Der letzte Zug
Sie war keine allzu berühmte Schriftstellerin, dafür aber eine vielgelesene: Laura Raymond schrieb Trivial-Romane und Kurzgeschichten für Taschenbücher. Eine Lektüre für jedermann; so eine, wie man sie zum Zeitvertreib im Urlaub oder auf einer langen Bahnfahrt verschlingt. Im Grunde war es immer das Gleiche: Er liebt sie, sie liebt ihn und die üblichen Widrigkeiten des Lebens - mal in der einen, mal in der anderen Kulisse.
Und jetzt saß ihr der Verleger mit dem nächsten Abgabe-Termin im Nacken. Frustriert starrte Laura auf ihren Computerbildschirm, so als wolle sie darauf warten, dass sich die Seiten von alleine füllen würden. Aber das geschah natürlich nicht und so stand sie entnervt auf und ging in die Küche.
Es war still im Haus: Ihr Mann war zur Arbeit und ihr erwachsener Sohn war vor kurzem ausgezogen, führte jetzt sein eigenes Leben.
Sie setzte Teewasser auf und legte ihre Lieblings-Musik in den CD-Player ein. Es war eine CD, die sie immer irgendwie ein wenig zu Träumen brachte: Meeresrauschen, unterlegt mit dem Gesang der Wale und schöner, sanfter Musik. Schon etwas heiterer gestimmt, goss Laura den Tee ab und setzte sich an den Küchentisch. Sie liebte diesen Platz am Fenster, mit Blick nach draußen auf den Teich und das angrenzende Wäldchen. Genüsslich schlürfte sie ihren Tee und ihre Gedanken begannen, auf die Reise zu gehen...
Sie dachte an ihre Studienzeit und an all die Träume, die man in jungen Jahren so hat. Eigentlich hatte sie immer Glück gehabt im Leben, hatte einen lieben Mann gefunden und ihren gemeinsamen Sohn groß gezogen. Es war ihnen nie schlecht gegangen. Zwar war sie nicht die berühmte Schriftstellerin geworden, die sie gerne gewesen wäre, aber so war es auch ganz schön. Sie war zufrieden mit sich und ihrem Leben. Wie schnell die Jahre doch vergangen sind, dachte Laura. Wie schnell doch eigentlich alles zu Ende sein kann... schoss es ihr dann durch den Kopf.
Eine plötzliche Eingebung traf sie wie aus heiterem Himmel und mit einem Mal wusste sie genau, was ihre neue Geschichte ausmachen würde.
Wie immer in so einem Fall gab es nun kein Halten mehr: Hastig schnappte sich Laura ihren Tee und saß einige Augenblicke später hochkonzentriert an ihrem Computer.
Als würden die Worte in einem endlosen Strom aus ihr herausfließen, sausten ihre Finger im Eiltempo über die Tastatur.
Es sollte die Geschichte einer jungen Frau werden, der sie den Namen Amy Fisher gab. In einfachen Verhältnissen groß geworden und nie mit irgendwelchen Reichtümern bestückt, hatte Amy Fisher einen sehr guten mittleren Schulabschluss geschafft. Sie begann eine Ausbildung im Buchhandel, um Geld verdienen zu können. Doch dies war nicht ihr einziges Ziel, denn noch während dieser Zeit arbeitete sie daran, in Abendkursen ihre Hochschulreife nachzumachen. Jeden Pfennig, den sie entbehren konnte, legte sie zur Seite. Amy hatte nur ein großes Ziel: Sie wollte Literatur studieren, denn das war ihre Welt und ihre eigentliche Begabung.
Es waren mühevolle Jahre, doch ihr Ehrgeiz und ihr Fleiß wurden am Ende belohnt: Amy Fisher schaffte es, ein Begabten-Stipendium zu bekommen. Überglücklich hielt sie schließlich den Bescheid in ihren Händen.
Und inzwischen gab es da neben ihren Eltern, die sie liebevoll unterstützt hatten, noch jemanden, der sich mit ihr freute. Ein halbes Jahr zuvor hatte sie Joey kennen gelernt, ihren Freund. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen und Amy hatte sich noch nie in ihrem Leben so glücklich gefühlt.
Doch gerade Joey sollte nun zum Wermutstropfen in ihrem Glückstopf werden, denn ihr Studienplatz lag weit entfernt in einer anderen Großstadt. Und sich zu trennen, dass würde ihnen beiden das Herz brechen, dessen waren sie sich bewusst. Verzweifelt setzte Joey nun alle Hebel in Bewegung und das Unglaubliche gelang ihm: Er bekam in der gleichen Stadt einen Job! Nun konnte ihrem Glück nichts mehr im Wege stehen!
Nachdem sie sich erfolgreich nach einer Wohnung umgesehen und den größten Teil des Umzugs schon erledigt hatten, war Joey mit dem Wagen vorausgefahren. Amy musste noch ein paar Tage bei ihrem alten Arbeitgeber verbringen, doch dann war auch das geschafft und ihr neues Leben konnte beginnen.
Mit freudig klopfendem Herzen stand sie schließlich am Fahrkartenschalter der Bahn und löste das Ticket ein, dass sie zu ihrem Liebsten bringen würde. Joey unterdessen konnte es ebenfalls kaum erwarten, seine Amy wieder bei sich zu haben. Die Zeit der Trennung hatte ihm umso mehr bewusst gemacht, wie viel er für sie empfand. Er war dabei, die Wohnung auf Hochglanz zu bringen und bereitete alles für einen wunderschönen Abend vor. Noch zwei Stunden, dann würde er sie auf dem Bahnsteig wieder in seine Arme schließen können.
Doch Joey wartete vergebens...
Die Nachricht kam auf allen Kanälen: Es hatte ein furchtbares Zugunglück gegeben. Der Schnellzug war aus noch unbekannten Gründen entgleist und gegen einen Brückenpfeiler gerast, wodurch die einstürzende Brücke noch zusätzlich einige Waggons unter sich begraben hatte. Es gab so gut wie keine Überlebenden.
Es war der letzte Zug für Amy Fisher.
Befriedigt packte Laura Raymond nach einigen Wochen konzentrierter Arbeit das Manuskript zusammen und brachte es zu ihrem Verleger. Der Kurzroman "Der letzte Zug" erschien ein dreiviertel Jahr später.
"Schnellzug nach Atlanta, 11:30 Uhr, Einfahrt in ca. 15 Minuten auf Bahnsteig 7..."
Der Lautsprecher dröhnte durch die ganze Eingangshalle. Noch eine viertel Stunde, dachte Mary Sullivan und seufzte laut vor sich hin. Und dann noch langweilige vier Stunden Bahnfahrt, wie grässlich! Ihr Blick fiel auf den kleinen Laden gegenüber und sie beschloss, sich eine Reiselektüre zu holen. Unschlüssig stand sie dann vor den vielen Taschenbüchern und wusste nicht, für welches sie sich entscheiden sollte. Plötzlich stach der Titel eines Buches ihr ins Auge: "Der Letzte Zug" von Laura Raymond. Wie passend, dachte sie und schmunzelte vor sich hin: Es war tatsächlich ihr ganz persönlicher letzter Zug, der sie von hier nach Atlanta bringen würde. Zu Michael, ihrem Verlobten. Eilig bezahlte sie und lief zu Bahnsteig 7, wo der Zug schon eingefahren war. Sie ergatterte einen schönen Fensterplatz und machte es sich bequem. Der Zug setzte sich in Bewegung.
Eine Weile sah sie aus dem Fenster; sah auf das rege Treiben da draußen, dass in Sekundenschnelle an ihr vorbeirauschte. Dann bekam sie Lust zu lesen und kramte das Buch aus ihrer Tasche. Nachdem Mary die kurze Inhaltsangabe gelesen hatte, wurde sie um so neugieriger: Es war die Geschichte einer jungen Frau, die es aus ärmlichen Verhältnissen bis zu einem Begabten-Stipendium gebracht hatte, doch deren Schicksal sich auf einer Zugfahrt entscheiden sollte.
Genau wie ich, dachte Mary und schmunzelte amüsiert in sich hinein. Sie selbst hatte es auch nicht einfach gehabt und viele Mühen auf sich genommen, um nach ihrer Ausbildung noch weitere Qualifikationen zu machen. Es waren harte Jahre gewesen und Michael hatte ihr immer zur Seite gestanden. Ach, Michael... Mary geriet immer noch ins Schwärmen, wenn sie an ihn dachte. Sie hatten sich gesucht und gefunden. Ein Leben ohne einander konnten sie sich beide nicht mehr vorstellen!
Das wirklich schöne Leben begann jetzt für sie, nachdem Mary in Atlanta einen guten Job bekommen hatte. Obwohl es zunächst die Trennung von ihrem Freund bedeutete. Aber das Schicksal hatte es gut mit ihnen gemeint, denn Michael hatte Hals über Kopf einen Job in Atlanta ergattert. Der war zwar nicht so gut wie sein bisheriger, aber das wäre nicht so schlimm, hatte er gemeint. Wenn sie erst einmal drüben waren, konnte er sich immer noch nach was anderem umschauen. Hauptsache, sie konnten erst einmal zusammen bleiben. Ach, er war wirklich ein lieber Kerl! Und jetzt war er sogar schon eher in Atlanta als sie, in ihrer neuen Wohnung. Er war mit dem Auto vorgefahren und hatte die restlichen Sachen schon mitgenommen, während sie selbst noch ihre Kündigungsfrist hatte einhalten müssen. Es machte ihr nichts aus, mit dem Zug nachzukommen. Noch dreieinhalb Stunden. Sie freute sich darauf, bald wieder in seinen Armen zu sein. Vielleicht würde das Buch sie ein wenig ablenken...
Mary Sullivan begann zu lesen, fühlte sich auf seltsame Weise vom Schicksal dieser Amy Fisher angesprochen. Und schon nach wenigen Seiten wusste sie, dass sie dieses Buch bis zu seinem Schlusskapitel nicht mehr aus der Hand legen würde. Fasziniert saß sie da und verschlang eine Seite nach der anderen. Als würden diese Buchstaben eine magische Kraft ausüben, konnte sie ihre Augen nicht abwenden von dem, was in diesem Roman geschah.
Und mit jeder weiteren Seite beschlich sie immer mehr ein beklemmendes Gefühl: Es kam ihr vor, als würde sie ihr eigenes Leben in diesen Zeilen wiederfinden! Ein eiskalter Schauer lief Mary plötzlich über den Rücken, während sie schließlich die Worte las: "Es war der letzte Zug für Amy Fisher.".
Als durch den Lautsprecher der Hinweis auf die letzte Haltestelle vor Atlanta erfolgte, fuhr sie erschrocken auf: Der Zug würde in zehn Minuten zum letzten Mal halten. Zum letzten Mal... zum letzten Mal... schwirrten die Worte des Lautsprechers ihr durch den Kopf.
Plötzlich ergriff sie eine Panik, die sie sich selbst nicht erklären konnte: Hastig packte sie ihre Sachen in die Reisetasche und begab sich zum Ausgang des Abteils. Ihr Herz klopfte wie wild und ihre Knie zitterten, als sich endlich die Zugtüren öffneten und sie nach draußen entließen.
Auf dem Bahnsteig musste sie sich erst einmal auf eine Bank setzen, versuchte tief durchzuatmen und sich zu beruhigen.
Der Schnellzug setzte sich wieder in Bewegung.
In einer Stunde hätte ich bei Michael sein können... war ihr nächster Gedanke. Wenn er sie nun abholen musste, so würde er erst in ungefähr zwei Stunden hier sein können. Mary öffnete ihre Tasche und wühlte nach ihrem Handy, um ihren Liebsten anzurufen. Sonst würde er umsonst am Bahnhof auf sie warten. Seine Stimme klang dann auch tatsächlich ein wenig verblüfft, als er hörte, dass sie vorzeitig den Zug verlassen hatte.
"Was ist bloß los mit dir, Schatz? Irgendwas hast du doch!" hatte er die Angst in ihrer Stimme deutlich spüren können.
"Ach, Michael, ich... ich weiß auch nicht! Ich kann's jetzt am Telefon nicht erklären. Du holst mich ab, ja?"
"Ja, natürlich, mach' dir keine Sorgen! Ich bin so schnell wie möglich bei dir, okay?"
"Ja, gut, Danke! Ich warte im Bahnhofsrestaurant auf dich. Michael?"
"Ja?"
"Ich liebe dich!"
"Ich dich auch! Also, bis nachher!"
Besorgt fuhr Michael los, wunderte sich über den plötzlichen Entschluss Marys' und konnte sich keinen Reim darauf machen.
Für Mary unterdessen schienen die Sekunden wie Stunden zu verstreichen. Und ihre Sehnsucht nach Michael machte das Warten nicht gerade erträglicher.
Dann stand er endlich vor ihr. Erleichtert fiel sie ihm in die Arme.
Er drückte sie zärtlich an sich und küsste sie. Sanft nahm er ihr Gesicht in seine Hände und strich liebevoll über ihr Haar, gerade so, als würde er sie zum ersten Mal erblicken.
Erschrocken sah Mary plötzlich Tränen in seinen Augen.
"Michael... was hast du?"
Er drückte sie noch einmal heftig an sich und lächelte sie dann voller Dankbarkeit an:
"Mary! Ich kann's kaum glauben: Der Zug, dein Zug... Ich habe es gerade in den Nachrichten im Radio gehört: Es hat ein großes Unglück gegeben, ungefähr 15 km vor Atlanta... Man weiß noch nicht wieso, aber der Zug ist entgleist. Sie rechnen mit fast Hundert Toten und etlichen Schwerverletzten. Oh, Mary: Du hättest tot sein können!!"
Fassungslos sah Mary ihn an.
Texte: Orelinde Hays
Tag der Veröffentlichung: 27.12.2012
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