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Der Streuner

Mein Herz blutete, als ich dort am Boden saß. In tausend Scherben zerbrochen. Es fühlte sich an wie tausend Messer, die immer wieder in meine Brust gerammt wurden und ein tiefes Loch freilegten, welches von nichts je hätte wieder aufgefüllt werden können. Die Zeit war surreal, die Sekunden und Minuten vergingen, doch es hätten auch Stunden sein können. Ich wusste es nicht.
Um so größer das Loch in meiner Brust wurde, umso mehr machte sich das altbekannte Gefühl der Taubheit in mir breit. Ich hasste es, doch war es etwas, woran ich festhielt, wie meine letzte Rettungsleine, bevor ich in diesem Schmerz versank. Ich wollte nicht von diesen negativen Emotionen verschlungen werden, da war es für mich viel einfacher, gar nichts zu fühlen.
Es scheint auf den ersten Blick weder logisch noch richtig zu sein, doch in diesem Moment der Schwäche, gab ich mich dem großen Nichts hin.
Warum musste das Leben auch immer so furchtbar schwer sein? Warum musste es einem auch immer die größten Steine in den Weg legen? Es konnte nicht einfach sein, nein. Es musste immer eine Herausforderung geben, immer etwas, womit man kämpfen muss. Was ist aber, wenn man nicht mehr kämpfen will? Wenn man das Handtuch wirft und aufgibt? Wäre das wirklich so schlimm? Lohnt es sich denn überhaupt zu kämpfen? Ich war mir nicht sicher, denn wenn das Leben immer so weiter ging und auf jede gute Emotion, jedes schöne Gefühl, so viel Trauer, Frust und Angst kam, war es nur eine lang gezogene Folter.
Ich wusste nicht, wie lange ich mit diesen Emotionen alleine war, ich war zu sehr in mir selbst versunken. Wer hätte mir denn auch aufhelfen sollen? Es interessierte sowieso niemanden.
Es war so furchtbar kalt, doch mein Körper bewegte sich nicht. Es fühlte sich an, als wäre jeder Muskel eingefroren und erstarrt. Hatte ich überhaupt die Kraft, es zu versuchen? Ich war mir da nicht so sicher. Meine Augen blickten ins Leere, an all dem Geschehen um mich herum vorbei. Leute versuchten halbherzig, mit mir zu reden, zogen aber weiter, als ich keine Reaktion gab. Es war den Menschen schlussendlich egal, denn es betraf sie selbst ja nicht. Warum also Mühe geben?
Ein streunender Hund setzte sich neben mich und beschnupperte mein Gesicht. Er winselte leise und leckte mir über die Wange. Mein Blick hob sich ein wenig an und ich sah in zwei große treue Knopfaugen. Sein Fell war vom Regen nass und verklebt, doch er schien noch sehr jung zu sein.
„Na mein Kleiner? Wo ist denn deine Familie? Bist du auch so alleine wie ich?“, fragte ich mit einem traurigen Lächeln. Ich hob zitternd meine Hand und legte sie ihm auf den Kopf. Sanft kraulte ich ihn hinter den Ohren, was ihm sehr zu gefallen schien. Er kam näher an mich heran, ging langsam in eine liegende Position und legte seinen Kopf auf meinen Schoß. Ich vergrub meine Hand in seinem weichen Fell, spürte die Wärme, die von dem treuherzigen Tier ausging. Ich genoss seine Gesellschaft und fühlte mich ein Stück weniger allein. Er brauchte keine Worte, um mir beizustehen, er war nur da und das reichte schon.
„Weißt du, ich habe alles verloren. Jeder den ich liebe hat sich von mir abgewandt. Ich bin ganz alleine.“
Der Hund bewegte sich nicht, doch seine Ohren zuckten kurz, als würde er mir genau zuhören.
„Ich hatte viele Freunde. Ich war glücklich. Ich hätte nie gedacht, dass ich hier landen würde und mich selbst bemitleide. Es ist so erbärmlich. Ich bin erbärmlich.“
Kurz starre ich mit leeren Blick auf die Straße vor mir. Immer wieder fahren Autos vorbei, doch da es schon weit nach Mitternacht war, blieb es meist still. Man hörte nur den prasselnden Regen, dass unaufhörlich auf den Asphalt tropfte.
„Früher dachte ich immer, mich könnte nichts umhauen. Ich dachte, ich könnte Berge versetzen, wenn ich nur fest genug daran glauben würde.“
Ein kurzes tonloses Lachen kam mir über die Lippen. Ich sah zu meinem neuen pelzigen Freund herab, dieser blieb regungslos auf mir liegen, schielte aber in meine Richtung. Unsere Blicke trafen sich. Auch er schien viel mitgemacht zu haben. Sein Blick war müde, genau wie meine. Er erinnerte mich an mich selbst.
„Ich glaube, du hattest dir deinen Abend auch anders vorgestellt, oder? Naja, ich bin froh, dass ich jetzt wenigstens nicht mehr alleine hier sitzen muss. Danke, dass du hier bist.“
Mein neuer Freund ließ ein tiefes Atmen hören. Ich fing wieder an ihn zu kraulen. Es tat gut, die Stille war nun nicht mehr so erdrückend wie zuvor. Es lag nun mehr leben darin. Was die Anwesenheit eines kleinen Tieres doch alles verändern konnte. Nun musste ich wirklich lächeln.
„Es fühlt sich an als wäre es Schicksal gewesen, dass wir uns heute begegnet sind.“
Wenn mich jemand beobachtet hätte, wäre ich wohl für verrückt gehalten worden. Ich führte hier ein einseitiges, jedoch überaus lebhaftes Gespräch mit einem Hund. Es fühlte sich aber keineswegs falsch oder dumm an. Im Gegenteil, es half mir sehr dabei, mich wieder aufzuraffen.
„Hat dir schonmal jemand gesagt, dass du ein guter Zuhörer bist? Es fühlt sich beinahe so an, als würdest du verstehen, wie ich mich fühle.“
Wieder zuckten seine Ohren kurz und hoben sich etwas an. Er beobachtete mich im Augenwinkel. Wieder ein kleines Lächeln von mir, dieses Mal ein aufrichtiges. Etwas in mir veränderte sich. Ich war nicht mehr so taub wie zuvor, ich fing wieder an etwas zu spüren, wenn auf nur ein kleines bisschen. Doch trotz des Lächelns fingen dicke Tränen an meine Wange hinunter zu laufen. Sie sammelten sich an meinem Kinn und tropften in da Fell des Hundes. Dieser hob langsam seinen Kopf und sah mich nun direkt an. Er legte seinen Kopf leicht schief und ließ ein leises Winseln hören.
„Danke mein kleiner. Danke dass du mir zugehört hast. Danke dass du da bist.“
Er setzte sich auf und kam schnuppernd näher an mein Gesicht heran. Langsam leckte er mir über meine Wange und entfernte so meine Tränen. Ich hätte schwören können, er wollte damit einfach nur sagen „Das habe ich gerne gemacht“.
Als die Nacht langsam zu Ende ging und die ersten Sonnenstrahlen die dichten Regenwolken vertrieben, erhob ich mich langsam und mein pelziger Freund tat es mir nach. Er sah mich fast schon enttäuscht an, als ich ein paar Schritte ging. Ich blieb stehen.
„Na komm schon kleiner. Lass uns nach Hause gehen.“
Bei diesen Worten wurde er hellhörig. Er hechelte aufgeregt und lief mir schon beinahe mit Euphorie entgegen. Ich ging in die Hocke und schloss den kleinen Hund in meine Arme. Ich kraulte in liebevoll.
Ja, unsere Begegnung war wohl Schicksal. Zwei gerochene Wesen, die sich aus reinen Zufall begegneten, als sie sich am meisten brauchten. Es sollte wohl so kommen, sonst hätten wir uns nie getroffen und wir hätten all die schönen Moment, die uns noch bevorstanden, nie erlebt. Es hat alles einen Grund, daran glaube ich ganz fest. Denn es gibt immer jemanden, der dich braucht und dafür lohnt es sich weiterzukämpfen.
Oft legt das Leben dir Steine in den Weg und manchmal, nur manchmal, erleuchtet es dir einen neuen Pfad, den du beschreiten kannst.

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Tag der Veröffentlichung: 15.05.2022

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