Ich gehe diesen Weg schon so lange, ich habe mein Zeitgefühl verloren. Warum bin ich hier? Wie bin ich hierher gekommen? Ich kann es dir gar nicht sagen. Es könnte sich um Tage, Stunden, aber auch Minuten handeln. Alles, was ich weiß, ist, dass ich weitergehen muss. Ich darf nicht anhalten, auch nicht für wenige Sekunden. Es ist wie ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust, eine Art sechster Sinn, welcher mich vor einer unmittelbaren Gefahr warnt. Der dichte Nebel um mich herum, welcher mich nicht weiter als fünf Meter sehen lässt, trägt nicht gerade dazu bei, mich sicher zu fühlen. Es gibt nur mich, die Straße und den Nebel. Vereinzelnd sind links und rechts die Silhouetten kahler Bäume zu sehen und die Kälte auf meiner Haut raubt mir beinahe den Atem. Dieser entweicht meinem Mund beinahe lautlos und zeigt sich in Form kleiner Wolken, die sich nach wenigen Sekunden mit dem Nebel vereinen.
Meine Schritte auf den unebenen Boden klingen durch die immerwährende Stille unglaublich laut. Ich habe auch das Gefühl, das Pochen meines eigenen Herzens zu hören. Laut und stetig klopft es gegen meine Brust. So ruhig die Atmosphäre auch wirkt, hat sie etwas Bedrohliches und Unheimliches an sich. Wenn ich mich wenigstens daran erinnern könnte, wie ich hier gelandet bin! Oder was das Ziel dieser Reise ist! So gehe ich einfach immer weiter geradeaus ins Ungewisse.
Langsam fangen meine Füße an zu schmerzen, zu lange tragen sie mich schon diese wohl endlose Straße entlang. Vielleicht könnte ich ... nur für ein paar Sekunden ... Mein Herz beginnt stärker zu pochen, fast springt es mir aus meiner Brust. Der Knoten in meinem Inneren zieht sich noch mehr zusammen und schnürt mir beinahe die Kehle zu. Umso langsamer ich werde, desto schlimmer wird es. Deshalb beschleunige ich meine Schritte wieder und verzichte auf meine Pause. Ich werde weiter vorwärtsgetrieben. Egal, was passiert, wenn ich anhalte, es fühlt sich übel an. Sehr übel. Und so bin ich weiterhin gezwungen meinen Weg fortzusetzen.
Ich bin so müde, ich weiß nicht wie lange meine Beine noch in der Lage sind, sich zu bewegen. Meine Augen tränen auch schon und fallen immer wieder kurz zu. Ich reibe mit einem unterdrückten Gähnen daran. Meine Glieder schmerzen furchtbar. Vor Ermüdung werden meine Schritte langsamer, nur um vor Angst und Panik wieder beschleunigt zu werden.
Irgendwann fühle ich mich so ausgelaugt. Mein Körper schreit nach Ruhe, nach Erholung, nach Schlaf!
Kurz wurde ich hellhörig. Zwischen meinen Schritten und meinem pochenden Herzen ist noch ein weiteres Geräusch zu hören. Es ist leise, beinahe nicht wahrnehmbar. Aber es ist da. Ein Flüstern, nicht lauter als ein Hauch. Ich kann die Worte nicht genau verstehen, erst als sich die Lautstärke langsam, aber stetig erhöht.
„Quäle dich nicht so sehr.“
„Bleib stehen.“
„Hab keine Angst.“
„Ruh dich aus.“
„Du musst keine Angst haben.“
Es klingt so ruhig und einladend. Schon beinahe wohlwollend, wie die Stimme einer Mutter zu ihrem Kind. Doch etwas daran stört mich. Ein Unterton, der etwas Diabolisches an sich hat. Mit jedem Satz wurde dieses Flüstern lauter.
„Worauf wartest du?“
„Es wird alles gut, du wirst sehen.“
„Warum hältst du nicht einfach an?“
„Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müsstest.“
„Bleib stehen.“
„Du bist doch so müde.“
„So erschöpft.“
„Komm schon.“
„Vertraue mir.“
„Bleib stehen.“
„Bleib stehen!“
„BLEIB STEHEN!“
„JETZT!“
Direkt hinter mir veränderte sich das nette Geflüster in ein ungeduldiges Schreien. Ich zuckte zusammen, das Adrenalin schoss durch meinen Körper und ich war mit einem Mal wieder im Hier und Jetzt. Beinahe hätte ich der Stimme nachgegeben und ich danke Gott dafür es nicht getan zu haben.
Ich laufe los, so schnell und weit es geht. Ich weiß jetzt, warum ich nicht anhalten darf. Ich bin hier nicht alleine. Egal, was nach mir gerufen hat, es ist der Auslöser für das seltsame Gefühl in meiner Magengegend. Ich spüre die Präsenz hinter mir und gebe alles so schnell wie möglich zu laufen. Mein Atem ist jetzt nichts weiter als ein lautes Keuchen, meine Seite sticht furchtbar und ich bekomme kaum Luft. Ich weiß nicht wie, aber ich kämpfe mich weiter vorwärts. Ich renne um mein Leben, bis ich plötzlich den halt verlieren und falle. Ich schlage schmerzhaft auf den Boden, Kopf voraus. Es passierte schneller, als ich denken konnte. Nach dem Aufprall schmecke ich den süßen, metallischen Geschmack von Blut, welches auch von meiner Lippe, bis über mein Kinn hinunter rinnt. An manchen Stellen ist meine Kleidung gerissen und enthüllt Schürfwunde. Ich will trotz allem wieder aufstehen und weiter laufen, doch beim Ersten Versuch falle ich sofort wieder zu Boden. Mein ganzer Körper schmerzt und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich wohl eine leichte Gehirnerschütterung haben muss. Dieses Stechen in meinem Kopf ist nicht normal und mir wird übel. Ich wage einen weiteren Versuch, mich aufzurichten, falle aber erneut zu Boden. Die Panik ergriff mich, als ich es immer wieder vergeblich versuche. Dann ertönt ein Geräusch, welches mich innehalten lässt. Ein leises Kichern, genau neben mir.
„Endlich habe ich dich.“
Ich will es nicht, doch zwinge ich mich dazu. Langsam drehe ich meinen schmerzenden Kopf in Richtung der Stimme. Ich sog stark den Atem ein, als ich in große, blutunterlaufene, rote Augen blicke. Ich weiß tief in mir, dass es das Letzte ist, was ich auf dieser Welt noch sehen werde.
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2022
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