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Mein Name ist Susan Kinger. Ich bin das dritte Jahr in Folge Deutschlands Bademodenmodel Nummer Eins. Nummer Drei auf der Weltrangliste. Ein märchenhafter Beruf, wie man meinen könnte, von Glamour und Ruhm getränkt und stets ein gern gesehener Gast auf prächtigen Partys.
Soweit auch all diese Vorteile, welche eine solche Karriere mit sich bringt, in den Vordergrund gerückt werden, bleiben die Nachteile im Schatten des Glanzes verborgen.
Unter den Reichen und Schönen Hollywoods und Paris‘ herrscht ein stiller Kampf. Ein Kampf ohne Waffen, ohne Fäuste und ohne Worte. Jeder lechzt nach den Titelseiten teurer Zeitschriften und giert nach den völlig überbezahlten Verträgen diverser Modemagazine.
In meinem Fall als Bademodenmodel habe ich bereits besonders preiswerte Verträge ans Land gezogen. Denn so komisch es auch klingen mag: Je weniger Kleidung, desto mehr Geld. Ich habe auch schon von einigen anderen Zeitschriften, welche noch weniger Kleidung bedürfen, Angebote erhalten, welche mir Angesichts des enormen Geldbetrages den Atem stocken haben lassen.
Ich gehöre allerdings nicht zu diesen frischgefangenen, blutjungen Möchtegernmodels, welche außer einer ästhetischen Gestalt nichts weiter zu bieten haben. Diese traurigen Exemplare konnten den vielen Nullen eines solchen Angebots nicht widerstehen und haben die Hand des Teufels ergriffen.
Ja, man kann sagen, dass ein einziges Fotoshooting in dieser speziellen Branche mehr Geld einbringt als der ganzjährige Vertrag einer Modezeitschrift. Doch vergisst man zu leicht den Beigeschmack eines solchen Unterfangens und der Beigeschmack ist bitter: Ruhm und Glamour verblassen und werden durch Hohn und Spott ersetzt. Und niemand will ein Model auf den Laufstegen oder in Modezeitschriften sehen, welches nebenbei ihre nackte Haut in unseriösen Magazinen zur Schau stellt. Nein, ich gehörte nicht zu solchen Individuen, ich kenne die ungeschriebenen Gesetze.
Ich war schon viele Jahre in diesem Business, zumindest viele Jahre für ein Model. Schönheit verblasst nun mal und so gütig das Schicksal mich auch getroffen hatte, blieb ich doch nicht vor der Zeit verschont.
Das Einzige was ich mit meinem vielen Geld nicht kaufen kann, ist die Jugend und diese war die Grundlage meines Kapitals.
Die Reise hatte mich nach Österreich geführt. Ausgerechnet Österreich!
Das Land des Wiener Schnitzels und der Mozartkugeln. Das Land, welches stets um zwanzig Jahre in der Vergangenheit lebt. Sollte die Welt wirklich dieses Jahr untergehen, würde ich nach Österreich ziehen und könnte dort noch weitere zwanzig Jahre mein Dasein fristen.
Aber es war nun mal gut für die Publicity hatte mein Manager gesagt. Ich hatte nicht genau auf seine Worte gehört, aber die Pointe war, dass ich quasi die Verpflichtung dazu hatte, Österreich, dem gleichsprachigen Nachbarland meiner Heimat, einen Besuch abzustatten. Vermutlich würde ich auf einem Laufsteg, hochgestapelt aus Paletten, die neuesten Dirndln des vergangenen Jahrhunderts vor Kühen, Hühner und Schweinen präsentieren.

Um meine Situation besser verstehen zu können muss man sagen, dass ich gereizt war. Ich befand mich in einer U-Bahn! Ich fuhr wie das gemeine Volk unterirdisch durch Wiens Straßen.
,Publicity‘, hatte ihr Manager gesagt. ,Susan Kinger, Deutschlands Bademodenmodel Nummer Eins, fährt wie jeder andere mit den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt.‘
Den üblen Teil hatte sie schon hinter sich: Ein Reporter der ,Kronen Zeitung‘, welche ungefähr das selbe Niveau der ,Bild‘ teilt, hatte sie ,zufällig‘ gesehen und sie ,spontan‘ um ein Interview gebeten, welches sie ,herzlich‘ angenommen hatten und in welchem sie beteuert hatte, wie ,sehr‘ sie sich doch mit Österreich und seiner Kultur verbunden fühle. Ächz.
Wie gut, dass die Wahrheit so leicht käuflich ist. Von seinem gnädigen Honorar wurde natürlich kein Wort erwähnt und auch nicht von den drei Bodyguards, welche ihr im Verborgenem auf Schritt und Tritt folgten. Es wurde auch kein Wort von dem üblen Gestank, welchen ein solches Verkehrsmittel mit sich bringt, erwähnt. Auch nicht von den gaffenden Blicken der Männer und Frauen.
Ich freue mich schon wieder auf mein Hotelzimmer in Los Angeles. Ich kann den Whirlpool schon gar nicht mehr erwarten, in dem ich mir den Gestank dieses Landes abwaschen kann. Dem Hotelzimmer des Hiltons in Österreich vertraue ich nicht. Das weiß ich schon bevor ich es überhaupt betrete. Österreich ist nicht mein Zuhause und wo nicht mein Zuhause ist, kann ich mich nicht entspannen.
Ich sah abermals aus dem verdreckten, mit Nägeln zerkratzten Fenster der U1, welche gerade am Schwedenplatz angekommen ist.
Leute stiegen ein, Leute stiegen aus. Mit dieser Art von Leben konnte ich mich nicht anfreunden. Tag ein, Tag aus aufstehen, arbeiten, nach Hause fahren und auf die Kinder aufpassen. Vielleicht noch dem Gatten ein Abendessen kochen und den restlichen Tag vor dem Fernseher verbringen. Dann schlafen gehen und am nächsten Tag ging alles wieder von vorne los. Nein, das war nicht mein Leben und so würde ich nie leben müssen.
Die U-Bahn war bereits wieder abgefahren und wurde von der Schwärze des Tunnels verschluckt. Plötzlich gingen alle Lichter aus und die U-Bahn wurde immer langsamer, begleitet von einem abfallenden, immer tiefer werdenden Ton. Na klar, das war wieder einmal das Tüpfelchen auf dem I. Wie hatte ich damit nur nicht rechnen können? Ich bin schließlich in Österreich!

Die U1 hatte schließlich angehalten und ein angenehmes, rotes Notlicht strahlte von den Deckenlampen herab. Erstaunlich, so etwas hatte sie in dieser alten U-Bahn nicht erwartet. Dann wurde alles in ein sanftes, warmes Licht getaucht. Als Susan ihre Umgebung nun wieder genau erkennen konnte, war sie von mehreren Dingen so schockiert, dass sie anstatt in Panik zu geraten, vollkommen unangemessen reagierte. Um genau zu sein: Sie tat gar nichts. Sie saß starr auf ihrem Sitz und ließ die Geschehnisse auf sich einwirken.
Die stinkende, mit Leuten überfüllte U-Bahn war verschwunden. Anstelle dessen saß sie in einem länglichen Raum, ausgestattet mit stark futuristisch aussehenden Sitzen, welche in silberner und hellblauer Farbe gekleidet waren. Sie waren bequem und passten sich ihrer Körpertemperatur und ihrer Sitzhaltung an. Das wusste sie daher, da ihr eben in diesem Moment, in welchem sie die Sitze vor sich sah, auch bewusst wurde, dass sie ebenfalls auf solch einem saß.
Auf jeder dieser Sitzgelegenheit saß entweder ein Mann oder eine Frau. Genau konnte sie diese nicht erkennen. Sie sah nur deren Rücken und die seltsamen silberschwarzen Gewänder welche sie trugen. Noch während sie all das in der unendlichen Länge eines einzelnen Augenblicks wahrnahm, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf.
Es war keine Stimme, welche zu ihr sprach, oder welche sie aus einem Lautsprecher vernahm, nein, es war eine Stimme, die sich in ihrem Kopf befand!
„Willkommen zurück Furyor. Ich hoffe dir hat die Reise in die Vergangenheit angenehme Freude bereitet.“
Susan stockte der Atem. Sie hörte zwar die Worte, konnte ihnen aber keinerlei Bedeutung entnehmen. Ihre Gedanken rasten wie wild in ihrem Schädel. Was war hier los?
Einer nach dem anderen der seltsam gekleideten Menschen stand auf und setzte sich in Bewegung. Dabei stellte sie mit Entsetzen fest, dass sie eine Art Kabel aus ihrer Schläfe abmachten. Im Vorübergehen erkannte sie, dass sie eine Art komisch aussehenden Chip an dieser Stelle des Kopfes hatten. Sie alle hätten, abgesehen von diesem abstoßendem Chip im Kopf, die Titelseiten verschiedener Zeitschriften füllen können. Alle waren in den besten Jahren ihres Lebens und einer gut-aussehender als der andere. Vielleicht sogar besser als Susan.
Noch immer saß Susan reglos auf diesen futuristischen Sitz, noch immer unfähig eine Handlung auszuführen.
„Denke, Susan! Denke!“, rief sie sich in Gedanken zu.
Gut, jetzt nur keine Panik. Was konnte sie wissen? Sie war jedenfalls nicht mehr in einer österreichischen Untergrundbahn. Vielleicht war sie es aber doch. Hatte die Aufregung und der Stress der vergangenen Tage dazu geführt, dass sie langsam den Verstand verlor? Sie kniff die Augen zusammen, öffnete diese langsam wieder und versuchte sich vorzustellen, dass sie in einer stinkenden, überfüllten U-Bahn saß. Aber die Hoffnung wurde zunichte gemacht. Sie saß noch immer in dem länglichen Raum mit den futuristischen Sitzen.
Susan zwang sich zu einer Regung. Doch der Blick auf ihre Hände ließ sie abermals einen Schock erleiden. Die seltsamen futuristischen Armbänder, welche sie trug und mit Buchstaben und anderen Symbolen bestückt waren, schockierten sie nicht. Auch nicht die Ärmel ihrer fremdartigen weißblauen Kleidung. Es waren ihre behaarten Arme, welche ihr Tränen des Unglaubens in die Augen trieben. Es waren nicht mehr die zierlichen Arme eines Bademoden Models, sondern die kräftigen Arme eines gut gebauten Mannes.
Susan nahm die Realität nur noch getrübt war. Sie zog das Kabel von ihrer Schläfe, welches sich wie ein Magnet lösen ließ und stand auf. Sie bewegte sich in Richtung des Ausgangs, durch den auch schon alle anderen gegangen waren.
„Alles in Ordnung Furyor?“, fragte ein Mann in demselben silberschwarzen futuristischen Gewand, welches die andere ebenfalls trugen.
Auch er war in den besten Jahren seines Lebens und von ebensolcher Schönheit wie alle hier. Es dauerte eine Weile bis Susan klar wurde, dass die Worte ihr galten. Sie brachte keinen Ton hervor, nur einen mitleidsseligen Blick und ein Kopfschütteln.
Der Mann schien zu verstehen.
„Folgen Sie mir.“, bat er und Susan tat wie ihr geheißen.
Sie betraten einen Aufzug, dessen Türen seitlich aufgingen, sobald sie in deren Nähe waren. Er drückte ein paar Tasten auf seinem Armband, auf demselben komischen Armband wie auch sie eines trug, und die Türen gingen wieder auf. Aber diesmal befanden sie sich in einer Art Büro, an dessen Tisch ebenfalls ein gut-aussehender Mann in den besten Jahren saß. Auch er hatte dieselben silberschwarzen Kleider, wie alle hier. Mit Ausnahme von Susan, welche eine ähnliche Garnitur in hellblau trug.
„Neuronetiker Furyor Kanz.“, begrüßte er Susan. „Merox hat mir bereits alles berichtet.“, sagte er und zeigte mit der linken Hand auf den Mann, welcher Susan hierher geführt hatte.
Wann hatte er ihm berichtet? Susan hatte ihren Führer nicht aus den Augen gelassen. Und was hatte er ihm berichtet? Was ging hier vor?
„Es scheint also ein kleines Malheur mit unserem Neuro-Holo-Integrations-Projekt vorgefallen zu sein.“, sagte er mit der Gelassenheit und Redegewandtheit eines Lobbyisten.
„Das sollte gleich behoben sein. An was können sie sich denn zuletzt erinnern?“, fragte er und ging unterdessen zu einer Glasscheibe in der Wand hinter der sich eine kleine Aushöhlung befand.
Er tippte, wie der Mann im Aufzug vorhin, etwas auf die Tasten seines Armbands und betrachtete etwas im Raum, wo sich nichts anderes außer Leere befand. Dann nahm er einen Gegenstand, welcher wie durch Geisterhand, hinter der Glaswand erschienen war. Dabei griff er einfach durch das Glas hindurch!
Susan versuchte auf seine Frage zu antworten. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte noch immer keinen Ton hervor.
Der Mann war mit einem seltsam aussehenden, länglichen Objekt zu ihr zurückgekehrt und blickte ihr fragend ins Gesicht. Er wartete noch immer Susans Antwort ab.
„I-Ich...“, fing Susan an, erschrak aber sogleich von ihrer eigener Stimme. Sie hatte die tiefe Bassstimme eines Mannes.
„Nur keine Sorge“, sagte der Mann mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, welches Susan irgendwie beruhigte. „ich sehe mir erst einmal an welcher Fehler sich eingeschlichen hat und dann nimmt alles wieder seinen gewohnten Lauf.“
Er zog das längliche Objekt einmal quer vor Susans Kopf und tippte etwas auf sein Armband. Dabei schielte er wieder durch den Raum. Dieses Geschehen hatte keine zehn Sekunden gedauert und schon hatte er eine Prognose.
„Sie haben eine Stellvertreter-Amnesie. Die Blockade ist aber nicht Elektronisch, sondern Neurologisch. Damit sollten ,Sie‘ allerdings keine Schwierigkeiten haben, schließlich sind Sie nicht umsonst dritter Mark.“, sagte er und fügte ein freudiges Lachen hinzu.
Susan hingegen war eher Weinen zumute. Wovon redete er bloß? Sie verstand kein Wort. Was wurde hier gespielt? Die Zeit des Beobachtens war nun endgültig zu Ende. Jetzt war die Zeit des Handelns.
„Was ist hier eigentlich los?“, sagte sie laut mit ihrem tiefen Basston und eine beeindruckende Autorität schwang darin mit.
Aber mit dem Klang ihrer eigenen Stimme, verflog ihrer Entschlossenheit wieder. Ihre Worte hatten allerdings nicht die gewünschte Wirkung verfehlt. Ein ernster Ausdruck trat auf die Gesichtszüge des jungen Mannes.
„Furyor“, begann er mit eindringlicher Stimme. „Darf ich annehmen, dass sie gerade denken, sie seien Susan Kinger?“
Susan wusste nicht ob sie sich von der Wendung des Gespräches freuen oder ängstigen sollte. Freuen, weil endlich jemand ihren wahren Namen aussprach, oder sich ängstigen, weil dies nicht ihr richtiger Name sein sollte. Nichtsdestotrotz nickte sie. Entschlossen nach jedem Stück Rettungsseil zu greifen, welches man ihr zuwarf.
„Gut“, sagte der junge Mann nun wieder mit ruhiger Stimme „Sie haben gerade eine Zeitreise im Körper einer Susan Kinger in die Vergangenheit gemacht. Das war eine Testphase des Neuro-Holo-Integrations-Projekts. Sie haben sich freiwillig zur Verfügung gestellt.“
„Das kann nicht sein.“, stammelte Susan. Sie verstand nicht einmal die Hälfte der Worte welche ihr der Mann vor den Kopf warf.
„Ich kann Ihnen nicht viel bei Angelegenheiten des Geistes helfen, ich bin Wissenschaftler der klassischen Physik. Ich würde vorschlagen, sie bitten einen ihrer neuronetischen Freunde und Kollegen um Rat.“
Susan sah ihn verwirrt an. Sie hatte keine Ahnung was er von ihr erwartete.
„Andererseits kann ich das für Sie erledigen.“
Er tippte wieder etwas auf sein silbernes Armband und schielte in die Leere. Dann sah er wieder zu ihr.
„Ihre Freundin Kjyrra wird gleich hier sein. Darf ich ihnen in der Zwischenzeit etwas zu trinken anbieten?“
Susan sah keine Bar, oder irgendwelche Flaschen im Raum. Sie sah nicht einmal Gläser, aus denen sie hätte trinken können, aber sie wollte ohnehin nichts.
„Nein, Danke.“, sagte sie mit schwacher Stimme.
Da öffnete sich plötzlich der Aufzug wieder und eine umwerfende Frau trat ein. Sie trug dieselben hellblauen Kleider wie Susan und hatte ebenfalls diesen futuristischen Chip an der Schläfe. Sie war ebenso schön wie alle anderen, aber irgendetwas ließ Susans Herz, gerade bei ihr höher schlagen. Susan fühlte sich zu dieser Frau hingezogen. Stand sie jetzt auch auf Frauen?
„Hi Furyor.“, sagte sie. Susan vermutete, dass dies die eben besagte Kjyrra war, welche nicht einmal eine halbe Minute gebraucht hatte um hierher zu kommen.
„Hi.“, antwortete ihr Susan. Ihre Stimme war unsicher und schwach.
Kjyrra setzte einen leicht irritierten Blick bei dem Klang der schwachen Stimme Susans auf.
„Furyor hat eine neurologische Stellvertreter-Amnesie.“, sagte der junge Mann, noch bevor Kjyrra ein weiteres Wort sagen konnte.
Auf Kjyrras Gesicht trat ein mitleidiges Lächeln.
„Deshalb kann ich deine Gedanken nicht lesen.“, sagte sie zu Susan.
„Ich übermittle dir die Daten.“, sagte der Mann zu Kjyrra und tippte wieder etwas auf sein Armband.
„Wenn ich das richtig verstehe“, sagte Kjyrra als er zu tippen aufgehört hatte „dann denkt Furyor, dass er eine Frau Namens Susan Kinger ist, die sich inmitten der dunklen Zeit befindet.“
„Genauso ist es. Er hat sich seine Erinnerungen geistig abgeblockt, bevor er sich dem Neuro-Holo-Integrations-Projekt unterzogen hatte. Wir haben seine Erinnerungen elektronisch mittels des Neuro-Implantats geblockt und durch die Person, welche wir ihm vorgespielt haben zu sein, versucht er nun mittels ihr, unterbewusst diese neurologische Blockade aufrecht zu erhalten.“
Kjyrra lachte herzlich.
„Mein lieber Furyor, da hast du ja einen ziemlichen Stuss getrieben. Und das als dritter Mark! Ich freue mich schon auf deinen Gesichtsausdruck, wenn du dich wieder an alles erinnerst.“
Susan wusste nicht, was sie sagen sollte. Und jetzt fing sie auch noch allen Ernstes an, daran zu zweifeln, dass sie wirklich Susan war.
„Ich lasse euch beide dann mal mit diesem kleinem Malheur alleine. In neuronetischen Angelegenheiten kann ich leider keine große Hilfestellung leisten.“
„Danke Ginstar.“, sagte Kjyrra zu ihm und bewegte sich in Richtung des Aufzuges.
Susan folgte ihr. Aber irgendwie hatte sie nun das Gefühl, dass dies doch kein Aufzug war.
„Was ist das für ein Raum?“, fragte sie Kjyrra.
Diese lächelte Susan ins Gesicht, wie man ein kleiner Junge anlächelt, der danach fragt, was mit dem kleinen Männlein im Fernseher passiert, sobald man diesen abschaltet.
„Das ist ein Quantarium, damit ersparen wir uns den lästigen Weg zu Fuß.“
„Und wie funktioniert das?“
Wieder dieses komische Grinsen. Aber irgendwie hatte Susan das Gefühl, sie könnte Kjyrra vertrauen. Außerdem gefiel ihr ihr Lächeln.
„Das kann ich dir nicht genau sagen. Da musst du entweder einen Quantenwissenschaftler fragen, oder dir das Wissen runterladen. Ich weiß nur, dass sie über künstlich manipulierte Dispositionen in der vierten Dimension funktionieren. Und das ist mir schon zu viel. Was sagte Hemmenor Gorid doch gleich? ,Wie kann ich den Zauber eines Replikators bewundern, wenn ich seine Funktion kenne. Je mehr ich weiß, umso weniger Wunder offenbaren sich mir‘.“, Kjyrra lächelte bei der Aussprache des Zitats.
„Ist das so eine Art Teleporter?“
Jetzt lachte Kjyrra herzlich als hätte Susan gerade etwas unheimlich Witziges gesagt. Es war ein warmes, ehrliches Lachen.
„Ja, so könnte man das Quantarium auch bezeichnen. Man könnte aber auch zu einer Orange sagen, sie sei eine wohlschmeckende orangene Kugel.“
Susan wusste nicht was sie sagen sollte. Sie war in dieser fremden Welt verloren.
„Also wo soll es nun hingehen?“
„Nach Hause.“, antwortete ihr Susan, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden was Kjyrra unter diesem Begriff verstand.
Kjyrra tippte nicht wie Ginstar, der junge Mann von vorhin, auf den Tasten des Armbandes herum, sondern die Tasten drückten sich von alleine, ohne dass sie ihre andere Hand dazu gebrachte.
Gleich daraufhin öffnete sich die Türe des Teleporters, oder des Quantariums, wie Kjyrra es bezeichnete. Sie betraten einen kleinen Raum, der zum Großteil mit einem futuristischen,silberblauen Ledersofa bestückt war. Der Raum hatte vier dieser automatischen Schiebetüren, welche sie auch das Quantariom hatte. Eine durch die sie eben gekommen waren, zwei auf der rechten Seite und eine auf der linken. Daneben befand sich dieses komische Teil mit der durchdringlichen Glaswand, welche auch Ginstar in seinem Büro hatte. Vor ihnen, hinter der Ledergarnitur war ein riesiges Fenster, welches den Blick auf eine traumhafte sommerliche Landschaft warf.
„Ich hab mir erlaubt, all deine Termine für heute abzusagen.“, sagte Kjyrra und ließ sich auf das Sofa nieder.
„Ist okay.“, sagte Susan, fragte aber nicht nach wann sie das getan hatte und um welche Termine es dabei handeln könnte.
Sie setzte sich Kjyrra schräg gegenüber und sofort passte sich die Ledercouch ihrer Körpertemperatur und ihrer Sitzhaltung an. Nun erblickte sie im Spiegel neben der Tür des Quantariums erstmals ihr eigenes Spiegelbild. Jetzt konnte sie es nicht mehr leugnen. Sie steckte im Körper eines Mannes.
Eines gut-aussehenden, muskulösen Mannes, welcher schon ein paar graue Haare über den Schläfen trug. Doch diese ließen ihn nicht alt wirken, sondern irgendwie erfahrener oder interessanter. Nun, wo sie erstmals die hellblauen Gewänder an ihr sah, musste sie zugeben, dass ihr diese standen. Oder ihm, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass sie in einem Männerkörper steckte.
„Eitelkeit, eine Charaktereigenschaft, die ich an dir ja noch nie gesehen habe.“, sagte Kjyrra leicht verspielt.
„Welches Jahr haben wir gerade?“, fragte Susan nach einer kurzen Pause.
„Du fragst vielleicht Sachen. Keine Ahnung welches Jahr sie gerade auf der Erde haben, aber wir haben den 512 Dakand. Und die 134 Umdrehung wenn du es genau wissen willst.“
Susan war wie geschockt von dieser Antwort.
„Soll das heißen wir sind nicht auf der Erde?“
„Mein lieber Furyor, dich hat es ja übler erwischt als ich anfangs angenommen hatte. Nein, wir sind nicht auf der Erde, wir sind am Mars und ich glaub, du lebst da schon gut 220 Dakanden.“
„220 Dakanden?“, fragte Susan fassungslos und wusste nicht einmal den Umrechnungsfaktor einer Dakande auf ein Jahr, ihre Unwissenheit ließ sie dies eins zu eins umrechnen.
Kjyrra seufzte.
„Weißt du, es ist echt schwierig mit deinen Gedankensprüngen mitzuhalten, wenn du deine Gedanken blockierst.“
Befand sie sich wirklich am Mars? Was ist mit der Erde passiert? War sie wirklich älter als 220 Dakanden? Und wie lange ist eine Dakande? Anstelle eine Antwort beantwortet zu bekommen, taten sich immer mehr auf.
„Ich werde dir ein Neuro-Tool installieren. Damit kann ich deine Gedanken lesen und somit besser auf deine Fragen eingehen. Okay?“, fragte sie mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen.
Susan nickte nur. Sie wusste nicht, ob sie das nun freuen oder ängstigen sollte.
Wieder bewegten sich die Tasten ihres Armbands von Zauberhand und hinter der eingelassenen Glaswand in der Mauer erschien ein komisch aussehendes Gerät. Kjyrra machte eine Handbewegung und dieses Etwas schwebte durch den Raum, auf sie zu.
„Du kannst zaubern?“, fragte Susan entsetzt und wich hastig von ihr zurück.
Kjyrra sah sie verständnislos und amüsiert zugleich an.
„Ich bin Neuronetiker, wie du übrigens auch und habe einen ESP von 180, aber du kannst es von mir aus auch als, zaubern‘ bezeichnen. Du weißt schon: wohlschmeckende orangene Kugel. Jetzt installieren wir erst einmal das Neuro-Tool.“
Susan rückte wieder näher zu Kjyrra. Sie hatte sich kindisch benommen und ohne es genau verstehen zu können vertraute sie doch Kjyrra. Es gab da irgendetwas zwischen ihnen was tiefer lag, als dass man es mit rationalem Denken hätte erklären können.
„Jetzt erschrick nicht, ich werde dein Armmodul bedienen. Dabei wird die Visual-Sicht eingeblendet und ich werde dabei, zaubern‘.“, sagte Kjyrra und lächelte bei ihren letzten Worten.
Susan nickte nur. Sie hatte wieder einmal keine Ahnung wovon Kjyrra sprach.
„Halt bitte dein Armmodul so, dass ich die Ziffern sehen kann.“
Susan tat wie Kjyrra von ihr verlangte und gleich darauf bewegte sich Taste mit dem Symbol eines Hauses nach unten. Sie erschrak. Vor ihren Augen befand sich nun ein transparenter Bildschirm mit allerlei möglichen Symbolen. Es sah aus, wie der Bildschirm auf einem Computer, nur dass er transparent war und in der Luft schwebte. Kjyrra drückte mit ihren geistigen Fähigkeiten auf die eine oder andere Taste am Armmodul und führte somit die verschiedensten Aktionen vor ihren Augen durch. Der Schock war Susan verflogen, nun war sie erstmals fasziniert von dieser neuen Situation. Sie bewegte ihren Kopf nach links und alle Symbole, Schriften und Programme vor ihrem Auge taten es ihr gleich. Einzig und allein, der Raum im Hintergrund, der Raum in dem sie saßen, bewegte sich. Dann verschwand wieder alles. Auf dem Neuro-Tool leuchtete nun ein grünes Licht. Das war selbst für die Ereignisse, welche sie bis jetzt erlebt hatte ungewöhnlich. Was um alles in der Welt war das gewesen?
„Das war die Visual-Sicht.“, beantwortete Kjyrra die Frage, welche Susan im Gedanken gestellt hatte. „Du trägst Linsen vor deinen Augen, die du mittels des Armmoduls steuern kannst. Die Steuer- und Speichereinheit selbst befindet sich in Neuro-Implantat an deiner Schläfe.“
Langsam schien Susan zu verstehen. Anscheinend trug sie eine besondere Art Kontaktlinsen, welche ihr einen Computer vorgaukelten.
„So ähnlich.“, sagte Kjyrra, schüttelte dabei aber den Kopf. „orangene Kugel.“, fügte sie noch hinzu und Susan verstand intuitiv, was sie damit meinte.
„Und wir leben am Mars?“
„Ja. Wir haben vor 412 Dakanden begonnen ihn zu kolonialisieren. Mittlerweile haben wir auch begonnen den Jupiter zu bevölkern.“
„Aber was ist dann da draußen.“, sagte Susan und zeigte hinter sich, auf das große Fenster, hinter dem sich die idyllische Sommerlandschaft abzeichnete.
„Nennen wir es der Einfachheit halber einen, Computer‘.“
„Aber das sieht so echt aus.“
Die Knöpfe auf Kjyrras Armmodul drückten sich wieder von selbst und anstelle der Sommerlandschaft war eine Winterlandschaft zu sehen.
„Ich habe die eisige Landschaft lieber, da kann man besser kuscheln.“, sagte Kjyrra mit einem verführerischen Lächeln.
Susan hätte es am liebsten erwidert, sie fühlte sich irgendwie zu dieser Frau hingezogen. Aber sie war doch ebenfalls eine Frau und soweit sie wusste, nicht bisexuell! Sie steckte nur im Körper eines Mannes.
„Du glaubst noch immer nicht, dass du Furyor Kanz bist, Neuronetiker und dritter Mark.“
Nein, sie war Susan Kinger. Deutschlands Bademodenmodel Nummer Eins und drittplatzierte Weltweit.
„Na gut.“, sagte Kjyrra „Dann muss ich dich wohl erst davon überzeugen. Ich lad mir mal schnell das Projekt herunter.“
Wieder bewegten sich ihre Tasten.
„Gut, Susan Kinger.“, sagte Kjyrra und musste bei der Aussprache ihres Namens grinsen. „Wie ist der Name deiner Mutter?“
Susan verschlug es den Atem. Sie hatte keine Ahnung.
„Und der des Vaters? Kennst du überhaupt sonst jemandem? Was hast du die Tage vor deiner Reise nach Österreich getan? Wie war deine Kindheit? Und wie sieht dein Zuhause aus?“
Susan hatte auf all die Fragen keine Antwort. Aber das konnte nicht sein. Darauf musste sie doch eine Antwort haben!
„Ich weiß Furyor, du bist jemand der das abstrakte Denken liebt, aber gehen wir die Sache einfach einmal von der logischen Sichtweise an und fassen wir die vergangenen Ereignisse zusammen. Du hast heute eine virtuelle Zeitreise gemacht und hast kurz zuvor deine Erinnerungen mittels deiner neuronetischen Fähigkeiten blockiert. Deine jetzige Persönlichkeit hält dummerweise, unbewusst diese Blockade aufrecht. Stell einfach ein paar Fragen und ich werde sie dir so gut wie möglich beantworten. Irgendwann wirst du dich an ein Schlüsselereignis erinnern.“
So verheerend dieses Gespräch nun auch verlief, es sah Wohl oder Übel so aus, als wäre Susan in Wirklichkeit dieser besagte Furyor. Sie ging auf Kjyrras Angebot ein.
„Wie viele Jahre ist eine Dakande?“
„Da ist nicht viel um. Der Mars benötigt 37 Minuten und 23 Sekunden länger um die Sonne zu umrunden, weshalb die Tage bei uns ein wenig länger dauern als die auf der Erde. Hochgerechnet auf eine Dakande oder auf ein Jahr, macht es allerdings einen größeren Unterschied.“
„Und ist alles auf der Erde in Ordnung?“
„Ach denen geht es blendend. Sie streiten sich gerade wieder darum, ob sie sich nun ganz unter die Erdoberfläche verziehen sollen, um den Tieren ihren gewohnten Lebensraum zurückzugeben oder doch weiterhin an der Oberfläche bleiben sollen. Ihnen kommt dabei immer wieder der individuelle Kollektivismus von Meriur Rosenberg in die Quere ,Geht es jedem einzelnen gut, geht es uns allen gut.‘ Es scheint aber so, als würden die Tiere gewinnen.“
Susan atmete erleichtert aus. Sie hatte aber noch immer keine Antwort auf die Frage, wie alt sie war. Ohne etwas sagen zu müssen wurde ihr diese beantwortet.
„Mit der Zeit als du noch auf der Erde gelebt hast bist du jetzt“, sie tippte etwas auf ihr Armmodul „363 Jahre. Das ist übrigens bereits dein dritter Klon. Und auf der Erde schreiben sie das Jahr 2662.“
Oh Mann, das waren zu viele Informationen. Sie befand sich im Jahr 2662, sie war 363 Jahre alt und sie war ein Klon. Und dabei dachte sie immer, so etwas würde es nur in Science-Fiction-Filmen geben würde.
Plötzlich schwebten zwei Gläser mit Orangensaft auf sie zu. Kjyrra hatte wieder ihr Armmodul benutzt um das Dings hinter der durchdringlichen Glaswand zu bedienen. Und mit ihrer Gabe hatte sie diese herabschweben lassen.
„Frisch gepresster Orangensaft, mit Fruchtfleisch. So wie du ihn liebst. Übrigens ,das Dings‘ ist ein Replikator. Damit kann man allerlei Materie über das Armmodul zusammensetzen. Einzige Bedingung: Es muss in die Öffnung passen. ,Die durchdringliche Glaswand‘ nennt man M-Hologramm und meine ,Gabe‘ wird Telekinese genannt. ,Veränderung der Schwingungen, auf neuronetischer Basis‘. Du kannst das übrigens auch“
„Ich kann das auch?“, fragte Susan verblüfft.
„Ja, wenn es einer kann, dann du. Du bist nicht umsonst dritter Mark und hast einen ESP von 260. ESP ist übrigens ein sehr altmodischer Begriff und bedeutet ,Extra Sensory Perception‘, er beschriebt unsere neuronetischen Fähigkeiten nur ansatzweise richtig, aber in Laufe der Zeit hatte sich dieses Akronym fest verankert.“
„Und was ist diese Neuronetik?“
„Die Neuronetik ist eine Kombination aus den früheren noetischen Wissenschaften und den Errungenschaften der NLP, der Neuro Linguistischen Programmierung. Aber das ist alles nur graue Theorie. Die Neuronetiker haben sich dem anspruchsvollsten Bereich des Lebens gewidmet. Wo sich Quantenwissenschaftler und klassische Wissenschaftler einfach das Wissen auf ihr Neuro-Implantat runter laden können, müssen wir uns unseren ESP von der Picke auf aneignen. ,Das ESP der einzelnen ist das kollektive Bewusstsein aller‘, Fengur Kurz, dein Lieblingsphilosoph übrigens. Aber du fragst vielleicht Sachen und das als dritter Mark.“
Aber Susans Wissensdurst war noch immer nicht gestillt. Sie verstand zwar nur die Hälfte der Worte Kjyrras, doch die Unwissenheit trieb sie an weitere Fragen zu stellen. Sie wusste ja nicht einmal was ein dritter Mark ist und dabei sollte sie doch einer sein.
„Ach, das ist nichts Besonderes“, beantwortete Kjyrra ihren Gedanken. „Du kommunizierst mit den Enzz und hältst unsere Beziehungen am Laufen. Ansonsten ist es nur ein Ehrentitel, der dir aufgrund deines hohen ESP‘s verliehen wurde.
„Wer sind die Enzz?“
Kjyrra ließ die Luft aus. Anscheinend suchte sie nach den passenden Worten, um es auch ihr begreiflich zu machen.
„Die Enzz“, fing sie an „sind Wesen aus der Mepanuk Galaxie.“
„Sie sind Außerirdische?“
„Auf diese Frage habe ich gewartet. Ja sie sind Außerirdische, aber mit dieser Aussage würde ich mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, schon gar nicht in deiner Position, denn für sie, sind wir die Außerirdischen.“
„Und wir können mit ihnen reden?“
„Ja, das können wir. Du bist sogar einer von ihnen, der mit ihnen spricht.“
„Und können wir auch zu ihnen reisen?“
„Nein, eine Reise würde zu lange dauern. Selbst mit den Dispositionen würde es Jahrhunderte dauern. Aber unsere klassischen Wissenschaftler und unsere Quantenwissenschaftler arbeiten daran. Wir Neuronetiker sind ihnen einfach ein paar Schritte voraus. ,Je mehr wir verstehen, umso mehr verstehen wir.‘“, zitierte Kjyrra. „Wieder Fengur Kurz. Diesmal aus seinem Werk ,Über den exponentiellen Wissenszuwachs‘.“
Susan wusste nicht mehr was sie fragen sollte. Schließlich stellte sie die erste Frage welche ihr einfiel.
„Was ist in den letzten 650 Jahren eigentlich passiert?“
„Das kann ich dir nicht alles sagen, es würde zu lange dauern und es liegt vieles in der dunklen Zeit.“
„Was ist die dunkle Zeit? Gab es Krieg?“
„Nein, es gab keinen Krieg soviel ich weiß. Aber es gab den Gedanken an Krieg. ,Alles was wir sind ist ein Resultat dessen was wir gedacht haben.‘“, zitierte sie wieder, sagte aber diesmal nicht dazu, vom wem das Zitat stammte „Wenn wir also unsere Gedanken mit Krieg und Gewalt füllen, werden wir zu Menschen die gewalttätig sind und den Krieg als Mittel der Auseinandersetzung wählen. Die dunkle Zeit ist die Zeit des falschen Denkens. Indem wir unsere Gedanken nicht mit solchem Müll verschmutzen, werden wir zu besseren Menschen.“
Das waren harte Worte, aber sie waren erschreckend bestechend. Susan nippte an dem noch immer vollen Glas Orangensaft und stellte mit Erstaunen fest, dass dies das beste Getränk war, welches sie jemals getrunken hatte.
„Wenn du willst, kann ich dir deine eigene Lieblingsgeschichte erzählen.“, fing Kjyrra mit einem aufgeregten Lächeln auf den Lippen an „Die Geschichte von Markess Krednox, dem Krieger des Friedens. Anfang vom Ende der dunklen Zeit.“, Kjyrra hatte ein kindliches Lächeln aufgesetzt und sah Susan erwartungsvoll an.
„Diese Geschichte hast du mir immer vor dem Lagerfeuer erzählt.“
Die Tasten auf ihrem Armmodul bewegten sich abermals mittels ihrer telekinetischen Fähigkeiten und anstelle der Winterlandschaft hinter einem Fenster war nun ein Lagerfeuer zu sehen. Wie durch Geisterhand schwebte die Couch auf der sie saß zu dem Computerbildschirm und Kjyrra setzte sich zu ihr.
„Schon besser.“, sagte sie und fuhr ihre Geschichte fort. „Damals hatten sie gerade erst die uneingeschränkte Energiegewinnung entdeckt und ein paar Dekaden später haben sie die Replikatoren entwickelt. Der erste Replikator war riesengroß, verschluckte ungeheure Mengen an Energie und es dauerte Ewigkeiten um einen Gegenstand zu duplizieren.
Markess Krednox war derzeit das Oberhaupt des mächtigsten Landes. Keine Ahnung welchen Namen es trug. Er wollte den Replikator im Verborgenem halten, doch als dieser seine Vollendung erreichte, hatten alle anderen Länder von dieser Maschine Wind bekommen und verlangten ihre umgehende Zerstörung.
Damals, musst du wissen, hat man für alles was man brauchte, etwas hergeben müssen, was man Geld nannte. Und das Geld haben nur ein paar wenige besessen und haben den übrigen nur einen geringen Teil davon abgegeben. Gerade so viel, damit diese überleben konnten. Eine moderne Art der Sklaverei. Hätte man mit dem Replikator Geld für die Armen repliziert, wären alle Menschen gleich wohlhabend gewesen und die Machtgierigen hätten keinen Einfluss mehr über die Armen gehabt. Deshalb drohten diese Markess mit Krieg, wenn er die Maschine nicht zerstörte. Alle Länder verschworen sich gegen Markess. Doch Markess war nicht dumm.
Und jetzt kommt der Teil, Furyor, wo du mir immer sagst, dass wir nur durch Markess unseren jetzigen Zivilisationsstand erreicht haben.“, Kjyrra sah Susan mit einem Lächeln in die Augen an. „Markess hatte Waffen repliziert. Die schlimmsten und mächtigsten aller Zeiten. Jede einzelne hätte die halbe Weltbevölkerung ausrotten können. Aber Markess hatte diese nicht benutzt. Er hatte sie jedem einzelnen seiner verschworenen Feinde geschenkt. Jeder hatte die Macht gehabt den gesamten Planeten zu zerstören oder auch nur Markess, dessen Volk und den Replikator. Aber keiner spielte den Henker. Niemand wollte an einem nicht gerechtifertigtem Tod von Million Menschen die Schuld tragen. Und schließlich, nach einem Jahr des kalten Krieges, hielt Markess eine Rede vor der ganzen Welt und jeder einzelne lauschte seinen Worten: ,Ich hätte den Hungrigen Nahrung geben können. Die Durstigen hätte ich getränkt und den Nackten hätte ich Kleider gegeben. Aber ihr wolltet Waffen. Nun habt ihr sie! Jetzt frage ich euch erneut. Wollt ihr Brot? Wollt ihr Wasser? Und wollt ihr Kleider?‘ Markess wurde von allen Staatsoberhäuptern, gegen ihren eigenen Willen als Held gefeiert. Eine solch selbstlose Tat musste zumindest nach außen honoriert werden. Er musste den Replikator nicht zerstören. Sämtliche Feindseligkeiten der anderen Völker wurden durch das diplomatische Recht des gemeinen Volkes beigelegt und Markess gab den Hungernden zu essen, den Durstigen zu trinken und den Nackten Kleider. Zudem setzte er sich dafür ein, dass jedes Land seinen eigenen Replikator baute. Das war der Anfang vom Ende der dunklen Zeit.“, Kjyrra strahlte bei ihren letzten Worten und auch Susan wurde von ihrem ungezwungenen Lächeln angesteckt.
„Du erinnerst dich wohl noch immer nicht.“
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Nun gut, dann gehen wir in den Holo-Raum, vielleicht hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge. Notfalls können wir dir noch immer ein Back-Up deiner Gedankenstruktur einspielen. Damit würdest du zwar die Erinnerung der letzten Tage verlieren, sowie die Erfahrung an die beschränkten Gedankengänge einer Person aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, aber deine Amnesie wäre geheilt. Es wäre nur schade um diese einmaligen Erfahrungen und mir würde eine Menge Spaß entgehen.“
Kjyrra öffnete auf der rechten Seite die vordere der beiden Türen und betrat mit Susan einen kleinen komplett in weiß gekleideten Raum. Er war ein wenig größer als das Quantarium, aber genauso schlicht und einfach wie alles hier.
„Das ist der Holo-Raum, die klassischen Wissenschaftler wollten ihn mittels des Neuro-Holo-Integrations-Projekts auf das Neuro-Implantat integrieren. Was das Neuro-Implantat kann, hast du ja schon selbst erfahren. Eine Visual-Sicht die über Linsen basiert und dir einen visuelle Benutzeroberfläche vor den eigenen Augen simuliert. Der Holo-Raum funktioniert anders. Dafür benötigt man enorm viele Daten.“, Kjyrra schien wieder nach den passenden Worten zu suchen. „Er funktioniert ähnlich wie das Fenster draußen. Aber sieh es dir selbst an.“ Sie berührte nun das Modul welches sich auf ihrer anderen Hand befand. Schlagartig verwandelte sich der kahle weiße Raum in die Sommerlandschaft, welche sie gesehen hatte als sie ihr, „zu Hause‘ betrat. Doch diesmal war es kein Bild, sondern eine reale Landschaft. Es flogen lästige Fliegen umher und die Sonnenstrahlen fühlten sich angenehm warm auf ihrer Haut an. Vögel zwitscherten und es roch herrlich nach den Blüten der Wiesenblumen.
„Die klassische Wissenschaft ist nun endlich so weit, dass sie die unzähligen Daten, des Holo-Raums komprimieren kann, um ihn auf das Neuro-Implantat zu überspielen. Somit könntest du den Holo-Raum immer mit dir herumtragen und ihn benutzen wie die Visual-Sicht. In einem Holo-Raum kannst du alles machen was du willst. Du kannst ein paar virtuelle Menschen hinzufügen“, ein paar Männer tauchten plötzlich auf der Wiese auf „oder dir den Sonnenuntergang ansehen“, die Sonne rutschte ein Stück hinunter und verfärbte sich ins Rote „oder auf der Oberfläche des Mars spazieren gehen.“, schlagartig veränderte sich das Gras in eine steinige mit rotem Sand bedeckte Oberfläche. „Du musst nur deine Hand auf das Multi-Modul legen und dir den Ort und die Dinge vorstellen die du willst. Den Rest macht der automatisierte Vorgang des Holo-Raums.“
Plötzlich standen Kjyrra und Susan ohne Vorwarnung wieder in dem weißen Raum.
„Wie es scheint, mein lieber Furyor, bist du eine wichtigere Person als ich gedacht hatte. Durch deinen und meinen spontanen freien Tag herrscht bei den Neuronetikern ein kleines Chaos. Ich werde mal schnell zu ihnen hinüber sehen und helfen, wo ich kann. Übrigens, was ich dich schon den ganzen Tag fragen wollte: Ich hab vor mir meine Augen wieder braun färben zu lassen. Was hältst du davon? Ein bisschen Abwechslung, du weißt schon.“
Wieso fragte sie ausgerechnet Susan das? Sie sah mit ihren hellblauen Augen echt gut aus, die braunen würden ihr sicher auch stehen. Kjyrra sah einfach in jeder Form umwerfend aus.
„Ach Furyor, du bist so süß.“, sagte sie und Susan wurde sofort wieder klar, dass Kjyrra ihre Gedanken lesen konnte. „Also wie gesagt: Einfach Hand auf das Multi-Modul und vorstellen was du willst, schon hast du es. Das wird sicher lustig, wenn man es so gut wie das erste Mal macht.“
Kjyrra bewegte sich mit unerwarteter Geschwindigkeit auf Susan zu, küsste sie flüchtig zum Abschied auf den Mund und war hinter der Schiebetür verschwunden.
Susan stand wie angewurzelt am Boden und starrte auf die eben wieder geschlossene Türe, hinter der Kjyrra verschwunden war.
Susan seufzte. Sie war nun zum ersten Mal, seit dieser Alptraum begonnen hatte alleine. Was sollte sie nun machen? Eine Erholung würde ihr sicherlich gut tun. Hawaii, die Karibik oder ein Bad im Whirlpool ihres Hotels in Los Angeles. Da kam Susan plötzlich eine Idee. Konnte sie der Holo-Raum auch wieder in diese stinkende österreichische U-Bahn zurückbringen. Nicht die Sehnsucht danach trieb sie an, sondern die Neugierde. ,Einfach das Multi-Modul berühren und daran denken‘, hatte Kjyrra gesagt. Einen Versuch war es wert. Und schon saß sie wieder in der U-Bahn.

Die Lichter waren soeben wieder angegangen und die U-Bahn setzte sich in Bewegung. Der Gestank war zurück und ebenso die Blicke der gaffenden Menschen. Aus dem Lautsprecher drang ein Rauschen. Vermutlich hätte es eine Stimme sein sollen, welche sich für die kurze Unterbrechung entschuldigte. Ich wusste nicht ob ich mich freuen sollte zurück im Körper des Bademodenmodels zu sein. Ich griff nach meinem Multi-Modul, doch anstelle dessen berührte ich meinen grazilen Arm. Da war kein Multi-Modul mehr. War der Holo-Raum so stark, dass er meine Module verschwinden lassen konnte? Natürlich war er das. Der Holo-Raum war so stark, dass er mir vorspielen konnte, eine Frau zu sein. Kjyrra hatte mir zwar gesagt, wie man eine Situation erschafft, aber nicht wie man diese beendet oder verändert. Sogar mein Armmodul mit den Tasten für die Visual-Sicht war verschwunden.
Plötzlich kam mir ein sonderbarer Gedanke und mir wurde ganz flau in der Magengegend. Waren die Stunden, welche ich mit Kjyrra auf dem Mars in einer fernen Zukunft verbracht hatte nur ein Halluzination gewesen? In derselben Zeit waren hier nur wenige Sekunden vergangen, wenn überhaupt.
Wer war ich nun wirklich? War ich Susan Kinger, Bademodenmodel und habe eine Reise in die Zukunft gemacht, oder war ich er, Furyor Kanz, Neuronetiker und habe eine Reise in die Vergangenheit gemacht?

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Tag der Veröffentlichung: 29.01.2012

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