
Eogil wartete noch immer auf eine Entscheidung Pontions, was er in diesem Fall zu unternehmen gedenkt. Doch dem kam etwas völlig anderes in den Sinn.
„Ist dir schon einmal Horiors Takran aufgefallen?“
Jeder wusste, dass Horior einen überaus mächtigen Takran am Bauch trug und dass dieser ihn unverwundbar machte. Aber gesehen hatte Eogil ihn noch nie.
„Er leuchtet ebenfalls blau. Genau wie deiner Eogil.“
Eogil war dies ebenfalls aufgefallen, hatte dem aber kein Interesse gezollt.
„Ich dachte du wärest der einzige, der einen blauen Takran hat.“, sagte Pontion nachdenklich. „Eine Art Verirrung der Natur...“ Pontion dachte nach. „Ihr habt beide überaus mächtige Takrane, nahezu einzigartig. Auf alle Fälle sind sie ganz besonders.“, Pontion grübelte kurz „Irgendwo habe ich einmal etwas über ganz besondere Takrane gelesen. Aber wo war das noch mal gewesen? Ich kann mich jedenfalls noch daran erinnern, dass etwas ,einzigartiges‘ passieren soll, wenn man mehrere dieser ,besonderen‘ Takrane trägt.“
Eogil ließ entmutigt die Schultern fallen. Eine neue Verrücktheit war ihm wieder in den Sinn gekommen. Aber bei dieser würde Eogil nicht mitmachen. Den Charisma-Takran, den Eogil nun am Bauch trug wollte er um nichts in der Welt eintauschen. Mittlerweile beherrschte er ihn nahezu perfekt und er hatte nicht vor, ihn, für eine weitere irrsinnige Idee Pontions aufzugeben.
„Mein König...“, setzte Eogil diplomatisch an, um Pontion diese Idee schnellst möglich aus dem Kopf zu schlagen, aber er wurde, wie so oft, von Pontion unterbrochen.

„Flieht, ich werde versuchen sie aufzuhalten.“, sagte Arum.
Eogil hatte Arum immer für jemanden gehalten, der auf Seiten Horiors stand. Anscheinend hatte er nicht vergessen wer sein König war. Nun kämpfte er Seite an Seite mit Eogil und Pontion gegen Horior und seinen Soldaten.
Pontion nickte ihm noch ein letztes Mal zu und verschloss die Türe zur Ratshalle hinter sich. Er hatte sich für seinen König und Eogil geopfert. Arum war ein ehrenwerter Mann.
„Schnell, zum Geheimgang.“, sagte Pontion zu Eogil.
Sein rechter Arm wies unzählige Brandblasen auf, die von einem Feuer-Takran stammten. Die einzigen Angriffe die Pontion und Eogil führen konnten, waren die mit dem Schwert. Als König und Rat, regierte und beriet man und benötigte keine Takrane zum Angriff.
Eogil lief zu dem verborgenen Schalter, welcher die Geheimtür hinter dem Wandteppich öffnete und betätigte diesen.
„Schnell, uns darf niemand sehen.“, sagte Pontion und biss dabei die Zähne zusammen.
Eogil tat wie ihm geheißen und verschloss die geheime Türe hinter sich.
„Wenn Horior glaubt, damit durchzukommen, hat er sich geschnitten.“, sagte Eogil mit zorniger, gedämpfter Stimme.
„Scheint so, als hättest du von Anfang an über Horior zurecht geurteilt.“, sagte Pontion gequält.
Seitdem Horior Eogils Takran trug, war er vollkommen besessen von dem Gedanken, nach den anderen blauen Takranen zu suchen. Er hatte Tage und Nächte in der Bibliothek verbracht, um nach Hinweisen zu suchen. Es hatte nichts anderes mehr in seinem Leben gegeben. Als Pontion ihm seines Amtes enthoben hatte, hätten er und Eogil gedacht, das Problem gelöst zu haben. Aber Horior war aufgrund seines errungenen Sieges gegen die Alchemisten so beliebt beim Volk wie Eogil und für die Soldaten war er immer wie ein strenger und gerechter Vater gewesen, der ihnen zu Ruhm und Ehre verholfen hatte. Auch wenn Horior momentan die Oberhand hatte und der König aus seinem eigenen Palast fliehen musste. Damit würde er nicht durchkommen. Jetzt mussten Pontion und Eogil erst einmal in den Widerstand gehen.

„Keine Sorge, ich komme schon klar.“, sagte Pontion in gespielter Leichtigkeit. „Schließlich bin ich der König.“
Wider allen Erwartens hatten Pontion und Eogil den Widerstand verloren und mussten sich aus ihrem eigenen Reich zurückziehen. Horior waren fast alle Soldaten treu ergeben und er war in der Kriegslist ebenso erfahren wie Eogil in Sachen Rhetorik. Doch das Königreich war am Aufwachen und erkannte ihren Fehler. Sie hatten ihren desinteressierten König gegen einen skrupellosen Kriegshelden eingetauscht. Zudem hatten sie noch ihren geliebten Volksrat Eogil verloren. Da alle Räte bei Horiors Angriff ums Leben gekommen waren, gingen nun allmählich die Nahrungsvorräte zur Neige und Horior musste die Schatzkammern leeren und für teures Geld Nahrung herbei zu schaffen. Schon bald würde er die Steuern erhöhen müssen. Auf kurz oder lang würde er fallen. Doch je länger es dauerte, umso schlechter würde es dem Volk und dem Reich Venundur ergehen und umso mehr Arbeit hätte Eogil und Pontion es wieder aufzubauen.
Zur dieser Zeit hatte Pontion sein Vorgehen geändert. Er hatte eingesehen, dass an diesen besonderen Takranen wirklich ein Funken Wahrheit hängen musste und hat sich an eine lang vergangene Notiz von Opheustos, dem großen Seher, erinnert. Arum, der Pontion und Eogil zur Flucht verholfen hatte, war wie durch ein Wunder unter den Überlebenden geblieben und hatte sich seinem König angeschlossen. Seither arbeitete er als Spion und spionierte das Vorgehen Horiors aus. Er hatte ihnen schon oft Informationen geliefert, die ihnen das Leben gerettet hatten. Hätten sie Arum nicht auf ihrer Seite, wären sie schon längst tot. Er war es auch gewesen, der das Schriftstück des Sehers aus Pontions ehemaligen Gemächern besorgt hatte. Arum war ein unverzichtbarer Freund für sie und half ihnen unter Einsatz seines Lebens.
Auf dem Schriftstück befand sich unter anderem ein rhetorisches Rätsel. Eogil hatte es nicht geschafft es zu lösen, aber Pontion hatte es nach wenigen Tagen entschlüsselt. Jetzt wussten sie, wo sich ein weiterer dieser ,legendären‘ Takrane, wie Horior sie nannte, befand. Laut diesem Papier gab es einen Takran der Gedanken, dessen Träger sich irgendwo im Daugus Gebirge aufhalten soll.
„Und jetzt geht, Lord Eogil.“, sagte Pontion mit einem gespielten falschen Lächeln.
Den Titel ,Lord‘ trug Eogil, seitdem er zusammen mit Pontion in den Widerstand getreten war und dieser ihn dazu ernannt hatte.
„Ich werde mit dem Takran der Gedanken zurückkehren, mein König, das verspreche ich euch.“
Dann nahmen sie sich noch einmal kräftig in die Arme und Eogil ging seiner Wege in Richtung des eodoranischen Reiches.

„Lord Eogil.“, sagte Pertal überrascht und hoch erfreut zugleich.
Auch Eogil war größter Freude. Er trug nun den Takran der Gedanken auf seiner Stirn und war bereit, mit Pontion den Widerstand fortzusetzen.
„Pertal, wie geht es dir mein Freund.“, sagte Eogil guter Laune.
„Es ist schrecklich.“
„Was ist los?“
„Ihr wisst ja nicht was alles während eurer Abwesenheit geschehen ist.“
Eogil ahnte Schlimmes.
„Was ist passiert? Wie geht es Pontion?“
Pertal antwortete nicht, anstelle dessen schüttelte er seinen Kopf. Es bedurfte keiner Worte, um den Ausmaßen dieser Tragik Ausdruck zu verleihen. Also war sein langjähriger Freund und König letzten Endes tot. Eogil hatte mit der Fassung zu kämpfen.
„Wie ist das passiert?“, fragte Eogil mit schwacher Stimme.
„Unser Lager wurde angegriffen. Wir konnten sie zurückschlagen, aber Pontion kam dabei ums Leben. Es war ein Angriff, der nur ein Ziel hatte: Den König zu töten.“
Es war schwer die Fassung zu bewahren. Einerseits wollte er seinen Tränen freien Lauf lassen, andererseits war er immer noch der angesehene Redekünstler, der seinen Schein aufrechterhalten musste.
In diesem einen Augenblick überschlugen sich tausende von Gedanken in seinem Kopf. Anscheinend hatte Horior sein Ziel erreicht: Er hatte den König getötet und der Widerstand war somit von alleine zerfallen. Was sollte er jetzt tun? Weitermachen wie bisher oder sich in einem Loch verkriechen? Am liebsten wäre er heulend, wie ein kleines Mädchen weggelaufen, aber was hätte Pontion zu diesem Verhalten gesagt? Nein, so konnte es nicht Enden. Das war nicht richtig.
Alles worauf sich Horior verstand, war die Kriegsführung. Er hatte keine Ahnung wie man ein Volk zu regieren hatte. Schon jetzt litten die Menschen Hunger. Sollte er die Männer und Frauen wieder einen und versuchen zu retten was noch zu retten war? Mit dem Tod Pontions kam Eogil alles so sinnlos und hoffnungslos vor. Pontion hatte alles immer in spielender Leichtigkeit erledigt. Wenn Eogil etwas nicht gepasst hatte, war er immer zu Pontion gekommen und dieser hatte sich darum mehr oder weniger gekümmert. Wenn Eogil wirklich Pontions Erbe weiterführen sollte, musste er diese Aufgaben übernehmen. Schon jetzt drohte ihm diese Last zu erdrücken. Er fühlte sich dieser Verantwortung nicht gewachsen. Aber niemand anders wäre besser dafür geeignet. Niemand anders als er konnte die Menschen wieder einen. Er war noch immer beliebt und eine schillernde Persönlichkeit, zudem war sein rhetorisches Talent noch so gut wie eh und je.
Eogil biss die Zähne zusammen. Er wollte es für seinen verstorbenen Freund tun. Er würde Horior in Grund und Boden stampfen. Eogil legte all seine Autorität und Entschlossenheit in sein Stimme und sprach:
„Sagt zu den tapferen Männer und Frauen, dass Lord Eogil zurückgekehrt ist. Und sagt ihnen, er ist wütend!“
Ein entschlossenes und siegessicheres Lächeln trat auf das Gesicht Pertals. Er drehte sich freudig um und rannte los, um die frohe Botschaft zu verkünden. Als dieser nicht mehr zu sehen war, übergab sich Eogil. Was hatte er sich dabei bloß gedacht?

Es fiel Eogil schwer sich zu konzentrieren und die richtigen Worte zu finden, um der alten Dame den entsprechenden Mut und Lebenswillen zuzugeben. Die legendären Takrane hatten zu sehr seine klare und bedachte Denkweise eingenommen. Sahinja machte es ihm auch nicht umbedingt leicht mit ihrem ständigen Verlangen nach den letzten beiden Takranen. Aber das Schicksal war ihm gnädig und Sahinja versuchte sich momentan zurückzuhalten.
„Jetzt sehen wir erst einmal zu, dass wir aus diesem dreckigen Loch herauskommen und einen Platz an einem schönen warmen Feuer finden und eine ordentliche Mahlzeit zu uns nehmen. Dann sprechen wir über alles weitere.“, sagte er.
Aber er konnte nicht einmal mehr seinen eigenen Worten glauben. Diese verdammten legendären Takrane. Sie lenkten ihn zu sehr ab, am liebsten würde er sich, wie Sahinja, einfach das nehmen was er wollte.
„Doch zuvor wollen wir den Takran.“, sagte Sahinj wie eine Besessene.
Na Toll, ging das schon wieder los. Sie war wie ein Kleinkind. Alles musste nach ihren Willen gehen. Eogil nahm wahr wie Sahinja sich in die Gedanken der alten Bibliothekarin schlich und diese zu ihren Gunsten manipulierte. Eogil hatte nicht einmal versucht etwas dagegen zu unternehmen. Er war schwach und alles was er noch wollte war dieser verdammte Takran. Manchmal wünschte er sich einfach so zu sein wie Sahinja. Keinerlei Verantwortungsgefühl und stets tun und lassen was er wollte. Als Sahinja den Takran der alten Frau an sich genommen hatte, tat Eogil es ihr gleich. Plötzlich nahm er wahr wie aus ihren Körpern güldenes Licht erstrahlte. Das Licht der Götter, das selbe Licht, das sie schon in den Hallen von Sheyr gesehen hatten und das selbe Licht in dem er erstrahlt hatte, als er massenweise Menschen tötete.
Doch in diesem Augenblick hatte Eogil noch zwei weitere Dinge wahrgenommen. Erst jetzt war ihm aufgefallen, dass jemand in die Kerker gekommen war und die beiden Bewusstlosen am Boden betrachtete. Seine Schwäche, die legendären Takrane und die alte Frau hatten ihn so sehr abgelenkt, dass er ganz auf seine Vorsicht vergessen hatte. Bei der sonst so paranoiden Sahinja schien es nicht anders gewesen zu sein.
Das zweite was Eogil zu diesem Zeitpunkt wahrgenommen hatte, war, wie Sahinja den Takran der Vergangenheit auf ihn anwandte. Irritiert von diesen beiden Ereignissen verhielt sich Eogil vollkommen unüberlegt und unangemessen.
Anstelle, dass Eogil den Fremden mit seinen Schatten fesselte, wandte er den Takran der Vergangenheit auf ihn an. Beinahe wäre ihm das Herz stehen geblieben. Der Fremde war gar kein Fremder. Es war Arum.

Eogil nahm Arums Kindheit wahr und wie er sich der Armee Venundurs anschlossen hatte. Die erste Begegnung mit Horior und die Schlachten, in denen er gekämpft hatte. Dann der Friede. Er nahm wahr, wie Horior Arum seinen Plan schilderte Pontion und Eogil auszuspionieren. Dann sagte ihm Horior, dass er so tun solle, als würde er Pontion und Eogil zur Flucht verhelfen. Anschließend spielte er weiterhin Pontion vor, er würde auf seiner Seite stehen, spionierte jedoch in Wirklichkeit für Horior. Er verriet Horior was Eogil und Pontion planten und was ihre Schwachstellen waren. Hin und wieder gab er den beiden fehlerhafte Informationen, die seine trügerische Loyalität bezeugten. Er war es auch gewesen der Pontion hinterhältig ein Messer in den Rücken gestochen hatte. Selbst als Eogil zurückgekehrt war, hatte er sein falsches Spiel weitergespielt und Eogil ins Gesicht gelächelt und sich wie seinen besten Freund behandeln lassen. Er hatte zusammen mit dem Thronräuber den Plan ausgeheckt, Eogil nach Nefarin zu schicken, während sie unterdessen Eogils Freie abschlachten konnten. Dann sah Eogil wie Arum nachts durch Eogils Lager gewandert war und einem nach dem anderen die Kehle durchschnitt.

Eogil hatte immer gedacht, aus den Gesichtern der Menschen wie aus einem Buch lesen zu können. Wie war er nur so überheblich geworden, dass er sich in Arum so täuschen hat können? Er hatten einen banalen Anfängerfehler begangen, der oft in seinen Büchern beschrieben worden war: Er hatte in Arum denjenigen gesehen, den er sehen hat wollen. Er und Pontion hatten jemand gebracht, der Informationen über Horior und seine Pläne einholen konnte. Sie hatten jemand wie Arum gebraucht und nur er war dazu in der Lage gewesen Informationen von solcher Wichtigkeit zu beschaffen. Es hatte einfach nicht sein dürfen, dass Arum ein Verräter war.
Und doch war es so. Er war es gewesen, der sie an Horior verraten hatte. Er war es gewesen, der heimtückisch, während alle schliefen, seinen Freunden die Kehlen aufgeschlitzt hatte. Horior hatte zwar den Befehl dazu erteilt, aber ausgeführt hatte ihn Arum. Und Arum war es auch gewesen, der Pontion das Messer in den Rücken gerammt hatte!

Es war Eogil als wurde ein Hebel in seinem Kopf umgelegt. Ein Hebel von Gut zu Böse.

~~~~~~~~~~~~~~~Sahinja~~~~~~~~~~~~~~~

Sahinja schreckte hoch. Es waren nur wenige Sekunde vergangen, seitdem sie den Takran der Vergangenheit auf Eogil angewandt hatte und die Informationen in ihr Gedächtnis strömten. Sie hatte es gar nicht vorgehabt. Wieso hatte sie es getan? Nie im Leben hätte sie die Vergangenheit Eogils in Erfahrung bringen wollen. Doch das war jetzt ihr geringstes Problem. Eogil war gerade zu dem blutrünstigen Monster geworden, das sie in ihrer Vision gesehen hatte.
Eogil richtete beiden Hände direkt auf Arum und entfesselte sowohl den Takran des Lichts, als auch den Takran der Schatten. Körperteile und Blut folgen durch den Raum.
Sahinja konnte nicht glauben was sie da sah. Eogil hatte vollkommen den Verstand verloren. Es war anders als bei ihr. Sie hatte bei der Stillen Bruderschaft geschrien und ihrer Wut freien Lauf gelassen. Eogil hingegen war still und staute die Wut immer mehr in sich an. Sahinja konnte keine Gedanken von ihm wahrnehmen. Sie hatte entweder den Umgang mit ihrem Takran verloren, oder Eogil hatte sein bedachtes und vorausschauendes Denken an den Nagel gehängt. Doch es war ohnehin klar was Eogil vorhatte. Er wollte Blut sehen, welches, war egal.

Kapitel 20 - Der Geheimgang



Sahinja reagierte instinktiv. Obwohl sie diesen Entschluss nicht bewusst gefasst hatte und obwohl sie selbst nicht genau nachvollziehen konnte, wieso sie so handeln musste, galt momentan nichts als wichtiger. In Windes Eile erschuf sie eine umfassende Schattenwoge und hüllte Eogil von Kopf bis Fuß darin ein, sodass er zu keinerlei Bewegungen mehr fähig war und keinen Takran mehr einsetzen konnte.
Einerseits war es ihr glasklar wieso sie so handeln musste. Es war ein stiller Gedanke der leise an die Oberfläche zu dringen versuchte. Sahinja versuchte dieses stille Flüstern so gut sie es vermochte zu unterdrücken und zu überhören. Was sie jetzt noch nicht genau verstehen konnte, wollte sie nicht in Worten gefasst haben, selbst wenn sich diese nur in ihren Gedanken befinden würden. Alles was momentan wichtig war, und was zudem auf diesen stillen Gedanken aufbaute, war, dass Eogil nicht töten durfte.
Nüchtern betrachtet war ein solches Verhalten das Dümmste was sie momentan tun hätte können. Eogil hatte mit seiner überstürzten Handlung die gesamte Festung auf sich aufmerksam gemacht. Und so wie sich die Ereignisse fügten, musste Sahinja sowohl auf Eogil als auch auf die alte Bibliothekarin Acht geben und mit ihnen lebend aus der Festung fliehen. Zudem konnte sie bei ihrer Flucht die Schatten nicht mehr einsetzen, da sie diese um Eogil gewoben hatte und um die Alte noch weben würde müssen. Hier, für ihre Flucht, hätte sie die Hilfe eines mordenden Eogils gut gebrauchen können. Jetzt, wo sie ihn mit ihren Schatten gefesselt hatte, würde er ihr mehr hinderlich als nützlich sein.
Alles hatte sich verändert als ihr die Vergangenheit Eogils bewusst geworden war und doch durfte Sahinja diesen Tatsachen keine Bedeutung schenken. Warum hatte sie bloß den Takran der Vergangenheit auf Eogil angewandt? Es hätte so viel einfacher sein können. Mit dem Wissen um Eogils Vergangenheit hatte sie einen neuen Betrachtungswinkel auf die Welt erhalten. Eogils Betrachtungswinkel. Und dieser stand ihrem diametral gegenüber. Aber darüber durfte sie jetzt nicht nachdenken. Es war ohnehin wichtiger lebend aus dieser Festung zu entkommen. Nachdem sie dies geschafft hatte, konnte sie sich immer noch mit diesen Gedanken quälen.
Eogil war wie sie, nur noch eine Stufe vom Göttlichen entfernt und auch um ihn leuchtete die güldene Farbe die das Göttliche symbolisierte. Es war ein Licht von unglaublicher Intensität, nicht einmal die erdrückende Dunkelheit ihrer Schatten konnten dem hellen Schein des Göttlichen in irgendeiner Weise Einhalt gebieten.
Eogil machte ihr ein wenig Angst. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Tief in sich gesunken, als hätte er sich in seinem eigenem Körper abgeschlossen, um dort einen Kampf gegen sein inneres dunkles Wesen zu führen. Er starrte starr, wie ein Besessener, in eine Richtung, hatte den Gesichtsausdruck eines blutdürstigen Verrückten aufgesetzt und dennoch kämpfte er kein bisschen gegen ihre Schatten an. Doch Sahinja wusste genau, dass er, sobald sie die Schatten um ihn löste, einem nach dem anderen auf brutalste Weise das Leben nehmen würde. Vermutlich würde er mit ihr beginnen, da sie für ihn die größte Bedrohung darstellte.
Er war ganz anders, als sie ihn in der Vision gesehen hatte. Kein wild herumschreiender Eogil, keine tobende und aufbrausenden Handlungen. Er glich viel mehr einer ruhigen und gelassenen Person. Aber es war eine ungeheuer beängstigende Ruhe. Vermutlich würde er den geballten Zorn erst los lassen, wenn er seinen inneren Kampf verloren hatte und auch noch die tiefste Dunkelheit aus seiner Seele an die Oberfläche dringen lassen würde. Diese ruhige und abschätzende Person, welche jederzeit zum Töten bereit war, war lediglich die Ruhe vor dem Sturm.
Mit dem Gedanken-Takran machte sie die Alte willenlos, sodass sie sich ihr wie ein Lamm fügte. Anschließend hüllte Sahinja auch sie, wie Eogil, in eine Schattenwolke, sodass sie diese einfach hinter sich her befördern konnte. Sahinja war einerseits durch die beiden behindert, doch andererseits besaß sie neun legendäre Takrane und war somit nur noch eine Stufe vom Göttlichem entfernt. Diese normalen Menschen mit ihren normalen Takranen würden, wenn überhaupt, nur wenig Hindernisse für sie darstellen. Mit ihrem sechsten Sinn nahm sie war, dass nun die ersten Soldaten in die Kerker eindrangen. Dank Mepanuks Takrans verblieb ihr genug Zeit um sich entsprechend darauf vorzubereiten.
Und dann erreichten die ersten Soldaten den unteren Zellenbereich der Festung. Mit ihrer rechten Hand feuerte sie einen tödlichen Strahl aus gleißendem Licht ab. Sofort sank einer der beiden Soldaten tot zu Boden, welcher vorhin noch in Zeitlupe auf sie zugeeilt war. Gleichzeitig veränderte sie die Realität in einer Form ab, sodass der zweite Soldat seinen Blitz-Angriff nicht ausführen konnte und tötete gleich darauf auch ihn, indem sie ihm ebenfalls einen Lichtstrahl durch den Körper schoss.
Sie waren wie Ameisen, nichts konnten sie ihr anhaben. Sahinja seufzte schwer auf. Nichts anderes hätte Eogil getan. Wovor sie ihn zurückhielt, führte sie aus. Doch mit Eogils Erinnerungen hatte sie etwas verändert. Sie hatte etwas verstanden, von dem sie nie gewollte hatte, es zu verstehen. Sofort zwang sie sich, ihre Gedanken wieder in ihre geordneten Bahnen zu lenken. Diese Schlüsse durften nicht zu Ende gedacht werden. Sie würde sie innerlich auffressen und völlig zerstören.
Mit einem Diskus, geschaffen aus Licht, nahm sie zwei weiteren Soldaten das Leben. Sie hatten nicht einmal die Gelegenheit gehabt ihre Fähigkeiten gegen sie einzusetzen, da Sahinja sie mit ihrem sechsten Sinn zuvor wahrgenommen hatte, den Diskus vor ihrem Eintreffen erschaffen hatte und ihn um die Biegung des Ganges gelenkt hatte. Was sie hier tat, konnte man nicht mehr als Kämpfen bezeichnen. Bei einem Kampf sollten den Gegnern zumindest eine geringe Chance verbleiben. Was sie hier tat, war ein Abschlachten, wie man es ansonsten nur mit dem Vieh tat.
Ohne Hast und doch im Vergleich zu den anderen Soldaten, bewegte sie sich mit rasender Geschwindigkeit aus den Kerkern. Eogil und die alte Frau, von dem sie immer noch nicht den Namen kannte, zog sie mit den Schatten hinter sich her. Mal richtete sie ihre Rechte Hand nach links, mal nach rechts. Mal starb der eine, dann der andere. Nur wenige kamen so weit, dass sie ihre Fähigkeiten gegen sie einsetzen konnten. Und wenn es so weit kam, verblieb Sahinja noch genug Zeit, um zur Seite zu treten. Solche Macht sollte niemand besitzen.
Mit dem Takran der Täuschung hüllte sie die ganze Festung in undurchdringlicher Dunkelheit, sodass es jedem erscheinen musste, als wären sie erblindet. Sahinja war die Einzige welche die Orientierung aufrecht erhalten konnte, da sie aufgrund ihres zusätzlichen Sinnes ihre Umgebung wie eine Karte vor sich hatte.
Angstschreie und panische Rufe waren von den eben Erblindeten zu hören. In ihrer Verzweiflung benahmen sich die ausgebildeten Soldaten, wie kopflose Hühner und setzten ihre tödlichen Fähigkeiten wahllos gegen den vermeintlichen Feind ein. Das Chaos war ausgebrochen und in ihrer Panik brachten sie sich gegenseitig um. Diese Szene erinnerte sie an ihre Flucht aus Festung Kubar. Damals hatte sie nur eine sinnlose Zusammenstellung aus Takranen gehabt, unter anderem einen Rauch-Takran, der ebensolches Chaos verursacht hatte. Wie viel war doch in dieser kurzen Zeit geschehen. Um wie viel mächtiger war sie doch jetzt geworden und um wie viel hatten sich ihre Charakterzüge verändert. Wo sie damals eine kampfsüchtige und egoistische Person gewesen war, so war sie nun beinahe eine Göttin, die mit furchtbaren Gewissensbissen zu kämpfen hatte und ihre vergangenen Tage maßlos verabscheute. Zudem keimten noch die schrecklichen Gedanken in ihr auf, die sich mit dem Wissen um Eogils Leben gebildet hatten. Schnell versuchte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge zu lenken.
Mit dem Takran der Zukunft hatte sie wahrgenommen, dass sie in kürzester Zeit von einem Eisstachel getroffen werden würde. Sie manipulierte die Gedanken eines wahllosen Soldaten, der den Fehler gemacht hatte zufällig in ihrer Nähe zu stehen, sodass er sich genau in dessen Flugbahn stellte und sie ihn als menschlichen Schutzschild benutzen konnte. Alles verlief so wie sie es wollte und ohne einer hastigen Bewegung, hatte sie blitzartig der Festung den Rücken gekehrt.

Da saß sie nun. Sie hatte sich mit Eogil und der Bibliothekarin im Schlepptau, weit von dem Kampfgeschehen entfernt und hatte an einer abgelegenen Stelle ein Feuer entfacht. Jetzt wartete sie. Auf was sie wartete wusste sie nicht genau. Die ehemalige Gefangene hatte sie mit dem Gedanken-Takran soweit manipulieren können, dass sie seelenruhig schlief. Eogil hatte sie vorsichtshalber immer noch in ihre Schatten gehüllt. Was sie vorhin erahnt hatte, konnte sie nun an seiner Aura ablesen. Er war tief in seinem Geiste zurückgezogen. Obwohl seine Augen immer noch starr in eine Richtung blickten, war an ihm keine Reaktion abzulesen. Er führte einen inneren Kampf. Der Verrat Arums musste ihn mit der gewaltigen Wucht eines Schmiedehammers getroffen haben. Wie viel Zeit vergehen musste, bis Eogil seinen Kampf gewann und aus seiner Starre erwachen würde, wusste sie nicht. Würde es sich um Stunden handeln? Tage? Jahre?
Ihrer neuen Aura hatte sie noch fast keinerlei Beachtung geschenkt. Sie und genauso Eogil leuchteten nun in güldener Farbe. Es war das Licht der Götter. Eogil und Sahinja waren nur noch einen kleinen Schritt vom Göttlichen entfernt. Praktisch waren sie bereits mehr göttlich als menschlich. Diese Tatsache hatte vielerlei für sich: Ein Gott fühlte keine Schwächen und so war die Kraftlosigkeit und das Suchtgefühl mit dem neunten legendären Takran, von ihr gefallen. Hunger gab es für sie keinen mehr - ein Gott bedurfte keiner Nahrung und auch ihr Empfinden von Temperaturen hatte sich geändert. Obwohl sie die unterschiedlichen Schwankungen von Kälte und Wärme voneinander unterscheiden konnte, verspürte sie diese nicht mehr als unangenehm oder schadhaft. Ähnlich als würde sie permanent einen Hitze- und einen Kälte-Takran tragen. Auch war sie nun wieder vollkommen ausgeruht und sie wusste, dass sie fortan keinerlei Schlaf mehr bedurfte. Götter schliefen nicht mehr.
Sahinja warf einen flüchtigen Blick zu dem gülden leuchtenden Eogil, der immer noch in ihre Schatten gehüllt war. Hatte dies alles zum Plan Horiors gehört? Natürlich musste es so gewesen sein. Aus dem Wissen um Eogils Vergangenheit hatte sie einen Einblick in die Charakterzüge Horiors erhalten. Horior war ein zielstrebiger Mensch, der kalt und entschlossen in die Zukunft plante. Für jedes Vorgehen hatte er einen Ausweichplan parat, um auch mit Bestimmtheit sein Ziel zu erreichen. Mit dem Takran der Zukunft und mit einem möglichen anderen Takran um die Wirkung dieser Fähigkeit zu verstärken war es ihm sicherlich ein Einfaches gewesen, den richtigen Zeitpunkt abzupassen und den Verräter zum geeigneten Moment an die richtige Position zu stellen. Das Arum durch puren Zurfall an genau dieser Stelle aufgetaucht war, konnte sie einfach nicht glauben.
Horior war gewissenlos und machtbesessen. Andere Menschen waren für ihn nichts weiter als Spielzeug, die er benutzte wie er wollte und die er ohne ein Augenzwinkern opferte, um seinem hochgestellten Ziel, auch nur ein kleines Stückchen näher zu kommen. Nüchtern betrachtet besaß auch sie ebendiese Charaktereigenschaften. Skrupellos, machtbesessen, egoistisch, gewissenlos, selbsteingenommen,... Sie war nicht anders Horior. Und schließlich konnte sie den aufkeimenden Gedanken keinen Einhalt mehr gebieten und sie brachen in Form einer Flutwelle über sie hernieder: Sahinja war durch und durch böse. Eogil war gut und sie war böse. Und das war der Grund warum sie Eogil mit ihren Schatten gefesselt hatte. In ihr war bereits alles Gute gestorben. Daher durfte sie Menschen töten und Eogil durfte es nicht. Da er der Gute war, musste er diese Eigenschaften aufrecht erhalten, für sie jedoch war bereits alles verloren, deshalb machte es bei ihr keinen Unterschied mehr. An ihren Händen klebte das Blut tausender, was machten da schon ein paar Menschen mehr noch für einen Unterschied?
Die Stille Bruderschaft hatte sie Furcht gelehrt. Nachdem sie es geschafft hatte zu flüchten, hatte sie nie wieder einem Menschen vertraut. So war sie ihr Leben lang eine Einzelgängerin geblieben. Niemals hatte sie einen Menschen an sie heranlassen wollen, denn dies hätte bedeuten können, dass dieser sie verletzen konnte. Durch eine solch engstirnige Sichtweise hatte sie gelernt, immer nur den Feind in ihrem Gegenüber zu sehen, nie jedoch einen gleichwertigen Menschen. Auch andere hatten eine Vergangenheit und führten ein Leben und die meisten von diesen sogar ein besseres als sie selbst. Dies alles war hinter der Mauer verborgen geblieben, die sie sich um sich aufgebaut hatte.
Doch mit dem Wissen um Eogils Vergangenheit hatte sie eine alternative Sichtweise erhalten. Jetzt wo sie sein Leben kannte, wusste sie auch wie ihr Leben hätte sein können. Eogil sah in jedem Menschen das Gute und versuchte alles in seiner Macht stehende, um anderen zu helfen. Für ihn waren selbst Unbekannte seine Freunde und auch an schlechten Menschen, wie sie einer war fand, er etwas Gutes. Mit einem solchen inneren Verständnis, sah ihr Leben so unerbittlich falsch aus.
Ja, so war es. Von der Perspektive Eogils aus betrachtet, war sie durch und durch böse. Verdorben bis aufs Mark. Sie war nicht einmal den Dreck wert, der an ihren Schuhsolen haftete. Mit dieser Erkenntnis zerbrach etwas in ihr. Und so sehr sie sich in diesem Augenblick Tränen wünschte, sie kamen nicht. Götter weinten nicht und da sie beinahe eine solche war, waren auch ihr die Tränen genommen.
Was war sie doch für ein schrecklicher Mensch? Hatte sie jemals etwas Gutes geleistet? Hatte sie jemals anderen geholfen? Es war schockierend, wie einfach diese Fragen zu beantworten waren: Sie hatte noch nie etwas Gutes getan und geholfen hatte sie ebenfalls noch nie jemandem. Vielleicht, wenn es zu ihrem Vorteil gewesen war, dann hatte sie geholfen, aber ansonsten... Was für ein Monster musste Eogil doch in ihr sehen? Und doch wusste sie aus Eogils Erinnerungen, das er sie immer nur im besten Licht betrachtet hatte. Er hatte immer nur das Gute in ihr gesehen. Sie war die edlen Gedanken Eogils nicht wert. Sie war durch und durch böse, genauso wie Horior. Oder war sie noch schlimmer als er? Horior hatte die Alchemisten zurückgeschlagen und ganz Venundur Eodoran und Isbir Frieden gebracht. Er war ein Held in allen drei Königreichen. Unzählige Menschen hatte er vor dem Tod gerettet. Was hatte sie im Vergleich dazu schon geleistet?
Obwohl sie diesem Horior noch nie persönlich gegenüber gestanden war, musste sie gestehen, dass er sein Spiel gut spielte. Es war wie Eogil Horior vor wenigen Tagen zitiert hatte: ,Du musst zuerst deine Feinde moralisch schwächen, um sie effizienter vernichten zu können.‘ Genau das hatte Horior geschafft. Aus Eogil war eine lebende Leiche geworden und sie ein nervliches Wrack.
Nie hatte Sahinja sich Gedanken darüber gemacht in welchen Bild, andere sie wohl betrachteten. Andere mussten in ihr wohl das personifizierte Böse sehen. Niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben und diejenigen die sie kannten, fürchteten sich. Doch was sonst hätte sie sein können? Ein ebensolcher Sonnenschein wie der große und glorreiche Lord Eogil? Gutes tun und stets anderen eine helfende Hand anbieten? Das wäre wohl das Allerletzte. Sie gehörte gewiss nicht zu den Guten und zu den Bösen wollte sie ebenfalls nicht gehören. Sie gehörte nirgends hin. Immer war sie schon eine Einzelgängerin gewesen, doch jetzt, in der Gesellschaft zweier anderer, fühlte sie sich so alleine und verlassen, wie noch nie zuvor kennen gelernt hatte. Ihr Erkenntnis um ihrer Selbst fraß sie auf. Wieso wachte dieser Vollidiot nicht endlich auf und machte ihr gute Gefühle?
Sie musste diese Gedanken endlich abschütteln. Sie musste aufstehen und einen Spaziergang machen.

Und dann kam Eogil endlich wieder zu sich. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, obwohl sie sein Zeitempfinden um das Stärkste verlangsamt hatte und ihr eigenes so gut sie es vermochte beschleunigte. Was ihr eine Sekunde war, musste für Eogil eine Stunde gewesen sein. Aber schließlich, nach Elends langem Warten, hatte er seinen inneren Kampf gewonnen.
Sie ließ die Schatten um seinen Körper verpuffen und Eogil richtete sich langsam wieder auf. Seine gülden leuchtende Aura schien rein gar nicht zu dem kläglichen Lächeln eines Hundeblicks zu passen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, es waren auch keine Worte nötig. Unter anderem gehörte es zu den zusätzlichen Fähigkeiten der legendären Takrane auch in Absichten und Erfahrungen miteinander zu kommunizieren.
Es war Zeit dem Treiben Horiors ein Ende zu bereiten. Sie würden einen kurzen Umweg in das nächstgelegene Dorf einschlagen, um die ehemalige Bibliothekarin dort abzuliefern und anschließend ihre letzte Reise antreten.

Es hatte nicht lange gedauert bis Eogil auf ihre veränderten Gedankenwege aufmerksam geworden war. Stets nagte die bittere Gewissheit an ihr, dass sie durch und durch böse war und bis ins Mark verdorben. Mittlerweile glaubte sie, dass in Wirklichkeit sie der eigentliche Feind war und dass man anstelle von Horior lieber sie töten sollte. Wäre sie eine Göttin, würde sie mit Bestimmtheit nichts Gutes in die Welt bringen. Ja, Horior war im Vergleich zu ihr ein zahmer Kater. Er war das geringere Übel, sie war das wahre Böse.
„Es mag schon sein, dass du bisher den falschen Weg eingeschlagen hast, aber jetzt wo die Welt dich braucht gehst du den richtigen Weg und wirst somit Millionen von Menschen das Leben retten.“
Sahinja lächelte traurig. Die rhetorischen Fähigkeiten Eogils hatte sie immer gehasst, jetzt würde sie ihm am liebsten dafür um den Hals fallen.
„Was unterscheidet mich von ihm?“, fragte sie leise.
„Nicht viel“, sagte Eogil unverfroren ehrlich „aber dennoch unterschiedet euch der entscheidenden Unterschied.“ Eogil sah sie auf seine ganz besondere Weise an. „Du zeigst Reue, das ist etwas das Horior nicht einmal nachvollziehen kann.“
Sahinja lächelte kläglich in sich hinein. Reue war doch nur etwas für die Schwachen. Es war etwas, für das sie andere stets verurteilt hatte. Sie musste stark sein und sie hatte immer auf sich selbst aufgepasst. Deshalb hatte es in ihrem Leben keinen Platz für Dinge wie Mitgefühl, Nächstenliebe, Selbstlosigkeit oder Reue geben können. So etwas hätte sie nur behindert und sie schwach gemacht. Und doch war es genau so wie Eogil es sagte. Sie zeigte Reue - sie war schwach.
„Reue ist kein Gefühl der Schwäche.“, sagte Eogil mit sanfter aber dennoch fester Stimme. „Es erfordert unglaublichen Mut sich seiner Fehler einzugestehen und eine starke Willenskraft den Hebel umzulegen und den rechten Weg einzuschlagen. Nicht jeder ist dazu fähig, nur diejenigen die stark genug dafür sind.“
Sahinja musste in sich auflachen. Eogil war der geborene Sprachkünstler. Er konnte den Blickwinkel der Dinge so verdrehen, dass es sogar für sie Sinn machte. Das war etwas was sie immer an ihm gehasst hatte, jetzt wusste sie nicht wie sie ihn für seine aufmunternden Worte danken sollte.
„Ich bin also gar nicht so schlimm?“, sagte Sahinja gequält lächelnd.
„Nun, du gehörst nicht umbedingt zu den Guten.“, sagte Eogil wieder mit seiner unverfrorenen Ehrlichkeit „aber zu den Bösen gehörst du auch nicht. Nicht mehr.“
Sahinja schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. Es tat gut seine Worte zu hören. Sie waren aufmunternd und ehrlich. Hätte er ihr die Wahrheit nicht so unverfroren ins Gesicht gesagt, hätte sie ihm vermutlich auch kein anderes Wort geglaubt.
„Man sollte sein Handeln nicht nur in Gut und Böse unterteilen. Die Welt ist ebenfalls nicht nur schwarz und weiß, es gibt auch Zwischenstufen. Außerdem hattest du Gründe für dein Handeln. Es war zwar nicht immer die beste Wahl die du hättest treffen können, aber meistens die einzige die du zu diesem Zeitpunkt hattest. Wer weiß was aus mir geworden wäre, hätte ich bei der Stillen Bruderschaft aufwachsen müssen. Vermutlich hätte auch ich nie gelernt anderen zu vertrauen.“
Sahinja nickte bitter. Sie wusste nicht was sie sagen sollte. Obwohl ihr die Worte Eogils gut taten, fühlte sie sich immer noch in diesem tiefen dunklen Loch gefangen.
„Hast du eigentlich je eine selbstlose Tat begangen?“, fragte Eogil.
Was sollte das? Er wusste genau, dass sie so etwas noch nie getan hatte. Wieso fragte er sie danach? Wollte er alles wieder kaputt machen?
„Nein.“, sagte sie gequält und eine dicke Woge der Traurigkeit brach wieder über sie hernieder.
„Ich glaube du irrst dich. Ich kenne eine deiner selbstlosen Taten. Sie ist noch nicht einmal so lange her.“, sagte Eogil mit kindlicher Fröhlichkeit.
Sahinja sah ihn verwirrt an. Sie sollte eine selbstlose Tat getan haben? An eine solche konnte sie sich nicht erinnern. Und wenn, hatte sie diese nur aus versehen oder aus eigennützigen Motiven begangen.
„Du hast verhindert, dass aus mir ein blutrünstiges Monster wird.“, sagte Eogil und diesmal schwang ein kläglicher Unterton mit. „Du hast mir die Last der Gewissensbisse abgenommen und sie dir selbst aufgebürdet. Das hättest du nicht tun müssen, aber du hast dich dafür entschieden.“ Dann suchte er nach ihren Blick „Danke.“
Sahinja wusste nicht was sie sagen sollte. Am liebsten hätte sie vor Freude zu weinen begonnen. Vielleicht war sie doch nicht so verdorben wie sie dachte. Vielleicht gab es für sie ja doch noch Hoffnung.
„Danke.“, sagte auch sie zu Eogil und diesmal kam das Wort ganz leicht von ihren Lippen und eine erstaunliche Last fiel von ihren Schultern.
Obwohl Eogil es geschafft hatte sie über das Schlimmste hinwegzubringen, war ihr dennoch klar, dass sie die vergangenen Morde nicht mehr rückgängig machen konnte. Sie würde immer die grausame Mörderin bleiben, die sie war. Und im Vergleich zu Eogil musste sie wie das letzte Scheusal dastehen. Sie war ein schlechter Mensch, ihr Leben war verwirkt.
Eogil hingegen erstaunte sie. Sie hatte ihn immer so sehr gehasst, aber er war ihr immer ein treuer Freund gewesen. Und auch jetzt half er ihr über den Abgrund hinweg und dabei musste er selbst doch ebensolche gravierende Probleme haben. Er war schließlich um Haaresbreite eine blutdurstige Bestie geworden.
„Du kennst mich doch.“,sagte Eogil mit einem gequälten Lächeln, auf ihre Gedanken hinweg. „Ich bin der geborene Rhetoriker und Schauspieler.“

Zwei weitere Tage waren verstrichen. Zwei Elends lange Tage in denen Sahinja Zeit gehabt hatte ihr Leben zu überdenken. Sie wusste nicht was sie tun sollte. Irgendwas musste geschehen, doch wusste sie noch nicht was dieses „Irgendwas“ sein sollte.
Die Trägerin des Takrans der Vergangenheit hatten sie sicher in Graueden zurückgelassen und ihre Reise nach Venundur betrug nur noch wenige Stunden. Graueden hatte einer Geisterstadt geglichen. Nur wenige Menschen hatten sich dem Befehl Horiors geweigert und waren in ihren Hütten geblieben. Von ihnen hatten Eogil und Sahinja erfahren, dass Horiors Truppen in allen Reichen verstreut waren und jede Menschenseele nach Venundur schickten. Sie alle sollen Zeugen von Horiors Gottwerdung sein. Nur wenig Wagemutige und viele der älteren Generation waren zurückgeblieben.
Und dies soll nicht nur in Venundur so geschehen sein. Von Reisenden, aus den Reichen Isbir und Eodoran, welche sich gerade auf den Weg in das Reich Venundur befanden, hatten sie folgendes erfahren: Horior war geradewegs in die Königshäuser marschiert und hatte ohne viele Worte zu verlieren die führenden Oberhäupter getötet. Anschließend hatte er sich selbst zu Oberbefehlshaber ernannt und die Macht über die Soldaten erhoben. Auch sie sollen alle Menschen zusammensammeln und sie auffordern, in das Reich Venundur zu marschieren, um seiner Gottwerdung beizuwohnen. Ansonsten werde Horior persönlich, sobald er die göttlichen Mächte in sich aufgenommen hatte, bei ihnen erscheinen und sie zur Rechenschaft ziehen. Die meisten jedoch kamen jedoch aus freien Stücken und weil sie neugierig waren.
Es war unglaublich. Eogil und Sahinja hatten bereits Schlimmes geahnt, als Horior in den Hauptstädten der jeweiligen Reiche zu Besuch war, doch solch enorme Ausmaße, hätten sie sich nicht erträumen lassen. Anscheinend war ihm nichts zu teuer und kein Menschenleben zu wertvoll, um sein Ziel zu erreichen. Horior handelt in seinem Machthunger, als gäbe es kein morgen.
So hatte er es also geschafft, all die Menschen in Venundur zu versammeln. Aus Eogils Vergangenheit wusste sie nur zu gut dass Horior nicht zu der Sorte Mensch gehörte, die sich selbst verherrlichten. Er hielt von anderen Menschen genauso wenig wie Sahinja und hatte es nicht nötig vor anderen zu protzen. Die Abertausenden Menschen die er in Venundur versammelt hatte, waren lediglich sein Einsatz für sein grausames Spiel. Sollten Eogil und Sahinja nicht erscheinen, würden sie alle den Tod finden. Es war eine schlüsselhafte Tatsache, die aus seinen Handlungen hervorging und die keiner Mitteilung bedurfte. Es war ähnlich eines der politischen Spielchen, die Eogil in seiner Zeit als Rat gespielt hatte.
„Hast du das gemerkt?“, fragte Eogil plötzlich.
„Was?“, entgegnete ihm Sahinja.
„Das hier.“
„Was?“, fragte Sahinja nochmals.
Dann übermittelte Eogil ihr seine Erfahrungen mit der neuartigen Art ihrer Kommunikation. Ein Missverstehen war ausgeschlossen, Sahinja verstand sofort worauf er hinaus wollte. Der Takran der Vergangenheit hatte anscheinend nicht nur einen Verwendungszeit. Einerseits konnte man mit ihm das Leben eines Menschen vollends in Erfahrung bringen, andererseits konnte man auch die Zeit zurückdrehen. Sie hatte es nur deshalb nicht gemerkt, da aus ihrer Betrachtungsweise das Zeitempfinden gleich geblieben war. Sofort musste sie diese Fähigkeit selbst anwenden. Ein eigenartiges Gefühl durchschlich sie, alles schien auf eine sonderbare Art in entgegengesetzter Richtung zu verlaufen. Sie und Eogil setzten ihre Schritte nun rückwärts und sie betrachtete wie Eogils und auch ihre Worte zu existieren aufhörten.
„Hast du das gemerkt?“, fragte Eogil nochmals und diesmal wusste sie worauf er hinauswollte.
„Wir können die Zeit zurückdrehen.“, antwortete Sahinja erstaunt.
Eogil lachte gequält. Beiden war klar, dass wenn sie diese Fähigkeit beherrschten, sie auch Horior beherrscht. Alle drei konnten sie die Zeit beschleunigen und verlangsamen, in die Zukunft sehen und in die Vergangenheit reisen. Außerdem konnten sie auch noch die Realität abändern und die Gedanken der anderen lesen. Wie konnte da ein Kampf gegen Horior aussehen? Anfangs hatte sie gedacht, dass derjenige, der den ersten Fehler begehen würde, auch derjenige wäre, der als erster sterben wird. Doch bei einer solch enormer Anzahl überaus mächtiger Takrane konnte man keinen Fehler mehr begehen. Zudem besaß ihre Seite den Takran der Perfektion und Horior war unverwundbar. Möglicherweise würde sich ein solcher Kampf bis in die Ewigkeit hinziehen, da keiner müde wurde und sie keiner Nahrung bedurften.
Es wurde mittlerweile Zeit, sich einen endgültigen Plan auszudenken. Diese Tatsache hatten sie bis zum letzten Moment hinausgezögert, sodass Horior seine Falle ihrem Vorgehen nicht mehr rechtzeitig anpassen kann. Doch wie konnte eine Falle aussehen, die sie noch aufhalten konnte? Sie hatten stets einen kurzen Blick in die Zukunft, sie würden garantiert nicht hineintreten. Und sollten sie wirklich einen Fuß hineinsetzten, so würden sie einfach die Zeit zurückdrehen, um ihr zu entkommen. Es war unmöglich sie in eine Falle zu locken, dazu waren sie viel zu mächtig.

„Hier ist er.“, sagte Eogil und schob ein paar Planken zur Seite, welche eine verlassene Miene zum Vorschein brachte.
„Das soll der Geheimgang sein? Dieser Geheimgang sieht alles andere als geheim aus. Er liegt offen auf der Straße und jeder der vorbeigeht sieht ihn.“
Sahinja kannte diesen Gang bereits aus Eogils Erinnerungen, doch jetzt wo sie selbst davor stand, wurde er ihr erst richtig bewusst und die Skepsis stieg in ihr. Eogil hingegen lächelte nur.
„Es wird stets nach dem Verborgenen gesucht, dem Offensichtlichen hingegen wird keinerlei Beachtung geschenkt.“
Sahinja glaubte nicht wirklich daran, dass dieser geheime Weg ihnen einen Vorteil abringen konnte. Nicht weil sie glaubte irgendjemand hätte ihn zufällig gefunden und dies Horior mitgeteilt, sondern da Horior ebenfalls so mächtig war wie sie und mit Bestimmtheit schon eine Vision über dessen Existenz gehabt hatte.
Eogil lächelte gequält.
„Möglich wäre alles“, sagte er „doch unsere Chancen sind wesentlich höher, wenn wir anstelle des Haupttores diesen Weg nehmen.“
Damit hatte Eogil bestimmt recht. In der Hauptstadt tummelten sich abertausende von Menschen und an jeder Ecke sorgten vermutlich hunderte Soldaten für die entsprechende Ruhe. Hunderte Soldaten, die sie sicher in irgendwelcher Hinsicht behindern konnten. Dennoch fühlte sich Sahinja bei dieser Sache unwohl.
„Hier geht es lang.“, sagte Eogil und zeigte auf einen der Wege die sich durch die Erde, schlängelten.
Verschwendete Worte. Sahinja kannte den richtigen Weg bereits aus seinen Erinnerungen.
Dank des göttlichen Lichtes ihrer schimmernden Aura, wurde die Höhle in einer angenehmen Helligkeit ausgeleuchtet. Obwohl sie des Lichtes nicht mehr bedurften, da sie über einen sechsten Sinn verfügten, freuten sie sich dennoch darüber, die Wände und die Beschaffenheit der Gänge mit ihren Augen erblicken zu können.
Nun war es so weit. Dies war der Anfang vom Ende, wie auch immer dieses aussehen mochte. Es war an der Zeit sich einen Plan zurechtzulegen. Beide hatten diese Tatsache so lange wie möglich versucht hinauszuzögern. Je länger sie damit warteten, umso größer war die Chance, dass Horior sich auf ihr Handeln nicht mehr entsprechend vorbereiten konnte. Jedoch war die Chancen umso größer, dass ihr Plan Lücken aufwies, die gerade für Horior günstig waren.
„Was ist das?“, fragte Eogil plötzlich.
Auch Sahinja war verwirrt. Aus Eogils Erinnerungen kannte sie die Gänge und wusste genau auf was sie achten musste. Und aus Eogils Erinnerungen hatte sie kein Wissen über dieses Schild, welches vor ihnen in den Boden gerammt war. Langsam las Eogil vor:
„Tretet weiter meine lang ersehnten Freunde.“
Sahinja sank die Hoffnung. Also war der Vorteil, den sie mit dem geheimen Gang gehabt hatten verspielt. Horior wusste bescheid und zeigte ihnen auch noch auf eine solch unverfrorene Art seine Überlegenheit. Es war genauso wie sie es erahnt hatte. Eogil hingegen teilte ihre Hoffnungslosigkeit nicht, er freute sich wie ein Schneekönig.
„Der Seher.“, sagte er entzückt.
„Was?“, fragte Sahinja als hätte sie es mit einem Irren zu tun.
„Kannst du dich noch daran erinnern, wie mich der große Seher grundlos geschlagen hatte?“
„Natürlich.“, sagte sie entnervt und musste bei diesem Gedanken innerlich auflachen.
Sahinja vergaß nie. Das war einer der Vorteile ihres Takrans. Doch als sie sich die Erinnerung vollends ins Gedächtnis gerufen hatte, wurde ihr klar worauf Eogil hinaus wollte:
Damals hatte Opheustos Eogil einen Satz zitieren lassen und ihn anschließend geschlagen, damit er seine Worte auch nicht vergaß. Sahinja hatte sich dabei vor Lachen am Boden gekugelt. Die Worte die er zu zitieren hatte waren: ,Tretet weiter meine lang ersehnten Freunde.‘ Es waren genau diese, welche auch auf dem Schild standen. Das war der Zeitpunkt auf den Opheustos sie vorbereitet hatte.
Eogil kramte in seinen Rucksack und suchte nach dem Trank den der Seher ihnen mitgegeben hatte. Dieser Trank sollte sie laut des Sehers vor Horiors Falle schützen. Es war erstaunlich wie sich alles fügte. Jetzt wurde Sahinja auch klar, wieso Opheustos gesagt hatte, dass Eogil den Trank vor Sahinja verbergen sollte. Sie würde ihn am Boden zerschlagen, hatte er gesagt. Und genau das hätte sie auch getan. Die Wut auf den großen Seher war noch immer ungebrochen und Sahinja wollte Opheustos immer noch tot sehen, für das was er ihr angetan hatte. Er hatte ihre Eltern verraten und er hatte sie der Stillen Bruderschaft überliefert. Er war es, der Schuld an ihrem zerstört Leben trug. Seinetwegen war sie ein solch grausames Monster geworden.
Dennoch, obwohl sie nichts lieber getan hätte, konnte sie sich beherrschen und zerschlug das Fläschchen nicht. Sie hatte aus Eogils Vergangenheit eine neu Perspektive auf das Leben. Somit hatten sich ihre Charaktereigenschaften in vielerlei Hinsicht geändert. Nun konnte sie die Dinge mit anderen Augen sehen. Sie konnte die Dinge mit Eogils Augen sehen.
„Am Korken ist ein Zettel befestigt.“, sagte Eogil erstaunt, als er den Trank geöffnet hatte.
„Was?“, fragte Sahinja ebenso erstaunt.
„,An Sahinja‘“, zitierte Eogil und reichte ihr das Schriftstück.
„Was?“, fragte Sahinje, diesmal noch erstaunter und nahm zögernd den Zettel entgegen.
Langsam durchflog sie die Zeilen. Es war ein eigenartiges Gefühl zu lesen. Obwohl sie es vor langer Zeit gelernt hatte und es perfekt beherrschte, erschien ihr diese Fähigkeit völlig ungewohnt und neu.

An Sahinja
Es tut mir Leid, was ich dir antun musste. Ich hätte dich niemals freiwillig der Stillen Bruderschaft übergeben wollen, doch dies war die einzige Möglichkeit dich auf die zukünftigen Ereignisse vorzubereiten. Du bist eine starke Kriegern geworden, die mit ihren Fähigkeiten die Welt retten wird. Ohne dein Kampfgeschick und deine Entschlossenheit hätte Horior den Kampf gegen Eogil gewonnen und alle Menschen vernichtet. Du bist der Schlüssel zum Sieg.
Ich bin ein Mann der Zukunft und doch werde ich täglich von meiner Vergangenheit gepeinigt. Es gibt keinen Tag an dem ich nicht von meinen Taten bestrafte werde und da ich weiß, dass du mir nicht verzeihen wirst, sehe ich meinen Tod als eine willkommene Erlösung.

Möge euer Vorhaben von Erfolg gekrönt sein.
Opheustos, großer Seher.

Wütend zerriss Sahinja das Papier. Er hatte recht, sie würde ihn niemals verzeihen. Sobald sie diese Sache mit Horior erledigt hatte, würde sie Opheustos das Leben nehmen. Auch wenn er ihr Leben aus guten Absichten zerstört hatte. Er hatte es zerstört und dafür musste er büßen. Sie hätte alles haben können. Ein erfülltes Leben in Frieden, einen Ehemann, vielleicht Kinder... Sahinja schüttelte den Kopf bei diesen abwegigen Gedanken. Sie war kein Mensch der sesshaft wurde und zugleich wusste sie, dass sie genau diese Eigenschaften Opheustos zu verdanken hatte. Wie sehr sie ihn doch verabscheute. Sie hatte es immer gehasst, wenn andere ihr Leben lenkten. Eogil hatte sich schon immer darauf verstanden sie zu manipulieren und letzten Endes hatte er es immer wieder geschafft. Hier stand sie nun mit ihm, um Horior ein Ende zu bereiten, genau so wie er es gewollt hatte.
Aber jetzt hatte sie auch noch erfahren müssen, dass ihr Leben stets von Opheustos gesteuert gewesen war und dass die Entscheidungen die sie aus eigenem Willen getroffen hatte, von ihm vorherbestimmt gewesen waren. Wut stieg in ihr hoch. Die Charaktereigenschaften ihrer vergangenen Jahre machten sich wieder in ihrem Denken breit. Das Verlangen, ihrer Feinde Blut zu sehen, kehrte langsam wieder an die Oberfläche. Die Genugtuung Horior zu töten konnte so süß nicht sein, wie Opheustos das Leben auszuhauchen.
„Eines nach dem anderen.“, sagte Eogil um sie wieder auf die richtigen Bahnen zu lenken und hielt ihr den Trank hin.
Einen flüchtigen Augenblick überlegte sie, ihn Eogil aus der Hand zu schlagen, doch sogleich besann sie sich wieder. Das war ihre Freikarte an der Falle Horiors vorbeizukommen, was auch immer es für eine sein mochte. Sie wusste, dass die Absichten Opheustos‘ aus guten Motieven gezogen waren und dass ihnen dieser Trank vermutlich das Leben retten würde. Andererseits war dieser verhasste Seher einer dieser verrückten Alchemisten. Zögernd nahm sie den Trank entgegen und trank die Hälfte davon. Anschließend leerte Eogil den Rest. Nichts geschah. Weder Eogil noch Sahinja merkten eine Veränderung.
„Und was jetzt? Wie sieht unser Plan aus?“, fragte Sahinja, die noch immer ein wenig zornig war.
„Hatte der Seher keine Notiz hinterlassen, wie wir vorgehen sollen.“
„Nein.“, sagte Sahinja nachdenklich.
„Dann hatte er es nicht für nötig gehalten. Ich würde sagen, wir spazieren rein und lassen Horior alt aussehen. Dann weiter wie geplant.“
Sahinja grinste hämisch. Sie würden ihm die Schatten um den Kopf legen, und ihn ersticken lassen. Der Sauerstoffentzug würde ihn bewusstlos machen und das wäre der Zeitpunkt an dem sie sich seinen Takran aneignen würde. Als Göttin würde sie sich seiner entledigen und anschließend würde sie Opheustos einen Besuch abstatten.
Eogil brachte ein gequältes Lächeln hervor. Was würde er machen? Würde er tatenlos zusehen? Oder würde sich auch er Horiors Takran aneignen? Sahinja würde bestimmt eine dunkle Göttin werden. Eogil ein rechtschaffener Gott. Würde es so weit kommen, dass sie auf höchster Ebene gegeneinander kämpfen würden? Eogil gegen Sahinja? Das ultimative Gute gegen das ultimative Böse? Oder würde Eogil es schaffen sie von ihren schlechten Eigenschaften zu befreien, sodass auch sie, neben ihn, weise und gerecht über die Menschen regieren konnte. Wer konnte schon wissen, was die Zukunft brachte.
„Der große Seher hatte bis jetzt ein maßloses Beispiel seiner Fähigkeiten gezeigt. Er hatte auch gesagt, dass zwei von dreien sterben würden.“, sagte Eogil in leicht resigniertem Tonfall.

Kapitel 21 - Eine entscheidende Wende



Der Gang war ewiglich lang. Unterirdisch mussten sie eine beträchtliche Strecke bis nach Venundur zurücklegen und anschließend durch das gesamte Reich hindurch marschieren, bis sie schließlich in der Nähe der Ratshalle eintreten konnten. Der Unterirdische Weg war vermutlich mittels Erd-Takrane geschaffen worden. Er war sicher ins Erdreich gegraben und breit genug, sodass zwei Personen, bequem nebeneinander hergehen konnten. Obwohl sich keinerlei Lichtquelle in den Gängen befand wurde er alleine durch ihre göttliche Aura erleuchtet.
In dieser düsteren Umgebung hatte Sahinja abermals ihr schlechtes Gewissen gepackt und sie musste über die gesprochenen Worte Eogils nachdenken. ,Reue ist kein Gefühl der Schwäche‘, hatte er gesagt und er hatte gesagt, dass es unglaublichen Mut erfordert, sich seiner Fehler einzugestehen und eine starke Willenskraft den Hebel umzulegen und den rechten Weg einzuschlagen. Nicht jeder wäre dazu fähig, hatte er gesagt, nur diejenigen, die stark genug dafür wären.
Sahinja hatte bereits so viele schreckliche Taten in ihren Leben begangen. So vielen Menschen hatte sie das Leben genommen. Sie würde es nicht schaffen eine Kehrtwendung einzuschlagen und von einem Tag auf den anderen ihr komplettes Leben umzukrempeln. Alles was sie konnte und alles was sie gelernt hatte, war ein solch verächtliches Leben zu führen, wie sie es tat. Sie würde nicht stark genug sein, um den Hebel umzulegen aber sie musste etwas tun, um aus diesen Teufelskreis der Schuldgefühle herauszukommen.
Natürlich konnte sie wieder versuchen ihre Erinnerungen zu verdrängen und ihr Leben weiterhin in Unwissenheit führen. Sie würde all die Schuldgefühle ablegen und wieder zu dem schrecklichen Monster werden, die sie einst gewesen war. Doch das schien ihr der falsche Weg. Sie wollte kein Leben mehr führen, in dem sie sich selbst belügen musste um weitermachen zu können.
Doch wie sollte es weitergehen? Sahinja war nicht stark genug um die Verantwortung für ihre eigenen Taten zu übernehmen. Sie fühlte sich wie in einem Spinnennetz gefangen und jede ihrer Bewegungen würde sie nur noch stärker an das klebrige Netz binden. So wollte sie nicht mehr weitermachen und alles andere wollte sie ebenfalls nicht. Doch gab es keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Sie war nun einmal das, was sie war und alles was sie tun konnte, würde an dem bereits Geschehendem nichts mehr ändern können. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihr breit.

Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, stockte Sahinja vor Schreck der Atem und auch Eogil brach der Angstschweiß aus. Mit dem Takran des großen Sehers konnten sie nun weit genug in die Zukunft sehen, um zu wissen, um was es sich bei der Falle Horiors handelte. Auch war ihnen erst jetzt klar geworden, dass sie sich schon längst darin befanden und dass sie bereits zugeschnappt war.
Anscheinend hatte Horior die Dienste eines Alchemisten in Anspruch genommen und dieser hatte einen Trank gebraut, der den gesamten unterirdischen Gang mit seinen giftigen Dämpfen gefüllt hatte. Diese Dämpfe waren geruchsneutral, sodass sie von Eogil und Sahinja nicht bemerkt worden waren. Auf eine solch hinterlistige Weise konnte wohl nur Horior agieren. Ihm war wohl kein Mittel zu nieder, um seinen Sieg zu erreichen.
Das Schlimme an dieser Situation allerdings war, dass sie bereits wussten, dass der Trank den Opheustos ihnen mitgegeben hatte, keinerlei Wirkung zeigte. Schon bald würden sie ohnmächtig zu Boden sacken. Auch konnten sie die Zeit nicht mehr weit genug zurückdrehen, um allen Dämpfen zu entkommen.
Dennoch versuchten Eogil und Sahinja alles in ihrer Macht stehende und drehten die Zeit so weit sie es vermochten zurück. Dann rannten sie mit verlangsamter Zeit in die entgegengesetzte Richtung. Doch es hatte keinen Zweck mehr. Schon bald würden sie dem betäubenden Gift erliegen und Horiors Soldaten würde sie auflesen.
Sie hatten es bis aus den trügerischen Minengängen geschafft, doch schließlich hatte das Gift ihren Preis gefordert. Sahinja sackte zu Boden, kurz gefolgt von Eogil. Wieso hatte das Gegenmittel Opheustos‘ nicht gewirkt?

„Und unser Engelchen des Todes ist ebenfalls aus dem Land der Träume erwacht.“, hörte sie eine energische Stimme. „Ich hoffe die skrupellose Mörderin hatte angenehme Träume.“
Sahinja öffnete die Augen. Der Raum kam ihr seltsam bekannt vor. Sogleich wusste sie auch wo sie sich befand. Sie kannte diesen Raum aus den Erinnerungen Eogils. Es war die Ratshalle, in der er all seine politischen Schlachten geschlagen hatte. Ihr gegenüber saß Eogil, auf den ihm angestammten Platz auf welchen er für gewöhnlich gesessen hatte, als er noch der Vertreter des Volkes gewesen war. Sie selbst musste demzufolge auf dem Stuhl sitzen, auf dem für gewöhnlich der Rat für Inneres saß. Am königlichen Stuhl, auf dem sonst Pontion gesessen hatte, saß nun Horior. Ansonsten war die Ratshalle leer. Horior sah genauso aus wie sie ihn aus Eogils Vergangenheit kannte und wie sie ihn aus ihren Visionen seiner Gottwerdung gesehen hatte. Wie auch um Eogil und ihr glühte die selbe güldene Aura der Götter. Doch irgendwas an ihm war falsch.
Es waren eigenartige Dämpfe, welche Sahinja und auch Eogil zuvor eingeatmet hatten. Es war ohne Zweifel ein Trank zur Lähmung gewesen, doch betraf diese Lähmung nur ihren Körper und diesen nur vom Hals abwärts. Sie vermochte noch ihren Kopf zu drehen und ihren Mund und ihre Augen zu bewegen. Aus dem Wissen über die nahe liegende Zukunft wusste sie auch, dass diese in nächster Zeit nicht nachlassen würde.
„Sie braucht ein bisschen länger als du Eogil.“, sagte Horior vergnügt „Aber das sie nicht die Hellste ist habe ich schon in genügend Visionen vorausgesehen.“
Was meinte dieser elende Wicht? In Sahinja stieg die Wut hoch. Sie fühlte sich ihm hilflos ausgeliefert. Und diesem elenden Wicht bereitete es auch noch Vergnügen sie zu beleidigen, am liebsten hätte sie ihm für seine Frechheit mit bloßen Händen erwürgt. Und wieso konnte sie nicht seine Gedanken lesen?
,Seine Fäden.‘, sagte Eogil in der Gedankensprache resigniert zu ihr.
Aus seinen Gedanken entnahm sie, dass auch er auf die selbe Art gelähmt war, doch anstelle zu sprechen und sie so möglicherweise vor Horior zu demütigen, richtete er seine Gedankenstimme an sie.
Sofort lenkte Sahinja ihre Aufmerksamkeit auf Horiors Fäden und konnte dem was sah kaum Glauben schenken. Die Fäden um Horior waren so stark zerstört, dass sie fast nicht mehr zu existierten schienen. Nur noch Andeutungen waren zu erkennen, wo sie einst einmal verlaufen waren. Horior war ein Alchemist und er war nicht irgendein Alchemist. Er besaß mindestens fünf, wenn nicht sechs alchemistische Takrane.
Wenn die Fäden unter anderem den Bezug zur Realität symbolisierten, dann musste Horior diesen schon vollkommen verloren haben. Oder wie Yaffel es ihr damals beschrieben hatte: Horior musste schon vollkommen in einer anderen Welt leben.
Horior lachte. Es war ein ekstatisches, verrücktes Lachen, wie es nur ein Alchemisten zustande bringen konnte. Er verhielt sich auf eine gänzlich andere Art, wie sie es aus Eogils Vergangenheit kannte. Es war keine Spur mehr von der kühl kalkulierenden Person und seinem klar vorausplanenden Charakter zu sehen, nur noch die unberechenbare Art eines fanatischen Psychopaten.
Um die erschreckende Erkenntnis ihrer Gedanken noch zu unterstreichen hob er die Wirkung des Täuschungs-Takrans auf und vor ihnen stand Horior, in seinem alchemistischen Wesen, mit sechs alchemistischen Takranen. Beinahe alles was das menschliche Gesicht ausmachte, war ihm genommen. Ihm fehlten beide Augen, beide Ohren, die Nase und da seine gesamte Haut grünlich schien, musste er auch seinen Tastsinn eingetauscht haben. Anstelle dessen zeichneten sich auf seinem Kopf die ekelhaft grünen Symbole der alchemistischen Takrane ab. Horior war zugleich ein Seher, ein Medium, ein Mirakel und ein Sensitiver. Den einzigen Sinn, den er nicht eingetauscht hatte, war sein Geschmackssinn. Er musste der personifizierte Wahnsinn sein.
Horior setzte den Täuschungs-Takran wieder ein und seine gesamten alchemistischen Takrane verschwanden wieder. Nun stand der energische Mann mit all seinen menschlichen Zügen wieder vor ihnen. Ruckartig erhob er sich vom königlichen Stuhl und schritt unbeherrscht durch den Ratshalle.
„Ist euch nie in den Sinn gekommen, wieso ihr keine Visionen von mir gehabt hattet? Ist es euch nie in den Sinn gekommen, dass es an meinen Fäden gelegen haben könnte? Das ich ein Alchemist sein könnte? Aber nichts anderes habe ich von dir erwartet, Eogil. Du warst noch nie ein großer Denker gewesen. Reden, das konntest du. Du konntest alle von deinen Willen überzeugen. Alle hattest du wie Marionetten in deiner Hand. Das Schoßhündchen des Königs warst du. Doch ein Mann der Tat und des Denkens warst du noch nie gewesen. Du hast nie den Blick für die großen Dinge des Lebens gehabt. Sieh dich doch an wo du jetzt stehst und sieh mich am. Sieh an was aus mir geworden ist.“
„Du bist zu dem geworden, was du all die Jahre bekämpft hast.“, sagte Eogil traurig und resigniert, als würde er sein Schicksal bedauern.
„Ja, ich habe den Kampf gegen die Alchemisten geführt. Ich hatte sie genau studiert und alles was ich an Informationen über sie einbringen konnte gesammelt um sie zu vernichten. Ich habe sie bekämpft, aber ich habe sie auch stets bewundert. Ihre alchemistische Macht, so unterschiedlich von meiner und doch so überlegen. Sie waren nicht mehr als verrückte Irre und konnten uns doch so viel entgegen setzen. Sie besaßen Fähigkeiten, die wir nicht einmal verstehen konnten.
Mir war von Anfang an klar, dass ich gegen euch beide trotz meiner Überlegenheit nicht siegen konnte. Ich brauchte die Fähigkeiten der Alchemie. Und als ich sie erhalten habe, wurde mir so vieles klar. Mir waren buchstäblich die Augen geöffnet worden. Wir bezeichnen sie als Verrückte, aber nur weil wie sie nicht verstehen können. Niemand versteht die Alchemisten, außer die Alchemisten selbst. Jetzt besitze ich ihre Fähigkeiten und ich habe so viel mehr erhalten, als ich mir erhofft hatte. Ich sehe die Welt in einer neuen Perspektive. Ich sehe die Welt wie sie wirklich ist. Ich habe schon immer gewusst, dass ich zu höherem bestimmt war. Ich war kein Mensch der sich mit den einfachen Dingen des Lebens zufrieden geben hatte. Und jetzt habe ich endlich meine Bestimmung gefunden. Jetzt kann ich die Welt endlich sehen wie sie wirklich ist. Nicht mehr in der Beschränktheit, die euch auferlegt ist. Aber das werdet ihr nie verstehen können, weil ihr in der falschen Welt lebt.“
„Horior, du musst damit aufhören, du musst dich besinnen. Merkst du denn nicht, dass dich dies Fähigkeiten verändern?“, versuchte Eogil ihn zu beschwichtigen.
„Was verstehst du schon in deiner eigenen Beschränktheit? Du lebst in dieser trüben Welt, in diesem grauen Klumpen. Du hast noch nie das Licht erblickt. Du bist so unwissend wie ein Kind und sogar ein Kind versteht mehr von der wahren Welt als du Eogil.“
Horior war wahrhaftig verrückt. Die alchemistischen Takrane mussten schon zu sehr seine Sinne getrübt haben, sodass er die reelle Welt nicht mehr für wahr erachtet. Aber wie schaffte er es immer noch den Bezug zur Realität aufrecht zu erhalten? Andere Alchemisten hatten schon mit drei Takranen vollkommen den Verstand verloren und redeten mit Menschen die gar nicht da waren. Horior hingegen schien sich seiner Handlungen noch vollkommen bewusst zu sein. Und das obwohl er nur noch über den Geschmackssinn verfügte. Eigentlich sollte er schon vollkommen dem Wahn verfallen sein und keine klaren Gedanken mehr fassen können.
„Ein berechtigter Gedanke.“, stieß Horior aus und kam Sahinja so nahe, dass sein Gesicht nur noch ein paar Fingerbreit von ihrem entfernt war.
Ruckartig kehrte er ihr wieder den Rücken und lachte das Lachen eines Verrückten.
„Welch Ironie, das gerade die Fähigkeit Eogils mir dazu verhilft. Der Takran der Realität verleiht mir die Fähigkeit beiden Welten unterscheiden zu können. Außerdem besitze ich, durch die legendären Takrane, noch einen sechsten Sinn, den ansonsten kein weiterer Alchemist hat. Obwohl ich eure Worte nicht mehr hören kann, weiß ich durch eure Gedanken was ihr sagen werdet. Ich kann euch nicht sehen, doch durch den Takran der Zukunft weiß ich genau was um mich geschieht. Ich musste meine Sinne opfern, doch ich habe so viel mehr erhalten. Ihr beide besitzt keine der alchemistischen Fähigkeiten, ihr könnt euch nicht einmal annähern vorstellen was mir für ein Geschenk zuteil wurde.“ Horior zog einen Fläschchen aus seinem Umhang hervor und betrachtete es wie ein Verdurstender.„Schon bald werde ich auch meinen letzten Sinn eingetauscht haben.“ Horior betrachtete immer noch sein Fläschchen und fing plötzlich zu kichern an. „Es ist schon komisch. Habt ihr schon einen Alchemisten gesehen, der seinen Geschmackssinn eingetauscht hat?“
Ruckartig sah er abwechselnd zu Eogil und zu Sahinja. Davon, dass ein Alchemist seinen Geschmackssinn eingetauscht hätte, hatte Sahinja noch nie gehört. Aber sie würde den Teufel tun und Horior den Gefallen tun, auf seine Frage zu antworten. Auch Eogil antwortete nicht auf seine Frage. Doch ungehindert dessen sprach der Irre weiter.
„Sie nennen sich Alchemisten, weil sie ein paar Tränke mischen können. Aber wahre alchemistische Fähigkeiten erhält man nur mit dem Eintausch seines Geschmackssinnes. Im Vergleich zu solch alchemistischen Fertigkeiten sind ihre Tränke nichts weiter als das eine versalzene Hühnerbrühe. Elixiere die das Leben verjüngen können. Tränke die Gliedmaßen nachwachsen lassen. Substanzen, die Blei in Gold verwandeln. Das sind nicht nur erfundene Ammenmärchen. Diese Fähigkeiten kann man wirklich erlangen. Doch wieso gibt es solche Alchemisten nicht, frage ich euch? Wieso gibt eis keinen Alchemisten, der über wahre alchemistische Fähigkeiten verfügt?“
Wieder sah Horior mal ruckartig zu Eogil, und gleich darauf wieder zu Sahinja. Doch abermals wollte ihm keiner der beiden den Gefallen tun und ihn wie ein gehorsamer Schüler, den Lehrer fragen. Der Verrückte würde ohnehin ungebrochen in seinem Redeschwall fortfahren. Was war bloß aus dem klar strukturierten Oberbefehlshaber der Truppen Venundurs geworden? Es war unglaublich, wie einem eine solche Unzahl an alchemistische Takrane verändern konnte.
„Der Preis für solche Fähigkeiten, wäre das Opfer ihres Geschmackssinnes“, führte Horior seine Rede nun fort „und damit meine ich ihren Mund. Man würde verhungern und verdursten. Gut, dafür mag es Takrane geben, die sie davor schützen, aber was nutzt es einem Alchemistischen Tränke zu brauen, wenn man diese nicht trinken kann.“, Horior fing ein kleinliches, irres Kichern an und endete dieses so plötzlich wie er es begonnen hatte. „Wie deprimierend muss es für einen Alchemisten sein, zu wissen, dass sie nie über die gesamte Macht der Alchemie verfügen konnten.
Ich hingegen werde schon bald diesen letzten Takran besitzen. Ich werde alle alchemistischen Takrane an mir haben. Zudem habe ich den Trank mit einer verzögerten Wirkung gebraut, sodass er zu dem Zeitpunkt zu wirken beginnt, zu dem ich auch ein Gott werde. Aus mir wird etwas werden, das es zuvor noch nie gegeben hat. Ich werde zur Krönung der Schöpfung. Noch nie hatte es etwas Vergleichbares gegeben. Ich werde ein alchemistischer Gott sein.“
„Und die gesamte Menschheit vernichten.“, unterbrach ihn Eogil zornig.
„Was verstehst du schon Eogil? Du hast nicht das tiefere Verständnis das ich besitze. Du kannst nicht mit meinen Augen sehen.“, sagte Horior energisch „Diese andere Welt, von denen die Alchemisten sprechen existiert wirklich. Es ist nicht nur eine Metapher um das Wesen ihrer selbst für den Dummen erklären zu können. Eogil, ich lebe bereits in ihr! Ich herrsche in ihr! Im Vergleich zu dieser Welt ist die unsere eine graue Wüste. Sie ist asch und fahl, sie ist unrealistisch und falsch. Welche Bedeutung hat schon die Menschheit. Die Menschheit ist nur ein Trugbild. Nicht mehr wert als Insekten die kopflos im Kreis laufen. Die wahre Existenz liegt in der anderen Welt und diese werde ich in unsere Welt bringen.“
Es war wie Yaffel es ihr damals erklärt hatte: ,Je mehr alchemistische Takrane man besitzt umso unrealistischer erscheint die Welt und umso mehr wächst der Glaube, dass diese andere Welt wirklich existiert.‘ Horior war diesem Irrglauben schon vollkommen verfallen.
„Ach Eogil“, redete der Verrückte weiter auf ihn ein „Du warst immer so hilfsbereit und aufopfernd und in deinem Edelmut so naiv. Ich hätte euren Widerstand jederzeit zerschlagen können und dich töten. Du warst für mich eine Mücke, die sich an meinen Nerven gezehrt hat und die ich jederzeit hätte zerschlagen können.
Doch so sehr ich das Verlangen danach hatte dich zu töten, durfte ich es doch nicht tun. Hätte ich dich getötet Eogil, hätte ich deinen Takran verloren. Glaub mir, mein Freud, es hätte mir nichts ausgemacht noch ein paar Jahre auf seine Wiedergeburt zu warten. Dein Takran hat mir etwas geboten, was sich jeder Alchemist gewünscht hätte: Beide Welten unterscheiden zu können. Der Takran meines größten Widersachers, hat mir die Fähigkeit verliehen nicht vollkommen verrückt zu werden.“
Sahinja musste innerlich auflachen. Völlig verrückt war er doch schon längst.
„Glaub mir, es hat mich etliche Male in den Fingern gejuckt die Schlinge um deinen Hals endlich zuzuziehen. Du warst der einzige Mensch, der mir etwas entgegen setzen konnte und dennoch waren mir die Hände gebunden. Ich habe mit dir gespielt, wie es eine Katze mit der Maus tut und du hast es nicht einmal gemerkt. Jetzt bist du endlich unter meine Pranken gelandet. Sobald ich ein Gott bin, werde ich dieses Spiel beenden und dazu wirst du mir verhelfen, meine Süße.“, sagte er nun an Sahinja gewandt.
„Lieber würde ich sterben.“, sagte Sahinja und spuckte ihm ins Gesicht.
Doch das schien dieser gar nicht bemerkt zu haben, oder es schien ihm nichts auszumachen. Obwohl er durch den Täuschungs-Takran ein menschliches Gesicht vorspielte, wusste sie, dass sich dahinter ein Alchemist verbarg. Und dieser Alchemist hatte seinen Tastsinn eingetauscht, sodass er es nicht spüren konnte, als sie ihm angespuckte. Doch er hatte sicherlich ihren Gedanken entnommen, was sie getan hatte.
Sie würde Horior nicht unter den schlimmsten Qualen ihren Takran überlassen. Er besaß nicht den Takran der Perfektion, also würde es ihm nichts nutzen sie bewusstlos zu schlagen und sie war ihm an Fähigkeiten ebenbürtig, sodass er ihre Gedanken nicht manipulieren konnte.
„Du hast recht.“, bestätigte Horior ihre Gedanken. „Ich habe nicht den Takran der Perfektion und ich kann deine Gedanken nicht manipulieren, aber das brauche ich auch nicht, ich habe das hier.“, Horior zog einen weiteren alchemistischen Trank hervor. „Damals hatte ich die Alchemisten mir ihren Tränken buchstäblich gehasst, aber heute bin ich richtig froh darüber, dass es solche Mittel und Wege existieren.“, Horior öffnete das Fläschchen und verschloss es sogleich wieder. „Es ist schon eigenartig welches Rolle du in diesem Spiel gespielt hattest. Welch erbärmliches Leben du doch gehabt haben musstest. Dein einziger Daseinszweck war es gewesen, von Eogil, wie ein Lamm auf die Schlachtbank geführt zu werden. Du warst immer so ein böses Mädchen gewesen, hast dich aber dennoch immer dem Willen des großen Eogils gebeugt. Wie dumm du doch warst ihm zu vertrauen.“
„Horior, das ist eine Sache zwischen uns beiden.“, schrie ihn Eogil an und Horior wandte sich ruckartig zu ihm um.
„Du hast nichts mehr zu sagen, du großer Rat des Volkes, du Freund der Menschheit, du Streiter für Gerechtigkeit, du dämlicher Schwätzer. Ist dir immer noch nicht aufgefallen, dass dies nur Worte sein? Nichts weiter als ausgesprochene Luft!.“
Doch Horior hatte recht mit dem was er sagte. Sahinja hatte wirklich ein erbärmliches Leben geführt. Eigentlich hatte sie ihr Leben nie in ihren eigenen Händen gehabt. Stets hatten andere über ihre Handlungen entschieden. Opheustos, die Stille Bruderschaft, Eogil und jetzt entschied selbst Horior, was mit ihr geschehen werde. Sahinja kam jedoch nicht mehr so weit in Selbstmitleid zu verfallen, denn der verrückte Alchemist hatte sich schon wieder an sie gewandt.
„Unser Publikum wartet, es wird Zeit, dass ich ein Gott werde.“, sagte er mit ekstatischen Enthusiasmus.
Horior packte sie grob an den Haaren und zerrte ihren Kopf zurück. Dann goss er ihr den Trank in den Mund. Sahinja bekam es mit der Angst zu tun. Sofort würgte sie die gesamte Flüssigkeit wieder heraus, doch sie wusste ohnehin, dass es hoffnungslos war.
„Das habe ich vorhergesehen“, sagte Horior als würde er plötzlich ein Selbstgespräch führen. „deshalb habe ich ihn so stark zubereitet, dass nur ein einzelner Tropfen auf der Zunge genügt.“
Obwohl Horior ihr die Wirkungsweise des Trankes nicht erklärt hatte, wusste sie genau welchen Effekt er hatte. Der Takran der Zukunft ließ sie wie immer ein Stück in die Zukunft sehen und daher wusste sie, dass Horior schon bald nach ihren Takran verlangen würde und sie ihm diesen aus freien Stücken geben wird. Es war eine Trank zur Gehorsamkeit. Sie konnte immer noch in freien Stücken denken, doch sollte Horior sie zu irgendwelchen Handlungen auffordern, würde sie alles bereitwillig tun, was er von ihr verlangte, selbst wenn sie sich innerlich dagegen sperrte.
„So, wäre das ebenfalls erledigt.“, sagte Horior und warf das leere Fläschchen hinter seinen Rücken und hätte damit beinahe Eogil getroffen. „Jetzt bin ich an der Reihe.“ und nahm den anderen Trank, den er zuvor schon einmal gezeigt hatte und leerte ihn in einen Zug. „Lieber jetzt, als später. Wir wollen doch nicht, das unser geliebtes Volk glaubt, ich stehe mit einen dieser verrückten Alchemisten im Bunde, wenn sie mich einen dieser Tränke trinken sehen.“, ein vergnügtes weinerliches Lachen folgte.
Die Zeit zu Horiors Gottwerdung rückte immer näher und mittlerweile konnte sie die Zukunft schon so weit voraussehen, dass Horior seinen Willen erlangte. Sie konnte Horior schon genau vor sich sehen, wie er ihren Takran trug, in den Himmel entschwebte und die Kräfte der vollendeten Göttlichkeit absorbierte. Alles lief nach Horiors Plan und weder Eogil noch Sahinja, noch irgendjemand anders konnte ihn daran hindern.
Sie besaßen eine solch enorme Macht und wurden dennoch von einem einzelnen alchemistischen Trank daran gehindert sie einzusetzen. Sahinja merkte, wie Eogil fieberhaft nach einem Ausweg grübelte und doch keinen fand. Auch er hatte bereits den Blick so weit in der Zukunft gerichtet, dass er wusste, wie diese Situation enden würde. Sahinja tat es Eogil nun gleich und zerbrach sich den Kopf darüber, ob es nicht doch noch irgendeinen Ausweg gab, den sie übersehen hatte. Welche Fähigkeit konnte ihnen von Nutzen sein? Der Gedanken-Takran! Sie könnte die Gedanken eins Fremden manipulieren, der ihnen irgendwie zu Hilfe eilen könnte.
„Denkst du, ich sei so blöd und habe nicht jede mögliche Zukunft versucht vorauszusehen? Ich kenne jetzt schon all die Ideen, die euch einfallen werden und ich habe sie jetzt schon alle vereitelt. Niemand in deiner Gedankenreichweite hat die Macht mich an meinen Plänen zu hindern. Was sollte jemand schon gegen mich ausrichten können? Gegen jemanden, der unverwundbar ist und zusätzlich neun legendäre und sechs alchemistische Takrane trägt? Ich kann jeden eurer Gedanken lesen und mich dementsprechend darauf vorbereiten, ihr hingegen könnt dies nicht. Übrigens braucht ihr euch keine Gedanken über die anderen Träger der legendären Takrane machen. Ich habe dafür gesorgt, dass sie alle in der ganzen Welt verstreut sind und, dass alle es nicht rechtzeitig hierher schaffen würden, um mich an meinem Vorhaben zu hindern.“, Horior lachte wieder sein verrücktes Lachen. „Ja ich habe alle Karten in der Hand. Selbst den großen Seher habe habe ich übertrumpft.“
Der große Seher. Bei der Erwähnung von Opheustos stieg wieder der Zorn in Sahinja hoch. Er hatte nicht nur vollkommen umsonst ihr Leben zerstört, nein, auch sein ach so gut ausgetüftelter Plan war vollkommen in die Hose gegangen. Wieso hatte sein Trank nicht gewirkt? Wie hatte Horior nur den größten Seher aller Zeiten so übertrumpfen können?
„Sei nicht naiv, du dummes Gör. Ja, vielleicht mag der Seher mehrere Takrane tragen, die ihm die Zukunft besser deuten lassen, als ich das kann. Aber ich besitze immerhin drei alchemistische Takrane mehr als er und obendrein besitze ich neun legendäre. Im Vergleich zu mir ist Ophestos nur ein billiger Kartenleser. Ich habe seinen Plan schon längst vorausgesehen und meine Dämpfe seinem Gegenmittel angepasst und seinen Trank wirkungslos gemacht. Ich habe alles genauestens vorausgeplant. Alle Hindernisse habe ich aus dem Weg geräumt. Nichts kann mich jetzt noch aufhalten. Schon bald werde ich ein alchemistischer Gott sein.“
Bei diesen Worten erschuf er zwei Schattenpranken und umschloss jeweils Eogil und Sahinja. Bedauerlicher Weise mussten sich Eogil und Sahinja eingestehen, dass er recht behalten würde: Nichts konnte ihn noch aufhalten.
Zusammen mit ihnen im Schlepptau spazierte er durch den Königspalast, bis auf den königlichen Balkon angelangt waren. Von diesem konnten sie das gesamte Königreich überblicken und die ungeheure Menschenmasse die sich darunter versammelt hatten sehen. Es war schier unbeschreiblich eine solche Unzahl an Menschen an einem Ort versammelt zu sehen. Es kam Sahinja wie ein schreckliches Dèjá-vu vor. In ihren Visionen war sie an genau der selben Position gestanden und hatte Horiors Gottwerdung beigewohnt.
„Das habe ich alles nur für dich getan, Eogil. All diese Idioten da unten sind nur deinetwegen hier. Ich interessiere mich nicht im Geringsten für einen dieser unrealistischen grauen Klumpen aus einer genauso unrealistischen Welt. Aber wenn du so viel Wert auf diese Matschhaufen legst, dass du mir freiwillig in die Arme läufst, dann will ich dir den Gefallen tun.
Wie hat dir eigentlich mein Einfall mit dem Verräter gefallen?“
„Das wirst du mir büßen.“, sagte Eogil durch zusammengebissenen Zähnen.“
„Das bezweifle ich. Aber glaub mir Eogil, ich kann dich verstehen. Auch ich hasse Verräter wie die Pest. Gut, dass du ihn grausam ermordet hast, das hat er verdient. Nur schade, dass du nicht zu der blutrünstigen Bestie geworden bist. Tja... Die Zukunft... viele Kleinigkeiten, nicht? War es wenigstens schön deine eigene Dunkelheit kennen gelernt zu haben?“
Eogil antwortete ihm nicht. Er hatte den Blick von ihm gewandt. Auf ein solch tiefes Niveau wollte er sich nicht herablassen.
„Gut für dich, dass du eine Massenmörderin zur Freundin hast. Du bist tief gesunken, mein Freund.“
Von unterhalb war ein irrsinniges Stimmengewirr zu hören, jedoch keine Jubelrufe und auch keine Rufe des Unmutes. Sie waren alle von den gemeinsamen Armeen der drei Reiche eingeschüchtert und ihnen war bestimmt nicht entgangen welche Macht Horior besaß. Zumindest mussten alle die Geschichte kennen, wie Horior über die Alchemisten gesiegt hatte und wie er die Könige der Reiche Isbir Eodoran und Venundur getötet hatte. Niemand wagte es ein falsches Wort gegen den Willen des Tyrannen zu erheben, alle hatten sie zu groß Angst vor ihm und seiner Streitmacht.
„Und doch hab ich all diese umherwandernden Massen, gefüllt mit Blut, Fleisch und Knochen, nur für dich versammelt. Anfangs hatten die Könige der anderen Reiche etwas einzuwenden, aber sobald sie tot waren“, sagte er in einem leicht abfälligen Tonfall „lief alles wie geplant. Sogar nach den letzten Alchemisten habe ich geschickt. Du kennst mich, wenn ih etwas mache, dann richtig. Auch sie sollen den Moment bezeugen können, der mich als den Herrscher aller Welten auszeichnet.“
Jetzt wo der verrückte König es erwähnte, fiel es auch Sahinja auf. Weit hinten in der tummelnden Menschenmasse verliefen die Fäden fehlerhaft. Mit ihrem sechsten Sinn wusste sie genau um wem es sich hierbei handelte. Es waren die wandernden Alchemisten, die sie einst zu ihrer schwersten Stunde gefunden hatten und gesund gepflegt hatten. Yaffel war anwesend, Bartus, der vollkommen verrückte Moradur, Hominkel, und noch viele andere die sie kennen gelernt hatte. Nicht einmal sie hatten den dunklen Machenschaften des Königs entkommen können. Anscheinend reichte seine Macht bis in die kleinsten Winkel.
Während Horior über Eogil herzog, hatte Sahinja immer noch nicht aufgehört nach einen Ausweg zu suchen, doch der Plan Horiors war so lückenlos wie er es behauptet hatte. Die einzige mögliche Zukunft bestand darin, dass Horior ein Gott wurde. Es gab keine Alternative.
„Der alchemistische Trank beginnt bereits zu wirken. Ich sollte, solange ich der Sprache noch fähig bin, ein schnelles Wort an den Pöbel richten, damit wir endlich zum erquickenderen Teil kommen können.“
Horior bewegte sich zum vordersten Teil des Balkons, sodass ihn jeder sehen konnte. Schlagartig wurde es still.
„Ich habe euch den Frieden gebracht. Ich habe mir die Last der Krone aufgesetzt und nun werde ich als Gott über euch herrschen. Dies wird der Beginn eines neuen Zeitalters und ihr habt die Ehre beizuwohnen zu dürfen. Ich habe große Dinge mit der Welt vor und ihr alle werdet davon profitieren können.“
Diese törichten Menschen, wenn sie doch nur wüssten, dass Horior ein Alchemist war, dann würden sie sich alle vereinen und sich auf ihn stürzen. So wohnten sie alle ihrem Untergang bei.
„Du hast uns nichts als Leid gebracht. Du bist ein Tyrann und Lord Eogil wird dir Einhalt gebieten!“, hörte man eine mutige Stimme aus den vordersten Reihen.
Horior richtete gelassen seine rechte Hand auf den Mann und feuerte einen Lichtstrahl ab. Nicht nur derjenige, der gesprochen hatte, sondern auch alle in seiner unmittelbaren Umgebung starben.
„Wollen sich noch weitere zu Wort melden? Ich bin ganz Ohr.“, fragte Horior ungerührt.
Keiner wagte ein Wort zu sprechen.
„Übrigens ist sein Einwand unberechtigt. Lord Eogil befindet sich in meiner Gefangenschaft.“
Mit diesen Worten schlossen sich die Schatten um den eben erwähnten und er wurde ruckartig zum Rande des Balkons befördert, sodass ihn auch jeder sehen konnte.
„Eogil hat sein Schwert gegen mich erhoben. Gegen seinen König - gegen euren König. Er muss bestraft werden und meine erste Handlung als Gott wird sein, ihn zu richten.“
Plötzlich wurde ein Feuerball zu ihm hochgeworfen, doch noch ehe er sein Ziel erreicht hatte wurde er von Horiors Lichtstrahl getroffen. Der Lichtstrahl setzte seine Reise fort und derjenige, der ihn abgefeuert hatte, sowie diejenigen in seiner unmittelbarer Nähe verloren das Leben.
Dann wurde ein Blitzstrahl auf ihn abgefeuert. Selbes Spiel: Noch bevor er sein Ziel erreichte starb er. Sahinja konnte von dem wenigen was sie aus ihrem Blickwinkel sehen konnte erkennen, dass weitere versuchten dem Tyrannen das Leben zu nehmen, doch diese wurden von aufmerksamen Soldaten sofort daran in brutalster Weise gehindert.
„Was seit ihr doch für ein undankbares Gesindel. Bin ich denn nicht immer wie ein Vater zu euch gewesen? Habe ich euch nicht den Frieden geschenkt? Ihr widert mich n! Abr genuk dr Worde.“
Horior wandte sich der Menschenmenge ab und ging auf Sahinja zu.
„Gif mil dein Takrn.“, formulierte Horior.
Anscheinend, setzte die verzögernde Wirkung des Trankes soeben ein und sein Mund schien sich allmählich zu verschließen. Sahinja konnte dies jedoch nicht hinter der Maske des Täuschungs-Takranes erkennen, nur erahnen. Schon bald würde er ein vollständiger Alchemist sein und ebenso im Besitz aller legendären Takrane.
Horior hatte den gegenwärtigen Augenblick wirklich bis auf den letzten Augenblick geplant, denn es war genau der selbe Zeitpunkt zu dem Sahinja ihm ihren Takran geben musste.
Und dann durchlebte sie ein weiteres schreckliches Déjà-vu. Das was sie jetzt erlebte, war genau der Augenblick, den sie in unzähligen Visionen vorausgesehen hatte: Sie und Eogil standen am königlichen Balkon und wohnten der Gottwerdung Horiors bei. Horior erhob sich in die Lüfte und die Mächte des Universums strömten in seinen Körper. Genau das hatte sie in der Vision gesehen und genau das geschah nun. Sobald Horior erst einmal ein Gott war, konnten sie ihm nichts mehr entgegen setzen, dann war er nicht nur, unverwundbar sondern auch unsterblich und allmächtig. Eogil und Sahinja wären dann nur noch zwei lästige Fliegen für ihn.

Doch plötzlich geschah etwas Sonderbares. Ihre und Eogils Visionen hatten nie so weit gereicht, dass sie das jetzige Ereignis erblickt hatten. Den Trank, den Opheustos ihnen mitgegeben hatte und den sie getrunken hatten, zeigte eine verspätete Wirkung. Sahinja fiel aus ihrer Starre und sie wusste auch, dass der Gehorsamkeits-Trank Horiors von ihr gefallen war. Auch Eogil war aus seiner Starre erwacht und auch er war ebenso erstaunt wie sie.
Instinktiv wusste sie, dass genau das der Plan des großen Sehers gewesen war. Wahrscheinlich hatte sein Trank in dem geheimen Gang nicht wirken sollen. Aber wie soll es weitergehen? Was hatte sich dieser Verrückte ausgedacht, dass Horior aufhalten könnte? Es war bereits zu spät, ihn mit den Schatten zu ersticken, da er zuvor noch ein Gott sein würde. Ihn mit dem Licht-Takran zu befeuern, wäre genauso sinnlos. Die Mächte, die bereits in ihm geströmt waren, würden ihn davor schützen. Wie sollte es weiter gehen?
Während Sahinja sich das Gehirn zermarterte, hatte Eogil den Plan des Sehers erkannt und auch danach gehandelt. Er hatte seine rechte Hand gegen seinen Kopf gerichtet und den Takran des Lichts gegen sich selbst angewandt. Tot, sackte der kopflose Eogil zu Boden.
Es war einer dieser Augenblicke, in denen alles in Zeitlupe zu verlaufen schien und das war nicht nur aufgrund von Mepanuks Zeit-Takran. Wie als stünde sie immer noch unter Horiors Lähmungs-Trank, betrachtete sie die ihr dargebotene Szene. Eogil hatte sich geopfert, um Horior einen der legendären Takrane zu nehmen. Wo Horior sich zuvor noch in die Lüfte erhoben hatte und die Mächte des Universums absorbierte, waren diese nun wieder von ihm gefallen und er stürzte zu Boden.
Sahinja war es als stünde die Zeit still. Ihre Gedanken gingen wirr und vieles wollte von ihr gleichzeitig bedacht werden. Durch Eogils voreiligen Entschluss hatte auch sie seinen Takran verloren und ihr göttlicher Schein erstarb. Es war natürlich der Plan des Sehers gewesen. ,Zwei von dreien würde sterben‘, hatte er gesagt. Eogil war der erste gewesen und sie würde nun gegen jemandem in den Kampf ziehen müssen, der neun legendäre Takrane trägt und zudem ein vollkommener Alchemist war. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance. Mit dem Verlust Eogils Takrans hatte er zudem vollkommen den Bezug zu der Realität verloren. Was würde sie bloß erwarten?
Eogil hatte zwar verhindert, dass Horior zum jetzigen Zeitpunkt ein Gott wurde, aber er konnte warten bis Eogils Realitäten-Takran wieder geboren wurde und ihn sich dann aneignen. Horior hatte zwar den Bezug zur Realität verloren, aber die süchtig machende Wirkung der Takrane würde ihn zu den anderen führen. Mit Sicherheit konnte er auch auf Sahinjas Perfektions-Takran warten. Doch das war nicht wirklich das was sie bekümmerte.
Eogil war tot. Er hatte sein Leben gegeben um das von anderen zu retten. Das Leben von Wildfremden! Von Menschen die er noch nie zuvor gesehen hatte! Sahinja hätte nie so gehandelt. Sich selbst für andere opfern? Sie nicht! Aber das waren genau die Ideale, die sie voneinander unterschieden. Sie war böse und Eogil gut. Gute Menschen handelten auf diese Weise und Menschen wie Sahinja kamen nicht einmal auf solche Gedanken. Im Vergleich zu dem glorreichen Eogil war sie doch nur eine schmutzige Made. Vom Bösen besessen, verhasst und gefürchtet. Eogil war der einzige der stets das Gute in ihr gesehen hatte und der sie nicht tot hat sehen wollen. Aber das war nun einmal der Lauf der Dinge. Die Guten starben immer als erstes und die Bösen überlebten. Wie glühendes Metall fraß sich der Schmerz durch ihren Körper. Sie war wieder alleine und sie wusste, dass sie den Rest ihres Lebens in Qualen verbringen würde. Ihr schlechtes Gewissen würde sie auffressen und diesmal gab es keinen Eogil, der sie aus diesem tiefen Loch herausholen konnte. Aber vermutlich würde der Rest ihres Lebens nicht lange andauern, denn schon bald würde sie durch die Hand Horiors sterben.
Sahinja seufzte. Was hatte Eogil noch vor wenigen Tagen gesagt: ,Reue gehört zu den stärksten Gefühlen.‘ Wie recht er doch mit diesen Worten gehabt hatte. Doch anscheinend war Sahinja nicht so stark wie sie immer gedacht hatte. Sie war schwach und ein Leben in Reue würde sie nicht ertragen. Doch vielleicht gab es einen Ausweg aus diesem dunklen Loch.
Sahinja setzte ihren Vergangenheits-Takran ein, um die Zeit zurückzudrehen. In Resignation nahm sie wahr, wie Horior sich wieder in die Lüfte erhob und die Mächte wieder in ihn zu strömen begannen. Der Leichnam Eogils erhob sich wieder und gleich darauf thronte auch sein Kopf wieder auf seinen Schultern. Dann kam der Zeitpunkt an dem Opheustos‘ Trank zu wirken begonnen hatte. Sahinja löste die Wirkung des Vergangenheits-Takrans und die Zeit verlief in ihren gewohnten Bahnen. Mit einem Faustschlag schlug sie Eogil brutal ins Gesicht. Dabei hatte sie darauf geachtet, dass es für ihn so schmerzhaft wie möglich war. Sie richtete ihre rechte Hand gegen ihren Kopf und erlöste sich mit dem Licht-Takran von dem schrecklichen Gefühl der Reue.

Kapitel 22 - Opheustos



Während sich Sahinja und Eogil noch auf der Reise zu den letzten legendären Takranen befunden hatten, befand sich der große Seher auf einer ganz anderen Reise.
War da nicht das Zwitschern der Vögel zu hören? Ja, und es roch auch nicht nach der verbrauchten und stickigen Kerkerluft, sondern nach dem Duft der Wiesen im Frühling. Opheustos seufzte. Er war noch gar nicht am Ziel seiner Reise, er befand sich immer noch am Weg dorthin. Eine weitere Vision hatte sein Denken getrübt. Obwohl Opheustos sich an die unzähligen Visionen gewöhnt hatte, die in seine Gedanken strömten, befand er sie immer noch als lästig. Doch das Schicksal ist kurz vor seinem Tode doch noch gnädig zu ihm. Dadurch, dass der Ausgang der Welt auf des Messer Schneide stand, reichten seine Visionen nicht darüber hinaus. Zudem würde er schon in wenigen Tagen sterben, sodass er keine gezielten Visionen mehr erhielt, die über seinen Tod hinaus reichten. Die ungewollten Vision wurden immer weniger und somit konnte er zumindest die letzten Tage seines Lebens in annähernder Normalität verbringen.
Vor wenigen Tagen hatte seine langjährige Freundin, Torea, die ihn stets mit Speisen versorgte, versalzenes Lamm gebracht. Torea war die Frau des Wirtes in der kleinen Stadt in der er lebte. Da er selbst es hasste zu kochen und da sich die Dorfbewohner immer noch nicht an seine Gegenwart gewöhnt hatten, hatte es sich so eingebürgert, dass die gute Torea stets zu ihm kam und ihm das Essen ins Haus brachte. Natürlich bezahlte er sie. Er hatte sich einen guten Ruf gemacht und stets suchten ihn Abenteuerlustige auf, die von ihm ihre Zukunft wissen wollten. Obwohl Opheustos nichts für seine Dienste verlangte, hinterließen sie ihm meistens die eine oder andere Münze. Die einen mehr, die anderen weniger. Das was Opheustos an Geld hatte, wanderte anschließend stets zu Torea, um für ihre Verpflegung aufzukommen.
Doch an diesem einen Tage, als sie ihm das versalzene Lamm servierte, hatte sie das Räderwerk in Gang gesetzt. Oft hatte er dieses Zeitpunkt vorausgesehen, denn es war genau dieses Ereignis, das damit verknüpft war aufzustehen und selbst zu handeln.
Solche banalen Dinge waren die einzige Möglichkeit herauszufinden in welcher Zeit er sich wirklich befand. Seinen unzähligen Visionen waren schließlich nicht zu trauen und da er blind und am Körper taub war, musste er sein Gehör sowie seinen Geruchs- und seinen Geschmackssinn einsetzen um den Bezug zur richtigen Zeit zu wahren.
Obwohl seine Visionen deutlicher nicht sein konnten, manchmal sogar deutlicher als die Realität selbst, konnte er diese nur noch mittels banaler Kleinigkeiten von der Realität unterscheiden. Als Eogil und Sahinja bei ihm angelangt waren, war es nicht anders gewesen: Opheustos hatte Eogil einen Trank mitgegeben. Und diesen Trank hatte er ihm schon unzählige Male auf den Tisch gestellt, aber nie hatte er ihn mitgenommen. Stets war es eine Vision gewesen. Und dann, eines Tages hatte er ihn doch genommen. Das war die banale Kleinigkeit, die ihm wissen hat lassen, dass sie wirklich da waren.
In Toreas Fall war es das versalzene Lamm. Seine Visionen ließen ihm zwar wissen, dass das Lamm versalzen war, doch war der Geschmack in der Realität ein völlig anderer. Nicht deutlicher, aber anders. Und diese banale Kleinigkeit, welche an seinem Geschmackssinn gekoppelt war, hatte das Räderwerk in Gang gesetzt, dass er schon vor Dekaden erdacht hatte. Jetzt war die zeit gekommen seine müden Knochen zu erheben.
Opheustos war nicht nur ein Seher, sondern auch ein Sensitiver. Niemand verstand die Alchemisten und niemand konnte die Ziele eines Sensitiven nachvollziehen. Er war, wie alle die ihren Tastsinn eingetauscht hatten, von einer bestimmten Sache besessen. Jeder Sensitive erhielt eine Lebensaufgabe und obwohl alle von ihnen auch danach handelten, wussten die meisten von ihnen jedoch nicht was sie taten. Doch in diesem Sinne war das Schicksal zu Opheustos gnädig. Da er auch ein Seher war, konnte er sein eigenes Schicksal vorhersehen. Seine Lebensaufgabe war es, Horior aufzuhalten.
Noch bevor Horior ein Alchemist war und noch bevor Opheustos ihm seinen Takran gegeben hatte, wusste er, dass er einen würdigen Gegner vor sich hatte. Doch im Vergleich zu ihm, war Horior nur ein unerfahrener Jüngling, der die Macht der Vorhersagung erst vor kurzem erhalten hatte. Opheustos hingegen beherrschte diese schon sein gesamtes Leben. Er hatte nie etwas anderes kennen gelernt. Sein Leben lang hatten ihm die Visionen begleitet. Somit kannte er viele Nachteile dieser Fähigkeit, die Horior noch verborgen waren. Und auf einen dieser Nachteile wollte Opheustos bauen.
Es war ihm klar, dass er sich ihm nicht direkt stellen durfte. Er durfte die Zukunft nicht so fügen, dass Horior hinter seine Pläne kam. Trotz allem war er ein kluger Mann und er hätte ihn in kürzester Zeit ertappt und gefangen genommen. Opheustos musste im Verborgenen agieren. Darum hatte er all sein Streben auf diesen einen Nachteil seiner Fähigkeit gesetzt.
Schon in seiner Jugendzeit hatte er viele Male seine eigenen Fähigkeiten überschätzt. Er hatte alles auf einen Augenblick hingebaut, sodass er auch mit Bestimmtheit sein Ziel erreichen würde. Natürlich hatte er das bekommen was er wollte, doch sobald er es in Händen gehalten hatte, hatte man es ihm wieder weggenommen. Um genau zu sein, konnte man dies nicht als Nachteil seiner Fähigkeit bezeichnen, sondern als Nachteil des menschlichen Denkens. Die Visionen zeigen einem nur so viel, wie man bereit war zu sehen. Und das war worauf Opheustos all sein Streben setzte, alles auf eine Karte.
Opheustos agierte weiterhin im Verborgenen, sodass Horior nichts von seinen Machenschaft ahnte. Sich gegen ihn aufzulehnen wäre falsch gewesen, gar nichts zu tun jedoch ebenso. Es hätte ihn skeptisch gemacht und er hätte die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Opheustos hatte den mittleren Weg gewählt, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Er musste so tun als würde er ihn aufhalten, jedoch musste er bei diesem Versuch scheitern. Keinesfalls aber durfte er in ihm einen ernstzunehmenden Gegner sehen. Darauf aufbauend würde Horior alles in die Wege leiten, um sein Ziel zu erreichen und sobald er dieses erreicht hatte, würde Opheustos es ihm wieder nehmen. Und das war der Punkt, an dem Sahinja und Eogil ins Spiel kamen.
Da Horior es merken würde wenn er sich aktiv beteiligte, musste er Ersatz finden. Eogil und Sahinja waren seine Schlüsselfiguren. Sich einfach das Leben zu nehmen um Horior an seiner Göttlichkeit zu hindern hätte keine Wirkung gehabt. Die legendären Takrane würden wieder geboren werden und Horior hätte gewartet und wäre nach dieser kurzen Zeitverzögerung zu einem Gott aufgestiegen. Zudem war auch Opheustos‘ Zeit begrenzt. Er hatte bereits ein betagtes Alter erreicht und schon bald würde auch er nicht mehr sein, um die Zukunft entsprechend gegen ihn lenken zu können.
Dem Unverwundbaren musste ein endgültiges Ende gesetzt werden. Ein Ende, dass über Opheustos‘ Tode hinweg reichen würde. Nur so konnte er die Menschheit vor dem Untergang bewahren. Doch Opheustos musste behutsam vorgehen. Er musste alle täuschen, denn die kleinste Unstimmigkeit würde Horior bemerken und dann wäre alles verloren.
Aufgrund dieser Täuschung hatte er Sahinja an die Stille Bruderschaft verraten. Er hatte sie zu einem Monster gemacht, nur um den Schein besser wahren zu können. In weiterer Folge hatte sie hunderte von Menschen getötet, was Opheustos vorausgesehen hatte aber dennoch in Kauf genommen hatte. Auch das Leid das Eogil und Pontion zuteil geworden war, hätte er verhindern können. Ophestos hatte sich viele Versionen der Zukunft erdacht, doch alle endeten mit Horior als Gott. Oft hatte er versucht Horior selbst zu töten um der Sache ein schnelles Ende zu bereiten, doch wie sollte er jemand töten, der unverwundbar war? Wie Opheustos es auch drehte und wendete, dies war die einzige Zukunft in der es möglich war die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren. Die Chancen standen nicht gut, aber zumindest gab es welche.
Bei diesem Gedanken wandte Opheustos seinen eigenen Takran an, um den momentanen Ausgang der Zeit zu erblicken. Doch er würde nicht Horiors Fehler begehen und nur bis zu dem Ereignis seiner Gottwerdung zu sehen, sondern auch noch darüber hinaus. Er würde so weit sehen, bis nur noch einer der drei auf den Beinen stand.
Würde Horior den Sieg erringen, würde die Menschheit untergehen. Würde Sahinja diejenige sein, die den Kampf überlebte, wäre zwar die Menschheit gerettet, aber sie würde weiterhin Unheil stiften. Sie würde warten bis ihre verlorenen legendären Takrane wieder geboren werden, sich dieser bemächtigen und eine Göttin des Grauens werden. Der einzige positive Ausgang der Zeit lag in Eogils Händen. Würde Eogil als Sieger hervorgehen, würde er die Menschheit zu neuen Ruhm und zu neuem Glanz führen. Was die Menschheit erwartete war entweder der Untergang, das Verderben, oder Friede. Wobei Untergang und Verderben am wahrscheinlichsten waren. Opheustos konzentrierte sich, dann erhielt er die gewünschte Vision.
Er seufzte. So wie die Dinge standen würde Horior siegen.
Nein, jetzt war es Sahinja.
Jetzt wieder Horior.
Eogil
Horior
Horior
Sahinja
Horior
Horior
Sahinja
Eogil
Horior
Horior
Horior
Sahina
Horior
Es hatte keinen Zweck. Die Zukunft war zu ungewiss. Selbst für den größten Seher aller Zeiten.

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Vor ihm war ein Baum! Opheustos korrigierte seine Schritte. Für ihn war es, aufgrund seines fehlenden Augenlichts nur die unrealistische Schattengestalt einer anderen Welt. Dennoch lebte er in dieser Welt und in dieser Welt waren Bäume feste Gegenstände. Unzählige Male war er in seinen Visionen dagegen gerannt und hatte sich die Nase blutig geschlagen. Nur weil er die Zukunft voraussehen konnte, bedeutete dies noch lange nicht, dass er auch danach handelte. In diesem Fall passierte stets das selbe: Opheustos erhielt eine Vision wo er gegen den Baum rannte und sich die Nase blutig schlug und lenkte dagegen ein, sodass er ihm auswich. Dann erhielt er eine Vision wo er dem Baum ausgewichen war, sodass er dem Baum keinerlei Beachtung mehr schenkte. Dass war wieder der Zeitpunkt in welchem er gegen den Baum rannte. Doch bevor dies geschah hatte er natürlich eine Vision und wich dem Baum aus.
Dies war ein weiterer Nachteil seiner seherischen Fähigkeiten. Kein Wunder dass man Alchemisten für verrückt hält. Andererseits war es auch vollkommen verrückt als Blinder alleine durch die Welt zu reisen. Wenigstens war er zudem am gesamten Körper taub, sodass er den Aufschlag gegen den Baum nicht spüren konnte. Was andererseits jetzt wieder belanglos war, da er ihm ja ausgewichen war. Genau zu dem Augenblick als er diesen Gedanken gefasst hatte, rannte er wogegen und schlug sich die Nase blutig. Na toll, er hatte wieder einmal eine Vision erhalten wo er dem Baum ausgewichen war und war anschließend doch dagegen gerannt.
Aber vielleicht war auch das nur eine weitere Vision gewesen. Er wusste es schließlich nicht, da er den Baum nicht sehen konnte und den Schmerz nicht fühlte. Mit dem Zeigefinger wischte er sich an der Nase vorbei und steckte seinen Finger in den Mund. Er schmeckte Blut. Oheustos seufzte. Er war der größte Seher den die Welt je gesehen hatte, doch konnte er nicht einmal einem Baum ausweichen. Wenigstens wusste er jetzt wo er war und wie lange seine Reise noch dauern würde. Und diese Vision würde ihm auch nicht länger belästigen.
Etliche Tage und Visionen später war Opheustos an seinem Ziel angelangt. Sofirot, eine von Horiors Festungen. Um genau zu sein, die Festung an der sie seinen langjährigen Freund gefangen hielten. Unzählige Male hatte er sie in seinen Visionen betreten und er kannte den Weg wie seine Westentasche. Er wusste auch wann er losgehen musste und wie er zu gehen hatte, um von den Wachen ungesehen zu bleiben. Die Fähigkeit um den stetigen Blick in die Zukunft, war bei ihm aufgrund seiner vielen anderen Takrane stark ausgeprägt.
Mit leisen Schritten spazierte er an der Torwache vorbei, die gerade den Fehler machte seinen Blick in die falsche Richtung zu setzen. Nur einen Schritt von diesem entfernt wartete Opheustos um die vorbeiziehende Patrouille passieren zu lassen. Dann musste er sich beeilen, da das Zeitfenster nur kurz war, um ungesehen zu bleiben. An der Mauer bewegte er sich bis zum Kerker entlang, hob einen Stein auf und warf ihn an die gegenüberliegende Wand. Die Wache die vor dem Kerkereingang stand, war sehr pflichtbewusst und suchte sofort nach dem Auslöser des Geräusches. Den Schlüsselbund hatte er allerdings auf dem Tisch liegen gelassen. Opheustos nahm ihn, griff zielsicher nach dem richtigen Schlüssel, entriegelte die Türe und legte ihn wieder zurück auf den Tisch. Dann betrat er den Kerker und schloss die Türe leise hinter sich.
Opheustos wusste, dass die Wache es nicht merken würde wenn die Türe unverschlossen blieb. Doch das Fehlen seines Schlüsselbundes wäre ihm sofort ins Auge gestochen. Nun hatte er zwar den Schutz der Kerkertüre nicht, doch die würde er auch nicht brauchen, da er genau wusste, dass diesen in nächster Zeit keiner betreten würde.
Als Opheustos den Weg an den Wachen vorbeimarschiert war, wurde er sich ein ums andere Mal der eigenartigen Ironie seines Handelns bewusst: Der Blinde, der nicht gesehen werden konnte. Das wäre doch ein hervorragender Titel einer Limerick. Hoffentlich war dies wieder nicht nur eine seiner unzähligen Visionen.
Jetzt würde der schwierige Teil kommen. Obwohl schwierig das falsche Wort für einen Seher war. Er wusste genau was er zu tun hatte und er wusste ebenso wann er es tun musste. Insofern konnte man es nicht mehr als schwierig bezeichnen, es war eher der unangenehme Teil.
Opheustos besaß keinen Takran mit dem er andere unschädlich machen konnte und er hatte ebenso keine Waffe mitgebracht. Doch das war für den großen Seher nichts weiter als ein kleines Hindernis. Aus seinen Visionen wusste er genau, dass die Fackel zu seiner rechten nicht mehr brannte und so hob er sie aus seiner Verankerung. Mit ihr spazierte er um eine Biegung zu einem Wachmann, der gerade müde wie er war, den Kopf in den Schoß gelegt hatte. Opheustos wusste genau wann und wie er ihn treffen musste, um ihn bewusstlos zu schlagen. Es war nur eine ungeheure Anstrengung für einen alten Mann so viel Kraft aufzubringen. Der Aufschlag seiner behelfsmäßigen Keule war ungehört geblieben und Opheustos wusste auch, dass der Bewusstlose für die nächste Zeit ungesehen bleiben würde.
Der Seher trug schon lange den Perfektions-Takran Sahinjas, sodass er ihn bereits perfekt beherrschte. Wie Sahinja konnte nun auch Opheustos sich den Takran eines Bewusstlosen aneignen. Es war als hätte das Schicksal es vorherbestimmt, denn dieser Mann besaß an seiner Hand einen Schlaf-Takran und Opheustos würde ihn sofort, dank Sahinjas Perfektions-Takran perfekt einsetzen können. Es war nur schade um den Takran den er an der Hand trug. Er würde einen Baustein verlieren, mit dem es ihm gelang die Zukunft so genau deuten zu können. Doch was machte das schon - er würde ohnehin bald sterben.
Nachdem er vier weitere Wachen schlafen gelegt hatte und einem seinen Schlüsselbund entnommen hatte, öffnete er eine der verriegelten Türen. Es war nicht die Türe hinter der sein langjähriger Freund gefangen gehalten wurde, doch es war eine hinter dem ebenfalls eine Person gefangen gehalten wurde, die er für die Ausführung seines Planes benötigte. Obwohl Opheustos ihn noch nie zuvor gesehen hatte, wusste er, dass er ihm helfen würde. Sogleich nah, er einen weiteren Schlüssel seines gerade erworbenen Schlüsselbundes und befreite Mepanuk. Jetzt war sein langjährigen Freund an der Reihe.

„Bist du alt geworden.“, entgegnete ihm Zaroir schroff.
„Das sagt gerade der mit dem schneeweißen Bart, der bis zu seinen Füßen reicht.“
„Ich dachte du seist blind?“
„Nur weil ich blind bin heißt das noch lange nicht, dass ich nicht sehen kann.“
„Du bist ein Torfkopf.“
„Und du ein Dummdödl.“
„Forkmoppel.“
„Knischgesicht.“
„Klatschmaul.“
„Angsthase.“
„Scharlatan.“
„Hasenbeißer.“
„Zekarnzapfen.“
„Wieso Zekarnzapfen?“
„Lang und dumm!“
„Ach, Zaroir, du alter Grießgram, wie sehr hab ich doch unsere hoch philosophischen Gespräche vermisst.“
Es war herrlich seinen alten Freund wieder um sich zu haben, auch wenn ihm die Jahre der Einsamkeit ein wenig schroff gemacht hatten.
„Als dieser Schönling von Eogil zu mir kam um sich meinen Takran zu holen, hatte ich mir schon gedacht, dass du schon bald mein Versprechen einfordern würdest. Aber du hast mir nicht gesagt, dass sie eine Mörderin ist.“
„Du hast nicht gefragt.“
„Du hast mir auch nicht gesagt, dass man mich in meinem eigenen Labyrinth jagen würde.“
„Danach hast du auch nicht gefragt.“
„Und du hast mir nicht gesagt, dass man mich gefangen nimmt und mich einsperrt. - Sag jetzt nichts.“
Mepanuk kicherte leise im Hintergrund.
„Es ist trotzdem schön dich zu sehen.“, sagte Zaroir schließlich.
„Es ist auch schön dich zu sehen.“, entgegnete ihm Opheustos.
„Also entnehme ich meiner Annahme, dass sich dieses ach so große Ereignis ereignet, von dem du mir damals in deiner Erzählung erzählt hast. Der Untergang der Menschheit, oder wie war das noch mal?“
„Ja, so in der Art muss ich es wohl geschildert haben.“
„Ahhh, ihr Alchemisten seit doch alle verrückt.“
Opheustos lachte sein schwaches Hüsteln.
„Da steckt sicher dieser machthungrige König dahinter, der mich gefangen genommen hat, oder?“
„Genau der.“
„Den hab ich schon seit dem Augenblick nicht leiden können, als er mich eingesperrt hatte.“, Zaroir seufzte „Gut, du Scharlatan, wie sollen wir die Welt dieses mal retten?“
„Du musst deine Gedankenstimme einsetzen um mit den anderen Trägern der legendären Takrane zu sprechen.“
„Hat der große Seher denn nicht vorausgesehen, dass ich sie nicht alle kenne? Ich kann nur mit denen sprechen, die ich schon einmal gesehen habe und ich kenne nur euch beide, den Schönling und die Irre.“
„Auch dafür hat der große Seher, eine Lösung.“, sagte Opheustos mehr im Scherze. „Mittlerweile sind meine Visionen realistischer als die Realität. Du wirst meine Gedanken lesen, während ich eine Vision habe und sie so kennen lernen.“
„Realistischer als die Realität, was für ein Blödsinn und das aus dem Munde des großen Opheustos‘ Und noch etwas: Hat der große Seher denn vergessen, dass er ein Alchemist ist und ich die Gedanken von Alchemisten nicht lesen kann?“, fragte Zaroir bissig.
„Keine Sorge mein Freund, da der große Seher ein Alchemist ist, kann er das hier machen.“, sagte Opheustos hell lächelnd und zog ein Fläschchen hinter seinem Rücken hervor.
„Ich habe dir schon hunderte Male gesagt, dass ich so etwas niemals trinken werde.“, sagte Zaroir plötzlich in aufbrausenden Zorn.
„Ich weiß, was du gesagt hast.“, versuchte Opheustos Zaroir wieder zu beruhigen. „Aber das Schicksal der Menschheit steht auf dem Spiel.“
„...Schicksal der Menschheit...“, murmelte Zaroir griesgrämig vor sich hin. „Mit diesem Argument hast du mich schon das letzte mal rumgekriegt. Das zieht nicht mehr.“
„Außerdem würde ich dich nicht darum bitten, wenn ich nicht schon im Vorhinein eine Vision gehabt hätte, in der du diesen Trank trinkst.“, sagte Opheustos ohne auf sein Argument einzugehen.
„Es ist jedes Mal das selbe.“, sagte Zaroir gereizt „Ich glaube das ist der Grund warum wir getrennte Wege gehen.“
„Der Grund warum wir getrennte Wege gehen ist der, weil du ein Torfkopf bist!“
„Das sagt gerade der Alchemist.“
„Du bist ein Quatschkopf.“
„Und du ein Schwindler.“
„Hasenfuß.“
„Betrüger.“
„Weichei.“
„Jetzt trink endlich diesen verdammten Trank!“
„Wieso sollte ich?“
„Weil ich es vorausgesehen habe!“
Opheustos lachte in sich hinein. Mit diesem Argument hatte er Zaroir stets von seinen Plänen überzeugen können. Auch wenn Opheustos keine Vision gehabt hatte und lügen musste, das einfache Argument ,Ich habe es schon vorausgesehen‘, genügte um ihn zu überzeugen. Und dann hatte er wirklich eine Vision gehabt, in der alles nach seinen Plänen verlaufen war. Was waren sie doch damals für ein wagemutiges Team gewesen. Das gesamte Königreich hatten sie unsicher gemacht. Opheustos war ein Mensch der stets in der Zukunft lebte, doch solche Erinnerungen ließen in ihm den Nostalgiker erwecken.
„Jetzt trink schon.“, sagte Opheustos abermals zu seinem Freund.
Wiederwillig nahm ihm Zaroir das Fläschchen aus der Hand und enthob den Korken.
„Dafür bist du mir eine anständige Mahlzeit schuldig.“, sagte Zaroir giftig.
„Mit Kartoffeln, Zwiebeln und Bohnen, alles was du willst.“, entgegnete ihm Opheustos lächelnd und sah zu wie er das Fläschchen leerte.
Was Zaroir jedoch nicht wusste, war, was sich darin befand. Es gab keinen Trank, mit dem er die Blockade seiner zerstörten Fäden überwinden konnte. Doch es gab eine andere Möglichkeit, wie Zaroir die Gedanken eines Alchemisten lesen konnte: Er musste selbst zu einem Alchemisten werden. Doch hätte Opheustos ihm dies gesagt, so hätte er ihn unter keinen Umständen getrunken. Selber schuld, wieso hatte er nicht gefragt.
Für das was Opheustos Zaroir angetan hatte, würde er toben vor Wut. Daran gab es keinen Weg vorbei. Das hatte er schon in unzähligen Visionen vorausgesehen. Doch so schlimm es auch war, was Opheustos seinem langjährigen Freund angetan hatte. Er würde ihm noch viel schlimmeres antun. Und nicht nur ihm, auch Mepanuk würde unter seinen Plänen leiden.

Kapitel 23 - Der finale Kampf (Teil 1/2)



Zorn, Unglauben und Schrecken. - Das waren die ersten Gefühle, die in Eogil aufgestiegen waren, als Sahinja ihn niedergeschlagen hatte. Er hatte sein Leben geben wollen, um der Welt zumindest noch eine kleine Chance zu ermöglichen. Horior wäre kein Gott geworden und wer weiß, villeicht hätte Sahinja auch noch den Kampf gewonnen. Nun ja, wohl eher nicht. Doch immerhin hätte die Menschheit noch ein, zwei Jahre weiter existieren können. So lange, bis Eogils Takran wieder geboren wurde und Horior nach dieser Zeitspanne sein endgültiges Ziel erreicht hatte. Es wäre eine Existenz in Schrecken und Leid, aber immerhin wäre es eine Existenz.
Doch Sahinja hatte ja umbedingt wieder ihren Kopf durchsetzen müssen und ihn von seinen Vorhaben abbringen müssen. Dann hatte Eogil einen Takran verloren und instinktiv hatte er gewusst, dass es der Perfektions-Takran gewesen war. Es war Sahinjas Takran, den er verloren hatte. Sahinja hatte sich an seiner statt geopfert. Der Zorn auf Sahinja und der Schrecken für die Folgen ihres Faustschlages waren so schnell verebbt wie sie gekommen waren. Der Unglauben auf ihre Dummheit hinauf war noch immer geblieben, doch trug er nun ein anderes Gesicht. Eogil war ein Mensch, der glaubte in anderen Menschen lesen zu können wie in einem Buch und nicht nur das konnte er. Er konnte auch ihre Gedanken lesen und das konnte er bereits ebenso gut wie Zaroir. Jedoch gab es immer noch Menschen, die ihn verblüfften und die es schafften seine Gebäude aus Hypothesen zum einstürzen zu bringen. Zuerst war es Arum gewesen in dem er sich getäuscht hatte, jetzt war es Sahinja. Und das war etwas was Eogil in seinem Unglauben verharren ließ.
Er hatte sie immer für eine kaltblütige Mörderin gehalten und nichts anderes war sie auch. Sie hatten das selbe Ziel und das war auch der einzige Grund gewesen, wieso er mit ihr den selben Weg bestritten hatte. Im Laufe der Zeit hatte sie ihre Taten nicht mehr verdrängen können und ihr schlechtes Gewissen war immer mehr an die Oberfläche getreten, doch hätte Eogil geglaubt, dass sie weiterhin in ihren festgetretenen Mustern agieren würde. Er hatte sie zwar aufgemuntert, aber dennoch damit gerechnet, dass seine Worte keine stärkere Wirkung zeigen würde. Es ist schwer die Fesseln seiner Vergangenheit abzulegen und gerade in Sahinjas Fall müssen sie auf ihr mit dem Gewicht eines Ambosses lasten.
Sahinja hatte sich an seiner statt geopfert und mit dieser Erkenntnis hatte sich sein gesamtes Bild ihr gegenüber verändert. Jetzt waren es neben dem Unglauben auch Bewunderung und Trauer. Der Tod war eine Option, die für sie beide nicht in Frage hätte kommen sollen. Doch es war so wie der Seher es vorausgesagt hatte. Zwei von dreien würden sterben. Dass Sahinja die erste von ihnen sein würde hätte Eogil nicht gedacht.
Eogil war ein Mann, der stets in kürzester Zeit mehrere und umfassende Entscheidungen treffen konnte. Man konnte sagen, er war darauf trainiert Lösungen zu finden. In seiner Zeit als Rat oder auch in der Zeit als er Führer des Wiederstandes war, hatte es nie einen Tag gegeben, an dem man seine Meinung nicht zu Rate gezogen hatte. Doch jetzt wo er vor dem toten Körper Sahinjas stand, wollte ihm keine Lösung für das Problem einfallen.
Sein erster Gedanke war an die Alchemisten gerichtet. Alchemisten hatten immer schon die wundersamsten Dinge vollbringen können. Doch so wenig Eogil über diese besondere Gruppe von Menschen wusste. Eines war ihm klar: Selbst sie würden keine Toten zum Leben erwecken können. Horior hatte gesagt ein vollständiger Alchemist könnte Gliedmaßen wieder nachwachsen lassen, er könnte Blei in Gold verwandeln und er konnten Tränke mischen, die das Leben verjüngten. Dass man mit solchen Fähigkeiten auch Tote zum Leben erwecken konnte hatte er nicht gesagt und das hätte er bestimmt nicht unerwähnt gelassen. Außerdem würden Alchemisten mit einer gewissen Anzahl von Takranen immer unzurechnungsfähiger. Dieser Weg mündete also in einer Sackgasse.
Seinen zweiten Gedanken hatte er so schnell verworfen, wie er ihn erdacht hatte. Er hatte vorgehabt alle Takrane auf seinen Körper zu vereinen um selbst ein Gott zu werden. Welche einmaligen Kräfte ihn das verliehen hätte wusste er nicht, doch es wäre möglich, dass er mit einer solchen Allmacht auch Tote zum Leben erweckten konnte. Doch soweit würde es nicht mehr kommen. Nicht nur, dass ihm der Takran Horiors fehlte, nein, auch Sahinja hatte sich das Leben genommen und somit war Eogils neunter Takran verschwunden. Ein Gott konnte weder er noch Horior werden und somit würde Sahinja auch auf diesem Weg nicht wieder unter die Lebenden kommen. Sahinja war tot und nichts konnte dies ändern.
Doch er kam nicht mehr dazu nach weiteren Lösungsvorschlägen zu grübeln. Horior hatte mittels seiner Gedankenstimme in seinen Geist gesprochen. Es war unglaublich, er konnte noch immer den Bezug zur Realität bewahren. Alle seine Sinne hatte er geopfert, nur noch der mysteriöse sechste Sinn, mit dem man die Umgebung wie eine ausgebreitete Karte wahrnehmen konnte, war ihm geblieben. An diesem musste er sich wie ein Ertrinkender an das rettende Seil klammern, um nicht vollständig in die andere Welt zu gleiten. Wie lange würden seine Anstrengungen noch reichen?
,Eogil, du zahlen wirst, Leben.‘, sprach der verwirrte Horior in seinen Geist.
Es war klar zu hören, dass es ihm schwer fiel seine Gedanken zu ordnen. Hier konnte ihn nicht einmal mehr Eoils Realitäten-Takran helfen. Dafür hatte er sich zu weit aufs offene Meer gewagt.
Während Eogil noch unter Schock stand und das selbstgewählte Schicksal Sahinjas beobachtet hatte, war Horior zu Boden gestürzt und inmitten der Menschenmenge gelandet. Wie Schafe waren sie in Panik in alle Richtungen gelaufen. Die umstehenden Soldaten hatten versucht wieder alles unter Kontrolle zu bringen und sie hatten auch versucht dem gestützten König aufzuhelfen. Doch dieser hatte mit einem einzelnen Lichtstrahl alle Umstehenden in seinem Zorn vernichtet. Er hatte sich selbst erhoben und in seinem geistesschwachen Zustand und seiner Wut darüber, dass sein Ziel vereitelt worden war, wollte er sich nun an Eogil rächen. Das es eigentlich Sahinja gewesen war, die Schuld an seinem vereitelten Vorhaben trug, schien für ihn keinerlei Bedeutung zu haben. Er wollte sich abreagieren und dafür musste Eogil seinen Kopf hinhalten. Auf Sahinjas Takran musste er nun ohnehin warten, was machte da noch ein weiterer Takran aus.
Wie man die Situation auch betrachten mag und wie sie sich auch entwickelte. Jede Aussicht war hoffnungslos. Es würde zu einem Kampf zwischen Eogil und Horior kommen und es brauchte die Gabe der Vorhersehen nicht um zu wissen wie dieser ausgehen würde. Horior besaß noch immer neun legendäre Takrane und hatte somit einen mehr als Eogil. Zudem trug er alle sieben alchemistische Takrane, die seine Sinne auf unerklärliche Weise verändert hatten und ihm somit ungeahnte Vorteile boten. Außerdem waren Horiors Fertigkeiten in Taktik, List und Kampf um ein vielfaches ausgereifter als seine eigenen. Eogil war, wie Horior und Sahinja es immer ansprachen, nichts weiter als ein Rhetoriker. Er verstand sich auf das gesprochene Wort, nicht jedoch am Schlachtfeld. Seine Probleme versuchte er mit Reden zu lösen und nicht mit dem Schwert. Doch er wusste genau, mit Horior ein Gespräch aufzubauen, war genauso sinnlos wie der Versuch alchemistische Handlungen nachvollziehen zu wollen.
Den einzigen Vorteil den er Horior gegenüber hatte, war derjenige, dass seine alchemistischen Takrane seinen Tribut forderten und dass sein Verstand allmählich zu verschwinden begann. Doch dies wiederum machte ihn zugleich unberechenbar, was wieder einen Nachteil für ihn darstellte Außerdem konnte Eogil seine Gedanken nicht lesen. Eogil würde mit Gewissheit im Kampf unterliegen.
Doch dies hätte katastrophale Auswirkungen für die umstehenden Menschen. Jetzt konnte er noch unglaublicher Weise einen geringen Bezug zur Wirklichkeit wahren. Doch sobald Eogil nicht mehr wäre, würde er einen weiteren legendären Takran verlieren und das wäre der Realitäten-Takran. Dann wäre er vollkommen in seinem Wahn gefangen.
Rückblickend auf den Krieg, den sie gegen die Alchemisten geführt hatten, war ihr schlimmster Feind jemand gewesen, der vier alchemistische Takrane getragen hatte. Er hatte es vollbracht einen König zu töten, ganze Seen zu vergiften und unzählige Menschen zu seinen willenlosen Sklaven zu machen. Doch Horior trägt sieben dieser verfluchten Takrane und nicht nur das, er würde nach Eoglis Tod weiterhin noch acht der legendären tragen, unter anderen seinem eigenen, der ihn unverwundbar machte. Er wird nicht aufzuhalten sein und Verderben über die Welt bringen. Doch dies wäre nur die Ruhe vor dem Sturm. Sobald er die letzten beiden Takrane besäße, welche wieder geboren werden, würde die Welt, so wie wir sie kennen enden.
Eogil stand noch immer mit herabhängenden Schultern am Rande des königlichen Balkons, zu keinerlei Handlung fähig und sah trübsinnig auf Horior und auf die Menschenmenge die in einem riesigem kreisförmigen Abstand von im stand herab. Es war für gewöhnlich nicht Eogils Art, aber jetzt wollte er einfach nur noch aufgeben. Weinend nach hause laufen und sich irgendwo verstecken. Horior war unbesiegbar, Sahinja war tot und schon bald würde er es ebenfalls sein.
,Krakt, Eogil, nicht Gott, esates golum.‘, sprach Horior mittels seiner Gedankenstimme und bündelte einen Lichtstrahl mit seiner rechten Hand.
Es wurde immer deutlicher, dass ihm die Realität entglitt. Schon bald würde er nur noch ein irrsinniges Wesen sein, das durch die Welt taumelt und Verwüstung und Zerstörung hinter sich lässt. Vielleicht mal die einen oder anderen Zutaten zusammen mixt und somit ein paar tausend Menschen im Vorbeigehen das Leben nimmt. Er würde ein paar Seen vergiften, Krankheiten erschaffen, die Ernten vernichten und auch er würde die Kontrolle über andere Menschen übernehmen. Man würde über nichts und niemandem mehr Gewissheit haben können. Konnte man diese Wasser trinken, oder würde man daran ersticken? War der eigenen Freundin noch zu trauen, oder wurde sie kontrolliert und würde einem in der Nacht mit einem Messer erstechen?
Mutlos und Träumerisch sah Eogil den abgefeuerten Lichtstrahl Horiors auf ihn zu rasen. Es war hoffnungslos. Hier waren ihm die Hände gebunden, hier konnte er nichts mehr ausrichten. Erst jetzt nahm er die tausenden Blicke der Menschen wahr, die hoffnungsvoll zu ihm empor blickten. Eogil war ihr Held, das war er immer schon gewesenen und jetzt zu dieser dunkelsten Stunde war er es immer noch. Was war nur aus ihm geworden? Damals hatte er es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht anderen zu helfen. Und jetzt? Jetzt besiegelte er seine eigene Hinrichtung und machte nicht einmal Anstalten sich zu verteidigen. Es hätte ohnehin keinen Sinn. Was würde er schon ändern können?
Im letzten Augenblick riss er sich zusammen. Auch wenn es vergeblich war zu kämpfen, der große Lord Eogil, der Held des gemeinen Volkes sollte nicht als Feigling sterben. Er sollte sich dem offenen Kampf stellen und zumindest einen ehrenhaften Tod finden.
Mit seinem Schatten-Takran lenkte er den tödlichen Lichtstrahl um, sprang geschickt vom Balkon herab und verlangsamte die Zeit bei seinem Aufkommen, um nicht verletzt zu werden. Dann gesellte er sich in den Kreis, den man um Horior gebildet hatte. Die Wachen versuchten zwar die Menschenmassen zurückzuhalten, aber von diesen wollte ohnehin keiner vordringen. Es war eher der Versuch nicht dazustehen und nichts zu tun. Schließlich wollten sie ihren König keinen Anlass geben sie Unnütz zu erachten.
,Jor keltak nest kamat lida.‘, war nur noch von der Gedankenstimme Horiors zu hören. Seine Gesichtszüge, die durch den Takran der Täuschung aufrecht erhalten wurden, zeigten sein übliches trügerisches Bild, doch dahinter musste sich wohl ein Kampf um die eigene Identität abspielen. Selber schuld, Eogil hatte kein Mitleid mit ihm.
„Horior, Herrscher von Venundur. Du hast die Könige Eodorans und Isbirs ermordet. Auch hast du König Pontion von Vennundurs getötet. Du hast Verbrechen an der Menschheit begangen und du hast jegliche schändliche Tat in jeglicher Hinsicht begangen. Nun wird dich deine gerechte Strafe ereilen.“, sagte Eogil mit fester Stimme.
Worte, darauf verstand er sich, das konnte er. Der strahlende Held, auch noch in der Stunde seines Todes, das war alles was ihm bleiben würde. Vielleicht würde es den Menschen Mut machen. Vielleicht konnte dies der Anlass für sie sein, weiterzumachen.
,Namir naset esar lopus nestak.‘, war aus seiner Gedankenstimme zu hören.
Eogil verstand kein Wort. Für die umstehenden Männer und Frauen hatte Horior nichts gesagt. Sein Mund war durch den siebenten alchemistischen Takran verschlossen und somit war er der Sprache nicht mehr mächtig.
Dann begann der Kampf. Gleichzeitig formten Horior und Eogil einen Lichtstrahl und feuerten ihn aufeinander ab. Doch hatten beide nicht damit gerechnet was grade passiert war. Oder um genauer zu sein, was nicht passiert war. Noch bevor die beiden legendären Takrane aufeinander prallten, waren sie verschwunden. Das leuchten des göttlichen Scheins um Horior war ebenfalls erstorben und Eogil war klar, dass er gerade den Takran des Lichts verloren hatte. Um sich zu vergewissern betrachtete er seine rechte Hand. Sie war leer. Was für ein erstaunlicher und schockierender Zufall: Trubar musste eben in diesem Moment gestorben sein. Es war Eogil, als würde seinem Herzen eine weitere Wunde zugefügt. Zuerst Sahinja, dann Trubar. Trubar war ein guter Mensch gewesen. Wie auch immer er gestorben war, er hatte den Tod nicht verdient. Wieder war Eogil die Zeit genommen seiner zu bedenken, denn Horior setzte soeben seinen anderen legendären Angriffs-Takran gegen ihn ein.
Instinktiv setzte auch Eogil den seinigen ein, um sich vor Horiors Angriff zu schützen, doch es kam nicht so weit, dass er sein Körper vollkommen einhüllen konnte. Nicht nur sein Schattenschild war augenblicklich verschwunden, sondern auch der Angriff Horiors hatte sich aufgelöst. Das letzte Mitglied der Stillen Bruderschaft war soeben gestorben. Auch Schatten tot.
Das war kein Zufall. Was ging hier vor?
,Nametsat karft naset kloeps post...‘
Mehr konnte Horiors Gedankenstimme nicht mehr sagen, da in diesem Augenblick der Takran der Gedanken auf seiner Stirn verblasste. Zaroir war ebenfalls gestorben. Ohne zu wissen was hier gerade vor sich ging ahnte Eogils Schlimmes.

Kapitel 24 - Mepanuk



Unter Windeseile legte er seinen Weg zurück. Obwohl er die enorme Geschwindigkeit stets gewohnt war, so war er doch nie an die Grenzen seiner Möglichkeiten gestoßen. Jetzt versuchte er noch den Rest seiner Fähigkeiten ans Tageslicht zu bringen. Mepanuk hatte eine Aufgabe von essentieller Wichtigkeit zu erfüllen und dabei floss ihm buchstäblich die Zeit durch die Finger. Welch eigentümlicher Gedanke: Derjenige der über den Lauf der Zeit entscheiden konnte, soll zu wenig davon haben. Niemand konnte schneller einen solch enorm weiten Weg zurücklegen. Niemand in einer solch kurzen Spanne. Jedoch hatte er eine lange Strecke zu bestreiten und so viel Weg er auch zurücklegte, ihm blieb genügend Zeit um sein Leben zu überdenken. Und der Zeitpunkt hätte besser nicht gewählt sein können.
Mepanuk war ein Mensch, der sich allen weltlichen Dingen entsagt hatte. Er wollte frei und ungebunden sein. So frei wie ein Vogel. Hingehen wo er wollte und tun wonach ihm eben im Sinn war. Doch gab es stets Dinge von denen der Mensch abhängig war. Schon in seinem frühen Leben hatte er erkannt um welche es sich dabei handeln: Diese waren Essen und Trinken, die Suche nach einem Lager für die Nacht und nicht zu vergessen: Kleidung. Um diese drei Bedürfnisse permanent zu decken, hatte er im Laufe des Lebens mehr oder weniger eine Lösung gefunden.
Um gegen das Hunger- und Durstgefühl anzukommen gab es einen Nahrungs-Takran. Dieser erlaubte es ihm all seine Bedürfnisse nach Nahrung und Wasser zu decken. Einen Takran der ihm die Kleidung ersetzt gab es nicht, doch einen solchen hatte er auch nicht nötig. Mepanuk hatte dieses Problem auf eine andere Weise gelöst. Er hatte einfach seine Ansprüche heruntergeschraubt. Welchen Wert hatte es schon seinen Körper mit teuren Gewändern zu bedecken? Den einzigen Sinn den Kleidung zu erfüllen hatte, war der seine Blöße zu bedecken und in seinem Fall auch seine Takrane. Das Leben in der Garderobe eines Bettlers war rückwirkend betrachtet eine der gravierendsten aber besten Entscheidungen seines Lebens. Zudem hatte er sich auch noch einen Veränderungs-Takran machen lassen um den Schleier seiner Identität vollends zu verbergen. Mit dem Auftreten eines Bettlers konnte er swie ein Fisch in den Massen untertauchen. Er war für die ,Höheren‘ beinahe unsichtbar. Niemand wollte etwas mit dem armen Bettler-Gesindel zu tun haben. Ein Vorteil den man erst erkennt sobald man ihn gelebt hat. Natürlich muss dieser enthaltsame Lebensstiel, frei von jedem Luxus und jedes Zeitvertreibs demjenigen auch entsprechen. Für Mepanuk war es genau das Richtige. Er wollte schließlich ein freies Leben führen und er wollte von allen Dingen unabhängig sein.
Für das dritteBedürfnis hatte er ebenfalls keinen Takran gegeben. Es gab nun mal keine Fähigkeit, die es ihm erlaubt hätte den Schlaf zu überbrücken. Es gab einen Ausdauer-Takran und einen solchen trug er auch, doch dieser verlieh ihm nur die Fähigkeit bei körperlichen Anstrengungen nicht zu ermüden. Der Körper braucht die Stunden des Schlafes um sich zu regenerieren und zu erholen. Das war der einzige Makel an Mepanuks allumfassenden Unabhängigkeit. Um zu schlafen brauchte er ein Bett, für ein Bett brauchte er Geld und um Geld zu erlangen musste er sich eine Arbeit suchen und diese Arbeit stand im Widerspruch zu seiner hoch geschätzten Freiheit. Ein Kreislauf den Mepanuk über alles hasste und aus dem er schon bald eine Lösung gefunden hatte.
Anfangs hatte er einen Posten als Eilbote angenommen um für die finanziellen Mittel aufzukommen. Dies war eine Arbeit, die genau auf seine Fähigkeiten zugeschnitten war. Es war zwar kein ungefährlicher Beruf, da zu Zeiten der alchemistischen Kriege man mit allem rechnen musste. Damals waren die Homunculi, die künstlichen, im Reagenzglas erschaffenen Menschen überall verstreut und bei jeder Quelle musste man sich fragen, ob das Wasser genießbar war, oder ob es mit irgendwelchen vergifteten Mixturen versehen war. Doch es war nicht das Wasser, dass den Eilboten das Leben gekostet hatte, es waren stets die Homunculi gewesen. Manchmal waren die Wege lang und der menschliche Körper brauchte nun mal seinen Schlaf.
Mepanuk jedoch war der beste Eilbote des Idoranischen Reiches und niemand hätte ihm diesen Titel streitig machen können. Niemand wäre auch nur ansatzweise an seine Geschwindigkeit herangekommen. Durch seinen Ausdauer-Takran und seiner enormen Geschwindigkeit hatte er nie Rast machen müssen und so war kein einziger Humunculus an ihn herangekommen.
Seine Dienste waren schließlich in allen drei Reichen begehrt. Schließlich hingen manchmal viele Leben an nur einen überlieferten Brief. Mepanuk war gefragt und man war bereit ihm jeden Preis zu zahlen. Er hätte ein reicher Mann werden können doch auch diese Tätigkeit füllte ihn nicht aus. Er musste stets abrufbereit sein und war stets gezwungen das zu tun was man ihn auftrug. Das war keinen Freiheit, aber er musste in den sauren Apfel beißen.
Die Lösung für dieses Problem löste sich erstaunlicherweise wie von selbst. Es war wie zuvor bei dem Bedürfnis der Kleidung. Ein einfaches Umdenken war nötig und schließlich ist es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Auch hier musste er einfach nur seine eigenen Ansprüche herunterschrauben. Es war das Leben seiner geringen Maßstäbe, das ihm dieses Wissen gelehrt hatte.
Um in der Masse unterzutauchen hatte er eines lernen müssen. Es hatte nicht gereicht nur die passenden Kleider zu tragen. Wichtig waren auch das Verhalten und das Auftreten eines Bettlers. Es war schließlich irrsinnig mit zerlumpten Kleidern durch eine Stadt zu stolzieren als wäre man der Jarl persönlich. Um diese Personen perfekt zu imitieren, musste man zuerst ihr Verhalten kopieren, man musste eine ganz eigene Art von gebeugtem Gang gehen und stets ein mittleidiges und armseliges Gesicht ziehen. Erst dann wurde man auch als ein solcher anerkannt und erst dann konnte man in der Menschenmenge wie ein Fisch untergehen. Doch mit einer solchen Verhaltensweise kam auch der entsprechende Schlafplatz.
Mit einem solchen Auftreten und einer solchen Kleidung konnte man keine Gaststätte mehr betreten. Wenn man über ein kleines Vermögen an Geld verfügte und mit diesem eine Unterkunft bezahlen mochte, wurde man sofort mit misstrauischen Augen betrachtet. Als würde hier etwas nicht mit rechten Dingen zugehen. Als hätte man dieses Geld gestohlen, oder wäre auf unehrliche Weise dazu gekommen. Außerdem waren Menschen, wie Mepanuk es vorgab einer zu sein, nicht gerne in solch sauberen und angesehen Stuben gesehen. Hier konnte man selbst über viel Geld verfügen. Galt man als minder, war man auch minder und eine Schande für das Auge. Anfangs hatte dies Mepanuk in der Brust geschmerzt, doch schließlich hatte er daraus die Lösung seiner Probleme gezogen. Er schlief einfach auf den Straßen, auf den Feldern und in den Wiesen. Anfangs war es ungewohnt und unangenehm, aber er hatte sich daran gewöhnt. Hitze und Kälte machten ihm nicht das Geringste aus, denn dafür hatte er die passenden Takrane an den richtigen Stellen und somit war er stets von jeglicher Temperatur geschützt. Das Einzige was störte war der Regen, aber meistens gab es ein Plätzchen an dem er sich zur Ruhe legen konnte und auch geschützt vor dem vielen Wasser war.
Somit hatte sich sein Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit vollends erfüllt. Er brauchte weder zu Essen, noch zu Trinken, Kleidung war für ihn nicht von Wert und seine Schlafstatt war der Ort an dem er sich gerade befand. Schließlich, was genau zu dem Zeitpunkt war, als der Krieg sein Ende nahm, hatte er seine Tätigkeit als Eilbote an den Nagel gehängt. Von nun an begann ein neues Leben für ihn. Ein vollständiges Leben in seiner hoch geschätzten Unabhängigkeit. Er zog sich aus der Gesellschaft zurück und verbrachte seine Tage in Wanderschaft. Er besuchte ferne Städte und noch nicht erkundete Plätze und lernte viele Eigenheiten der Welt kennen. Doch so sehr er sich dieses Ziel ersehnt hatte, mit der Zeit wurde es immer öder. Indem er sich allen weltlichen Dingen entsagt hatte, war ihm nichts mehr geblieben. Für was lebte er eigentlich noch? Es gab nichts mehr, für das es sich zu streben gelohnt hätte. Es war alles eintönig geworden, alles fad und langweilig. Die Jahre der Einsamkeit hatten ihn vereinsamt und die Melancholie drohte ihn zu erdrücken. So sehr er sich diesen Lebensweg gewünscht hatte, es war kein Weg, auf dem er weiterhin voranschreiten wollte. Es musste sich etwas ändern, ansonsten wäre er an diesem schrecklichen leeren Loch in seiner Brust gestorben.
So hatte Mepanuk beschlossen wieder ins gesellschaftliche Leben zurück zu kehren. Wieso er sich gerade für Venundur entschieden hatte wusste er nicht. Vermutlich war es die gegenwärtige Armut in dieser Gegend. Gerade Horior, derjenige der Frieden brachte, hatte die Macht ergriffen, das Volk verarmen lassen und sich nicht um ihr Wohl gekümmert. Venundur war nur noch eine Stadt, bestehend aus Bettlern. Eine Stadt in der nur seinesgleichen lebte.
Wie Mepanuk schließlich von den legendären Takranen erfahren hatte konnte er gar nicht mehr genau sagen. Irgendjemand hatte irgendwer etwas von einem Gespräch erfahren, dieser hatte es wieder irgendjemand anders erzählt, der es einem von Mepanuks wenigen Freunde weitererzählt hatte. Das war der Moment in dem Mepanuk hellhörig geworden war. Takrane, die mächtiger waren als andere, unvergleichbar mächtig sollen sie sogar sein. Und sie sollen in blauer Farbe leuchten. Nicht in roter, so wie es bei jedem anderen Menschen war, sondern in genau der selben Farbe, wie Mepanuk einen trug. Und dann wusste er, dass sein Leben wieder einen Ziel bekommen hatte. Welches Ziel es genau war, vermochte er nicht zu sagen, aber er wusste, dass es etwas mit seinem Takran zu tun hatte.
Wie eine Fliege hatte er unter dem Netz der Spinne gehaust. Er wusste genau, dass Horior nach diesen besonderen Takranen suchte und er war stets in unmittelbarer Reichweite gewesen. Mepanuk hatte auch alle möglichen Vorkehrungen getroffen, nicht erkannt zu werden. Er hatte weiterhin sein Leben als Bettler fortgesetzt. Wie gesagt, ein unsichtbares Leben. Niemand interessierte sich für die unterste Schicht. Es sei denn, man wollte sich am eigenen Wohlstand ergötzen. Außerdem hatte keiner das Wissen um seinen wahren Takran. Jedem hatte er Glauben machen lassen, dass sein eigener ein Veränderungs-Takran war. Einen Takran an einer solch ungünstigen Stelle konnte niemand gebrauchen und rechtfertigte sein gespieltes armseliges Leben. Der Tyrann, der über Venundur herrschte, hätte ihn nicht einmal verdächtigt wenn Mepanuk vor ihm gestanden wäre. Schließlich war es nur logisch, dass Menschen mit mächtigen Takranen, auch hohe Positionen inne hatten und im Weltgeschehen allgemein bekannt waren. Letztlich waren sie jedoch mit Bestimmtheit aufgrund ihrer Fähigkeiten bekannt. Dennoch war es Mepanuks höchste Priorität sich bedeckt zu halten. Niemals wollte er den trügerischen Mantel der Unsichtbarkeit ablegen und sein freies und unabhängiges Leben aufs Spiel setzen. Mepanuk hatte genug erfahren, um schlussfolgern zu können was mit ihm geschähe, würde Horior ihn in die Finger bekommen. Grundlos eingesperrt hätte er ihn, genau wie diese eine Frau, von der er gehört hatte und die ebenfalls einen dieser legendären Takrane besitzen soll. Nein, soweit würde er es niemals kommen lassen. Dafür waren ihm seine selbstgewählten Ideale zu hoch.
Schließlich hatten seine Vögelchen ihm etwas von einem weiteren der legendären Takrane gezwitschert. Ein Takran der sich in einer Stadt namens Nefarin aufhalten soll. Anfangs hatte er über Horior gelacht. Eine streng geheime Operation sollte es sein und er hatte es auf einem erstaunlich einfachen Weg erfahren. Mepanuk hatte sich in Sicherheit gewogen und nichts von der Falle geahnt, die ursprünglich für jemand anders gelegt worden war.
Er hatte sich gefreut, denn aus zuverlässigen Quellen hatte er erfahren, dass sich Horior noch immer in seinem Schloss befand und dass er vor hatte selbst in die besagte Stadt zu reisen. Dies war Mepanuks Vorteil. Niemand war so schnell wie er. Er würde schon lange vor ihm ankommen und er wollte diese Person finden, warnen und vielleicht noch das ein oder andere über diese besonderen Takrane in Erfahrung bringen, was seine Spitzel ihm noch nicht berichtet hatten.
Es war schließlich der Ort geworden an dem alles begonnen hatte. Hier hatte er Sahinja getroffen und hier hatte sein Leben eine neue Richtung eingeschlagen. Anschließend verlief sein Leben wahrhaftig sprunghaft. Sahinja hatte ihn zu dem sagenumwobenen Eogil geführt und anschließend waren sie einem Kopfgeld-Jäger in die Arme gelaufen. Dann hatten er dieser einfältigen Person auch noch das Leben retten müssen, indem er sie quer durch das Nichts getragen hatte und nur durch puren Zufall auf ein alchemistisches Lager gestoßen war. Nach dieser kurzen Unterbrechung hatten sie schließlich ihr Ziel erreicht. Das Daugus Gebirge. Hier sollte sich in einem Labyrinth ein Mann namens Zaroir aufhalten, der ihm Schutz vor Horior bieten konnte. Mepanuk bedurfte diesem Schutz nicht wirklich, da er für Horior ohnehin unsichtbar war, doch sein Leben im Verborgenem hatte ihn wieder zu langweilen begonnen und was konnte schon zusätzlicher Schutz schaden?
Doch auch bis hier hin war ihm die Einsamkeit und die Melancholie gefolgt. Und schließlich hatten es Horiors Männer auf unerklärlicher Weise geschafft ihn und Zaroir in seinen eigenen Gängen einzukesseln und ihn gefangen zu nehmen. Der vermeintliche Schutz hatte sich als ihr Verhängnis dargestellt. Wie dumm er doch gewesen war, er war auf eine Takran-Falle getreten. Wäre er doch nur unsichtbar geblieben. Horior wäre nie auf ihn aufmerksam geworden. Und hätte er doch von ihm Wind bekommen, wäre er ihm einfach weggelaufen, darauf verstand er sich schließlich am besten. Aber es war ganz anders gekommen: Man hatte ihn gemeinsam mit Zaroir in einer von Horiors unzähligen Festungen geworfen und da sollten sie bis ans Ende ihrer Tage schmoren. Doch das Blatt hatte sich abermals gewendet. Ein eigenartiger Kauz hatte sie von der Gefangennahme befreit. Und dieser eigenartige Kauz war nicht irgendjemand gewesen. Er war ebenso bekannt wie die Könige der drei verschiedenen Reiche und es gab ebenso viele Geschichten über ihn zu erzählen wie über den glorreichen Lord Eogil. Es war der sagenumwobene Seher. Opheustos höchst selbst war zu ihnen gekommen und hatte sie von ihren Fesseln befreit.
Doch im daraufhin hatte sich seine Lage nur noch verschlechtert. Viel schlimmer war es seinem kurzfristig erworbenen Freund Zaroir ergangen. Dieser hatte vor Wut getobt. Mepanuk hätte diesem alten Greis mit den langen weißen Bart und seinen langen weißen Haaren eine solche Ausgelassenheit gar nicht zugetraut und erst recht nicht die unglaubliche Anzahl der nicht enden vollenden Flüchen, die er dem Seher an den Kopf geworfen hatte.
Aus ein paar der wenigen Gespräche hatte Mepanuk erfahren, wie Zaroir zu der Alchemie stand und was er von der Alchemisten hielt. Bei ihm war die Abneigung sogar um weiten ausgeprägter, als bei der breiten Masse. Er hielt sogar noch weniger als Sahinja von diesen verrückten Menschen und sie hatte schon eine starke Abneigung diesen gegenüber gezeigt.
Als Opheustos Zaroir einen Trank gegeben hatte, der ihm selbst zu einem solchen Wesen gemacht hatte, wäre Mepanuk vor lauter Unglauben beinahe das Herz stehen geblieben. Kein gutes Haar hatte Zaroir mehr an seinem alten Freund gelassen, wie ein besessener hatte er über dieses Vergehen geflucht und das war noch nicht einmal das Schlimmste gewesen, was Opheustos von ihm verlangte. Weiters forderte er auch noch den Tod seines langjährigen Freundes. Wäre jeder andere vor Mepanuk gestanden, er hätte ihn für verrückt gehalten, doch bei dieser skurrilen Person handelte es sich schließlich um Opheustos, dem großen Seher. Es war schon richtig, dass er drei dieser alchemistischen Takrane besaß, doch trotz seines Irrsinns, konnte man behaupten, dass er noch einigermaßen bei Verstand war. Er wusste in welcher Welt er lebte und die Dinge und Visionen die er von sich gab, bewahrheiteten sich stets. Beinahe wäre es so weit gewesen, dass auch Mepanuk an ihn zu zweifeln begonnen hätte. Doch als Opheustos seinen Plan erklärt hatte, wurde ihm alles klar und Mepanuk wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab und dass sie nach seinen Weisungen handeln mussten.

„Und wie stellst du dir das genau vor, du alter Dämlack?“, hatte Zaroir verbissen gefragt.
„Du teilst ihnen einfach unsere Pläne mit.“, antwortete ihm Opheustos gelassen.
„Oh ja, das hört sich nach einem tollen Plan an. Ich werd mich einfach mit meiner Gedankenstimme in den Geist eines mir Unbekannten hängen und ihm sagen, er möge sich bitte das Leben nehmen. Wirklich, ein ausgeklügelter Plan.Warst du besoffen als du dir das ausgedacht hast? Und bist du dir sicher, dass dir deine alchemistischen Takrane nicht auch noch das letzte bisschen Hirn aus dem Schädel gefressen haben?“
„Aber, aber mein alter Freund, du scheinst immer einen entscheidenden Punkt bei dieser Sache zu vergessen.“
„Du der wäre?“
„Ich bin ein Seher, ich weiß bereits, dass dieser Plan funktionieren wird.“
„Ich bin ein Seher... ich bin ein Seher...“, äffte Zaroir ihm nach. „und ein ein Alchemist bin ich auch, bla bla bla... Du bist ein geisteskranker Irrer wie all die anderen Verrückten.“
„Aber, aber, wer wird denn gleich mit seinen Schlägen unter die Gürtellinie zielen.“
„Du hast mir mein rechtes Ohr genommen! Du hast aus mir verdammt noch mal einen Alchemisten gemacht. Ich habe allen Grund sauer auf dich zu sein!“
„Ich habe dir schon hundert mal erklärt, dass ich keine andere Wal hatte! Und jetzt hör endlich mit diesem Gegacker auf, uns läuft die Zeit davon!“
„Oh, du meinst ich soll den Leuten endlich die frohe Botschaft mitteilen und ihnen sagen, dass sie sich den Hals umdrehen sollen! Das kannst du getrost noch mal vergessen. Selbst wenn ich es schaffen würde mit ihnen auf diesen kuriosen Weg Kontakt aufzunehmen, bin ich mir sicher, dass sie nicht so einfach nach meiner Pfeife springen werden.“
„Du willst doch nicht ernsthaft einem Seher erklären, wie sich die Zukunft verhalten wird.“
„Ach sei doch still mit deinem dämlichen Seher-Getue.“
„Ich habe selbstverständlich mehrmals den Blick in die entsprechende Richtung geworfen und bin durch ein paar Abänderungen der gewählten Worte auf die richtige Zusammenstellung gekommen. Unserem Ziel steht nichts mehr im Wege.“
„Unserem Ziel? Unserem Ziel? Das ist alleine dein Ziel und ich bin hier derjenige der die gesamte Drecksarbeit machen muss. Ich bin derjenige, der die anderen in den Tod schicken soll!“
„Du magst schon recht haben mein Freund, aber bedenke die Alternative die sich daraus schließt. Die Menschen würden zugrunde gehen und diejenigen die du zu verschonen gedenkst würden ebenfalls den Tod finden.“
„Wenn dein Plan überhaupt funktioniert, oder was hast du da vorhin daher gefaselt...“
„Ja, es mag schon sein, dass mein Vorhaben immer noch Lücken aufweist und selbst wenn es Sahinja und Eogil gelingt ihm den ersten Takran zu nehmen und selbst wenn unser Vorhaben glückt und wir ihn auf das Möglichste schwächen, ist er immer noch unverwundbar und ein vollständiger Alchemist. Ob Horior aufgehalten werden kann hängt von Dingen ab, die nicht einmal ich voraussehen kann. Aber auch dafür habe ich Vorkehrungen getroffen und wenn wir Glück haben, kann die Menschheit gerettet werden. Hab Vertrauen mein Freund, die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt.“
„Glück, Vertrauen, Hoffnung,... Was ist aus dem genau kalkulierenden und zielgenau vorausgeplanten Mann geworden, der du doch einmal warst. Für jedes Problem hattest du die richtige Antwort parat. Glück hattest du noch nie gebraucht, du wusstest um die Dinge und ihren Verlauf stets im Voraus bescheid. Vertrauen hattest du nur in deine eigenen Fähigkeiten und das Begriff Hoffnung war für dich ein Unwort.“
„Auch ich habe schließlich jemanden gefunden, der mir das Wasser reichen kann. Ein Kontrahent auf meinen Horizont, wenn man so sagen will. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Das ist die einzige Chance die wir haben.“
„Ja, schon gut, dann machen wir es eben. Schicken wir ein paar Unschuldige in den Tod. Lassen wir die alten Zeiten noch einmal hochleben. Hey das wird vielleicht ein Spaß.“, sagte Zaroir in einer schmerzverzerrten Form von Selbstironie.“

Hatte es Opheustos doch tatsächlich geschafft seinen alten Freund zu überreden. Und wem wundert es auch. Er hatte sicherlich schon die Worte vorausgesehen, deren es bedurfte, Zaroir von seinen Dingen zu überzeugen. Genauso war es auch mit den anderen Personen, die über die legendären Takrane verfügen. Hierbei handelte es sich lediglich um drei, welche Zaroir zu überreden hatte. Für jeden hatte Opheustos die passenden Worte parat.
Bei der ersten Person soll es sich um eine alte Frau gehandelt haben, welche die letzten Jahre ihres Lebens hinter Gittern verbracht hatte und über den Takran der Vergangenheit verfügen soll. Laut Opheustos sehnte sie sich den Tod schon lange herbei und Zaroir hätte leichtes Spiel bei ihr.
Die zweite Person welche Zaroir zu überreden hatte, war ein Mann der den eigenartigen Namen ,Träger‘ trug. Noch eigenartiger war sein Aufenthaltsort. Er soll sich im nördlichsten Teil Isbirs befinden in den Hallen zu Sheyrs. Keine Ahnung was Opheustos damit gemeint hatte, aber laut ihm soll er der letzte Überlebende der Stillen Bruderschaft sein. Auch bei ihm hatte Zaroir leichtes Spiel, da er Zeit seines Lebens irgendeine Ausbildung absolviert hatte und auf ein solches Ereignis vorbereitet worden war. Hätte Mepanuk nicht um den vergleichsweise guten Geisteszustand Opheustos‘ gewusst, hätte er es für das verrückte Gerede eines Alchemisten gehalten.
Die dritte Person kannte Mepanuk sogar persönlich. Es handelte sich um Trubar von den Lichtkriegern. Er hatte sich überlegt, ob die Zeit seiner Unabhängigkeit nicht in der Festung der Lichtkrieger verbringen sollte. Doch dies wäre seinem Bedürfnis nach Freiheit im Wege gestanden. Es war noch zu der Zeit, zu der er sich von jeglicher Menschenseele abgewandt hatte und bei den Lichtkriegern hätte man ihn sicherlich für die eine oder andere Aufgabe eingesetzt. Dann doch lieber das Leben als Bettler. Welch Ironie, dass er erst jetzt erfahren hatte, dass Lord Trubar ebenfalls einen legendären Takran trug. Hätte er dies viel früher erfahren, wäre sicherlich vieles für ihn anders gekommen.
Doch zurück zu den Überredungskünsten, die Zaroir bei ihm anzuwenden hatte. Laut Opheustos, bedürfe es auch bei Trubar keinen großen Aufwand, da er seiner Meinung nach an ehrenwerter und ebenso selbstloser Mensch war. Dem konnte Mepanuk aus eigenen Erfahrungen nur beipflichten. In Trubar hatte er oft denjenigen gesehen, den er sich als den glorreichen Eogil vorstellte. Bei ihm brauchte er nur auf sein Gewissen und sein Sterben für das größere allgemeine Wohl appelliere und schon würde er folgen wie ein Lamm.
Es war erschreckend mit welcher kaltblütigen Leichtigkeit Opheustos Zaroir anwies, wie er genau vorzugehen hatte. Mepanuk rann der kalte Schweiß den Rücken herab, bei diesen unheilbringenden Botschaften. So einfach wurde der Grundstein für das Auslöschen dreier ehrenwerter Leben gelegt. Doch damit wäre es nicht genug. Er handelte sich hierbei schließlich lediglich um drei der legendären Takrane. Insgesamt gab es allerdings zehn, dieser besonderen Teilstücke. Sahinja Eogil und Horior brauchten sie nicht hinzuzählen, diese spielten ihr eigenes Spiel. Opheustos und Zaroir würden sich mit Bestimmtheit ebenfalls der altruistischen Handlung hingeben, welche sie den anderen geraten hatten. Blieben also noch zwei. Einer dieser beiden war verständlicherweise Mepanuk selbst und der andere war ein alter, unangenehmer Bekannter und das war der Part der Mepanuk zugedacht war.
Den Kopfgeld-Jäger würde Zaroir nicht überreden können. Laut Opheustos war er jede Art des Gespräches mit ihm durchgegangen. Doch wie er es ihm auch beigebracht hatte, sein Egoismus und seine Selbstherrlichkeit waren zu groß, um eine solch aufopfernde Tat von ihm zu verlangen. So hatte Opheustos Mepanuk angewiesen was er zu tun hatte und wie er es zu tun hatte. Nach Opheustos‘ Plan musste er sich von Zaroir den Takran geben lassen, um somit eine ganz besondere Fähigkeit zu erhalten. Aanfangs hatte er wieder an den Irrsinn eines Alchemisten gedacht, doch sobald er Zaroirs Takran an der Stirn übernommen hatte, verstand er was Opheustos damit gemeint hatte und er verstand auch wovon diejenigen sprachen, welche zwei oder mehrere der legendären Takrane trugen. Ständig hatten sie immer von irgendwelchen Fäden gesprochen, die durch die Welt gezogen seinen, jetzt sah er sie auch und verstand instinktiv was auch alle anderen verstanden. Das würde die Gabe sein, mit der er den Kopfgeld-Jäger erkennen konnte. So konnte man den Unsichtbaren sichtbar machen.
Noch bevor Mepanuk den Kerker verlassen hatte, hatte Opheustos ihm wortlos einen Trank in die Hand gedrückt. Um was es sich dabei handelte, brauchte Mepanuk nicht zu erfragen. Er hatte ein solches Geschehnis schon längst geahnt. Außerdem gehörte dies, seiner Meinung nach, zu den Dingen, die man nicht erfragten sollte.
Es war genau der Weg, den man einschlagen musste um Mepanuk zum Handeln zu bewegen. Noch immer liebte er seine Freiheit über alles andere auf der Welt und hätte Opheustos nur ein Wort gebraucht ihn zu überzeugen und ihn gegen seinen Willen versucht nach seinen Wünschen zu formen, er hätte es ihm ausgeschlagen. Keiner seiner vorausgesehen Worte hätte ihn dazu bewegten können, etwas von ihm zu verlangen. Aber das musste der große Seher schließlich gewusst haben. Er hatte ihm einfach den Trank, der sein Leben enden würde in die Hand gedrückt. Mepanuk hatte ihn wie selbstverständlich entgegengenommen und er hatte gewusst was zu tun war. Ach, hätte Opheustos ihn doch nur zu überreden versucht, Mepanuk hätte ihn mit Freude jegliches Bitten abgeschlagen. Aber der große Seher hatte genau den einen Weg gefunden, der ihn zum Handeln bewegte.
Was war er doch für ein eigenartiger Querkopf. Sein Leben lang war er ein Aussenseiter gewesen. Er hatte nicht wirklich Freunde gehabt und die Gegenwart von anderen Menschen hatte er stets gescheut. Nie hatte er das Bedürfnis gehabt sich ein gemeinsames Leben mit dem weiblichen Geschlecht aufzubauen. Nie war ihm in den Sinn gekommen eine Familie zu gründen, oder anderweitig, ein Leben in Gesellschaft anderer zu führen. Er war ein Sonderling und Mepanuk wusste nicht, ob er seinen jetzigen Lebensweg bereuen sollte. Obwohl er das höchste Ziel erreicht hatte, das er sich in seinem Leben gesetzt hatte, schien es ihm, als würde seinem Leben noch etwas fehlen. Doch er war ein einsamer Wolf und der würde er auch bleiben. Vielleicht war auch alles, so wie es gekommen war, Schicksal. Wie lächerlich. Mepanuk war nicht abergläubisch. Er glaubte nicht ans Schicksal.
Er sollte sich wieder vermehrt auf das Laufen konzentrieren. Mepanuk war für gewöhnlich kein großer Redner und er war ebenso ein kein großer Denker. Sein Leben der Freiheit und der Unabhängigkeit hatten ihm auch die Einsamkeit gebracht und wer keine Bedürfnisse mehr hatte, der hatte auch keine Gedanken darüber und eben diese Gedankenlosigkeit hatte ihm befreit von den weltlichen Sorgen. Er sollte sich wieder seiner Gedankenlosigkeit hingeben.

Plötzlich wurde Mepanuk langsamer. Hier war die Lichtung, die Opheustos ihm beschrieben hatte, hier wuchsen die hunderte von blauen Frühlingsblumen, dessen Name Mepanuk nicht kannte. An der höchsten Stelle der Lichtung wuchs ein hoher Baum, dessen Baumkrone breit und dicht war. Ja, Mepanuk wurde sich mit erschreckender Gewissheit bewusst, dass er sein Ziel erreicht hatte. Schon bald würde er das Richtschwert schwingen und schon bald würde auch er aus dem Leben treten. Sein Ende nahm er mit dem Humor eines Todgeweihten, nichts anderes war aus ihm geworden. Mepanuk hatte furchtbare Angst, dennoch versuchte er ein Lächeln auf seinen Lippen zu tragen. Er war Zeit seines Lebens ein Feigling gewesen, zumindest in seiner letzten Stunde sollte es ihm nicht an Mut fehlen.
Laut Opheustos hatte sich Mepanuk nun leise zu bewegen. Es war niemand zu sehen, doch die Fäden die er nun mittels Kombination aus Zaroirs Takran und seinem eigenen sehen konnte, sagten ihm genau, dass etwas unter dem Baum an der Spitze der Lichtung nicht stimmte. Langsam zog er das Schwert, dass er bei einem der schlafenden Wachen mitgehen hat lassen und machte sich auf Samtpfoten zu der eigenartigen Stelle.
Was dem gewöhnlichen Menschen entging, war der Täuschungsversuch des Kopfgeld-Jägers. Hier hielt er im Schatten des Baumes sein Schläfchen und wählte sich in trügerischer Sicherheit. Die Gabe der Fäden hatten ihn verraten und nun würde Mepanuk seinen Todbringer spielen müssen. Mepanuk hatte noch nie einen Menschen das Leben genommen und er hätte sich nie vorstellen können, dass es einmal so weit kommen würde. Vielleicht dass ihm aus Notwehr ein tödlicher Schlag glücken konnte, aber hier stand er wie ein Henker vor dem Richtblock. Einen Wehrlosen das Leben zu nehmen wahr wohl das Schändlichste was ein Mensch tun konnte. Doch wusste er genau, dass er in einem offenen Kampf nicht die geringste Chance gegen den listigen Krieger hatte. Außerdem würde er nicht anders mit ihm verfahren, hätten sie die Plätze getauscht.
Bedächtig und mit so viel Zeitaufwand wie Mepanuk sich nehmen konnte, untersuchte er den Boden. Obwohl er diese Tat schon längst hinter sich haben wollte, versuchte er sich so viel Zeit wie möglich vor dieser schrecklichen Tat zu verschaffen. Er musste ihn beim ersten Schlag tödlich treffen, ansonsten würde er erwachen und Mepanuks Vorhaben wäre vereitelt. Durch die Fäden wusste er zwar ungefähr wo er sich befinden musste, doch konnte Mepanuk nicht genau sagen, wo sein Kopf anfing und seine Füße endeten. Durch das niedergedrückte Gras, auf dem er lag konnte er allerdings seine ungefähre Lage erahnen. Als er sich dessen vollkommen sicher war hielt Mepanuk inne. Dann, wie als würden seine Hände ohne sein Zutun den Schlag ausführen, vollführte er den tödlichen Hieb.
Das Gras war schlagartig rot gefärbt und sogleich wurde auch der Besitzer des vielen Blutes sichtbar. Mepanuk drehte sich im schieren Entsetzen von dem schrecklichen Anblick weg. Was hatte er bloß getan? Was war in ihm gefahren? Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Mit klammen Finger griff er zu dem Trank den er am Gürtel befestigt hatte und trank ihn in einen Ruck leer. Dann traf ihn die Erkenntnis: Was hatte er jetzt schon wieder getan? War er denn vollkommen von Sinnen? Panik machte sich in ihm breit und ihm wurde zumal schwindelig. War das sein Ende? Mepanuk kannte bereits die Antwort.
Doch dann wurde er wieder ruhiger und seine soeben aufgekeimte Panik verflog. Mepanuk hatte richtig gehandelt und das wusste er auch. Er war nur ein kleines Stück in dem großen Puzzle des Seher, doch er war ein bedeutendes. Ohne sein Zutun wäre die Menschheit verloren. Mepanuk wurde müde, er musste sich niedersetzen. Obwohl er sich das Ende seines Lebens anders vorgestellt hatte, wusste er, dass es gut so war. Dann schlief er ein.

Kapitel 25 - Der finale Kampf (Teil 2/2)



Den Schrecken, den Eogil geahnt hatte, war gerade dabei sich zu betätigen. Ohne sich genauere Gedanken zu machen wer wohl der Drahtzieher hinter dieser ganzen Sache war, hatte er sofort den großen Seher in Verdacht. Ihm war klar, dass Opheustos sie, wie Kleinkinder an ihrer Nase herumgeführt hatte. Eogil hatte stets gedacht die Zügel fest in Händen zu halten, doch nun belehrte ihn Opheustos eines besseren. Wie er es geschafft hatte wusste er nicht, doch er hatte es vollbracht, dass manche der Träger der legendären Takrane aus dem Leben schieden und wenn sich Eogils Vermutungen bestätigten, so würde dieses unheilvolle Sterben noch nicht zu Ende sein.
Zuerst war es Sahinja gewesen, dann Trubar, Schatten, Zaroir und jetzt verschwand soeben der Takran der Vergangenheit. Eogil hatte noch nicht einmal genug Zeit gehabt, diese alte Dame, die er und Sahinja aus den Kerkern von Sofirot befreit hatten, kennen zu lernen. Welch trauriger Gedanke, dass ihre Freiheit nur von so kurzer Dauer gewesen war. Dass sie sich den Tod herbeigesehnt hatte, war für Eogil nicht von Bedeutung. So sollte das Leben nicht enden - für niemandem.
Eogil hatte mit dem Dahinscheiden der alten Bibliothekarin auch seinen sechsten Sinn verloren. Er hatte sich so sehr an diese zusätzliche Fähigkeit gewöhnt, dass es ihm erschien als würde er sein Augenlicht, oder sein Gehör verlieren. Horior hingegen verfügte noch über die Gabe des zusätzlichen Sinnes, da er einen der legendären Takrane mehr als er selbst besaß. Doch wie lange würde er noch über diesen Sinn verfügen? Es war schrecklich seine Gedanken in diese Bahnen zu lenken, doch wenn man die vorangegangenen Ereignisse auf die kommenden schlussfolgerte, so würden vermutlich noch weitere das Leben lassen und Horior und er würden noch weitere Takrane verlieren. Für Horior bedeutet dies obendrein, dass er auch seinen zusätzlichen Sinn verlor. Es war sein letzter Sinn, an den er sich wie ein Ertrinkender klammerte, um nicht vollends den Bezug zur Realität zu verlieren. Würde ihm dieser genommen, so hatte er alles verloren, womit man diese Welt wahrnehmen kann. Dann würde diese Welt für ihn aufhören zu existieren. Er würde nicht mehr wissen was es bedeutete ein Mensch zu sein. Er würde alles nur noch mit seinen veränderten Wahrnehmungssystemen sehen.
Sowohl Eogil als auch Horior benutzen beide Mepanuks Takran um den Verlauf der Dinge so lange wie möglich in die Länge zu ziehen. Horior kämpfte darum seinen Bezug zur Realität aufrecht zu halten und Eogil wollte den Tod seiner Freunde zumindest nach seinem Empfinden so lange wie möglich hinauszögern. Doch auch die gewonnenen Zeit war nur von kurzer Beständigkeit, denn schon verschwand ein weiterer Takran auf Eogils Haut. Es war der Kopfgeld-Jäger, der soeben sein Leben lassen hat müssen. Diese hinterlistige Person hatte drei seiner engsten Freunde auf dem Gewissen, dennoch empfand er Trauer über seinen Verlust. Mit dem Verschwinden des Takrans der Täuschung war somit Horior auch die letzte Möglichkeit genommen sich unter Kontrolle halten zu können. Jetzt hatte er sein letztes menschliches Stück verloren und war vollkommen in der abstrusen Gedankenwelt der Alchemisten gefangen.
Das war jedoch nicht die einzige Auswirkung, die mit dem Verlust des Takrans der Täuschung gekommen war. Horior hatte eben diesen Takran permanent benutzt, um sein äußeres alchimistisches Erscheinungsbild vor jeglicher anderen Person zu wahren. Niemand, außer Sahinja und Eogil hatten jemals in Erfahrung gebracht, wie es wirklich um den größenwahnsinnigen Herrscher bestand.
Diesen Anblick den Eogil jetzt von Horior hatte, entsetzte ihn zutiefst. Er hatte ihn schon zuvor gesehen, wie er diese schrecklich anzusehende Symbole in seinem Gesicht getragen hatte. Doch nun war auch sein Mund zu eines dieser Elemente geworden und all diese Teilstücke hatten sich zusammen in etwas anderes, weitaus Schrecklicheres, verwandelt. Alles Menschliche, welches des Menschen Erscheinungsbild ausmachte, war ihm genommen. Die ekelhaft grünen Linien in seinem Gesicht hatten sich allesamt zu einem Gebilde der Abnormität verstrickt und zeigten ein Bild das so Skurril wie Unwirklich erschien.
Aus Horior war gänzlich etwas anderes geworden. Wenn man alle legendären Takrane zusammen hatte, so war man ein Gott. Man galt nicht mehr als Mensch, sondern als ein göttliches Wesen. Horior trug alle alchemistischen Takrane. Er galt ebenfalls nicht mehr als Mensch, doch was aus ihm geworden war, das konnte niemand sagen.
Weiters: Trug man alle legendären Takrane zusammen, so erhielt man unvergleichbare Fähigkeiten. Fähigkeiten die allmächtigen Wesen zugeschrieben werden und gegen die gewöhnliche Menschen so armselig und schwach waren wie eine verdurstende Heuschrecke. Auch bei dem erweiterten Fähigkeiten gab es eine Überschneidung: Jetzt wo Horior nicht mehr durch den Takran der Täuschung sein trügerisches Bild aufrecht erhalten konnte, sah Eogil um welche Fähigkeiten Horior mächtiger geworden ist. Um ihn herum war eine Aura der Unwirklichkeit. Es war etwas noch nie zuvor Dagewesenes, mit nichts zu vergleichen. Es war die Abwesenheit aller Farben, die Abwesenheit von Helligkeit und Dunkelheit, die Abwesenheit jeglicher Materie, die Abwesenheit von jeglicher Empfindung und die Abwesenheit jeglichen Gedankengutes. Doch das was um Horior war, beherbergte völlig andere Eigenheiten. Eigenheiten, die es nicht geben sollte, die eigentlich nicht existierten und dennoch waren sie um ihn. Was auch immer diese Aura der Abnormität um Horior war, sie war mächtig und todbringend, soviel konnte Eogil erahnen.
Nicht dass der Schrecken dieser Erkenntnis genug war. Horior hatte bisher stets darum gekämpft die Fassung zu wahren und in der realen Welt zu bleiben. Mit dem Verlust seines sechsten Sinnes hatte er die Schlacht verloren und das Wesen, das aus ihm geworden war, machte sich nun seine alchemistischen Fähigkeiten zunutze um den Kampf endlich zu beginnen.
Im Hintergrund spielte sich noch ein weiteres Geschehen ab: Eogil hatte durch Mepanuks Takran genügend Zeit gehabt, um sich seiner Situation vollkommen bewusst zu werden. Doch der Menschenkreis der um ihn und Horior gebildet war, hatte nun ebenfalls diese Erkenntnis getroffen. Sie erkannten nun das Wesen das aus Horior geworden war.
„Ein Alchemist.“, waren mehrere verschiedene Stimmen zu hören.
„Horior ist auch einer dieser Irren.“, sagten andere.
„Wie konnte er nur?“
„Das hätt ich wissen müssen, das konnte ja nicht anders sein!“
„Er hat Tot und Verderben gebracht, wie all die anderen!“
Die Menschenmasse die den ausbrechenden Kampf zwischen Eogil und Horior gebannt zugesehen hatte und nicht einmal zu atmen gewagt hatte, war nun in ein helles Stimmengewirr ausgebrochen.
„Tod dem Alchemisten!“, schrie der eine.
„Horior muss sterben!“, sagten die anderen.
„Seht ihn doch an, der ist kein Mensch mehr!“
Der vorübergehende Friede, den sie mit der Gemeinschaft der letzten Alchemisten geschlossen hatten, schien schlagartig seine Bedeutung verloren zu haben. Die Menschen die Horior in seiner Zeit als Kriegsmeister versucht hatte in die Schranken zu weisen, hatten der Menschheit viel Leiden gebracht. Bestimmt hatte jeder von ihnen zumindest einen Freund oder einen engen Verwandten, durch einen Angriff dieser Verrückten verloren. All ihre Wut schien sich aufzustacheln und sich gegen den Tyrannen zu konzentrieren. Selbst die Sympathie die er gehabt hatte, als er den Frieden gebracht hatte, war ihm durch sein schändliches Handeln schon längst genommen worden.
In diesem Moment der Erkenntnis verlor Eogil einen weiteren der legendären Takrane. Der Takran der Zukunft war von seinem Fuß verschwunden. Jetzt war selbst Opheustos, der große Seher, und der Drahtzieher hinter der ganzen Sache gestorben. Für Eogil war dies wie ein Schlag ins Gesicht, Horior hingegen zollte dieser Erkenntnis nicht das geringste Interesse. Er war nun dieses andere Wesen mit den irrealen Mächten und die legendären Takrane hatten schlagartig sein Interesse verloren.
Eogil wusste nicht was er tun sollte. Er hatte seine Gegenüber immer gut einschätzen können und das war auch stets sein Vorteil gewesen, aber das was Horior nun war, konnte man nicht mehr einschätzen. Wenn er sich bei einer Person nicht sicher gewesen war, so hatte er dessen Gedanken gelesen, doch über diese Fähigkeit verfügte er nicht mehr. Doch dadurch, dass Horior ein Alchmist war, hätte ihm diese Fähigkeit ohnehin keinen Nutzen erbracht. Auch war das Gesicht Horiors vollkommen entstellt, sodass er nicht mehr aus seiner Mimik lesen konnte. Eogil war der Willkür dieses Irren vollkommen ausgeliefert.
Glücklicherweise war noch immer aus den Handbewegungen Horiors zu erkennen was dessen nächstes Vorhaben sein könnte. Mit träumerischen Bewegungen umformte er einen Teil seiner skurrilen Aura und versuchte davon etwas auf Eogil zu werfen. Doch Horior konnte seinen Angriff nicht ausführen. Eben, in diesem Augenblick, war eine Holztüre auf ihn gefallen. Im ersten Moment war Eogil verwundert über dieser Ereignis, doch als er sich umwandte hatte er verstanden. Die sich aufstachelnde Wut der umstehenden Menschen, hatte einen kritischen Punkt erreicht. Irgendjemand der über einen Telekinese-Takran verfügte, oder über einen ähnlichen, hatte anscheinend das erstbeste Objekt anvisiert und es auf den Alchemisten geworfen. Und dieses erstbeste Objekt war eine Türe gewesen. Jetzt wurde auch noch ein Blitzstrahl auf ihn abgefeuert. Dann ein Feuerball, gefolgt von einem Geist-Angriff und schon war die Luft erfüllt von den Angriffen der umstehenden Menschen. Diejenigen, die Horior zuvor noch unterdrückt hatten, lehnten sich nun gemeinsam gegen ihn auf. Und das war nicht nur das unterdrückte Volk, sondern auch seine eigenen Soldaten, welche die einfachen Männer und Frauen in Schach halten sollten. Gerade sie waren es damals gewesen, welche die Schlachten gegen die Alchemisten geführt hatten und gerade sie mussten ihren schlimmsten Feind nun in Horior erkannt haben.
Auch Eogil hätte am liebsten in den Kampf mit eingegriffen, doch die einzigen drei Takrane über die er noch verfügte waren sein eigener, ein elementarer Schutz auf seinem Bauch und Mepanuks Zeit Takran, der ironischer Weise eben in diesem Moment verschwand. Nun gab es nur noch zwei Menschen die einen legendöten Takran besaßen. Armer Mepanuk, wie hatte der Tod wohl ihn ereilt?
Eogil kam sich vor, als wäre er nackt. So wenig Takrane hatte er nicht einmal in seiner frühen Kindheit getragen. Es war ein eigenartiges Gefühl, so angreifbar, so verletzlich. Der große Eogil - hilflos wie ein Neugeborenes.
Die Wut der Unterdrückung machte sich anscheinend nun ihrer vollkommenen Form bemerkbar. Jeder der über einen passenden Takran verfügte drängte sich in die ersten Reihen, um dem Unterdrücker höchst selbst seine Meinung mittels seiner Fähigkeiten zu bekunden. Ein paar mal hatte Eogil seinen Realitäten-Takran einsetzen müssen, um nicht von einem irregeleiteten Angriff getroffen zu werden.
Doch so sehr die Anstrengungen aller Umstehenden auch waren, eine Frage blieb offen: Konnte man jemand der unverwundbar war verwunden? Die Antwort auf diese Frage kam unverhofft in diesem Augenblick. Horiors Aura der Abnormität dehnte sich schlagartig aus und schleuderte alle umstehenden mehrere Längen zurück. Es war Eogil als würde man sein Gehirn herausnehmen, es umdrehen und verkehrt wieder in seinen Kopf zurückstecken. Alles schien falsch zu sein. Stand die Welt gerade am Kopf, oder hatte er das Fliegen gelernt? Waren all seine Körperteile noch vollständig oder hatte sich seine Seele von seinem Körper gelöst? Ihm war schwindlig und schlecht, alles konnte er nur noch verschwommen erkennen.
Sobald Eogil wieder annähernd einen Gedanken fassen konnte, musste er mit Entsetzen feststellen, dass es nichts gab, was Horior aufhalten konnte und dass seine Kräfte immer noch so umfassend waren, dass er es schaffen konnte alles Leben zu vernichten. Eogil musste stark ausatmen um der Übelkeit in seinem Körper entgegen zu wirken. Diesen Kampf konnten sie nicht gewinnen und nun gab es auch keinen Drahtzieher mehr im Hintergrund, der auf wundersame Weise das Blatt wenden konnte. Eine Idee allerdings hatte Eogil noch: Je mehr legendäre Takrane man trug umso mehr zusätzliche Fähigkeiten erhielt man. Die zusätzlichen Fähigkeiten, die Horior trug waren zwar im Vergleich zu seiner alchemistischen Allmacht verschwindend gering, doch vielleicht konnte sein Tod, Horior noch um das entscheidendes Stück schwächen, sodass den Rest das vereinte Volk von Venundur, Isbir und Edoran erledigen konnte. Vielleicht schafften sie es ihn irgendwo hinter Gitter zu bringen. Andererseits, wusste er nicht, zu was Horiors Fähigkeiten alles fähig waren.
Doch bestimmt würde es einfacher fallen, wenn Horior noch um einen geringen Teil schwächer wäre. Je mehr Eogil darüber nachdachte, umso klarer wurde dieser Gedanke: Er musste ebenfalls sterben.

Kapitel 26 - Auf höherer Ebene



Es war Moradur als würde er aus einem tiefen Schlaf erwachen. Einerseits war er stets wach, doch andererseits war er dies mehr in einer anderen Welt als in dieser. Moradur hatte nicht mehr von Wahrheit und Einbildung unterscheiden können. Doch nun hatten Moradurs sensitive Fähigkeiten dieses ,Aufwachen‘ herbeigeführt. Sein Lebensziel, all das Streben seiner Taten, hatten ein Ziel gehabt und jetzt war es endlich soweit. Endlich wusste er worin sein Sinn bestand. Jetzt war der Augenblick gekommen, den er sich so lange herbeigesehnt hatte.
Moradur war nicht nur ein Sensitiver, sonder auch ein Mirakel. Als Mirakel galt man als Sonderling, selbst unter Alchemisten. Man war von jedem so unverstanden, wie normale Menschen die Alchemisten nicht verstehen konnten. Doch war man erst einmal einer, so öffneten sich einem die Augen. Die Weltenstruktur, wie Moradur sie nannte, konnte er nun erkennen. Was für jedem anderen unverständlich war, wurde sein Lebenswerk.
Doch Moradur hatte mit Entsetzen feststellen müssen, dass er sein Lebenswerk mit nur drei alchemistischen Takranen nicht vollenden würde können. Er hatte einen vierten alchemistischen Takran gebracht um Tränke zu mischen, die ihm die Fähigkeiten erlabten die Struktur der Welt zu kontrollieren. An einem Tag an dem er in Melancholie versunken war, hatte er sich schließlich hingegeben und den Trank getrunken, den er all die Jahre am Gürtel trug. Seit diesem Zeitpunkt der Schwäche, trug er einen vierten alchemistischen Takran. Er hatte die Fähigkeit sein Ziel zu erreichen, aber zugleich hatte er den Bezug zur Realität verloren. Moradur hatte seinen Geschmackssinn gewählt, um zu erreichen was er zu erreichen gedachte. Gerade dieser Sinn, welcher von den Alchemisten am höchsten geschätzt wurde. Niemand hätte seinen Geschmackssinn geopfert, in weiterer Folge seine Sprache verloren und die Möglichkeit von den selbst gebrauchten Tränken zu profitieren. Moradur jedoch war nicht wie jeder andere. Er hatte ein Lebensaufgabe zu erfüllen. Das Sensitive in ihm hatte ihn dazu gedrängt. Nun konnte er eben diese Tränke brauen, die für seine Zwecke gebraucht wurden. Er hatte Fähigkeiten, für die ihn ein jeder andere beneidete, doch niemand außer er selbst konnte davon profitieren. Er war in eine andere Welt abgetaucht und niemand konnte ihn dahin folgen. Niemand konnte ihn daraus zurückholen und er war für seine Freunde nur noch eine Last geworden. Ein Irrer, den man nicht aus den Augen hat lassen können und bei dem man stets hat rechnen müssen, dass er schlagartig etwas Unverzeihliches anrichten konnte. Doch es hatte sein müssen! Er hatte bis jetzt noch nicht erfahren warum er all dies getan hatte, doch der innere Drang war so stark, dass er ihn nicht ignorieren konnte.
Jetzt, durch seine Fähigkeit des Sensitiven war er wieder erwacht. Endlich konnte er das Streben seines Lebens vollenden. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Es war sonnenklar, so eindeutig.
Mit seinem einen guten Auge erkannte er seinen momentanen Aufenthaltsort und die Menschen, die um ihn standen. Da war Yaffel, derjenige der ihm all die Jahre ein guter Freund und Schüler gewesen war. Aber auch Hominkel, Jodaslan, Kukries, Bunday, Bartus, Perseesee, und viele andere seiner alchemistischen Freunde. Sie trugen allesamt ihre rotbraunen Kapuzenumhänge, um ihr äußeres Erscheinungsbild vor den gewöhnlichen Menschen zu verbergen. Dennoch waren eben diese Kapuzenumhänge ebenso bekannt wie die alchemistischen Takrane und somit befanden sie sich in einem großen Abstand von den umstehenden Menschen.
Es war nun an Moradur zu handeln. Seine sensitive Fähigkeit würde den Bezug zur Realität nicht lange aufrecht erhalten können und schon bald würde sich das Zeitfenster schließen und er wäre wieder in der anderen Welt gefangen. Er marschierte los, direkt auf das tobende Menschengewühl zu. Einige seiner Freunde wollten ihn zurückhalten, doch er konnte sich dank der Stärke-Takrane, welche er auf den Armen trug, erfolgreich losreißen.
In den Schatten seiner Erinnerungen konnte er sich noch leicht daran erinnern, was er währende der Zeit seiner geistigen Umnachtung getrieben hatte. Er hatte es tatsächlich geschafft, die erforderlichen Mittel zu brauen und hatte zwei dieser Tränke an seinen Gürtel befestigt. Hoffentlich leiteten ihm diese Erinnerungen nicht fehl. - Sie durften ihn einfach nicht fehlleiten. Er griff jeweils mit einer Hand danach und zersplitterte die Fläschchen mit den Zerstörungs-Takranen, die er an seinen Händen trug. Die Flüssigkeit ergoss sich auf seine Hände und drang in sie ein. Seine eigenen Fähigkeiten wandelten sich ab und endlich konnte er wieder auf die Weltenstruktur zugreifen. Er konnte sie nun nicht nur erkennen, sondern sie auch verändern.
Mit seinem alchemistischen Auge erkannte er nur irreale Gestalten, die sich in einer anderen Welt, in einer für ihn geordneten, aber dennoch absonderlichen Form verhielten. Mit seinem normalen Auge hingegen sah er die Menschen die in dieser Welt lebten und die alle einen Blick auf das vor ihnen liegende Geschehen erhaschen wollten.
Das Mirakel blickte auf seine Hände und erkannte mit seinem guten Auge, wie sich gerade das rote Symbol seines Zerstörungs-Takrans in eines der grünen alchemistischen Symbole verwandelte. Sein alchemistisches Auge erblickte hingegen etwas völlig anderes: Die Strukturen um seine Hände veränderten sich und glichen sich der schöpferischen Kraft an. Endlich, jetzt hatte er wieder Zugriff auf die höchste Weltenebene.
Mit jeder Hand packte er an einen leitenden Strang der Weltenstruktur und zog sie auseinander. Mit seinem normalen Auge erkannte er deren Auswirkungen. Die Menschen wurden nach rechts und links hin zusammengepfercht und für ihn entstand ein Pfad der ihn direkt zu den in der Mitte Stehenden führte. Zielstrebig ging er auf diesen zu und entledigte sich dabei seines rotbraunen Kapuzenumhangs. Angstvolle Schrei in seiner unmittelbaren Nähe waren zu hören, als man sein völliges mit alchemistischen Takranen entstelltes Gesicht erkennen konnte. Jedoch wurden diese Aufschreie sofort durch einen alchemistischen Angriff in Form meiner Welle erstickt. Dieser Jemand, der sich in der Mitte der Menschenmasse befand war ohne Zweifel mächtig und Moradur hatte behutsam vorzugehen.
Wieder sah er durch seine beiden verschiedenen Augen jeweils etwas völlig unterschiedliches in dem eben erfolgten Angriff. Mittels seines menschlichen Auges erblickte er ein Form von Irrealität und Unmöglichkeiten, doch sein alchemistisches Auge zeigte ihm etwas völlig anderes. Mit diesem sah er, wie sein Uhrheber alle umlegenden Strukturen aufzulösen versuchte. Gleich nachdem er seinen Angriff ausgesetzt hatte verfestigte sich diese Struktur wieder. Moradur hatte in seinen vielen Studien gelernt, dass man die Struktur nur kurzzeitig beschädigen konnte, sie jedoch nie vollständig zerstören.
Um dem Angriff zu entgehen, hatte Moradur einfach ein paar Nebenstränge des Hauptpfades genommen, mit denen er die wichtigsten Stränge umhüllte und schützte. Dann war er endlich bei seinem Ziel angelangt. Sein sensitives Selbst schien zu glühen. Jetzt wo er am Ziel all seines Strebens angelangt war, schien es ihm als würde er die Realität mit einer überdeutlichen Genauigkeit wahrnehmen. Mordur stand nach so langer Zeit der Geistesabwesenheit wieder mit beiden Beinen auf festen Boden. Seinen sensitiven Fähigkeiten sei dank, dass sie ihm erlaubten, ein letztes Mal vollkommen Herr über seine verliebenden Sinne zu sein.
Die Struktur um den vor ihm Stehenden war stark geschwächt und sie war nur noch ein dünner Faden, anstelle eines strammen Seiles. Dies war ein weiterer Nachteil an den alchemistischen Gaben. Die eigenen Struktur begann zu schwinden. Bei Moradur war es nicht anders, auch seine eigenen Struktur war aufgrund seiner vier alchemistischen Takrane sehr geschwächt. Aber an dem anderen im Vergleich war sie kaum mehr zu erkennen. Er war einerseits um Welten mächtiger als Moradur, doch seine Struktur konnte nicht stärker als ein Strohhalm sein.
Zusammen mit dem Stärke-Takran auf seinem rechten Arm und den veränderten Zerstörungs-Takran auf seiner Hand schlug er auf das alchemistische Wesen ein. Er musste seine Lebenserhaltenden Strukturen nur für einen kurzen Moment außer Kraft setzen. Aus seiner fleischlichen Hülle würde das Leben schwinden und es würde nicht mehr zurückkehren können. Wer einmal tot war, der ist für immer tot. Selbst wenn sich die Strukturen wieder verfestigen, sie würden sich um einen toten verfestigen.
Doch der Schlag den Moradur gegen seinen Gegenüber geführt hatte schlug auf eigenartiger Weise fehl. Irgendwas war anders. Sein Angriff wurde durch eine eigenartige Verästelung der Strukturen wirkungslos gemacht. Was war an diesem Wesen, dass Moradur nichts gegen ihn auszurichten vermochte?
Sein Gegenüber hatte ebenfalls angefangen auf Strukturebene zu kämpfen. Er zerstörte sämtliche Stränge, die für Moradur lebenswichtig waren. Moradur konnte diese jedoch leichter Hand austauschen um dem tödlichen Angriff zu entgehen. Ihm gelang es zwar leichter Hand, aber es war brenzlich knapp. Wäre seine Macht nur ein klein wenig mächtiger gewesen, wäre Moradur nun tot. Erst jetzt merkte er, was er damit in weiterer Folge angerichtet hatte. Dutzende Menschen waren wie Marionetten, denen man ihre Fäden durchgeschnitten hatte, tot zu Boden gefallen.
Noch während Moradur diese Auswirkungen erfasste, wurde er von einem Sog erfasst. Doch auch wenn dieser andere mächtiger war als Moradur, er hatte nicht seine Erfahrung und sein Wissen mit dem Umgang. Leichter Hand nahm Moradur abermals ein paar der unwichtigeren Nebenstränge um den Sog somit entgehen zu können. Wieder war es erschreckend knapp gewesen.
Und dann hatte er gefunden wonach er gesucht hatte. Es war sein eigener Takran, der ihn vor jeglichen Angriffen schützte. Einen solch ungeheuer mächtige Fähigkeit hatte Moradur noch nie gesehen. Diese Fähigkeit musste seinen Träger nahezu unverwundbar machen. Zielsicher griff Moradur mit beiden Händen danach und setzte seinen Zerstörungs-Takran ein. Er musste sich beeilen. Die Weltenstruktur war nahezu unzerstörbar, schon bald würde sie sich wieder aufbauen. Jetzt musste es schnell gehen. Abermals schlug er mit der geballten Macht seines eigenen Takrans und seines Stärke-Takrans zu und vernichtete das alchemistische Wesen.

Endlich, Moradurs Lebenswerk hatte sich erfüllt. Das nahezu krankhafte Streben seines Lebens war nun, nach so vielen Jahren, vollendet. Das Mirakel fokussierte seine Aufmerksamkeit wieder auf sein menschliches Auge um zu sehen was in der einen Welt geschehen war, während er in einer anderen agiert hatte.
Vor ihm lag ein toter Mann, dessen Gesicht mit alchemistischen Takranen überseht war und um ihn stand eine riesige Menschenschar. Teilweise umrundeten sie die soeben Gestorbenen, welche Moradur durch eine kleine Gedankenlosigkeit den Tod beschert hatte. Allen stand ausnahmslos das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Doch mittels seiner sensitiven Fähigkeiten konnte er auch wahrnehmen, dass sie höchst erfreut waren, dass der Alchemist mit den sieben Takranen gefallen war.
Sie hatten einen Kampf zweier Alchemisten miterlebt. Sie hatten etwas gesehen, dass mit Augen nicht zu sehen war und das mit dem Gehör nicht gehört werden konnte. Für die umstehenden Menschen musste gerade etwas geschehen sein, dass es eigentlich nicht geben konnte.
Moradurs Ziel war erreicht und nun verdunkelte sich auch wieder der Himmel über seinen geistigen Horizont. Seine sensitiven Fähigkeiten hatten seine innere Fackel noch ein letztes mal aufflackern lassen, doch nun war auch das letzte bisschen Sauerstoff verbraucht und schon bald würde sie vollkommen erloschen sein. Moradur musste sich beeilen, in kürzester Zeit würde er wieder dem Wahnsinn verfallen sein.
Die Umrisse der Menschengestalten verloren langsam an Deutlichkeit und flossen zu einer dunklen Masse zusammen. Wo er zuvor noch regelhaftes Stimmengewirr gehört hatte, schwammen alle Laute zu einem unregelmäßiges Rauschen zusammen. Die andere Welt ergriff wieder Besitz von ihm.
Hastig griff er nach zwei leitenden Strängen der Weltenstruktur und baute sich damit einen Weg aus den Schattenwesen. Moradur musste sich beeilen und er musste zu laufen beginnen. Auch wenn er wusste, dass die Schattenwwesen seine Mitmenschen waren, so war ihm klar, dass er bald in eine andere Welt abgetaucht sein würde.
Wie sein Auftreten wohl bei den umstehenden Menschen aufgefasst worden war. Ein Kampf zweier Alchemisten und sobald dieser vorüber war, war der eine tot, der andere verschwunden. Man würde es für einen verrückten Irrsinn halten. Es als die Wesensart der Alchemisten abtun. Aber so waren sie nun mal und damit hatten sich auch irgendwie recht.
Moradur lief immer weiter, aber wo befand er sich eigentlich? Um in der einen Welt nicht irgendwo gegen zu laufen, musste er seine Aufmerksamkeit mehr auf die andere Welt lenken. Das Bild dieser anderen Welt war ohnehin um weiten deutlicher. Dann drängte sich in ihm eine weitere Frage auf: Wieso lief er eigentlich?

Epilog



„Großkönig Eogil, sie sind da.“
Ruckartig und in voller Freude erhob sich Eogil von seinem Thron.
„Schickt sie herein, empfangt sie als wären sie Könige. Man möge ihnen zu essen und zu trinken bringen.“, wies er seinen Haus-Hof-Diener an.
„Sehr wohl mein König.“
Was für ein glorreicher Augenblick. Es war einer dieser Momente in denen einem klar wird, was man bereits alles in seinem Leben vollbracht hatte und was man noch vollbracht werden wollte.
Vom Küchenjungen zum Großkönig. Dies war wahrlich ein steiler Werdegang, der ansonsten keinem anderen zugute gekommen war. Unzählige Male, hatte er in seinem Leben den Rat seines Freundes Pontion benötigt. Bei ihm hatte es so ausgesehen, als ob er alles in spielerischer Leichtigkeit fertig gebracht hatte. Seine heitere Art, sein kindliches Lächeln und sogar seine Verrücktheiten. Wie sehr er seinen verstorbenen Freund und Mentor doch vermisste.
Ebenso vermisste er auch Sahinja. Wer hätte gedacht, dass er diese eigensinnige, selbstsüchtige Person so vermissen würde. Ihr zu ehren hatte er eine Statue erbauen lassen. Sie überragte beinahe jedes Gebäude, stand in der Mitte des Marktplatzes und konnte von jeder Person des Reiches erblickt werden. Nichts weniger hatte sie verdient. Obwohl sie den Großteil ihres Lebens geraubt, gestohlen und gemordet hatte, war sie der Mensch gewesen, der Eogil in seinen dunkelsten Stunden stets zur Seite gestanden war. Sie hatte ihn davor bewahrt, dass er auf Festung Sofirot nicht zu einem blutdürstigen Wahnsinnigen geworden war. Damit hatte sie ihm vorausblickend eine unendlich große Last von den Schultern genommen und eben diese Last hatte sie sich selbst aufgeladen.
Selbst in ihrer letzten Stunde hatte sie es noch geschafft ihn zu verblüffen. Eogil war fest entschlossen gewesen sich das Leben zu nehmen, um der Menschheit zumindest noch eine kleine Chance zu geben. Doch Sahinja hatte eingegriffen, ihn somit von dem Tode bewahrt und selbst diese Handlung vollzogen. Wäre Sahinja nicht gewesen, wäre Eogil tot. Körperlich und geistig. Es waren Taten von unvergleichbarer Selbstlosigkeit. Und keinen anderen Namen trug die Statue auch : Sahinja die Selbstlose.
Anfangs waren die Menschen skeptisch gewesen. Sie war für jedermann eine Unbekannte und diejenigen die sie doch kannten, hatten sie alles andere als positiv in Erinnerung. Doch nun kannte jeder die wahre Geschichte von Sahinja der Selbstlosen. Es gab keine Gelegenheit, kein Beisammensein und keine Veranstaltung, an der Eogil nicht von ihrer Geschichte erzählte. Wie sie ihm auf diese unterschiedlichen Arten das Leben gerettet hatte und dass sie schlussfolgernd der Grund war, warum er nun am Thron des Großkönigs saß.

Großkönig Eogil. Welch hoher Titel. Doch nichts anderes hatten die Menschen gewollt. Er war förmlich auf den Thron gehoben worden. Man hatte ihm nicht einmal eine Wal gelassen. Das Oberhaut Vennundurs war gestorben und Horior hatte es nicht verabsäumt die Könige von Edoran und Isbir samt ihrer Familie und Würdenträger auszulöschen. Das Volk hatte eine starke führende Kraft gebraucht, die sich ihrer annahm und alles wieder in die geordneten Bahnen lenkte. Eogil hatte sich geehrt gefühlt als man sofort an ihn bei dieser Aufgabe gedacht hatte und er hatte auch zugesagt, dass er für kurze Zeit die Regentschaft übernehmen werde. Doch seither hatte man ihn nicht mehr von seinem königlichen Stuhl aufstehen lassen.
In seiner Zeit als König hatte er viele Dinge geschlichtet. Während er weiterhin über Venundur regierte, fand er in Isbir und Edoran zwei vertrauenswürdige und weise Jarls für den Königstitel. König Osmond von Isbir und Königin Miralda von Edoran. Jedoch war er weiterhin die führende Kraft geblieben. Alle anderen Führungskräfte hatten sich eigenständig hinter ihn eingereiht und jeder seiner Befehle wurde mit einer unvergleichbaren Selbstverständlichkeit ausgeführt. Schließlich hatte man ihn zum Großkönig ernannt. Eine Ehre, die seit Jahrhunderten niemandem mehr erwiesen worden war. Es war das größte Geschenk das sie ihm machen hatten können und das sie ihm auch umbedingt machen hatten wollen.
Nun nach einer endlos lang scheinenden Zeit hatte sich alles wieder stabilisiert und sowohl das Reich Edoslan, das Reich Isbir und vor allem das Reich Venundur blühten auf.
„Werte Lords, Myladys, Großkönig Eogil. Darf ich vorstellen: Herr Marakes und seine Gemahlin Senasay, mit ihrer neugeborene Tochter Irandar aus dem Dorfe Grostar, dem Reiche Edoran.“
Eogil riss sich aus seinen Gedanken. Da waren sie, endlich. Welch lange Zeit des Wartens doch verstrichen war. Glückselig und enthusiastisch stieg der Großkönig von den Stufen zum Thron herab und eilte der Bauernfamilie entgegen.
„Welch Freude euch kennen zu lernen. Ich hoffe ihr hattet keine beschwerliche Reise.“
„Es ist uns eine Ehre euch kennen zu lernen, Großkönig Eogil. Uns war selbstverständlich kein Aufwand zu groß, um zu euch zu gelangen.“, sagte der Mann, Marakes, zu ihm und wollte sich gemeinsam mit seiner Frau vor ihm verbeugen.
Sofort hielt Eogil sie davon ab.
„Ach lasst diese Verbeugerei. König Pontion hatte das schon nicht leiden können und vor mir braucht ihr euch auch nicht zu verbeugen. Auch ich war einst ein einfacher Mann. Lasst uns zueinander sprechen, als wären wir Freunde. Bitte nehmt Platz. Der Tisch wird sofort gedeckt sein. Ihr müsst sicherlich hungrig und durstig von der langen Reise sein.“
„Ja das ist wahr, vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.“
„Selbst der kleinste Bauer sollte behandelt werden wie ein König. Das einzige was uns voneinander unterscheidet ist unsere Tätigkeit.“
Weitere Höflichkeiten wurden ausgetauscht und schließlich wurde von den Dienern das Essen gebracht. Eogil aß nur wenig. Er hatte keinen Hunger und nahm nur ein paar Bissen aus Höflichkeit seinen Ankömmlingen gegenüber. Schließlich, als das Essen sein Ende nahm, konnte sich Eogil nicht mehr Einhalt gebieten und musste die Worte sprechen, die ihm schon so lange auf der Zunge lagen.
„Also wieder ein Mädchen...“, sagte er mit einem breiten Lächeln auf den Lippen.
„Ja.“, sagte die Frau „Wir haben sie Irandar getauft.“
„Dürfte ich sie einen Augenblick halten?“, fragte Eogil zögerlich
„Selbstverständlich.“, sagte Senasay und reichte ihm das Kind.
Das war sie also. Die Wiedergeburt von Sahinja der Selbstlosen. Irandar. An ihrem kleinen Ärmchen konnte er sogar das Symbol des Perfektions-Takrans sehen.
„Sie wird Großes vollbringen.“, sagte Eogil mehr zu sich selbst, als zu den Eltern von Irandar. „Sie ist jetzt schon ganz tapfer. Sie hat nicht einmal geweint als ich sie genommen habe.“
Lächelnd stimmten ihm die beiden Eltern zu und Eogil gab ihnen kurze Zeit darauf wieder die Kleine zurück.
Eigentümlicherweise hatte zwar Sahinja im Kampf gegen Horior als erstes das Leben verloren, ihr Takran war jedoch als letztes wieder geboren worden. Schon bald würde Eogil auch diesen beiden Eltern einen Vorschlag machen. Eine Vorschlag, den er auch schon den Eltern aller anderen Neugeborenen, welche einen legendären Takranen trugen, gemacht hatte.
Jeder hatte gesehen was aus dem Missbrauch von solch enormer Macht entstehen konnte. Eogil wollte verhindern, dass sich ein solches Ereignis wiederholte. Doch er hatte nicht den Weg gewählt den einst die Stille Bruderschaft inne gehabt hatte. Was daraus entstand, wenn man sich versteckt hielt und stets im Verborgenen agierte, hatte er gesehen. Dennoch musste er eingestehen, das viele der Weisheiten, welche er aus den Hallen zu Sheyr entnommen hatte seine Richtigkeit hatten. Es war wichtig die Personen aufzuklären und ihnen ein gewisses Maß an Verantwortung zuteil kommen zu lassen. Doch soll dies in aller Öffentlichkeit geschehen und jeder soll über deren Auswirkungen bescheid wissen. Obwohl Eogil viele Rückschläge in seinem Leben erlitten hatte, glaubte er immer noch an das Gute im Menschen. Sahinja war hierfür der beste Beispiel.
Eogil würde Marakes und Senasay einen Posten am Hofe Venundurs anbieten, oder ihnen zumindest den Vorschlag machen eine hohe Stelle im Reiche Edorans oder Isbirs einzunehmen. So würde deren Tochter schon zu Beginn ihres Lebens in Geborgenheit und mit der Weisheit vieler großer Persönlichkeiten aufwachsen. Man würde ihr das Lesen und Schreiben beibringen und ihr in jeglicher Hinsicht unter die Arme greifen. Zudem würde man auch Acht geben, dass sie nie vom rechten Pfad abwich.
Eogil konnte den Blick von dem schlafenden Mädchen gar nicht abwenden. ,Der wieder geborene Takran von Sahinja der Selbstlosen‘, ruf er sich ins Gedächtnis und schlagartig lebten die Erinnerungen an sie wieder hoch.
Eogil konnte sich das Lächeln bei diesen Gedanken nicht verkneifen. Sahinja die Selbstlose - Wie sehr sie doch dieser Titel hassen würde...

Ende

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.06.2012

Alle Rechte vorbehalten

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